EINE REIZENDE LÜGNERIN - Herbert Adams - E-Book

EINE REIZENDE LÜGNERIN E-Book

Herbert Adams

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Die Festlichkeiten des Tages sollten mit einem Diner und anschließendem Tanz enden. Ich fand dabei reichlich Gelegenheit, meinen Gedanken nachzuhängen. In unseren Zeiten organisierten Verbrechens schien es immerhin denkbar, dass eine englische oder amerikanische Bande irgendwo in der Nähe ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatte, von wo aus sich Beutezüge unternehmen ließen. Auch mochten die Leute zu ganz besonderem Zweck ein weibliches Mitglied bestimmt haben, das in der ersten Gesellschaft aufzutreten wusste. Aber sollte das Mädchen wirklich eine Verbrecherin sein? Ich konnte es mir nicht vorstellen...   Herbert Adams (* 1874 in Dorset, South West England; † 1958) war ein englischer Schriftsteller. Adams veröffentlichte beinahe sechzig Kriminalromane; viele unter seinem eigenen Namen, einige unter dem Pseudonym Jonathan Gray. Seine Leser – wie auch die Literaturkritik – verglichen Adams oft mit seiner Kollegin Agatha Christie. Der Roman EINE REIZENDE LÜGNERIN erschien erstmals im Jahr 1931; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1933 (unter dem Titel Wer ist Correlan?). Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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HERBERT ADAMS

 

 

Eine reizende Lügnerin

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 240

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

EINE REIZENDE LÜGNERIN 

 

ERSTER TEIL 

ZWEITER TEIL 

DRITTER TEIL 

 

 

Das Buch

 

Die Festlichkeiten des Tages sollten mit einem Diner und anschließendem Tanz enden. Ich fand dabei reichlich Gelegenheit, meinen Gedanken nachzuhängen.

In unseren Zeiten organisierten Verbrechens schien es immerhin denkbar, dass eine englische oder amerikanische Bande irgendwo in der Nähe ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatte, von wo aus sich Beutezüge unternehmen ließen. Auch mochten die Leute zu ganz besonderem Zweck ein weibliches Mitglied bestimmt haben, das in der ersten Gesellschaft aufzutreten wusste. Aber sollte das Mädchen wirklich eine Verbrecherin sein? Ich konnte es mir nicht vorstellen...

 

Herbert Adams (* 1874 in Dorset, South West England; † 1958) war ein englischer Schriftsteller.  Adams veröffentlichte beinahe sechzig Kriminalromane; viele unter seinem eigenen Namen, einige unter dem Pseudonym Jonathan Gray. Seine Leser – wie auch die Literaturkritik – verglichen Adams oft mit seiner Kollegin Agatha Christie.

Der Roman Eine reizende Lügnerin erschien erstmals im Jahr 1931; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1933 (unter dem Titel Wer ist Correlan?).

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

  EINE REIZENDE LÜGNERIN

 

 

 

 

 

 

 

  ERSTER TEIL

 

 

 

  Erstes Kapitel: Die Hochzeit

 

 

Jene Spötter, denen zufolge es in jeder Ehe zwei Wunder gibt - nämlich was er an ihr fand und was sie an ihm -, können schwerlich an ein solches Paar wie Skiddy Dalkirk und Sally Peeble denken. Beide waren jung, hübsch, entstammten erstklassigen Familien und besaßen erhebliches Vermögen. Skiddy, das heißt, Lord William Dalkirk, sollte seine junge Frau zu seinem wundervollen in Schottland gelegenen Landsitz bringen und Sally, deren offizieller Vorname Sarah lautete, einzige Tochter des Lords Paulton, freute sich wie ein Kind darauf.

Die Hochzeit wurde in Paulton-Park in der Grafschaft Suffolk gefeiert. Dem Kalender nach fand sie im April, dem Wetter nach im Juni statt. Eine Unmenge vornehmer Verwandter war angereist, um an den Festlichkeiten teilzunehmen. Einige wohnten im Herrenhaus, andere wurden bei Bekannten in der Nachbarschaft untergebracht. Dem Publikum hatte man den Zutritt zum Park freigegeben und sämtliche Teilnehmer befanden sich in bester Laune.

Eine Geschichte, die mit einer Hochzeit anfängt, endet gewöhnlich mit Tränen. Denen aber, die nichts Besseres zu tun haben, als mit gruseligem Behagen in den tragischen Einzelheiten von Enttäuschung, Untreue und Kummer herumzuwühlen, rate ich, dies Buch sofort und ein für alle Mal wegzulegen.

Im Augenblick, da die Jungvermählten den ihnen begeistert zujubelnden Freunden entschlüpften, verloren sie auch alle Beziehungen zu den außergewöhnlichen Geschehnissen, von denen ich zu berichten habe. Sie verlebten glückliche Zeiten in ihrem schottischen Heim, wie sich das für gesittete Menschen gehört.

Schließlich muss aber auch eine durchaus wahre Geschichte irgendwo anfangen und soweit ich daran beteiligt bin, beginnen die Ereignisse unzweifelhaft mit diesem Hochzeitstag. Ich vermag sogar genau die Worte anzugeben, mit denen der Vorhang aufging.

»Gibt es hier nichts zu essen?«

Auf den großen Rasenplätzen drängten sich die Gäste. Viele meiner näheren und entfernteren Verwandten waren darunter. Einige hatten während der Zeiten meiner Armut dieses entfernterer sogar sehr betont. Diese ihre nunmehr wieder zögernd hervorgekehrte Zuneigung konnte mich nicht sonderlich befriedigen.

Mehr oder weniger oberflächliche Begrüßungen austauschend war ich von Gruppe zu Gruppe geschlendert, ohne mich irgendwo aufzuhalten. Und da klangen plötzlich jene Worte an mein Ohr. sie wurden von einer mir völlig unbekannten jungen Dame geäußert.

Ich war so überrascht, dass ich nicht sofort antwortete. Man musste die Fremde zweifellos bildhübsch nennen. Ihre Augen lachten und derartige Augen sind wohl die verführerischste Gabe, die der liebe Gott einer Frau mitzugeben vermag. Im ersten Moment verstand ich nicht gleich, was sie wollte, denn wir Männer kümmern uns meistens eher und mehr um Getränke als ums Essen.

»Gewiss«, beeilte ich mich schließlich zu sagen. »Wenn sie sich einen Augenblick gedulden wollen, besorge ich ihnen etwas.«

Dabei deutete ich auf einige unter einem Baum gruppierte Stühle und machte mich auf die Suche. Erfrischungen gab es sowohl drinnen im Haus als auch bei einem im Freien aufgeschlagenen Zelt. Überall standen essende und trinkende Menschen umher. Es ist schon erstaunlich, was für Mengen von Nahrungsmitteln bei derartigen Gelegenheiten vertilgt werden.

Unterwegs begegnete mir zum Glück ein Diener, über dessen Tablett ich mich hermachte. Ich versorgte mich mit ein paar Gläsern Champagner, etlichen belegten Brötchen, eine Portion Eis und ein paar Erdbeeren. Die Letzteren dürften Ende April ein nettes Stück Geld gekostet haben.

Als ich mit Schätzen beladen zu meiner neuen Bekannten zurückkehrte, blickte sie beifällig zu mir auf.

»Sie machten mir gleich einen brauchbaren Eindruck«, kommentierte sie.

Ich schwieg. Es genügte mir, mich neben ihr niederzulassen und sie zu beobachten. Wer sie wohl sein mochte? Ihre blauen Augen standen in interessantem Gegensatz zu dem rabenschwarzen, schimmernden Haar. Die ganz zart hellbraun getönte Hautfarbe zeigte einen Anflug von Rosa. Das kleine ovale Gesicht verriet Lebhaftigkeit.

Von weiblicher Kleidung verstehe ich nicht viel, doch kam mir die ihrige mindestens ebenso schön und so kostspielig vor, wie die der meisten anwesenden Damen. Manche meiner Verwandten sahen wohl im Vorbeigehen herüber, doch wenn sie auch mir zunickten, so schien doch niemand meine Nachbarin zu kennen. Ich selbst ahnte nur so viel, dass sie Amerikanerin war. In den modernen amerikanischen Tonfilmen klingt das Amerikanische allerdings meistens schrill und unangenehm, aber der Rede dieses Mädchens zu lauschen, tat wohl.

»Sie halten mich wohl für einen Zaungast?« bemerkte sie und ließ eine Erdbeere zwischen den Lippen verschwinden. »Bin ich aber gar nicht. Sarah Peeble hat mich eingeladen.«

»Oh, sie verdächtigen mich eines Gedankens, der mir gänzlich ferne liegt«, versicherte ich. »Ich suchte sie nun in meiner Erinnerung unterzubringen. Bei dem heutigen Volksfest kann es wohl vorkommen, dass man einander nicht sofort erkennt.«

»Sind sie anonym?«, fragte sie und sah mich lachenden Auges an. So verstand ich jedenfalls den Wortlaut ihrer Frage, ohne sie jedoch dem Sinne nach zu begreifen. Meinte sie, ich sei inkognito anwesend oder hielt sie mich für einen anonymen Schriftsteller? Vermutlich erriet sie meine törichten Gedanken, denn sie fuhr schnell fort,

»Am Ende sind sie gar ein Lord?«

»Nein«, musste ich gestehen. »Ich heiße ganz schlicht Ronald Patton.«

»Aber ich bildete mir ein, dass in ihren Kreisen jedermann einen Adelstitel trägt.«

Ich setzte ihr auseinander, dass derlei vom Grade der Verwandtschaft abhinge. Zwar war mein Großvater Graf, doch da ich der jüngste Sohn eines jüngsten Sohnes bin, konnte ich mich keines Titels rühmen. Lord Paulton war für mich Onkel Egbert, ohne dass der Glanz seiner Lordschaft auf den Neffen abfärbte.

»Das enttäuscht Sie?« stichelte ich.

»Nicht sehr. Sie sehen nur so hochgestochen aus.«

»Hochgestochen?« echote ich. »Das Wort ist mir neu. Was meinen sie damit?«

Sie lachte leise und wohlklingend. »Das lässt sich schwer erklären. Jedenfalls finde ich, dass sie so nach Lord aussehen, wie nur irgendeiner der Anwesenden.«

»Oh, wir sind ziemlich einfache Leute. Wie aber soll ich sie nennen... Prinzessin?«

Ihre Augen funkelten mich an. »Nein, nein, ich bin nur Mary Correlan. Ich kenne auch Sarah Peeble nur oberflächlich. Sie ist aber ein sehr nettes Mädchen und sieht blendend aus.«

Ich murmelte einige zustimmende Worte, als eine junge Dame und ein Herr dicht bei uns vorüberkamen. Die Dame winkte mir zu.

»Holla, Schulmeisterlein, da bist du ja!«, rief sie. »Nun, wir sehen uns wohl noch nachher?«

»Bildschön«, flüsterte meine Nachbarin bewundernd. »Wer ist denn das?«

»Meine Cousine Ursula Firth.« Lächelnd setzte ich hinzu, »Lady Ursula Firth.«

»Wieso ist sie eine Lady, wo sie doch nichts sind?«

»Eine meiner Tanten heiratete den Earl of Glendulock. Die Töchter eines Earls erben aus Höflichkeit den Titel?«

»Aber warum nannte sie sie Schulmeisterlein?«

»Ich war eine Zeit lang als Lehrer angestellt und Ursula und ich, wir vertragen uns immer recht gut.«

»Lehrer? - Da hat man sie aber früh dran gekriegt. Wie alt sind sie denn?«

»Über dreißig. Fast so alt, dass ich ihr Vater sein könnte.«

»Kaum. Ich werde selbst demnächst zweiundzwanzig. Haben sie die Schulmeisterei an den Nagel gehängt?«

»Gott sei Dank! Ich habe von anderer Seite inzwischen genug zum Leben geerbt. Jetzt schriftstellere ich so ein bisschen oder versuche es wenigstens.«

Eigentlich bin ich von Natur aus ein zurückhaltender Mensch und dennoch plauderte ich hier mit einem unbekannten Mädchen vertrauter, als ich es seit Langem mit irgendjemand getan hatte. Offenbar besitzen manche Leute die Gabe, andere zum Reden zu bringen. Mary Correlan veranlasste mich, von mir zu erzählen, während ich doch in erster Linie etwas von ihr hören wollte. Meinen Fragen aber wich sie aus.

»War das George Peeble, der mit ihrer Cousine ging?«, fragte sie.

»Ja, der Bruder der Braut und Erbe des Titels. Kennen sie ihn?«

»Nicht persönlich. Man hat ihn mir nur einmal gezeigt.«

»Er ist die verkörperte Romantik. Noch vor kurzem sah es aus, als werde er sich nach irgendeiner bescheidenen Stellung umsehen müssen und jetzt wird er einmal ein Vermögen erben, das ihm an die zwanzigtausend Pfund im Jahr abwirft. Im nächsten Januar wird er mündig.«

Wieder kam George bei uns vorüber. Diesmal mit einer anderen Begleiterin. Die Augen meiner neuen Bekannten folgten ihm während er über den Rasen schritt.

»Wie ergab sich dieser Wechsel der Umstände?«

»Durch eine Verkettung trauriger Ereignisse. Sein Vater war der vierte Sohn des Namensinhabers und hatte sozusagen sechs Vorderleute, denn seine älteren Brüder besaßen ihrerseits Kinder. Drei von ihnen fielen in Frankreich, einer an Bord eines Schiffes und einer in Ägypten. Die ganze Generation war ausgelöscht. Nach dem Tode eines weiteren Bruders kam Onkel Egbert an die Reihe, der dadurch plötzlich zum reichen Mann wurde.«

»Und George ist sein Erbe?«

»Ja. Er hat nur noch Schwestern, die dem Gesetz nach nicht für die Erbschaft infrage kommen.«

»Ein abscheuliches Gesetz. Angenehm, in eurem Land als Mädchen geboren zu werden!«

»Ja nun«, sagte ich, »der Titel verpflichtet zu Ausgaben und streng genommen ist das Vermögen gar nicht Eigentum des Inhabers. Er bekommt es nur als Fideikommiss, also als Lehen. Sonst hätte irgendeine Ur-Ur-Großtante es ja schon vor Generationen in eine andere Familie verpflanzen können.«

Sie schien über das Gehörte nachzudenken, während sie immer noch hinter dem jungen George hersah. Droben auf der Terrasse musizierte ein Orchester und er machte gerade einer Gruppe bewundernder Mädchen etliche schwierige Tanzschritte vor.

»Wer würde denn auf ihn folgen?«, fragte Mary Correlan.

»Der kleine George, der erst noch geboren werden muss.«

»Und wenn es den nicht gibt?«

»Ich weiß nicht. Sein Vater, Onkel Egbert, hatte einen jüngeren Bruder namens Nicholas. Er ging schon als halbes Kind auf Reisen und hat seit vielen Jahren nichts von sich hören lassen. Jetzt müsste er schon an die siebzig sein, ist aber wahrscheinlich tot. Stimmt das und stieße George jetzt etwas zu, dann würde der Titel erlöschen.«

»Es sei denn, Nicholas hätte kleine Nicks gehabt?«

»Nun, davon würde man doch wohl im Lauf der Zeit gehört haben. Übrigens möchten Georges Eltern, dass er bald heiratet. Sollte eigentlich gar nicht so schwer sein. Die Weiblichkeit scheint sich jedenfalls lebhaft für ihn zu interessieren.«

Mary Correlan antwortete nicht.

»Soll ich sie einander vorstellen?« neckte ich.

»Dazu kennen sie mich doch selbst zu wenig«, lachte sie.

»Dann erzählen sie etwas mehr.«

»Da ist nichts zu erzählen.«

Ich brachte trotzdem so viel heraus, dass sie zum ersten Mal in England weilte und dass sie bei einem Onkel namens Randolph Nissen in dessen Haus am oberen Ende des Dorfes wohnte. Sie hatte irisches Blut in den Adern, war aber in Chicago geboren. Geschwister besaß sie nicht. Ihre Mutter lebte nicht mehr, doch der Vater war mit ihr herübergekommen und hielt sich derzeit in London auf.

Wiederum passierte uns Ursula Firth, diesmal mit einem unserer vielen gemeinschaftlichen Onkel. Sofort fing meine Nachbarin an, von ihr zu reden.

»Sie dürfen auf ihre Cousine stolz sein. Sie ist bei Weitem die Hübscheste hier.«

»Sagen wir - beinahe.«

Mein Blick unterstrich die Bedeutung der Worte, doch überhörte Mary Correlan das versteckte Kompliment.

»Müssten sie nicht eigentlich ein wenig zu ihr gehen? Sie scheint ihnen etwas sagen zu wollen.«

»Das eilt nicht. Wir bleiben sowieso noch ein paar Tage hier, sodass ich sie noch oft zu sehen bekommen werde. Es sei denn, sie verschwindet wieder zeitweilig auf ihre besondere Weise.«

»Das klingt ja ganz geheimnisvoll. Wie macht sie denn das?«

»Sie müssen wissen, dass Ursula eine sehr moderne Frau und dementsprechend etwas unberechenbar ist. Vor etlichen Monaten, als ich bei Bekannten auf dem Lande weilte, fiel es ihr, die gleichfalls eingeladen war, plötzlich ein, unterwegs ihre Absicht zu ändern und wo anders hinzufahren. Sie telegrafierte an mich: Bitte entschuldige mich bei Tante Eleanor und schicke den Koffer da und da hin.«

»Famos! Und was sagte Tante Eleanor dazu?«

»Nicht viel. Ursula genießt einige Vorrechte. Aber nun zu ihnen selbst, wie lange gedenken sie hier in der Gegend zu bleiben?«

»Nur ein Weilchen.«

»Wie kann ich sie jedoch wiedersehen... und wann?«

Sie lachte. »Nett von ihnen, das zu sagen. Es wäre ja auch ein schweres Unglück, wenn wir einander gleich wieder aus den Augen verlören, wie?«

»Eine Tragödie wär das! Was kann man dagegen tun?«

Ehe sie zu antworten vermochte, hieß es auf einmal, dass das junge Paar aufbrechen wollte. Alles drängte dem Hause zu. Die näheren Verwandten füllten die Halle und die übrigen Gäste stellten sich beiderseits der Einfahrt auf. Im Gedränge wurde ich von Mary Correlan getrennt und fand mich plötzlich neben Mrs. Gregory, der alten Hausmeisterin, wieder. Eingekeilt in der Menge war es mir unmöglich, nach dem Verbleib meiner bisherigen Gefährtin zu suchen.

Die Einzelheiten des Aufbruchs kann man sich ausmalen. Die leidende, im Rollstuhl gefahrene Brautmutter weinte. Lord Paulton stand neben ihr, ein feiner alter Herr von betont aristokratischem Aussehen.

Nach wenigen Minuten erschienen die Neuvermählten. Ein Sturm guter Wünsche und ungezählter Küsse brach los. Die Braut trug ein Reisekostüm aus grauem Tweed, wozu ihr der kleine, eng anliegende Hut ganz entzückend stand.

Auch ich erlebte noch eine flüchtige Umarmung. Dann fuhr das neubereifte, mit Maskottchen versehene Auto unter einer Wolke von Blumen langsam davon.

Die Gäste verzogen sich. Da ich im Hause wohnte, musste ich mich noch von einigen Tanten und Cousinen verabschieden, die ich bisher vernachlässigt hatte.

»Hallo, Ronnie - wer war denn die Kleine, mit der du dich die ganze Zeit abgegeben hast?«

Der junge George, Sohn und Erbe des Hauses, beehrte mich mit dieser Frage. Er war ein nett aussehender junger Mann, doch deutete jetzt sein etwas gerötetes Gesicht darauf hin, dass er dem Champagner mehr zugesprochen hatte, als ihm guttat.

»Eine Freundin von Sally«, sagte ich. »Übrigens habe ich dich für viel zu beschäftigt gehalten, derlei zu bemerken.«

»Durchaus nicht«, grinste er. »Hübsche Mädchen übersehe ich nicht so leicht. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben, Ursula hat mich darauf aufmerksam gemacht. Meinte, sie sei die schönste von allen. Nimm dich in acht Ronnie, solche Feste wie heute wirken ansteckend!«

Was sich solche unreife Burschen doch herausnehmen! Es lohnt sich aber wirklich nicht, sie ernst zu nehmen. Schon rannte er wieder einer anderen nach und abermals sah ich mich nach Mary Correlan um. Warum sollte ich auch nicht? Offenbar hatten sie und Ursula aneinander Gefallen gefunden, so verschieden auch ihre Charaktere sein mochten. Ich wollte ihr gar zu gerne Lebewohl sagen, vermochte sie jedoch nirgends aufzutreiben. Sie musste wohl mit den ersten Gästen aufgebrochen sein. Dafür traf ich Ursula. Sie war offenbar etwas erregt.

»Sieh da, unser Schulmeisterlein! Weißt du, wer das Mädchen war, das dir so ausnehmend gut gefiel?«

Nun ist Ursula meine Lieblingscousine. Zwar war sie damals erst neunzehnjährig, aber wir haben einander von jeher sehr gut verstanden. In den Tagen, da ich noch die Stellung einnahm, von der sie sprach, zog sie mich häufig zu Familienvergnügungen hinzu, während die anderen mein Dasein überhaupt ganz vergessen hatten. Vielleicht habe ich mich ihr meinerseits hin und wieder nützlich erweisen können. Jedenfalls bestand so etwas wie echte Freundschaft zwischen uns. Dennoch ärgerte ich mich ein wenig, wie sie über meine harmlose Unterhaltung mit der Fremden sprach.

»Sie schien hier unbekannt zu sein«, erwiderte ich leicht verstimmt. »Da war es wohl nur recht und billig, dass ich mich ihrer annahm.«

»Dieses Annehmen habe ich jedenfalls auch bemerkt«, versetzte sie schnippisch. »Hast dich gehörig einwickeln lassen, mein guter Ronnie. Deine junge Dame ist nämlich eine Gaunerin!«

 

 

 

Zweites Kapitel: Fehlt nichts?

 

 

»Dein Witz ist nicht gerade geschmackvoll, zumal ihn andere Leute gehört und ernst genommen haben können.«

Ich nahm natürlich an, dass Ursula scherzte.

»Es soll auch gar kein Witz sein, mein Lieber, denn ich meine es vollkommen ernst. Was fangen wir jetzt an?«

»Vielleicht drückst du dich zunächst einmal deutlicher aus. Wie kommst du zu dieser haarsträubenden Verdächtigung einer eingeladenen Dame? «

»Ach du lieber, pedantischer Schulmeister! Gewiss, sie ist ausnehmend hübsch, aber dass du dich derartig Hals über Kopf in sie verlieben würdest, das hätte ich wahrhaftig nicht gedacht. Was weißt du denn überhaupt von ihr?«

»Dass sie eine Freundin Sallys ist.«

»So... wirklich? Das hat sie dir natürlich selbst erzählt, wie? Unterhielt sie sich denn mit ihr?«

Es fiel mir nachträglich auf, dass Mary von der Braut als Sarah gesprochen hatte, statt den familiären Rufnamen zu benutzen, der von der Familie und den Freunden gebraucht wurde. Allerdings hatte sie sich auch keiner engen Beziehung gerühmt. Und dafür, dass die Braut nicht mit ihr geplaudert hatte, fand sich leicht eine Erklärung.

»Ich denke, Miss Correlan wurde zusammen mit den übrigen Gästen empfangen und deren waren etliche Hunderte.«

»Unter denen sich Kreti und Pleti befinden konnten. Hast du vielleicht gesehen, wie sie hereinkam?«

»Natürlich nicht. - Aber was sollte eine Gaunerin überhaupt hier zu suchen haben?«

Höchst widerwillig kam mir das Wort über die Lippen, denn ich war mir sicher, dass es auf Mary Correlan ganz gewiss nicht zutraf.

»Hör doch bloß einer den an!« spottete Ursula. »Der Gabentisch biegt sich geradezu unter der Last der Geschenke vom Diamantdiadem bis zum Serviettenring. In viele Tausende geht der Wert. Unter den Gästen sind viele alte Witwen, die zur Feier des Tages ihren Familienschmuck ausgegraben haben. Und du fragst noch, was eine Diebin anlocken könnte!«

»Verzeih, in Wirklichkeit ging meine Frage dahin, wieso du zu deinen Beschuldigungen berechtigt bist.«

»Nun, du hast die Person ja ausgiebig unter deine Obhut genommen. Wo aber war sie zum Beispiel, als das junge Paar aufbrach?«

»Wie soll ich das wissen? In dem plötzlichen Gedränge gerieten wir auseinander. Übrigens hatten wir auch gar nicht die Absicht, beisammen zu bleiben.«

»Deine Absichten kenne ich natürlich nicht, mein Lieber, sie aber schlich sich jedenfalls zu der Garage hinaus.«

»Wozu das?«, fragte ich, denn es schien in der Tat ein wenig auffallend. »Fuhr sie weg?«

»Oh, nein, sie traf nur einen Helfershelfer. Knurre nicht gleich Ronnie, es ist so.«

Es mag sein, dass ich brummte, zumal ich kein Wort von der Geschichte glaubte.

»Wer soll denn das gewesen sein?«

»Gekleidet war er als Chauffeur. Die bequemste Tracht zu einer Besprechung in der Garage.«

»Wahrscheinlich war es auch ihr Chauffeur, dem sie irgendeine Anweisung gab.«

»So? - Und dieser Chauffeur nannte sie beim Vornamen - Mary.«

»Weiter nichts?«, rief ich, mein Befremden verbergend. »Der ist vielleicht ein armer Verwandter -  vielleicht sind die Amerikaner umgänglicher als wir. Woher weißt du das überhaupt?«

Ursula kann ein geradezu spitzbübisches Gesicht machen und aus Erfahrung wusste ich, dass sie mich gerne neckte. Auch jetzt tat sie dabei ganz ernsthaft.

»Weißt du, Schulmeisterlein, ich möchte dich ja nur vor Unheil bewahren. Du stecktest den ganzen Nachmittag mit ihr zusammen und wenn sie ertappt wird, kann das auch für dich unliebsame Folgen haben. Man wird behaupten, dass du ihr allerlei Informationen gegeben hättest,«

»Offenbar bist du zu früh der Kinderstube entschlüpft, Ursula. Wird gut sein, wenn du noch einmal für ein Jahr dahin zurückkehrst.«

Damit ließ ich sie stehen. Ich kann einen Witz vertragen, aber er muss gut sein. Sie aber eilte mir nach und ergriff meinen Arm.

»Hör doch erst zu. Ich will dir noch mehr verraten.«

Die Worte allein bewiesen, dass sie mit ihrer Neckerei immer noch nicht fertig war. Ich konnte mich ihr jedoch nicht entziehen, weil sie mit mir Schritt hielt.

»Ich hatte etwas im Auto liegen lassen«, fuhr meine Cousine fort, »und mein kleiner Sunbeam-Sam stand ganz eingekeilt in der Masse der anderen Wagen. Kein Mensch war da, denn alles wollte die Abfahrt des jungen Paares sehen. Dann aber bemerkte ich ein Mädchen - eben deine Bekannte - das sich behutsam durch die Autos wand, und zwar ganz in meiner Nähe. Sie sah mich nicht und gleich darauf trat jener Chauffeur zu ihr.

»Hallo, Mary«, flüsterte er. »Klappt es?«

»Ja, jetzt ist die beste Gelegenheit. Sie sind alle vorne beim Eingang.«

»Ich habe alles ausgekundschaftet«, sagte er. »Es ließe sich auch heute Nacht durchführen.«

»Besser du machst dich gleich daran, während ich aufpasse.«

»Nein«, versetzte er, »du drückst dich. Es würde auffallen, wenn man dich sähe.«

»Danach«, fuhr Ursula in ihrem Bericht fort, »wechselten sie noch einige Worte, die aber zu leise waren, als dass ich sie hätte verstehen können. Nachdem sie sich entfernt hatten, suchte ich dich auf. Was nun?«

Dass Mary Correlan mit ihren lieben lachenden Augen eine gewöhnliche Diebin sein konnte, wollte mir nicht in den Sinn. Dennoch gab es nach Ursulas Darstellung keine andere Erklärung. Der moderne Verbrecher ist ja sehr vielseitig und meine Cousine hatte insofern recht, dass sich zu dieser Zeit in Paulton-Park eine gewaltige Beute machen ließ.

»Wie sah denn der Chauffeur aus, Ursula? Würdest du ihn wiedererkennen?«

»Vermutlich. Ein großer, dunkel aussehender Mensch war es, glattrasiert und mit einer Narbe am Mund.«

Ich überlegte.

»Fehlt denn irgendetwas?«

»Bisher ist nichts davon bekanntgeworden. Zur Bewachung der Geschenke sind Detektive da.«

»Und wie steht es mit dem Familienschmuck der Witwen?«

»Die einzigen, wirklich sehr wertvollen Stücke sind Tante Agathas Smaragde. Vorhin hatte sie sie noch an. Stelle dir vor, man fände Tante Agatha ausgeplündert und tot in einem verlassenen Auto!«

»Bitte, versuche es wenigstens einmal, ernst zu bleiben, liebe Ursula. Wenn nichts abhandengekommen ist, dann irrst du dich eben mit deinen Vermutungen oder es gibt heute Nacht etwas.«

»Schön, wir werden also unter der Hand bekannt geben, dass sich zweifelhafte Elemente - Freunde von dir - in der Nähe herumtreiben und dass sich daher jedermann vorsehen soll. Die Geschenke schafft man in Onkel Egberts Stahlkammer, wo sie gut aufgehoben sind und Tante Agatha kann meinetwegen ihre Smaragdkette um die Beine wickeln und damit zu Bett gehen. Da wird sie schon niemand suchen!«

In ihrer modernen Art neigte Ursula dazu, alle Dinge von der leichten Seite zu nehmen. Um weitere Anspielungen ihrerseits zu vermeiden, bat ich sie nur, die Sache mir zu überlassen. Dann verließ mich meine Cousine und eilte dem jungen George nach.

Die Festlichkeiten des Tages sollten mit einem Diner und anschließendem Tanz enden. Ich fand dabei reichlich Gelegenheit, meinen Gedanken nachzuhängen.

In unseren Zeiten organisierten Verbrechens schien es immerhin denkbar, dass eine englische oder amerikanische Bande irgendwo in der Nähe ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatte, von wo aus sich Beutezüge unternehmen ließen. Auch mochten die Leute zu ganz besonderem Zweck ein weibliches Mitglied bestimmt haben, das in der ersten Gesellschaft aufzutreten wusste. Aber sollte das Mädchen wirklich eine Verbrecherin sein? Ich konnte es mir nicht vorstellen.

Erst gegen morgen endete der Ball. Bis dahin war nichts vorgefallen und im Stillen freute ich mich, Onkel Egbert nicht in überflüssiger Weise beunruhigt zu haben. Ich schlief jedoch nicht, ja ich versuchte es erst gar nicht, denn ich fühlte, dass ich mehr oder weniger zum Wachbleiben verpflichtet war. Meine Besorgnisse erwiesen sich als unbegründet, denn es geschah nichts und am nächsten Morgen fehlte nicht ein einziger Teelöffel.

Abermals sprach ich mit Ursula. Es herrschte allgemeine Aufbruchsstimmung. Die Gäste, die über Nacht geblieben waren, reisten ab, doch sollte ich persönlich noch ein paar Tage bleiben. Tante Sophie mochte mich recht gern und meinte zudem, ich habe einen guten Einfluss auf ihren lieben George. Auch ihr Patenkind Ursula und zwei andere Verwandte, Edna und Percy Hallitt blieben. Nach der Unruhe der letzten Wochen sollte es nun etwas stiller im Hause zugehen. Die Hochzeitsgeschenke reisten ab - zum Mindesten die wertvollsten - sofern sie sich leicht befördern ließen. Ich atmete selbst auf, als sie fort waren.

»Na, Ursula, du hast uns eigentlich wegen nichts und wieder nichts in Aufregung versetzt«, sagte ich.

Es ging auf elf Uhr vormittags. Sie war gerade herunter gekommen und sah frisch und munter aus, als habe sie die ganze Nacht geschlafen.

»Hoffentlich habe ich dich nicht um deine Ruhe geprellt«, lächelte sie. »Vielleicht verdanken wir unsere Sicherheit nur den getroffenen Maßnahmen.«

»Ich glaube, das alles war nur ein Missverständnis. Wer weiß, was du da gehört hast?!«

»Ob ich mal bei ihr vorspreche?« erwog sie, meine Bemerkung überhörend.

»Bei wem?«

»Bei deiner Mary Correlan. Sie bewohnt mit ihrem Onkel Randolph Nissen das Landhaus The Willows. Ich habe mich bereits ein wenig erkundigt, möchte aber mal persönlich vorbei schauen.«

»Und womit willst du deinen Besuch begründen? Vielleicht fragst du gleich, wieso der Einbruch misslang.«

»So sehe ich aus! Natürlich werde ich die Augen offenhalten. In erster Linie aber will ich sie auffordern, zum Tennisspielen herüberzukommen. Soll ich was ausrichten?«

»Gewiss nicht. Ich meine überhaupt, du lässt das. Höchstwahrscheinlich ist ja dein ganzer Verdacht Unsinn, aber sie her zu holen, dazu liegt eigentlich auch kein Grund vor.«

»Wo sie doch Sallys Freundin ist. Das hast du doch jedenfalls behauptet. Obendrein bin ich noch niemals in einer Räuberhöhle gewesen. Das wird ein großartiges Erlebnis!«

Mir schien es angebracht, das Thema zu wechseln.

»Hast du schon daran gedacht, dass Cal Mackay vermutlich übermorgen eintreffen wird, Ursula? Was willst du ihm sagen?«

Ich spielte auf einen gemeinsamen Bekannten an. Vor über Jahresfrist, als ich noch Lehrer in Rugton war, hatte mir ein wohlhabender Amerikaner seinen Sohn anvertraut, damit ich ihm die historischen Stätten Europas zeige. Gelegentlich eines Besuches stellte ich ihn auch meiner Cousine Ursula vor und offenbar verliebten sich die beiden auf den ersten Blick.

Cal war ein famoser Mensch. Er wurde mein bester Freund und rettete mir sogar einmal das Leben, als ich es mit einer ganzen Bande von Raufbolden zu tun bekam. Ich hätte mich riesig über eine Ehe zwischen ihm und Ursula gefreut, doch damals hatte sie gerade die Schule verlassen und er studierte noch. Jedenfalls aber verbrachte er meistens seine Ferien in unserer Gegend, sodass sich die beiden häufig zu sehen bekamen, wenn auch zunächst eine entscheidende Aussprache unterblieb.

Jetzt aber wollte Cal offenbar Ernst machen. Er war nur ein Jahr älter als George Peeble, mit dem er sich sehr gut vertrug. Da nun Cal dem Namen nach mein Gast sein sollte, hatte ich mein Verweilen in Paulton-Park davon abhängig gemacht, dass ich ihn mitbringen dürfe. Das war bereitwilligst gestattet worden.

»Was ich Cal sagen will?«, wiederholte Ursula. »Dass ich mich natürlich freue, ihn wiederzusehen.«

»Und wenn er eine schwerwiegende Frage stellt?«

»Oh«, sie geruhte sogar, ein wenig zu erröten, »das dürfte ganz von meiner jeweiligen Stimmung abhängen!«

Lachend ließ sie mich stehen. Ich aber gedachte genau das zu tun, was sie angeregt hatte, und schlug den Weg zu The Willows ein, um mir das Hauptquartier einer Verbrecherbande anzusehen.

 

 

 

Drittes Kapitel: Wahrsagerei

 

 

Es war ein strahlender Morgen. Zu Fuß ging ich vom Park aus durch das kleine Dorf Paulton. Das gesuchte Haus war nicht schwer zu finden, zumal der Name The Willows auf das niedrige, weiß gestrichene Tor gemalt war. Von dort aus führte eine Auffahrt zu dem ziemlich gewöhnlich aussehenden, roten Backsteinhaus.

Das ganze Grundstück mochte zwei Morgen umfassen. Auf der einen Seite wurde es von einem kleinen Wasserlauf begrenzt, an dessen Ufer viele Weiden standen. Das Anwesen lag ziemlich einsam ungefähr zwei Kilometer vom Dorf entfernt. Im Übrigen war nichts Unheimliches an diesem zweistöckigen Landhaus des englischen Mittelstandes.

Einige Minuten trieb ich mich beim Tor herum. Den Haupteingang konnte ich nicht sehen, da die Front des Hauses nach Süden lag und die Einfahrt in einem großen Bogen durch den Garten verlief.

Innerhalb der Einzäunung gewahrte ich ein Auto. Ich nahm an, dass es den Bewohnern gehöre, denn der Mann, der sich daran zu schaffen machte, entsprach Ursulas Beschreibung des Chauffeurs. Breitschulterig, dunkel und wenig angenehm aussehend, machte ihn vor allem die Narbe am Mund kenntlich. Er trug eine gewöhnliche Livree und unterhielt sich mit einem kleinen, hemdsärmeligen Burschen, in dem ich den Gärtner vermutete. Die ganze Szene hatte etwas durchaus Alltägliches. Es wäre lächerlich gewesen, irgendetwas Übles zu argwöhnen.

Wenn ich gehofft hatte, Mary Correlan selbst anzutreffen, so sah ich mich enttäuscht. Auch ihr Onkel blieb unsichtbar. Auf die Dauer konnte ich nicht am Zaun stehen bleiben und zu einem Besuch fehlte mir der Anlass. Außerdem war ich mir selbst nicht darüber klar, ob ich vorzusprechen wünschte. Es waren keinerlei verbrecherische Anschläge gemacht worden, ich hatte das Haus gesehen, wo die Leute wohnten, und damit war der Fall eigentlich erledigt.

So dachte ich wenigstens, als ich dem Besitztum den Rücken wandte, doch sollte es anders kommen. Zunächst setzte ich meinen Spaziergang fort. Jener Teil der Grafschaft Suffolk ist sehr waldreich und daher besonders schön zur Zeit des jungen Frühlingslaubes. Es war meine Absicht, erst zum Lunch heimzukehren.

Ich erreichte alsbald ein großes Waldstück, dessen Boden mit einem Teppich von Schlüsselblumen bedeckt war. Ich drang daher ins Unterholz ein, war jedoch nur wenige Schritte gegangen, als ich Stimmen vernahm. Die eine gehörte offenbar einem Mädchen und klang scharf, wenn nicht ein wenig verängstigt.

»Ich habe kein Geld und will mir auch nicht wahrsagen lassen.«

Die anderen schienen gleichzeitig zu sprechen. Ich hörte eine weinerliche, bettelnde Frauenstimme: »Glückliche Zukunft, schöne Dame. Geben sie mir, was sie wollen«, und daneben das heisere, drohende Organ eines Kerls: »Eine nette Halskette haben se da - die werden se doch nie vermissen.«

Es folgten eine hastige Bewegung und dann ein Schrei. Ich stürzte auf das Geräusch zu und stand im nächsten Moment auf einer kleinen Lichtung, wo ich Mary Correlan in den Armen eines Landstreichers gewahrte, während das wahrsagende Weib ganz gelassen dem Überfall zusah.

Noch im Laufen schrie ich sie an. Der Mann stutzte und im selben Augenblick machte Mary einen heftigen Befreiungsversuch. Der Räuber hatte sich in die Halskette und den Kragen ihres leichten Kleides gekrallt. Die Perlen fielen zu Boden und der dünne Stoff zerriss. Ein Teil davon blieb in den schmutzigen Klauen des Kerls zurück.

Seine Gefährtin kreischte auf und verschwand in den Büschen, wohin ihr der Landstreicher folgte, sodass ich mit Mary Correlan allein zurückblieb. Sie zitterte, teils wohl aus Furcht, teils aus Zorn. Obendrein schämte sie sich wohl ein wenig, denn schnell faltete sie die Arme über ihrer halb entblößten Brust. Ich aber zog schnell meinen Rock und meinen Pullover aus und reichte ihr den Letzteren.