Der Junge, der mit Jimi Hendrix tanzte - Wolfram Hänel - E-Book

Der Junge, der mit Jimi Hendrix tanzte E-Book

Wolfram Hänel

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Beschreibung

Ein Mann mit einem Beil im Kopf kommt frühmorgens aus der U-Bahn gewankt, ein anderer bringt seine Beate-Uhse-Puppe zur Tankstelle, um Luft aufzufüllen, im Luxusschrebergarten serviert ein Sternekoch Bratwürstchen für den Ex-Kanzler – und die beiden Freunde Appaz und Kerschkamp fahren 33 Jahre nach dem Abitur auf ein Klassentreffen ins Landheim des Gottfried-Wilhelm-Gymnasiums. Aber während die ehemaligen Mitschüler zunehmend belanglose Anekdoten aus der gemeinsamen Zeit zwischen 1966 und 1975 erzählen, haben Appaz und Kerschkamp mit der Schule noch eine alte Rechnung offen, die sie gerne begleichen würden. Als dann plötzlich jemand auftaucht, an den sich niemand erinnern kann, gerät die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit unerwartet außer Kontrolle. Ein autobiografisch geprägter Roman über den Ausbruch aus der häuslichen Spießigkeit der Jahre um 1968, es geht um Beatmusik, lange Haare, das erste Moped, den ersten Joint, den ersten Sex und den Traum von der Revolution – und um die Generation der Eltern und Lehrer, deren hilflose Überforderung nur allzu oft in Ignoranz und Repression umschlug.

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Wolfram Hänel

Der Junge, der mit Jimi Hendrix tanzte

Eine Jugend in den siebziger Jahren

Roman

Unveränderte Wiederauflage

© der Originalausgabe: 2009 Ullstein Taschenbuch, Ullstein

Buchverlage GmbH · Berlin

© 2021 Literanover by zu Klampen Verlag · Röse 21 ·

31832 Springe · www.zuklampen.de

Umschlaggestaltung: © Stefan Hilden unter Verwendung von Motiven von www.shutterstock.com und von Wolfram Hänel (Foto) · München · www.hildendesign.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH · Rudolstadt

ISBN Printausgabe 978-3-86674-788-3

ISBN E-Book-Pdf 978-3-86674-894-1

ISBN E-Book-Epub 978-3-86674-895-8

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.

Für U. und H.,

wie immer.

Zur freundlichen Kenntnisnahme

durch den aufmerksamen Leser:

Alle Personen und Handlungen in diesem Roman

sind frei erfunden -

bis auf die, die gar nicht erst erfunden

werden mussten,

weil sie ohnehin schon unglaublich genug sind!

Allerdings möchte der Autor betonen,

dass er nie zu einem Abiturtreffen eingeladen war.

Demzufolge hat er auch nie bei einem solchen Anlass

seinen ehemaligen Klassenlehrer wiedergetroffen.

Und er hat auch nicht die leiseste Ahnung,

wie ein solches Treffen wohl ablaufen könnte -

die entsprechenden Szenen sind also vollständig

seiner schriftstellerischen Phantasie entsprungen.

Aussagen, die im Dialog gemacht werden,

geben im Übrigen nicht unbedingt

die Meinung des Autors wieder.

»Köpfe abschlagen ist nicht sehr klug.

Die Stecknadel, der man den Kopf abschlug,

fand, der Kopf sei völlig entbehrlich,

und war nun vorn und hinten gefährlich.«

Erich Kästner

1

Als Appaz den Mann mit dem Beil im Kopf sieht, ist es kurz nach ein Uhr nachts. Und natürlich hat Appaz zu-viel getrunken und verflucht jetzt jedes einzelne Bier des Abends. Bis auf die ersten zwei oder drei vielleicht, als noch alles in Ordnung war und er sich köstlich über die Geschichte amüsierte, die Kerschkamp gerade zum Besten gab. Wie er, Kerschkamp, beim Zahnarzt im Wartezimmer gesessen und eher zufällig einen Blick aus dem Fenster geworfen hatte, wo in eben diesem Moment ein Mann die Straße überquerte, mit einer Aufblaspuppe von Beate Uhse unter dem Arm, und zielstrebig die Tankstelle auf der gegenüberliegenden Seite ansteuerte. Um dann in aller Ruhe mit dem Reifenprüfgerät neue Luft in seine Puppe zu füllen, bis sie wieder prall und glatt war!

Die Geschichte ist gut gewesen, und Appaz hat noch gedacht, dass sie vielleicht als Anfang für einen Roman taugen könnte. Aber jetzt zweifelt er einen Moment lang daran, ob er jemals wieder einen Roman schreiben wird. Vielleicht landet er eher im nächsten Landeskrankenhaus in der geschlossenen Abteilung, wo er dann für den Rest seines Lebens weiße Mäuse zählt. Oder was auch immer ihm sein fortschreitendes Delirium sonst an Bildern vorgaukeln wird. Wenn das hier alles nicht wahr ist, denkt er noch, und ich hoffe, dass es nicht wahr ist, dann werde ich nie wieder einen Tropfen Alkohol anrühren, das schwöre ich bei allen Aufblaspuppen dieser Welt. Und ich werde den Teufel tun und irgendjemandem erzählen, dass ich tatsächlich für einen Moment geglaubt habe, nachts um kurz nach eins auf dem Weg zur U-Bahn einen Typen mit einem Beil im Kopf zu sehen.

Aber auch als er die Augen fest zusammenkneift und gleich darauf wieder aufreißt, hat sich die Szenerie nicht verändert. Der Kerl ist immer noch da, und das Beil steckt immer noch in seinem Kopf. Das Bild ist verdammt echt. Ein alter Mann, das erkennt Appaz jetzt ganz deutlich, die Schultern der Jacke dunkel vom Nieselregen, die nackten Füße in den ausgelatschten Filzpantoffeln unter der Schlafanzughose käsig weiß. Ein dünner Blutfaden zeichnet eine verschwommene Linie von der Stirn bis zum Kinn.

Das Beil wirkt wie ein schlechter Witz, aber es ist ohne jeden Zweifel da.

Appaz blickt sich um. Irgendwie hat er die vage Hoffnung, dass vielleicht Kerschkamp mit seinem Fahrrad noch mal umgedreht hat und jetzt zurückkommt, um ihm zu versichern, dass auch er den Alten mit dem Beil sieht. Aber Kerschkamp ist und bleibt verschwunden. Und auch sonst ist niemand zu sehen. Nur eine tote Taube liegt mit verdrehtem Hals im Rinnstein. Zögernd macht Appaz einen Schritt auf den Alten zu. Der Alte hebt die Hand, als wollte er winken. Irgendwo bellt ein Hund.

Der Hund hat schon vorher gebellt, daran kann sich Appaz erinnern. Aber vielleicht ist das auch ein anderer Hund gewesen, denkt er jetzt. Ich muss mich bemühen, dass ich nicht alles durcheinanderbringe. Es gibt mehr Hunde als nur einen. Und ein bellender Hund ist kein Beweis dafür, dass ich noch richtig ticke. Oder dass ich wirklich mit Kerschkamp in der Kneipe war. Obwohl es ihm andererseits keine Schwierigkeiten macht, sich den Ablauf des Abends ins Gedächtnis zu rufen. Wenn es denn so gewesen ist…

Sie haben wie üblich in ihrer Ecke neben dem Flipper gehockt, der schon außer Betrieb ist, seit Appaz sich mit Kerschkamp am ersten Freitag jeden Monats im »Voss« trifft. Und wie üblich war das Voss wieder brechend voll, nicht zum ersten Mal hat Appaz vorgeschlagen, dass sie sich vielleicht an einem anderen Tag treffen sollten. Aber Kerschkamp hat auf dem vor Jahren eher zufällig entstandenen Termin beharrt, als würde jede Veränderung den Bruch mit ehernen Prinzipien bedeuten.

»Wir brauchen irgendeine Konstante, kapierst du?«, hat Kerschkamp erklärt. »Irgendwas, was nicht in Frage gestellt werden kann, sonst geht alles den Bach runter. Und außerdem ist es auch einfacher so, Susanne hat sich dran gewöhnt und ich muss nicht jedes Mal neu diskutieren, ob es gerade passt oder nicht. Der Termin steht, und sie weiß, dass sie mir da gar nicht erst mit irgendwas Anderem zu kommen braucht.«

Susanne ist Kerschkamps Frau und bis auf das eine oder andere belanglose Gespräch bei irgendeiner Geburtstagsfeier kennt Appaz sie kaum. Im Stillen mutmaßt er ohnehin, dass Susanne nicht gerade begeistert ist von der Freundschaft zwischen ihm und Kerschkamp, wahrscheinlich hat sie Sorge, dass sein Einfluss Kerschkamp nicht unbedingt guttut. Aber wie auch immer sich Kerschkamp mit Susanne arrangiert, ist nicht Appaz’ Sache. Er ist sowieso der Letzte, der sich ein Urteil anmaßen kann, wenn es um Beziehungen geht, nicht umsonst lebt er jetzt schon seit bald drei Jahren wieder alleine.

Er und Kerschkamp haben jedenfalls ziemlich schnell hintereinander die ersten paar Bier getrunken, dann hat Kerschkamp sich »einmal Curry-Pommes« bestellt. Appaz hat keinen Appetit gehabt, obwohl das Voss für seine Currywurst berühmt ist. Sogar der Ex-Kanzler ist für diese Currywurst früher ins Voss gekommen, noch zu seinen Juso-Zeiten, böse Zungen behaupten, dass von damals auch seine Abneigung gegen Lehrer rührt. Der Ex-Kanzler kommt jetzt nicht mehr, die Lehrer sind geblieben. Genauso wie die Dozenten, Ärzte und Anwälte, die den Stadtteil schon für sich entdeckt haben, als die Fünf- und Sechszimmerwohnungen in den ehemals hochherrschaftlichen Häusern aus der Jahrhundertwende auch für Wohngemeinschaften noch bezahlbar waren. Geblieben ist auch die Einrichtung, die, wenn überhaupt, das letzte Mal renoviert worden ist, lange bevor der Ex-Kanzler hier seine erste Currywurst bekommen hat. Und genauso geblieben ist der barsche Umgangston, mit dem die Bedienung jedem, der nicht zu den Stammgästen gehört, seinen Platz an einem der langen Holztische zuweist, ohne irgendeinen Widerspruch zu dulden. Geduzt werden ohnehin alle, und wer es aus Mangel an Erfahrung nicht besser weiß und sein Bier am Tisch bezahlen will, wird unwirsch mit den Strichen auf dem Deckel zur Theke geschickt. Ein zweites Mal jedenfalls begeht keiner diesen Fauxpas. Seit kurzem hängt hinter der Theke eine Urkunde, die die Kneipe laut dem Londoner Guardian als »one of the best bars in Europe« ausweist: »A typical German pub with local beer and delicious pub classics such as Currywurst.«

Appaz’ Verhältnis zu dem Szenetreff ist eher gespalten, und als der Wirt Kerschkamp zu dessen fünfzigstem Geburtstag ausgerechnet hat, dass er im Laufe der Jahre bei ihm gut und gerne ein Reihenhaus in Bier umgesetzt hat, hat Appaz das bei weitem nicht so witzig gefunden wie der überwiegende Teil der anderen Gäste. Allerdings ist auch Kerschkamp bei dieser Eröffnung merklich still geworden, was aber dennoch nicht zu einer Reduzierung seines Bierkonsums geführt hat. Und, ehrlich gesagt, kann man im Voss auch kaum etwas anderes tun, als Bier auf Bier zu trinken, die Akustik ist lausig und gleicht der einer Bahnhofshalle, spätestens ab zwanzig Uhr versteht man in den hohen Räumen kaum noch sein eigenes Wort.

An den Freitagabenden kommt erschwerend hinzu, dass sich im Keller eine Rockband ihren Übungsraum eingerichtet hat, Lehrer des benachbarten Gymnasiums, die die Jahre bis zu ihrer Pensionierung zählen und sich so lange jeden Freitag aufs Neue mit respektabler Beharrlichkeit ausgerechnet an Songs wie »Dead End Street« versuchen. Meist aber scheitern sie schon am ersten Rhythmuswechsel, noch vor der Zeile »What are we living for?«.

Appaz erinnert sich, wie die Glasscheibe des Flippers im Rhythmus der Bässe gezittert hat. Und wie Kerschkamp sich den letzten Bissen Currywurst in den Mund geschoben und gegen den Lärm angebrüllt hat: »Ich muss dir überhaupt noch eine Geschichte erzählen, du, was mir neulich passiert ist…!«

Das war dann die Sache mit der Gummipuppe. Und Kerschkamp hat per Handzeichen noch mal zwei Bier geordert. Als kurz darauf die Bedienung kam und sich vorbeugte, um neue Kugelschreiberstriche auf ihre Deekel zu malen, brachte Kerschkamp seine Geschichte ein zweites Mal an. Diesmal allerdings war aus dem vorher nicht näher beschriebenen Mann ein Typ im Anzug geworden, der die Puppe aus dem Kofferraum seines Jaguars holte, »irgend so ein Banker oder Anwalt oder so was«, schrie Kerschkamp der Bedienung ins Ohr, und die Bedienung lachte und strich Kerschkamp im Weggehen wie zufällig über den Arm. Appaz ist sich nicht mehr so ganz sicher gewesen, was an Kerschkamps Geschichte nun eigentlich dran war. Außerdem hat er sich gefragt, ob Kerschkamp und die Bedienung sich womöglich besser kannten, als er bisher dachte.

Wenig später haben die Lehrer im Keller nach einer verunglückten Version von »Death of a Clown« endgültig aufgegeben. Nacheinander kamen sie durch die Hintertür ins Voss und quetschten sich dann mit ihren Bieren in die Ecke zu Appaz und Kerschkamp. Sie kennen sich schon länger, einer der Lehrer hat Appaz’ Tochter früher in Deutsch unterrichtet. Und einige Male hat es Appaz auch durchaus genossen, sich in irgendwelche Diskussionen über den desolaten Zustand des Bildungssystems verwickeln zu lassen. Heute allerdings hat er keine Lust auf die Mischung aus Wut und Verzweiflung und den zunehmenden Zynismus gehabt, mit dem die Lehrer versuchen, die letzten Jahre ihres Berufslebens zu überstehen.

Kerschkamp schien es ähnlich zu gehen, er hat Appaz einen kurzen Blick zugeworfen und sein Tabakpäckchen aus der Tasche geholt. Appaz hat sich vor ihm her zur Tür gedrängt.

Sie sind dann nicht die einzigen gewesen, die rauchend vor dem Voss auf dem Fußweg standen. Eine Frau nickte Appaz zu, er konnte sie beim besten Willen nicht einordnen, grüßte aber freundlich zurück. Kurz darauf hat er zum ersten Mal den Hund bellen gehört. Er erinnert sich jetzt auch, dass Kerschkamp noch irgendeinen Kommentar zu dem Bellen abgegeben hat. Vielleicht auch zu Hunden im Allgemeinen, zu herrenlosen Hunden, die einem nachts auf dem Rückweg aus der Kneipe plötzlich den Weg verstellen. Oder so ähnlich. Jedenfalls lehnte Kerschkamp an der Haus wand und laberte ohne Pause, als wollte er die durch die Lautstärke im Voss verlorengegangene Redezeit wieder wettmachen. Und er hat schon deutlich Mühe gehabt, die Konsonanten klar voneinander zu trennen.

Aber Appaz hat sowieso nur halb hingehört. Weil er sich ärgerte, nicht vor der Raucherpause noch mal pinkeln gegangen zu sein und jetzt überlegen musste, ob er sich wieder den langen Weg zurück durch die Menschenmassen bis zum Klo quetschen sollte.

Und dann hat Kerschkamp plötzlich gesagt: »Wir gehen da hin, du und ich. Wir beide. Und dann mischen wir den Laden mal so richtig auf.«

»Was? Wohin?«

»Habe ich doch eben erzählt! Ein Abitreffen, von unserem alten Jahrgang. Wo sie uns immer nicht einladen, du weißt schon. Aber diesmal hab ich den Termin im Netz entdeckt. Und wir gehen dahin, ist doch wohl klar!«

Appaz hat einen Moment gebraucht, bis er begriff. Ein Klassentreffen, dreiunddreißig Jahre nach dem Abitur, bei dem sie damals mit Pauken und Trompeten durchgefallen sind. Weshalb sie auch bisher nie eingeladen wurden, wenn ihre ehemaligen Mitschüler irgendein rundes Jubiläum feierten. Aber jetzt hatte Kerschkamp den Termin also in irgendeiner Leute-Such-Maschine entdeckt und war offensichtlich wild entschlossen, es ihnen allen heimzuzahlen.

»Ohne mich«, hat Appaz nach kurzem Zögern erklärt, »ich will da nicht hin.«

»Du musst! Alleine mache ich das nicht.«

Und dann hat Appaz so was wie einen Filmriss. Sie müssen wohl noch eine Weile mit den Lehrern zusammengesessen haben, Appaz meint sich undeutlich an eine hitzige Diskussion über die neue CD von Jack Bruce erinnern zu können, dass Robin Trower zwar ohne Frage ein exzellenter Gitarrist ist, aber kaum Raum für Jack Bruce selber lässt. Und dass solche Experimente ohnehin keinen Sinn machen, nachdem Bruce, Clapton und Baker ja mit ihrem Reunion-Konzert in der Royal Albert Hall bewiesen haben, dass nichts über die alten Songs von Cream geht, in der alten Besetzung! Später dann hat Kerschkamp sein Fahrrad neben Appaz hergeschoben, um ihn noch bis zur nächsten Ecke zu bringen. Es hat angefangen zu nieseln, Appaz hat sich den Reißverschluss seiner Lederjacke zugezogen, als Kerschkamp pinkeln musste, hat Appaz solange das Fahrrad gehalten. Und kurz vor ihrem Abschied hat Kerschkamp noch zu einem erleuchteten Fenster hinaufgezeigt und gesagt: »Weißt du noch? Da oben waren wir mal zusammen auf einer Fete! Das muss elfte Klasse oder so gewesen sein, mit den ganzen alten Leuten noch. Wäre doch vielleicht sogar ganz schön, die alle mal wieder zu sehen, oder? Also überleg es dir, Alter, ich rufe dich an!«

Damit hat er sich auf sein Rad geschwungen und ist in Schlangenlinien in die Fußgängerzone eingebogen.

Und Appaz hat den Mann mit dem Beil im Kopf gesehen.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragt Appaz. »Wohin wollen Sie?«

»Ich muss ins Krankenhaus«, stammelt der Alte und zeigt mit fahriger Hand auf das Beil.

»Klar«, sagt Appaz schnell und greift nach seinem Arm. »Kommen Sie, das Krankenhaus ist gleich da vorne, ich bringe Sie hin.«

Ignorier das Beil einfach, sagt er zu sich selbst, genauso wie den Blutfaden im Gesicht und die Schlafanzughose. Zumindest die Idee mit dem Krankenhaus macht Sinn. Ich hoffe nur, dass uns nicht ausgerechnet jetzt jemand entgegenkommt. Wahrscheinlich wirken wir nicht gerade vertrauenerweckend.

Aus dem gleichen Grund schiebt er auch sein Handy zurück in die Tasche. Das Risiko, irgendeiner Streifenwagenbesatzung eine Erklärung geben zu müssen, erscheint ihm deutlich zu groß. Stattdessen lenkt er den Mann in die richtige Richtung und führt ihn dann leicht am Ellbogen.

Der Mann schlurft neben Appaz her. Das Beil zittert bei jedem Schritt. Appaz’ Knie zittern ebenfalls. »Wie ist das passiert?«, fragt er leise.

»Meine Alte«, kommt mit leichter Verzögerung die Antwort. »Wir hatten Streit.«

»Klar«, sagt Appaz wieder. Er beugt sich unauffällig vor, um im Licht einer heftig blinkenden Schaufensterreklame den Aufdruck auf dem Stiel des Beils zu lesen. Ein Heimwerkermarkt, der mit der Aufforderung »Besorg’s dir selber« wirbt.

»Nur noch über die Straße, dann sind wir da …«

In der Wärmeschleuse zwischen den Eingangstüren hängt kalter Zigarettenrauch. Der Mann an Appaz’ Arm hustet.

»Nicht«, sagt Appaz mit besorgtem Blick auf das Beil und schiebt ihn weiter. Die Filzpantoffeln klatschen bei jedem Schritt mit einem schmatzenden Geräusch auf den Fliesenboden.

Der Pförtner sitzt mit gekrümmtem Rücken auf seinem Drehstuhl, den Kopf in die Hand gestützt. Mit leerem Blick starrt er auf den tragbaren CD-Spieler vor sich, eine Hörbuch-CD plärrt schlecht gebaute Dialoge. Die Stimme des einen Sprechers kommt Appaz vage bekannt vor.

»Ein Notfall«, erklärt Appaz. »Wir brauchen einen Arzt.«

Ohne aufzublicken klickt der Pförtner das Menü auf dem Bildschirm an.

»Name, Vorname, Anschrift, Geburtsdatum, Krankenkasse …«

»Ein Notfall«, sagt Appaz noch mal, »ich glaube, Sie sollten möglichst schnell einen Arzt holen.«

»Name und Vorname«, wiederholt der Pförtner automatisch und eindeutig genervt, während er bemüht ist, nur ja kein Wort von seiner Hörbuchgeschichte zu verpassen. Der Name des Sprechers ist Dietmar Bär, fällt Appaz unerwartet ein.

Er beugt sich durch das geöffnete Schiebefenster und drückt die Aus-Taste des CD-Spielers.

»Ich fürchte, Sie haben mich nicht ganz verstanden …«

Ärgerlich ruckt der Pförtner hoch. Er hat schon den Mund geöffnet für irgendeine scharfe Zurechtweisung, dann weiten sich seine Augen vor Schreck.

Appaz nickt. Da sind wir immerhin schon zwei, die sich erschreckt haben, denkt er. Und: Ich gönne dir deinen Schreck, du Sack!

»Damit müssen Sie rüber in die Notaufnahme«, stammelt der Pförtner. Als er Appaz’ Blick sieht, hebt er abwehrend die Hände. »Schon gut, ich rufe den diensthabenden Chirurgen …« Er greift zum Telefon. Während er auf die Verbindung wartet, irren seine Augen ziellos über die Schalter und blinkenden Lämpchen auf dem Pult vor ihm. Auf seiner Stirn bilden sich dicke Schweißperlen.

Er ist noch jung, denkt Appaz, und es wird nicht mehr lange dauern, bis er eine Glatze hat. Er überlegt, ob auch Pförtner als Ein-Euro-Kräfte eingestellt werden. Eher nicht, denkt er, aber jemand mit einer Behinderung ist wahrscheinlich im Vorteil gegenüber Nicht-Behinderten. Bleibt die Frage, ob eine Glatze mit Mitte Zwanzig bereits als Behinderung gilt. Ein Beil im Kopf ist dagegen mit Sicherheit eine ernstzunehmende Behinderung. Ich muss mich zusammenreißen, denkt Appaz. Verdammter Alkohol! Sowie die Sache hier geklärt ist, mach ich mich vom Acker. Ich will nur noch warten, bis der Arzt kommt. Fast hätte er gekichert. Bis der Arzt kommt. Das ist so ein Spruch, den er immer schon blöd gefunden hat: Trinken, bis der Arzt kommt …

Der Pförtner nuschelt etwas in den Hörer. Appaz versteht nur »Beil im Kopf«.

»Kommt gleich jemand«, erklärt der Pförtner an Appaz gewandt. Seine Stimme ist kaum mehr als ein heiseres Flüstern.

»Kommt gleich jemand«, gibt Appaz an den Mann mit dem Beil im Kopf weiter. Er greift wieder den Arm des Alten und führt ihn zu einem grell orangefarbenen Plastikstuhl. Aus den Augenwinkeln sieht er, wie der Pförtner aus seiner Loge stürzt und hinter der Tür mit der Aufschrift »Patienten-WC« verschwindet.

Er klopft dem Mann neben sich beruhigend auf die Schulter. Der Alte ist vielleicht noch gar nicht so alt. Appaz schätzt ihn auf Ende sechzig, vielleicht Anfang siebzig. Er hat jetzt die Augen geschlossen, seine Knie zittern unkontrolliert, er knetet die leberfleckigen Hände im Schoß.

Mach mir jetzt bloß nicht schlapp, denkt Appaz, und meint eigentlich eher sich selbst als den Alten. In der Pförtnerloge klingelt das Telefon.

Eine Ärztin kommt vom Fahrstuhl her durch die Halle. Die blonden Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, statt des üblichen weißen Mantels trägt sie ein blaues Kittelhemd.

Appaz geht ihr entgegen.

»Ich bin die Neurochirurgin hier im Haus. Der Pförtner hat irgendwas gesagt, dass Sie nicht in die Notaufnahme …«

Appaz weist mit dem Kopf hinter sich.

Mit ein paar schnellen Schritten eilt die Ärztin an ihm vorbei. Als sie sich zu dem Mann mit dem Beil im Kopf bückt, sieht Appaz, wie sie hart schluckt. Aber ihre Augen versuchen, den Blick des Mannes auf sich zu ziehen, mit ihren Händen stoppt sie einen Moment das nervöse Auf und Ab seiner Knie. Ihre Hände sind überraschend groß und kräftig.

»Wir setzen Sie jetzt ganz vorsichtig in den Rollstuhl da drüben und dann …«

»Wieso wir?«, hakt Appaz sofort ein. »Ich …«

Die Ärztin wirft ihm einen schnellen Blick zu.

»Ich brauche Ihre Hilfe. Es ist niemand weiter da.«

Schulterzuckend holt Appaz den Rollstuhl. Das linke Vorderrad ist blockiert und zieht quietschend einen schwarzen Gummistreifen über den Fußboden.

Sie fassen den Mann mit dem Beil im Kopf unter den Achseln und hieven ihn auf den Sitz des Rollstuhls.

»Wer von Ihnen hat eigentlich diese unglaubliche Fahne?«, fragt die Ärztin.

»Ich, aber … also ich war den ganzen Abend in der Kneipe und dann, als ich zur U-Bahn wollte, da stand er da und … Aber ich gehe jetzt auch, ich muss los.«

»Nein.« Wieder der schnelle Blick. Die Augen der Ärztin sind von einem leuchtenden Blau, das kein Ausweichen zulässt »Ich brauche Sie noch.«

»Ich bin müde«, setzt Appaz noch mal an. Er blickt auf seine Uhr. »Es ist nach eins, und … ich bin betrunken. Ich muss jetzt los, wirklich.«

»Ich habe Kaffee auf der Station. Gerade frisch aufgesetzt.«

Keine Chance, denkt Appaz. Ich weiß nicht, wieso ich nicht trotzdem gehe, sie kann mir gar nichts, ich bin schneller draußen, als sie gucken kann. Aber sie hat irgendwas, was mich hier festhält. Und es ist lange her, dass mich jemand zum Kaffee eingeladen hat. Oder so. Egal. Auf zehn Minuten kommt es jetzt auch nicht mehr an.

Auf dem Weg zum Fahrstuhl rutscht dem Mann einer seiner Pantoffeln vom Fuß. Appaz schiebt ihn in das Netz, das von der Rückenlehne des Rollstuhls baumelt.

Die Ärztin spricht jetzt leise mit dem Alten, der angestrengt darüber nachzudenken scheint, wieso einer seiner Füße des Filzpantoffels beraubt ist. Als der Fahrstuhl anruckt, drückt sie beruhigend seine Hand.

Es scheint keine Frage zu sein, dass Appaz mit ins Behandlungszimmer kommt. Diesmal ist er es, der dem Mann gut zuredet, während die Ärztin dessen Ärmel hochstreift, um ihm irgendeine Spritze zu setzen.

»Er hat vorhin erzählt, dass er Streit mit seiner Frau gehabt hat«, berichtet Appaz in dem unklaren Versuch, sich nützlich zu machen. »Es scheint so, als hätte sie ihm das Beil …«Er macht eine hilflose Geste in Richtung des Altmännerschädels.

Die Ärztin nickt. Behutsam tastet sie mit den Fingern das Umfeld der Klinge ab. Als sie die Aufschrift auf dem Stiel des Beils sieht, verdreht sie die Augen. Dann rollt sie den Mann zum Röntgenzimmer.

Appaz wartet auf dem Gang. Und als die beiden zurückkommen, tappt er wie selbstverständlich hinter ihnen her, wieder in den Behandlungsraum.

Die Ärztin wirft einen Blick auf die Röntgenbilder. »Es scheint tatsächlich nur oberflächlich zu sein«, sagt sie mehr zu sich selber als zu Appaz. »Die Klinge ist im Knochen steckengeblieben. Soweit ich sehen kann, ist das Gehirn nicht verletzt. Obwohl er eigentlich komatös sein müsste, aber …«

Sie stellt sich vor den Alten und holt tief Luft. Dann zieht sie mit einem kurzen Ruck das Beil aus dem Schädel des Mannes. Der Alte zeigt kaum mehr Reaktion als ein unwillkürliches Zucken mit dem Hals.

Appaz guckt schnell woandershin und klammert sich an die knochigen Schultern unter dem feuchten Jackett, bis der Schwindelanfall vorbei ist.

»Er hat Glück gehabt«, sagt die Ärztin, als sie das Beil auf einen Tisch legt.

»Und … das war’s schon?«, fragt Appaz und merkt, wie seine Stimme zittert.

Ohne eine Antwort zu geben, beginnt die Ärztin, die Wunde zu vernähen. Appaz bewundert sie im Stillen. Das ist cool, denkt er, echt cool. Sollte ich mal ein Beil im Kopf stecken haben, möchte ich auch, dass sie es mir rauszieht. Ich sollte sie vielleicht nach ihrem Namen fragen.

Plötzlich ist ein Zivi da. Seine Augen flackern unsicher in einem Gesicht, das nach Schlaf schreit. Entweder ist er noch nicht lange dabei, denkt Appaz, oder er hat sich die halbe Nacht mit Gras zugedröhnt. Die Wolke, die den Zivi umgibt, lässt eher Letzteres vermuten.

Als die beiden anfangen, dem alten Mann die nassen Klamotten auszuziehen, geht Appaz wieder auf den Gang hinaus. Er überlegt, ob er die Gelegenheit nutzen und einfach verschwinden soll. Aber er will die Ärztin ja noch nach ihrem Namen fragen.

Nach einer Weile kommt der Zivi mit dem Bett. Appaz greift nach der Hand des Alten, die kraftlos über den Rand hängt, und legt sie ihm vorsichtig auf den Bauch.

»Also dann«, sagt er und nickt der Ärztin zu. »War nett, Sie kennengelernt zu haben.« Er wartet, bis der Zivi um die Ecke ist. »Ach ja, ich wollte noch fragen …«

»Gehen wir ins Arztzimmer«, unterbricht ihn die Ärztin. »Ich habe Ihnen ja einen Kaffee versprochen. Und den Papierkram müssen wir auch noch erledigen.«

Appaz folgt ihr. Unter der blauen Baumwollhose zeichnet sich deutlich ihr Slip ab. Auf der Rückseite des Kittelhemdes sind ein paar verwaschene Blutflecken.

Dann sitzen sie sich gegenüber an einem Schreibtisch, dessen Platte nahezu vollständig von irgendwelchen Papieren und einem Wirrwarr aus Arzneimittelpackungen, Rezeptblöcken und Werbekugelschreibern verschiedener Pharmafirmen bedeckt ist. Es regnet inzwischen stärker. Die Regentropfen lassen den Blick durch die Scheibe nach draußen verschwimmen und trommeln eintönig auf das Fensterbrett.

Die Ärztin dreht abwesend ihren Kaffeebecher zwischen den Händen. Appaz verbrennt sich gleich mit dem ersten Schluck die Zunge, lässt sich aber nichts anmerken, sondern zieht sich nur die Jacke auf und streckt die Beine aus. Der Schirm der Schreibtischlampe ist gegen die Wand gedreht. Eine Kinderzeichnung hinter Glas zeigt ein Mädchen im Krankenbett; die Sternschnuppe, die am oberen Bildrand für immer festhängt, ist leuchtend gelb.

Appaz würde gerne rauchen. Er räuspert sich.

»Das ist mir auch noch nicht passiert«, sagt die Ärztin im selben Moment. »Aber neulich hatte ich zwei junge Männer, beide Fixer, beide schwul. Der Eine hatte dem Anderen ein Messer in den Hals gerammt, irgendeine Eifersuchtsgeschichte. Aber dann hat er Angst gekriegt, dass er ihn umgebracht hat, und ist mit ihm hierhergekommen. Mit einem blutdurchtränkten Küchenhandtuch auf der Wunde.«

»Und?«

»Zum Glück hatte er nicht die Ader getroffen.«

Sie lacht. Dann beugt sie sich vor und streckt Appaz die Hand hin.

»Darleen.«

Für einen kurzen Augenblick ist er irritiert. Aber Darleen klingt nicht nach einem Nachnamen.

»Kurt«, sagt er also und schüttelt die ausgestreckte Hand. Nur um seine eigene gleich darauf zurückzuziehen und hektisch in der Innentasche seiner Lederjacke nach einer Autogrammkarte zu suchen.

»Auf der Rückseite steht meine Homepage«, sagt er. »Und E-mail und alles.«

Die Ärztin blickt auf das Foto und zurück zu Appaz.

»Sie sind das also. Ich kenne einen Roman von Ihnen. Hat Spaß gemacht, ihn zu lesen. Aber dass ich jetzt hier plötzlich mit Ihnen sitze, hätte ich nie gedacht!«

»Mit dir«, korrigiert Appaz. »Darleen und Kurt. Du hast damit angefangen, nicht ich.«

»Kurt«, wiederholt die Ärztin lachend. »Gut. Gerne.«

Appaz überlegt, ob er fragen soll, welchen Roman sie gelesen hat. Aber die Frage erscheint ihm plötzlich zu heikel. Er will es gar nicht so genau wissen, vielleicht würde sie etwas sagen, was ihm nicht gefällt. Lass es langsam angehen, denkt er, ich weiß ohnehin gar nicht, was das hier werden soll…

Mit sicherem Griff fischt die Ärztin jetzt eine Zigarettenschachtel aus dem Chaos auf ihrem Schreibtisch. Der Aschenbecher ist in der obersten Schublade versteckt und müsste dringend geleert werden.

Sie hält Appaz die Schachtel hin.

»Ich dachte, Ärzte rauchen nicht«, sagt Appaz.

»Ärzte trinken auch zu viel, die meisten jedenfalls.«

Appaz nickt. »Schriftsteller auch. Fallada soll angeblich 140 Zigaretten am Tag geraucht haben. Und Jack London hat nur deshalb morgens um vier schon zu schreiben angefangen, weil er unbedingt tausend Worte geschafft haben wollte, bevor er sich den ersten Whiskey genehmigte, so gegen acht dann.«

Du redest Blödsinn, denkt er gleichzeitig, was um alles in der Welt laberst du da? Doch dann erzählt er auch noch von Erich Kästner, der ebenfalls Kettenraucher war und grundsätzlich nicht vor zwei Uhr mittags aufstand, weil er jede Nacht in der Kneipe verbrachte. Aber wenigstens die Geschichte von Brendan Behan spart er sich, der seine Schreibmaschine gleich auf der Theke aufgebaut hatte und zwischendurch gerne auch mal ins Spülbecken kotzte.

Die Ärztin lässt ihr Feuerzeug aufflammen. Unter ihren Augen sind dunkle Schatten, die Appaz vorher nicht bemerkt hat.

Als es an der Tür klopft, schrecken beide hoch. Der Zivi stammelt irgendwas, dass der Alte wieder bei sich ist und unbedingt nach Hause zu seiner Frau will.

Die Ärztin drückt ihre Kippe aus.

»Ich muss mich kümmern«, sagt sie zu Appaz.

»Und der Papierkram?«, fragt Appaz. »Soll ich hier warten?«

Die Ärztin schüttelt den Kopf.

»Schlaf dich aus. Und nimm eine Aspirin, bevor du ins Bett gehst, damit du morgen ein paar zusammenhängende Sätze aufs Papier bringst.«

Dann ist sie auch schon zur Tür raus.

Appaz steht einen Moment unschlüssig vor ihrem Schreibtisch, bevor er nach einem Kugelschreiber greift und seine Handynummer auf der Autogrammkarte notiert. »Ich würde mich freuen«, schreibt er dahinter, »K.«

Der Pförtner guckt schnell weg, als Appaz aus dem Fahrstuhl kommt.

Draußen regnet es immer noch. Am Eingang zur UBahn-Station zögert Appaz einen Moment. Dann entschließt er sich, zu Fuß zu gehen. Wahrscheinlich ist die letzte U-Bahn ohnehin längst weg, denkt er, und es ist lange her, dass du nachts alleine durch die Stadt gelaufen bist, wird mal wieder Zeit für einen ordentlichen Fußmarsch. Und deinem Kopf kann es nur gut tun, Alter.

Als wieder irgendwo ein Hund bellt, muss er grinsen. Wenn sie sich das nächste Mal sehen, wird er Kerschkamp von dem Mann mit dem Beil in Kopf erzählen. Dagegen ist die Geschichte mit der Gummipuppe gar nichts, das wird auch Kerschkamp zugeben müssen. Von Darleen wird er ihm nichts erzählen. Oder vielleicht doch, das macht die ganze Sache vielleicht glaubwürdiger. Quatsch. Gerade das wahrscheinlich nicht. Du bist immer noch betrunken, denkt er, und guck mal, da vorne ist die Fahrschule, wo Kerschkamp und ich den Führerschein gemacht haben, aber damals haben wir noch auf einem Käfer gelernt und nicht auf einem tiefergelegten Golf mit Regensensoren und solchen Sachen! Wie lange kennt er jetzt Kerschkamp eigentlich schon? Bestimmt fast vierzig Jahre, nein, sie sind ja schon in der Volksschule zusammengewesen, das macht über vierzig Jahre, mindestens.

So viel Zeit, denkt Appaz, aber wir sind immer noch befreundet, und das ist gut.

Zu Anfang mochte Appaz Kerschkamp nicht besonders. Kerschkamp war groß und dick und schwitzte stark, und außerdem war Appaz sich sicher, dass Kerschkamp ihm gleich in der ersten Woche seine Buntstifte geklaut hatte. Aber als er sich endlich traute und Kerschkamp zur Rede stellte, drohte der ihm eine Tracht Prügel an und lauerte ihm dann tatsächlich am nächsten Tag vor der Schule auf, um ihn mit wüsten Schimpfworten und gezielten Schlägen und Tritten bis in die Klasse zu verfolgen. Woraufhin Karin und Trixi Kerschkamp in der Pause vor aller Augen so verdroschen, dass er Appaz schon fast wieder leid tat.

Die Lehrerin hatte dann ausgerechnet die Idee, Ap-paz und Kerschkamp nebeneinander zu setzen, damit sie Freunde würden, wie sie hoffnungsvoll erklärte. Aber Appaz wollte gar nicht mit Kerschkamp befreundet sein. Und Kerschkamp teilte ihren gemeinsamen Tisch kurz entschlossen mit einem Kreidestrich genau in der Mitte und warnte Appaz: »Wenn du über die Linie kommst, gibt es Krieg.«

Damit war die Sache erst mal geklärt. Sie erneuerten jeden Tag den Kreidestrich und taten im Übrigen so, als wäre der andere gar nicht da.

Das hielten sie erstaunlich lange durch. Vor allem im Sportunterricht wandten sie alle möglichen Tricks an, um nur ja nicht in dieselbe Mannschaft zu kommen, und als Trixi sie unerwartet zusammen zu ihrem Geburtstag einlud, gingen sie beide nicht hin. Appaz und Kerschkamp waren unversöhnliche Feinde, so viel stand fest.

Ansonsten gefiel es Appaz in der Volksschule am Rehmer Feld eigentlich recht gut. Der Rektor begrüßte morgens am Eingang jeden Einzelnen von ihnen mit Namen, in Deutscher Schrift bekam Appaz eine Eins mit Sternchen und sein im Religionsunterricht gemaltes Bild von Abraham inmitten seiner Schafherde wurde in der Pausenhalle aufgehängt, mit einem Schild daneben, auf dem in ordentlichen Großbuchstaben für jeden zu lesen stand: Kurt Appaz.

Ihre Klassenlehrerin war eine »Hausfrauen-Lehrerin«, die aufgrund akuten Lehrermangels eingestellt worden war und jetzt die ihr anvertrauten Schüler in Lesen und Schreiben, Rechnen und Heimatkunde auf den Ernst des Lebens vorbereiten sollte - eine Aufgabe, der sie eher mit mütterlicher Indifferenz als mit Strenge nachkam. Appaz fand sie nett, vor allem wenn sie ihn wieder mal überschwänglich für das fehlerfreie Auf sagen der Gedichte von Hölty oder Hermann Löns lobte. Zu Weihnachten schenkte er ihr dann auch einen selbst gebastelten Strohstern. Und selbst die Musiklehrerin fand er nett, obwohl sie Appaz beim gemeinsamen Singen stets in die letzte Reihe stellte. Wo allerdings auch Kerschkamp jedes Mal landete. Und da in der letzten Reihe passierte es auch eines Tages, dass Appaz und Kerschkamp sich eher aus Versehen plötzlich zugrinsten und sich in der Folge dann darin zu überbieten versuchten, die Texte der meist einfachen Lieder durch Stegreifreime ein bisschen aufzuwerten. Zunächst nur leise und nur für sich, schließlich und zum nicht geringen Entsetzen der Musiklehrerin zunehmend auch so, dass die anderen in den Genuss der neuen Qualität kamen und der gemeinsame Gesang in haltlosem Gekicher endete.

Kurze Zeit später verzichteten Appaz und Kerschkamp auf die tägliche Erneuerung des Kreidestrichs. Stattdessen legten sie jetzt den Weg von der Schule grundsätzlich zusammen zurück, wenn einer von ihnen sich morgens verspätete, konnte er sich sicher sein, dass der andere auf ihn wartete. Und schließlich verabredeten sie sich auch, um nach der Schule oder am Wochenende irgendetwas zu unternehmen.

Kerschkamp kam aus der »Neuen Heimat«, einer Sozialbausiedlung, von der Appaz’ Eltern wussten, dass die Bewohner »aus den Ostgebieten« stammten und nach Kriegsende in den Baracken am Misburger Mühlenweg untergebracht gewesen waren, was den Umgang mit ihnen - so verstand es zumindest Appaz - nicht unbedingt wünschenswert machte. Zwar waren auch Appaz’ Eltern Flüchtlinge aus dem Osten, aber es schien da irgendeinen wesentlichen Unterschied zu geben, über den Appaz allerdings nicht weiter nachdachte.

Im Zusammenhang mit der Neuen Heimat hörte Appaz auch zum ersten Mal das Wort »Polacken«, ohne sich darunter etwas Konkreteres vorstellen zu können als Kerschkamps Vater, der jeden Samstag in einer alten Wehrmachts-Trainingshose und schon am Vormittag mit einer Flasche Bier in der Hand ein motorgetriebenes Modellflugzeug auf der Wiese vor den Feldern zu starten versuchte. Appaz hatte dieses Geschehen zunächst immer aus sicherer Entfernung von seinem Fahrrad aus beobachtet, bis Kerschkamp ihn dann herüberwinkte und sie das Flugzeug nach jedem Fehlstart abwechselnd zu Kerschkamps Vater zurückbrachten.

Appaz wusste, in welchem Haus Kerschkamp wohnte, doch in die Wohnung kam er nie. Wenn er klingelte, kam Kerschkamp grundsätzlich keine Minute später an die Haustür, war Kerschkamp nicht da, dann riss seine Mutter das Küchenfenster auf und schickte Appaz wieder weg. Umgekehrt war Kerschkamp häufig bei Appaz zu Hause. Appaz’ Mutter schmierte ihnen dann jedes Mal dicke Brotscheiben mit frischer Leberwurst und behandelte Kerschkamp wie jemand, der ihrer besonderen Fürsorge bedurfte. Kerschkamp schien das durchaus zu genießen, und Appaz und er verbrachten lange Nachmittage auf dem Fußboden im Flur damit, mit Appaz’ Sammlung von Siku- und Wiking-Autos zu spielen. Der Geruch nach frischgebohnerten Marley-Fliesen und Leberwurst war für Appaz eng verknüpft mit seiner Freundschaft zu Kerschkamp.

Ihr beider Traum war es, genug Geld zu haben, um sich die deutlich teureren und auf der Hinterachse gefederten Matchbox-Modelle leisten zu können, die sie manchmal durch die Schaufensterscheibe des Spielwarengeschäftes in der Podbielskistraße bewunderten. Was aber Kerschkamp und Appaz vor allem in ihrer Freundschaft bestärkte, war ihre unverrückbare Abneigung, gleichzeitig mit den verschieden großen Modellen von Siku und Viking zu spielen, entweder Siku oder Wiking, darin waren sie sich von Anfang an einig gewesen. Ansonsten war Kerschkamp jetzt derjenige, der Appaz zu solchen Sachen überredete, wie das Stoppelfeld anzuzünden und dann schnell wegzurennen, oder die tote Katze, die sie eines Morgens mit aus dem Bauch quellenden Eingeweiden mitten auf dem Weg gefunden hatten, am Schwanz hinter sich her bis zur Schule zu schleifen. Mit dem Ergebnis, dass sich erst Trixi übergab und dann Karin, und die Klassenlehrerin umgehend einen Brief an Kerschkamps und Appaz’ Eltern schrieb. Aber Kerschkamp und Appaz waren für die nächsten Tage die erklärten Helden der Klasse.

Kerschkamp war es auch, der aus der sicheren Höhe des Garagendachs einer Nachbarin von Appaz’ Eltern zurief: »Du hast doch ’ne Macke, Alte!«, eine weitere Heldentat, für die Appaz seinen Freund einen Moment lang aufrichtig bewunderte. Bis Kerschkamp bei der anschließenden Flucht vom Garagendach sein Glasauge verlor, von dessen Existenz Appaz bis dahin nichts geahnt hatte, wenn ihm auch Kerschkamps Blick manchmal merkwürdig starr vorgekommen war.

Das Glasauge war und blieb verschwunden, egal wie lange sie in dem Dreck hinter der Garagenmauer danach suchten, und Kerschkamp musste mit leerer Augenhöhle nach Hause. Am nächsten Tag kam er nicht zur Schule, aber nachmittags traf Appaz ihn vor dem A&O-Laden, da kam Kerschkamp gerade vom Arzt und präsentierte stolz ein neues Glasauge, das allerdings blau statt braun war. »Braun hatten sie gerade nicht«, erklärte Kerschkamp, und Appaz versuchte, Kerschkamp nicht allzu auffällig anzustarren, er sagte nur irgendetwas wie »Ist ja nicht so schlimm, merkt man kaum.«

Kurz darauf war das Schuljahr zu Ende, und die Klassenlehrerin gab bekannt, wer nach dem Sommer auf eine weiterführende Schule kommen würde. Kerschkamp war nicht dabei, obwohl sein Zeugnis nicht schlecht war und er in Rechnen sogar eine Eins bekommen hatte. Aber sein Vater, der bei VW im Transporter-Werk in Stöcken am Band arbeitete, fand, dass es vollkommen ausreichend war, wenn Kerschkamp die Volksschule abschloss, um dann eine Lehre bei VW anzufangen.

Appaz würde aufs Gottfried-Wilhelm-Gymnasium gehen, ein »mathematisch-naturwissenschaftliches und neusprachliches Gymnasium für Knaben«, wie es auf dem Anmeldeformular stand, das Appaz’ Mutter bereits stolz ausgefüllt hatte.

Karin und Trixi waren auf dem benachbarten Mädchen-Gymnasium angemeldet. Appaz wäre wenigstens gerne mit ihnen zusammengeblieben, wenn er schon auf Kerschkamp verzichten musste. Aber dann kam doch alles ganz anders, die Klassenlehrerin hatte es irgendwie noch geschafft, Kerschkamps Vater davon zu überzeugen, dass er seinem Sohn wenigstens die Chance geben sollte, es auf dem Gymnasium zu versuchen. Und Kerschkamps Vater hatte nach langen Hin und Her tatsächlich zugestimmt. Allerdings war es jetzt Kerschkamp, dem nicht ganz geheuer dabei war und der eindeutig Angst vor dem Gymnasium hatte, auch wenn Appaz ihm immer wieder sagte, dass es bestimmt gut werden würde. Was er aber vor allem tat, um sich selber Mut zu machen.

Aber erst mal waren ohnehin noch Sommerferien, und das größte Abenteuer dieses Sommers war ohne Frage der goldfarbene Mercedes 600 Pullmann, der eines Tages bei einem Bauern gegenüber von ihrer alten Schule auf dem Hof stand und den Appaz und Kerschkamp wiederholt ehrfürchtig bestaunten. Es hieß, dass der Bauer seine sumpfigen Wiesen, die nicht mal als Kuhweiden taugten, an die Stadt verkauft hatte, die dort ein Krankenhaus bauen wollte - und über Nacht zum Millionär geworden war. Aus Kerschkamps Autoquartett wussten sie, dass der Pullmann 250 PS hatte, 6,24 Meter lang war und 28 Liter Super schluckte, alles Werte, mit denen kein anderes Auto mithalten konnte. Nur bei den jährlichen Produktionszahlen von »ca. 30 Stück« konnte man ihn ohne Mühe stechen, der Käfer war da mit einer Million der absolute Spitzenreiter.

Appaz’ Vater besaß einen Käfer »Standard«, noch älter als der »Export« in Kerschkamps Autoquartett, grau und ohne eine einzige Chromleiste, und mit einem ovalen Rückfenster, aus dem Appaz bei der jährlichen Urlaubsfahrt in die Berge oder ans Meer den nachfolgenden Verkehr beobachtete. Appaz und Kerschkamp rechneten sich aus, wie viele Käfer man für die 63 500 Mark, die der Pullmann kostete, kriegen würde. Oder wie viele Motorroller von Heinkel. Kerschkamps Vater hatte einen solchen Heinkel-Roller, schneeweiß, mit zwei zusätzlichen verchromten Scheinwerfern an der Lenkstange. Einmal, als er noch klein genug war, um zwischen seine Eltern auf den Sitz zu passen, waren sie damit sogar bis zum Gardasee nach Italien gefahren, hatte Kerschkamp erzählt.

Zwei Tage vor Ferienende fuhr Appaz’ Mutter mit Appaz zum Gottfried-Wilhelm-Gymnasium, damit er sich mit dem Schulweg vertraut machen konnte, den er demnächst täglich würde zurücklegen müssen. Am Klingerplatz über die Ampelkreuzung, mit der Linie 7 oder 3 in Richtung Stadt, bis zur Haltestelle Hammersteinstraße. Die Sammelkarten für Schüler kosteten dreißig Pfennig, waren gelb und wurden von einem Schaffner oder vom Fahrer selbst abgestempelt, die Straßenbahn war beige mit dunkelrot abgesetzten Kanten, die geteilte Frontscheibe schon nicht mehr senkrecht, sondern aerodynamisch nach hinten geneigt. Wenn Leute einstiegen, die älter als man selber waren, hatte man grundsätzlich aufzustehen, das wusste Appaz bereits von den Einkaufsfahrten in die Innenstadt.

Manchmal waren auf der Linie 7 auch noch die alten Wagen mit den beidseitigen Holzbänken eingesetzt, bei denen der Schaffner mit einem kurzen Ruck an der Zugleine über den Sitzreihen das Klingelsignal zum Anhalten oder Weiterfahren gab. Appaz gefiel vor allem das rote »Zugluft-Schild« an der Schiebetür am Gangende: »Bitte vordere Wagentür nicht während der Fahrt öffnen«, die einzelnen Buchstaben des Wortes »Zugluft« waren jeweils nach links mit ausfransenden Pinselstrichen versehen, als könnten sie sich nur mit Mühe im Wind halten. Auf einem Emailleschild unter dem Fenster stand: »Bitte nicht in den Wagen spucken!«

Appaz fand es peinlich, dass seine Mutter, kaum dass sie auf ihren Plätzen saßen, einem wildfremden Mann erzählte, dass sie zum Gottfried-Wilhelm-Gymnasium fuhren, wo Appaz in Kürze in die 5. Klasse käme. Der Mann nickte freundlich in Appaz’ Richtung, bevor er sich zu Appaz’ Mutter beugte und ihr vertraulich - aber für Appaz deutlich hörbar - zuflüsterte, er sei mit seinem Sohn auf dem Weg zum Arzt. Er zeigte auf den jungen Mann neben sich, der so tat, als würde er nicht dazugehören. Er war vielleicht Anfang zwanzig, hatte blonde Haare, die ihm bis über die Augen fielen, und eine auffällig karierte Hose an. Und er veränderte immer wieder seine Sitzhaltung, als hätte er Schmerzen.

»Hodenbruch«, erklärte sein Vater.

»Oje«, sagte Appaz’ Mutter mitfühlend.

Appaz war froh, dass er an der nächsten Haltestelle aufstehen konnte, um einer älteren Frau seinen Platz anzubieten. Er hatte keine Ahnung, was genau ein Hodenbruch war, geschweige denn, wie man einen bekam.

Das Gottfried-Wilhelm-Gymnasium war in der Röntgenstraße, Appaz’ Mutter erklärte ihm, ein Wilhelm Conrad Röntgen habe 1895 die nach ihm benannten Strahlen entdeckt und dafür den Nobelpreis für Physik erhalten - falls man Appaz in der Schule danach fragen sollte. Für Appaz waren die Röntgenstrahlen ungefähr so schwer vorstellbar wie Hodenbrüche.

Gottfried Wilhelm war ein Philosoph gewesen, darüber hatten sie schon zu Hause gesprochen, und der blonde Typ mit der karierten Hose studierte Philosophie, wie sein Vater Appaz’ Mutter erzählt haben musste, während Appaz noch über die Sache mit dem Hodenbruch grübelte. Vielleicht würde Appaz ja später auch mal Philosophie studieren, meinte seine Mutter und legte ihm aufmunternd den Arm um die Schultern, bevor sie am Eingang zum Gymnasium wieder kehrtmachten und in einem kleinen Café mit vom Zigarettenqualm vergilbten Gardinen jeder ein Stück Käsekuchen aßen, der Appaz aber nicht so gut schmeckte wie der, den seine Mutter selber backte.

Auf dem Weg zurück zur Straßenbahn roch es nach frischem Spekulatius, zwei Straßen weiter war die Bahlsen-Keksfabrik. Eine Nachbarin arbeitete bei Bahlsen, sie hatte eine Einkaufskarte, mit der man für wenige Pfennige bei der Produktion beschädigte Kekse in großen, gelblich-weißen Papiertüten bekommen konnte. Diese Einkaufskarte machte reihum die Runde unter den Nachbarsfrauen, auch Appaz’ Mutter hatte schon mehrmals »Bruch« geholt. Am liebsten mochte Appaz die Bruchstücke von »Russisch Brot«, die er dann auf dem Küchentisch wieder zu vollständigen Buchstaben zusammenzusetzen versuchte.

Am Abend vor seinem ersten Schultag auf dem Gottfried-Wilhelm-Gymnasium klagte Appaz über Bauchweh, bis seine Mutter sich zu ihm setzte und ihm ein Kapitel aus Marie Hamsuns »Die Langerud-Kinder« vorlas. Die Geschichte spielte in Norwegen, wo Appaz’ Vater im Krieg gewesen war. Appaz’ Mutter erzählte, dass die Bauernhäuser in Norwegen in der gleichen dunkelroten Farbe gestrichen waren, die auch sein Vater für die Laube in ihrem Schrebergarten ausgewählt hatte. Appaz stellte sich vor, wie er und Kerschkamp mit Einar und Ola am Fluss hinter der dunkelroten Scheune spielten und zusammen die große Birke aus dem Wasser fischten, um genug Feuerholz für den Winter zu haben. Und er und Kerschkamp waren es dann auch, die Einar mutig vor dem Ertrinken retteten, während Ola nur dastand und vor Angst die Hosen voll hatte. Appaz fand Ola ziemlich blöd.

Am nächsten Morgen war Appaz fast schlecht vor Aufregung. Nur mit Mühe schaffte er es, seinen üblichen Brei aus Haferflocken und heißer Milch - mit einer in dicke Scheiben geschnittenen Banane - wenigstens zur Hälfte zu essen, dann half ihm seine Mutter in die Träger des neuen Schulranzens und brachte ihn bis zur Haltestelle. Kerschkamp stand schon da und hob kläglich grinsend die Hand, als er Appaz kommen sah. Er trug jetzt eine Brille mit schwarzem Gestell, hinter deren getönten Gläsern das Glasauge kaum noch als solches zu erkennen war.

Auf der Fahrt blieben sie dicht nebeneinander im Gang stehen, obwohl genug Sitzplätze frei waren. Eine Frau schimpfte über ihre Schulranzen, die den Weg versperren würden. An der Haltestelle des Mädchen-Gymnasiums sahen sie Karin und Trixi, die aus dem hinteren Wagen stiegen und kichernd Hand in Hand zum Zebrastreifen liefen.

»Die haben es gut«, sagte Kerschkamp unvermittelt. »Mädchen-Gymnasium ist bestimmt einfacher als bei uns.«

Appaz nickte.

Auf dem Weg zur Röntgenstraße überlegte er, wer von den anderen Schülern, die mit ihnen unterwegs waren, wohl in ihrer Klasse sein würde. Er war froh, dass Kerschkamp bei ihm war. Kerschkamp war so groß, dass man sie ganz bestimmt in Ruhe lassen würde, trotz der Brille, die mit Sicherheit Anlass zu hämischen Kommentaren geben würde. Dieser Gedanke musste auch Kerschkamp schon gekommen sein, kurz vor der Schule hielt er Appaz am Arm fest und erklärte: »Wenn einer was wegen meiner Brille sagt, haue ich ihm einfach eine. Der Brillenträger hat immer den ersten Schlag, das weißt du ja.«

In der Pausenhalle wurden sie von einem Mann mit einer schwarzen Hornbrille in Empfang genommen, die Kerschkamps Brille zum Verwechseln ähnlich sah. Sie mussten sich in Zweierreihen aufstellen, ein paar der älteren Schüler, die vorbeikamen, lachten sie aus und riefen: »Fünfte Klasse, Nuckelflasche!«

Von weitem sah Appaz eine Gruppe Oberstufenschüler, die Haare bis auf den Hemdkragen hatten. Einer trug eine Hose, die aussah wie eine vollgekleckste Malerhose, als Schultasche hatte er einen Lederbeutel mit langen Fransen über der Schulter.

»Hippies«, sagte Kerschkamp. Seine Stimme klang verächtlich.

Appaz wusste, dass Hippies so etwas waren wie die Gammler. Sein Vater hatte von den Gammlern erzählt, die auf dem Georgsplatz, wo er und seine Kollegen im Sommer ihre Mittagspausen verbrachten, die Bänke blockiert und für allgemeinen Unmut gesorgt hatten. Mehrmals waren sogar Angestellte der Stadt dagewesen und hatten den gesamten Platz mit scharf riechenden Desinfektionsmitteln eingesprüht, aber kaum waren die Bänke abgetrocknet, waren auch die Gammler zurückgekehrt. »Gammler lassen sich trotz Säuberungsaktion nicht vertreiben«, hatte in der Zeitung gestanden, und Bundeskanzler Ludwig Erhard hatte versprochen »Solange ich regiere, werde ich alles tun, um dieses Unwesen zu zerstören«. Appaz’ Mutter hatte erzählt, wie schnell man sich irgendwo »Läuse holen« konnte. Allein die Vorstellung, dass ihr Mann womöglich seinen Mittagskaffee auf einer zuvor von Gammlern besetzten Bank getrunken hatte, schien bei ihr nachhaltiges Entsetzen hervorzurufen.

»Guck mal«, sagte Kerschkamp plötzlich und rammte Appaz seinen Ellbogen in die Seite. Er zeigte auf ein Schwarzweiß-Foto, das als Vergrößerung an der Wand neben ihnen hing. Auf dem Foto war das Kollegium des Gottfried-Wilhelm-Gymnasiums abgebildet, eine Gruppe von älteren Herren in dunklen Anzügen, die, auf der Treppe vor dem Schulgebäude aufgereiht, starr und ohne ein Lächeln in die Kamera blickten, als müssten sie irgendeiner unklaren Bedrohung standhalten. Ganz vorne erkannte Appaz den Mann mit der schwarzen Hornbrille, offensichtlich der Schulleiter, links und rechts von ihm standen die beiden einzigen Frauen des Kollegiums, beide in grauen Kostümen mit weit über die Knie reichenden Röcken und nahezu identisch ondulierten Haaren.

Der Schulleiter hieß Dr. Siegfried, wie Appaz auf der Namensliste sah.

Hinter Dr. Siegfried her marschierten sie jetzt in die Aula und verteilten sich auf die Stuhlreihen, ihre Schulranzen stellten sie zwischen ihre Beine. Kerschkamp schwitzte stark, rechts von Appaz setzte sich ein Junge hin, dessen Fingernägel bis aufs Blut abgekaut waren.

Dr. Siegfried betrat das Podium, auf dem ein Rednerpult stand, links vor den Fenstern versammelte sich die Gruppe der Klassenlehrer, die sie bekommen würden. Auch eine der beiden Frauen war dabei und ein kleiner, dicker Lehrer, der über seinem Anzug einen weißen, bis zum Hals durchgeknöpften Kittel trug. Genau vor dem Bauch fehlte ein Knopf, und der Kittel klaffte weit auseinander.

Der Junge neben Appaz kicherte und schob seine Finger in den Mund.

Dr. Siegfried begrüßte sie. Sie seien jetzt auf einer Schule mit einer langen Tradition, er könne nur hoffen, dass sie dem Namen Gottfried Wilhelm alle Ehre machen würden, es läge jetzt an jedem Einzelnen von ihnen, was er mit den ihm gebotenen Chancen anfing. Und: Die Schüler des Gottfried-Wilhelm-Gymnasiums hätten es nicht nötig, arrogant zu sein, sie seien »privilegiert« allein durch die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der »Gottfried-Wilhelmer«, das sei gerade in Zeiten wie diesen wichtiger denn je, »wenn humanistische Werte und Bildungsideale plötzlich nichts mehr gelten sollen …«

»Was?«, fragte Kerschkamp laut, wurde aber sofort von der Lehrerin niedergezischt und suchte mit rotem Kopf Deckung hinter den Schultern seines Vordermannes.

Dr. Siegfried verlas nun eine Liste mit Namen, nach der sie in die einzelnen Klassen aufgeteilt wurden. Appaz und Kerschkamp kamen beide in die 5d, der Klassenlehrer war der Dicke mit dem weißen Kittel, er hieß Löffler. Oberstudienrat Löffler.

Auch Buchmann kam in ihre Klasse. Buchmann wohnte zwei Eingänge neben Appaz, sein Vater arbeitete in der gleichen Versicherung wie Appaz’ Vater. Sie waren auch im gleichen Kegelverein, der sich jeden Freitagabend im »Gasthaus zur Eiche« in der Silberstraße zusammenfand. Buchmann hatte Appaz mal im Winter mit einer Wäscheleine an einen Laternenpfahl gebunden und mit Schneebällen beworfen. Und Appaz hatte sich gerächt, indem er ihm - Wochen später - aufgelauert und ihn dann von hinten vom Fahrrad gestoßen und seinen Kopf in eine Pfütze gedrückt hatte, bevor er schnell weggelaufen war.

Jetzt nickte Buchmann ihm mit einem unsicheren Lächeln zu.

Appaz nickte zurück.

»Per aspera ad astra«, schloss Dr. Siegfried seine Begrüßung, »durch Mühen zu den Sternen, denkt immer daran, dass ihr hier für euer späteres Leben lernt, ich wünsche euch viel Erfolg für die vor euch liegende Schulzeit.«

Er schob seine Zettel zusammen. Im gleichen Augenblick meldete sich der Junge rechts neben Appaz, seine Hand mit den blutigen Fingerkuppen streckte sich zitternd nach oben und blieb auf halber Höhe unentschlossen hängen.

Dr. Siegfried guckte irritiert und erteilte mit einem Nicken die Erlaubnis zum Sprechen.

»Ich … mein Name …«, stotterte der Junge hilflos.

»Lauter«, forderte ihn Dr. Siegfried auf.

»Ich bin nicht drangekommen. Mein Name war nicht dabei.«

»Wie heißt du?«

»Klaus-Dieter …«

»Nachname!«

»Brennecke. Klaus-Dieter Brennecke.«

Dr. Siegfried überflog erneut die Namensliste.

»5d«,erklärte er mit einem Gesichtsausdruck, als wäre es die Schuld des Jungen, dass er ihn vergessen hatte.

»Dann bin ich bei euch«, flüsterte Klaus-Dieter und wirkte deutlich erleichtert.

Appaz versuchte, so was wie ein Grinsen zustandezubringen, obwohl ihm nicht nach Grinsen zumute war und er Klaus-Dieter mit seinen abgebissenen Fingernägeln auch nicht unbedingt mochte, geschweige denn zum Freund haben wollte.

Oberstudienrat Löffler trat vor und hielt die Hände wie einen Trichter vor seinen Mund: »Fünfte Dora, antreten!«, brüllte er über die Sitzreihen hinweg.

»Das sind wir«, sagte Kerschkamp.

Sie nahmen ihre Schulranzen und drängten sich aus der Reihe.

»Fünfte Dora, Abmarsch!«, brüllte Löffler, als sie vollzählig waren, und sie folgten ihm - wiederum in ordentlicher Zweierreihe - aus der Aula hinaus und quer über den Pausenhof. Appaz und Kerschkamp bildeten das Schlusslicht, Klaus-Dieter war ein Stück weiter vorn gelandet.

Unter dem einzigen Baum auf der geteerten Fläche stand ein Denkmal, ein einfacher Stein mit der Aufschrift: »Unseren Toten«. Davor lagen zwei Kränze, deren Blumen lange schon verwelkt waren.

Als sie den Seitenflügel betraten, in dem sich ihr Klassenraum befand, merkte Appaz, dass er seine Jacke in der Aula vergessen hatte. Ohne zu überlegen, scherte er aus der Reihe aus und rannte zurück, gerade noch, dass er Kerschkamp zurief: »Ich hab meine Jacke vergessen, bin gleich wieder da!« In der Pausenhalle kam ihm die nächste Klasse entgegen, sie wurde von der Lehrerin angeführt, die Appaz mit einem raschen Schritt zur Seite stoppte und ihm zwei schallende Ohrfeigen verpasste: »Hier wird nicht gerannt! Das Rennen ist im gesamten Schulgebäude verboten!«

»Aber …«, stotterte Appaz entgeistert und hielt sich die brennende Wange, »ich wollte doch nur … ich habe meine Jacke in der Aula vergessen, tut mir leid.«

»Merk es dir einfach«, sagte die Lehrerin, ohne auf Appaz’ Erklärung zu reagieren, »beim nächsten Mal schreibst du die Hausordnung ab und meldest dich beim Direktor!«

Appaz’ Jacke lag noch auf seinem Stuhl, aber natürlich kam er zu spät in die Klasse, alle anderen saßen schon. Oberstudienrat Löffler zeigte wortlos auf den freien Platz neben Klaus-Dieter. Gleich in der ersten Reihe ganz links außen. Die Sitzordnung folgte der alphabetischen Abfolge ihrer Namen, Appaz war der einzige Schüler, dessen Name mit A begann, nach Brennecke kam Buchmann.

2

Als Appaz in Kerschkamps verbeulten Volvo einsteigt, dröhnen ihm die Kinks entgegen: »Everybody’s a dreamer, everybody’s a star …« Und anstelle irgendeiner Form von Begrüßung legt Kerschkamp sofort mit einem seiner erklärten Lieblingsthemen los - dass die Kinks das beste Beispiel dafür sind, dass die Scorpions nichts taugen. Egal wie fragwürdig Kerschkamps Schlussfolgerung auch sein mag, entbehrt sie doch nicht einer gewissen Logik: »Du brauchst nur ein einziges Mal Zelluloid Heroes< von den Kinks hören, um zu begreifen, dass >Wind of Change< keine Rockballade, sondern bestenfalls billige Autoscooter-Musik ist«, regt er sich auf, während er gleichzeitig den Gang reinwuchtet und Gas gibt.

Appaz nickt nur. Kerschkamps Begeisterung für Ray Davies und die Kinks ist genauso bekannt wie die Tatsache, dass die Scorpions auf seiner persönlichen Worst-of-Music-Liste womöglich sogar noch vor Heinz Rudolf Kunze rangieren. Aber die Geschichte, die Kerschkamp gleich darauf zum Besten gibt, ist auch für Appaz neu.

»Da war ich Ostern mit Susanne und den Kindern zum Skilaufen«, erzählt er, »wieder da in Österreich, du weißt schon, wo wir immer hinfahren. Und dann hocken wir auf irgend so einer Berghütte und lassen uns die Ohren zudröhnen von dem Mist, den sie da immer spielen. Und jetzt halt dich fest, erst kommt >Meiner hat zwanzig Zentimeter oder so was und dann >Wind of Change<. Da hast du es doch, genau das ist es, was ich meine!«, erklärt er, während er einem Radfahrer rücksichtslos die Vorfahrt nimmt, »Bumsmusik, nichts anderes! - Hier, lies dir den Scheiß doch mal durch …«

Kerschkamp zeigt auf die Stapel aus einzelnen Zeitungsseiten, die auf dem Armaturenbrett liegen. Als Appaz ihn verständnislos ansieht, beugt er sich vor und wühlt mit einer Hand zwischen den Ausschnitten, bis er gefunden hat, was er sucht. »Hier, das ist echt der Hammer! Lies mal!«

Er hält Appaz einen Artikel hin und reißt gleichzeitig das Lenkrad herum, um schlingernd auf die Hauptstraße einzubiegen.