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Das literarische Phänomen aus Spanien: über 100.000 Leserinnen und Leser, große Netflix-Verfilmung: Ein mitreißender Familienroman voller Schmerz und Trost, der im Werk des Autors an seinen großen internationalen Erfolg Patria anknüpft. Jeden Donnerstag geht der alte Nicasio zum Friedhof und besucht das Grab seines Enkels Nuco. Er spricht mit ihm, erzählt dem Jungen, was vor sich geht in der Welt. Am 23. Oktober 1980 gab es im Keller der Schule, die der sechsjährige Junge besuchte, eine gewaltige Propangasexplosion, die das gesamte Erdgeschoss zerstörte. Fünfzig Kinder und drei Lehrer kamen bei dem Unglück ums Leben; darunter auch Nuco. Der ganze Ort Ortuella steht unter Schock. Die Eltern des Jungen verarbeiten das Ereignis auf unterschiedliche Weise. Während José Miguel alle Erinnerung kappen und nach vorne schauen will, um nicht an Trauer zu zerbrechen, lässt Mariaje das Geschehene nicht los. Irgendwann versuchen die beiden wieder ins Leben zu kommen. Doch eines Tages verschwindet José Miguel. Eine bewegende Geschichte voller Menschlichkeit, die erzählt, was wir voreinander verbergen, worauf wir hoffen, wie wir noch einmal von vorne anfangen. «Aramburu erweist sich als großartiger Geschichtenschreiber in der Tradition eines Gabriel García Márquez.» Tages-Anzeiger «Aramburu gelingt es meisterhaft, Großes im Kleinen zu erzählen.» Stern
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Seitenzahl: 245
Veröffentlichungsjahr: 2025
Fernando Aramburu
Roman
Jeden Donnerstag geht der alte Nicasio zum Friedhof und besucht das Grab seines Enkels Nuco. Er spricht mit ihm, erzählt dem Jungen, was vor sich geht in der Welt. Am 23. Oktober 1980 gab es im Keller der Schule, die der sechsjährige Junge besuchte, eine gewaltige Propangasexplosion, die das gesamte Erdgeschoss zerstörte. Fünfzig Kinder und drei Lehrer kamen bei dem Unglück ums Leben; darunter auch Nuco. Der ganze Ort steht unter Schock. Die Eltern des Jungen verarbeiten das Ereignis auf unterschiedliche Weise. Während José Miguel alle Erinnerung kappen und nach vorne schauen will, um nicht an Trauer zu zerbrechen, lässt Mariaje das Geschehene nicht los. Irgendwann versuchen die beiden wieder ins Leben zu kommen. Doch eines Tages verschwindet José Miguel.
Eine bewegende Geschichte voller Menschlichkeit, die erzählt, was wir voreinander verbergen, worauf wir hoffen, wie wir noch einmal von vorne anfangen.
Fernando Aramburu wurde 1959 in San Sebastián im Baskenland geboren. Seit Mitte der Achtzigerjahre lebt er in Hannover. Für seine Romane wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. dem Premio Vargas Llosa, dem Premio Biblioteca Breve, dem Premio Euskadi und, für Patria, mit dem Premio Nacional de la Crítica, dem Premio Nacional de Narrativa und dem Premio Strega Europeo. Sein Werk wird in 34 Sprachen übersetzt.
Willi Zurbrüggen übersetzte u. a. Antonio Muñoz Molina, Luis Sepúlveda, Rolando Villazón und Fernando Aramburu aus dem Spanischen. Ausgezeichnet mit dem Übersetzerpreis des spanischen Kulturministeriums, dem Johann-Friedrich-von-Cotta-Literatur- und Übersetzerpreis und dem Jane Scatcherd-Preis.
Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel «El niño» bei Tusquets Editores, S.A., Barcelona.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«El niño» Copyright © 2024 by Fernando Aramburu
Published by agreement with Tusquets Editores, Barcelona, Spain
Lektorat Angela Volknant
Covergestaltung Anzinger und Rasp, München
Coverabbildung Asli Gönen/Arcangel Images
ISBN 978-3-644-02268-3
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Die Leser dieses Buches werden zehn Passagen vorfinden, in denen, wenn ich das richtig verstanden habe, der Roman beabsichtigt, sich selbst zu kommentieren. Wer sich dort in der ersten Person zu Wort meldet, ist der Text selbst, wohl wissend, wie er ausdrücklich beteuert, dass er aus einer Sammlung von Wörtern besteht, die eine Geschichte transportieren. Gelegentlich erlaubt er sich, den einen oder anderen Vorbehalt an jenem zu äußern, der ihn schreibt, was, da es öffentlich stattfindet, zwangsläufig nicht sehr angenehm für den Angesprochenen ist.
Anfangs betrachtete ich die erwähnten Eingriffe als Einmischung und, was einzuwenden mir noch bedeutender erscheint, als überflüssige Hinzufügung, die den Erzählfluss unterbricht und ihm damit schadet. Dieses Urteil habe ich im Nachhinein revidieren müssen.
Mir ist bewusst, dass dieser Kunstgriff ein Risiko birgt. Ich meine das Risiko, Widerspruch hervorzurufen, vor allem bei jenen Romanlesern, die jegliche Beeinträchtigung des Erzählflusses verabscheuen.
Nun wäre es für mich ein Leichtes gewesen, die zehn Passagen wegzulassen, wenngleich ich sie wegen ihrer Kürze gut und gern hätte tolerieren können. Ungeachtet der Verwirrung, die man bei der Lektüre durch sie erfahren mag, sowie der spontanen Antipathie, die sie möglicherweise beim Leser hervorrufen, halte ich ihre Ausführungen nicht für irrelevant. Da sind ein paar Kleinigkeiten, die der Erzähler unberücksichtigt gelassen hat, die jedoch wertvolle Informationen über Personen und Gegebenheiten beisteuern. Außerdem bin ich diesen Passagen dankbar dafür, dass sie etwas reflexive Ruhe in eine Geschichte bringen, die sich oft genug am Rande des Drastischen bewegt.
Ich habe einmal die Probe gemacht und den Roman ohne die Passagen gelesen, die zu dieser Vorbemerkung geführt haben. Mir fiel die schwerwiegende Tatsache auf, dass einige Abschnitte der Geschichte dadurch unvollständig blieben. Um es nun den Lesern, die anderer Meinung sind und die zehn Textergänzungen überspringen möchten, einfach zu machen, sind diese in einer anderen Schrifttype gesetzt.
Hannover, November 2023
Nicasio geht gewöhnlich donnerstags zum Friedhof. Warum donnerstags? Nicht so wichtig. Irgendein Tag eben. Es müsste schon ein ungewöhnlich einschneidendes Ereignis eintreten, um ihn von diesem Ritual abzubringen. Egal ob Sommer oder Winter, ob es regnet oder stürmt, ob er sich nicht wohlfühlt oder der Hexenschuss ihm einen bösen Streich spielt. Manchmal nimmt er einen Schirm mit, obwohl keine Wolke am Himmel zu sehen ist. Er benutzt ihn als Handstock, und dann geht er mit kurzen Schritten und unter leisen Selbstgesprächen die Landstraße hinan. Sein Gang ist gleichmäßig, und sein Atmen ist das mühsame Atmen eines Mannes, dem noch zwei Jahre bis zu seinem Siebzigsten fehlen.
Er mag Vögel. Wenn er unterwegs einen sieht, auf einem Ast, auf einem Dach oder in der Luft, bleibt er stehen und betrachtet ihn, stellt fest, zu welcher Art er gehört, und gibt ihm einen Namen. Das sind kleine Ruhepausen für ihn, und nach der kurzen Betrachtung setzt er seinen Weg fort, bis zum nächsten Vogel.
Die Wahrheit ist, dass das mit den Vögeln von Tag zu Tag anders ist. Es kommt vor, dass der Mann so versunken ist in seine Gedanken und Selbstgespräche, dass er auf rein gar nichts achtet, was um ihn her passiert.
Gelegentlich (wenn auch immer seltener; denn: wozu) hält der eine oder andere Nachbar seinen Wagen neben ihm an und fragt in bester Absicht, ob er ihn zum Friedhof mitnehmen beziehungsweise auf dem Rückweg nach Hause fahren soll. Aber er nimmt das Angebot so gut wie nie an, da er das Alleinsein – viel Alleinsein – braucht und sucht. Aufdringliche Kerle! Seht ihr nicht, dass ich allein sein will?
Vögel sind ihm lieber als Menschen. Das ist so ein Satz, den er oft genug vor sich hin denkt.
Nicht auszuschließen ist, dass Nicasio außer donnerstags auch an anderen Wochentagen, einschließlich sonntags, zum Friedhof geht, um seinem Enkel Gesellschaft zu leisten. In solchen Fällen trifft er die Entscheidung meistens spontan. Er sitzt gelangweilt und schläfrig im Wohnzimmer im Sessel und hört Radio (nur mal angenommen), da überkommt ihn, wenn er am wenigsten damit rechnet, ein Anflug von Wehmut, und er sagt: Ich werde mal den Nuco besuchen; das ist der Kosename, mit dem der Junge von der Wiege an von seinen Angehörigen und Bekannten gerufen wurde. Mariaje: Aber heute ist doch nicht Donnerstag. Und Nicasio antwortet, das sei seine Sache und dass niemand außer ihm das verstehen kann.
Wenn er könnte, wenn man ihn ließe, würde er auf dem Friedhof neben der Mauer mit den Grabnischen in einem Zelt kampieren und wochenlang nicht mehr nach Ortuella hinuntergehen, würde sich von Wurzeln und wilden Früchten ernähren und Regenwasser und Tautropfen trinken. Das wäre weniger schlimm als das, was er im Krieg und danach in den Hungerjahren durchgemacht hat. Wer wochenlang sagt, kann auch monatelang sagen, oder jahrelang, die Jahre, die ihm noch bleiben. Er hat das alles durchdacht. Das Problem ist, dass Mariaje fuchsteufelswild würde; und man muss sie ja nicht unnötig verärgern. Was die Tochter alles für ihn tut!
Sekunden später verliert sich das Flugzeug über den Bergen von Triano in einer Wolke. Wohin es wohl fliegt? Unter den Leuten, die dem Flugzeug nachschauen, munkelt man, dass fünfzig Kinder in der Maschine sitzen und dass eine Lehrerin sie fliegt und neben ihr ein Lehrer als Copilot sitzt, und dass die Schulköchin zwischen den Sitzreihen durch den Gang schlendert und die Aufgaben einer Stewardess übernommen hat. Sie kümmert sich um die Kleinen, streicht ihnen über den Kopf, singt ihnen Lieder vor, die man ihr als Kind vorgesungen hat. Und alle sind tot. Darum reisen sie ausdruckslos und stumm, mit offenen Augen, ohne zu blinzeln. Bei den Bemerkungen seiner Nachbarn könnte Nicasio aus der Haut fahren. So gefühllos und oberflächlich kommen sie ihm vor; wie von Menschen, die nicht die Hälfte von dem erlebt haben, was er erlebt hat. Der Zorn frisst ihn innerlich auf. Doch um keinen Streit anzufangen, geht er nach Hause. Maulend steigt er die Treppe hinauf, wird lauter, wenn er die Wohnung betritt, trinkt hintereinander zwei Gläser von einem Wein, den er in einer alten Korbflasche unter der Spüle aufbewahrt. Kaum kommt Mariaje herein, um nach ihm zu sehen, stürzt er sich auf sie, packt sie an den Schultern und behauptet immer wieder, und jedes Mal lauter und aufgeregter, dass der Junge nicht in dem Flugzeug gesessen hat. Er hat neunundvierzig Kindergesichter gezählt, er hat sie sich alle genau angesehen, hat aufmerksam die Passagierliste durchgelesen und kein einziges Indiz dafür gefunden, dass der Nuco in diese verdammte Maschine gestiegen ist. Und fügt hinzu: Hör nicht auf das Geschwätz der Leute, Tochter. Es gibt einen Haufen Mauldrescher und jede Menge Lügenmäuler im Dorf. Der Nuco hat überhaupt keine Reise ohne Wiederkehr angetreten. Wenn einer das mit Sicherheit sagen kann, dann bin ich es. Es ist schon spät, sagt die Tochter mit gesenktem Kopf, als würde sie ihre Schuhspitzen betrachten. Spät? Aber es war doch gerade erst Mittag, wir haben noch nicht einmal gegessen. Glaub mir, Vater, um diese Zeit solltest du nicht mehr auf sein. Und hör einfach nicht darauf, was die Leute reden! Ich werd’s versuchen, aber versprechen kann ich dir nichts.
Von José Miguel, möge er in Frieden ruhen, kann ich Ihnen nur Vorteilhaftes berichten, und das nicht, weil ich ihn idealisieren will. Bei allem Respekt; aber mein Mann war kein Mensch, den man idealisieren konnte. Ich stelle mir vor, dass für ein Buch, wie Sie es planen, ein Mörder, ein Schläger, ein Bankräuber tausendmal interessanter ist. Kerle eben, deren Gewissenlosigkeit Neugier weckt und zu einem Haufen spannender Episoden führt, oder wie immer Sie das nennen wollen.
Sie können mir glauben, dass ich nicht die typische Witwe bin, die sich eine rosa Vergangenheit malt und ehelichen Verdruss nicht wahrhaben will oder ihn in die dunkelsten Winkel ihrer intimsten Gedanken verbannt, in der Hoffnung, ihn dort zu vergessen. Ich habe nichts zu vergessen. Niemand wird in mir ein Gramm Groll und nicht das kleinste bisschen Verbitterung finden, was mein Eheleben angeht. Fahren Sie nach Baracaldo, wenn Sie wollen, und fragen Sie meine Freundin Garbiñe.
Mit den Jahren stelle ich fest, dass ich weniger unglücklich war, als ich einmal geglaubt habe; es sei denn, die Zeit und eine Gedächtnisschwäche, die sich still und heimlich in meine Nervenzellen eingeschlichen haben, bringen mir meine Gedankenströme durcheinander. Möglich ist alles. Mein Lebensplan zerbrach über Nacht aus dem Ihnen bekannten Grund, und aus anderen Gründen, von denen ich nicht weiß, ob Sie sie erfahren möchten. Aber ich habe mich nicht unterkriegen lassen, ich bin immer noch auf den Beinen, erfreue mich guter Gesundheit und komme mit meiner Einsamkeit gut zurecht. Das alles erzähle ich aber nicht, um mich als besonders robust und tapfer darzustellen. Dass ich in meinen schlimmsten Stunden nicht verzweifelt und depressiv geworden bin, verdanke ich allein der Zuneigung, die mein Mann mir entgegengebracht hat, der Arme, der in Gefühlsdingen doch immer so unbeholfen war. Und meinem Vater, weil er mein Vater war und weil er mich brauchte, was oft dazu geführt hat, dass ich mein eigenes Leid vergaß oder es hintanstellte, mich später darum kümmern wollte und dann noch später; aber auch, ich weiß nicht genau, wie weit, dem sporadischen Trost, den die Religion mir eine Zeit lang gab.
Im Rahmen des Möglichen hat der Junge bei der Zuteilung der Grabnischen Glück gehabt. Sofort korrigiert Mariaje ihren Vater. Wer Glück hatte, warst wohl eher du. Und Nicasio, nachdem er kurz darüber nachgedacht hat, findet keine Antwort darauf und gibt seiner Tochter recht.
Tatsächlich hat der Nuco eine Nische in der dritten Reihe vom Boden aus gesehen bekommen, neben einem der Treppenabsätze. So ist Nicasio auf Augenhöhe mit der Nische seines Enkels und kann mit ihm reden wie mit jemand seiner eigenen Größe, ohne dass er sich bücken oder das Gesicht heben muss. Schlimmer wär’s, wenn man den Jungen in der oberen Reihe untergebracht hätte. Was dann? Hätte er jeden Donnerstag die Stehleiter von zu Hause mitnehmen sollen, um dem Jungen all die Dinge zu sagen, die er ihm zuzuflüstern pflegt?
Mit Ausnahme einiger schwarzer Grabtafeln sind die meisten weiß. Auch die vom Nuco. Unter dem Namen und den beiden Familiennamen kann man das Sterbedatum lesen (23. Oktober 1980) sowie das Alter: 6 Jahre. Die war er gerade alt geworden. Vervollständigt wird die Inschrift durch das Versprechen ewigen Gedenkens seitens der Angehörigen.
Die Grabnische ist durch ein vorgelagertes Glastürchen geschützt. Es kann mit einem Schlüssel geöffnet werden. Nicasio nimmt an, dass Mariaje den hat. Er wischt das Glas jedes Mal, wenn er kommt, mit seinem Taschentuch sauber. Einmal, einen Monat nach der Beerdigung, hat er sich über seine Tochter geärgert, weil sie das Verhalten ihres Vaters nicht verstand. Ich besuche nicht das Grab. Ich besuche den Nuco, das ist nicht dasselbe.
Zwischen der vertikalen Steintafel und der Glasscheibe gibt es einen schmalen Zwischenraum und einen Absatz, auf dem eine kleine Vase mit Plastikblumen steht und daneben eine kleine Gipsfigur vom Heiligen Herzen. Die anderen Grabnischen sind ähnlich geschmückt, was der ganzen Anlage eine gewisse Harmonie verleiht. In Nucos Nische liegt zu Füßen der Gipsfigur eine tote Fliege mit in die Luft gestreckten Beinen. Es ist ihm ein Rätsel, wie sie dahin gekommen ist. Nicasio mag die Blumen in der Nische seines Enkels nicht. Er weiß nicht, wer sie dahin gestellt hat. Seine Tochter? Vielleicht gab es eine Initiative aus dem Rathaus, um die Urnengräber weniger trübsinnig aussehen zu lassen. Aus Respekt lässt er sie, wo sie sind, und vielleicht fühlt sich der Junge mit ihnen ja auch nicht so allein. Die Zweige, die außen an den Nischen herunterhängen, mag Nicasio auch nicht. Sieht ja aus wie ein Blumenladen, brummelt er. Wie üblich haucht er auf das Glas, wischt mit seinem Taschentuch darüber, beugt sich näher heran und sagt: Ich hole dich hier raus, Nuco. Ich weiß zwar noch nicht, wann, aber ich hole dich hier raus. Nur Geduld.
Auf dem Rückweg ins Dorf hält er inne und beobachtet eine Schar von sechs oder sieben Vögeln, die mit hoher Geschwindigkeit in Richtung Berge fliegen. Stare, sagt er. Kaum hat er sie aus den Augen verloren, setzt er seinen Weg fort. Hoffentlich denke ich daran, Mariaje nach dem Schlüssel zu fragen, damit ich die tote Fliege entsorgen kann.
Um auf meinen Mann zurückzukommen: Sein Charakter bleibt mir stets in dankbarer Erinnerung. Er war immer für andere da und hat sich um die Familie gekümmert. Ein Mann so groß wie fügsam. Einmal habe ich im Scherz zu ihm gesagt: Du bist zum Gehorchen geboren, stimmt’s? Da hat er gelacht. Wahrscheinlich hat er gar nicht begriffen, was ich meinte.
Aber verstehen Sie mich nicht falsch. Ich will damit nicht sagen, dass er dumm war, sondern vielmehr gutmütig und still.
José Miguel war einfacher Arbeiter in der Fabrik von Nervacero, in Portugalete. In letzter Zeit war er nervös, weil er fürchtete, entlassen zu werden. Die Firma war hart von der Krise getroffen worden, und aus dem Büro war, ich weiß nicht auf welchem Wege, zur Belegschaft durchgesickert, dass es einen Plan für baldige Entlassungen gab. Nachts im Bett hat er mir gestanden, dass er deswegen Albträume hatte. Er besaß ein tiefes Verantwortungsgefühl für den Jungen und für mich; wollte, dass wir versorgt waren. Er überließ mir immer seinen ganzen Lohn, damit ich damit haushalten konnte. Ich gab ihm einen kleinen Betrag davon für seine eigenen Ausgaben. Brauchst du mehr? Er brauchte niemals mehr. Mit dem bisschen Taschengeld war er zufrieden. Er ging nicht in die Bar, nicht in die Berge, nicht zum Fußball, nicht zum Rennradfahren, er mochte nichts von dem, was die Männer in dieser Gegend so mögen. Seine einzige Leidenschaft, die ich natürlich respektierte, war an Wochenenden das Rausfahren zum Angeln mit seinen Freunden.
Wie oft kam er völlig erschöpft von der Fabrik nach Hause und schlief auf dem Sofa ein, während ich noch mit ihm sprach. In solchen Momenten empfand ich stets eine Mischung aus Mitleid und Zuneigung für ihn. Einmal, wir waren gerade erst verheiratet, hat er sich beim Hantieren mit einem Stahlstück in die Hand geschnitten. Später haben wir vom Arzt erfahren, dass er dabei um ein Haar die Hand verloren hätte. Zum Glück wurde er rechtzeitig ins Krankenhaus gebracht, und dort konnte man sie retten. Aber der Finger blieb gefühllos, und eine hässliche Narbe ist geblieben.
Er war ein fabelhafter Vater, ein großer kräftiger Mann, der den Jungen wie ein rohes Ei behandelte, so als hätte er Angst, er könnte ihn zerbrechen. Vorsichtig hob er ihn in die Höhe mit seinen mächtigen Pranken, die so hart und schwielig waren, als wären sie aus Felsgestein. Ich wurde immer von einem wohligen Schauder erfasst, wenn ich zugesehen habe, wie er den Nuco in die Wiege gelegt hat, als wäre er eine zerbrechliche Porzellanfigur, und wie er ihm dann zum Abschied einen Kuss auf die Stirn oder die Wange gegeben hat. Aber nicht so einen typischen Gutenachtkuss und tschüss, sondern, wie gesagt, mit einer enormen Zärtlichkeit.
Im Ort gab es hübschere und wortgewandtere Männer; aber ich freue mich doch, auf meinen Vater gehört zu haben, der, als ich ins Backfischalter kam, zu mir gesagt hat: Tochter, such dir einen, der einen guten Charakter hat; egal, ob er dick oder glatzköpfig ist oder einen großen Zinken hat, was zählt, ist, dass er zärtlich ist und dich respektiert. Den Anstoß zum Heiraten habe ich gegeben. Mein Mann war in Liebesdingen immer unbeholfen. Er war schamhaft und fand nie die richtigen Worte, wissen Sie? Er war mein erster und einziger Freund.
Er hat es nicht gewusst, aber mit seinen rauen Händen hat er mir große Lust bereitet. In unseren intimen Momenten hat er mich endlos gestreichelt. Das hat er am liebsten getan. Anfassen, drücken, streicheln; aber immer langsam, niemals auf die brutale Art, mit seinen großen Händen und Fingern, die so rau waren wie Schmirgelpapier. Anfangs habe ich so getan, als würde ich mich wehren; aber nur, um das Lustgefühl zu verlängern. Ich habe es ihm nie gesagt und mich nie bedankt, und jetzt bereue ich es.
Mariaje hat noch eine lebendige Erinnerung an den Morgen des 23. Oktober. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte sie die Stelle im Gehirn ausradiert, wo die Bilder jenes Tages abgelegt sind, die sie selbst nach so langer Zeit immer noch als unerträglich empfindet; aber man weiß ja, sagt sie, dass das Gehirn nach eigenen Regeln funktioniert. Und dann versichert sie in offenem Widerspruch zu sich selbst, dass es nicht richtig wäre, den Nuco ganz und gar zu vergessen. Sie schwankt ständig zwischen Vergessen und Erinnern, und im Grunde ist sie froh, dass sie ihre Erinnerungen nicht kontrollieren kann. Zu lernen, mit ihnen zu leben, ist über all diese Jahre eine der größten Herausforderungen für sie gewesen.
An besagtem Tag hat sich der Junge seltsam benommen. Seine Mutter erklärt das genauer: Seltsam erscheint mir das vielleicht erst jetzt, seitdem ich weiß, was dann kurz vor zwölf geschah. Der Nuco kam einfach nicht aus dem Bett. Normalerweise sprang er wie eine junge Katze auf die Beine, sobald seine Mutter ins Schlafzimmer kam und ihn weckte. Was ist los mit dir? Bist du am Betttuch kleben geblieben? Das Anziehen dauerte länger als gewöhnlich. Er bekam das Frühstück nicht hinunter. Mariaje befühlte seine Stirn. Kein Anzeichen von Temperatur. Langsam und in sich gekehrt zeigte der Junge keine Lust, zur Schule zu gehen, was ungewöhnlich war, denn seine Hausaufgaben machte er gern. Für seine Lehrerin hegte er eine an Verehrung grenzende Zuneigung, und im Klassenzimmer war er mit seinen Freunden aus dem Otxartaga-Viertel zusammen, wo sie alle wohnten.
Nicasio war der festen Überzeugung, dass der Junge hellseherische Fähigkeiten besaß. Nicht, dass er in der Nacht die Explosion vorausgesehen oder von ihr geträumt hätte. Es war wohl einfach eine Ahnung gewesen, eine unbewusste Deutung von unerklärlichen Reizen vielleicht, oder er hatte im Schlaf eine Stimme gehört, die ihm zuflüsterte: Bleib im Bett, Nuco. Geh bloß nicht zur Schule. Das wird dein Verderben.
Mariaje argwöhnte, ihr Sohn könnte tags zuvor einen Streit, vielleicht eine Prügelei, mit einem Klassenkameraden gehabt haben. Schwer zu sagen, denn der Junge war verschlossen und neigte nicht dazu, sich auszusprechen. Er besuchte die erste Grundschulklasse, war eines der i-Männchen der Schule und freute sich aufs Lernen. Aber er war auch so sensibel und, ja, so verletzlich, dass seine Begeisterung bei der geringsten Widrigkeit in sich zusammenfallen konnte. Diesen Wesenszug hatte er, so Mariaje, von José Miguel. Wenn den beiden etwas missfiel, dann protestierten sie nicht dagegen, sondern zogen sich in sich zurück und schluckten ihren Ärger hinunter.
Tut dir was weh? Weiß nicht. Hat die Lehrerin mit dir geschimpft? Anstatt was zu sagen, schüttelte der Junge nur den Kopf. Hat dich ein anderer Schüler geschlagen? Wieder Kopfschütteln. Hat dich jemand geärgert? Neuerliches Kopfschütteln.
Mit seiner morgendlichen Tasse Instantkakao am Küchentisch sagte der Junge nur Ja, wenn die Mutter, um seine Stimmung zu heben, ihm vorschlug, den Großvater zu fragen, ob er ihn zur Schule begleitete. Mit dem Großvater ging der Nuco überallhin. Mit José Miguel auch; aber der arbeitete um diese Zeit schon in der Fabrik. Im Zweifelsfall war der Junge lieber mit dem Großvater unterwegs. Großvater war sein Ein und Alles. Mit ihm waren Lachen und Lustigsein garantiert. Ungefähr eine Woche vorher hatte Nicasio die Augen des Jungen mit einem Versprechen zum Leuchten gebracht. Wenn er größer wäre, würde er ihm die Mitgliedschaft im Athletic Club bezahlen, und sie beide würden im rot-weißen Trikot zum Stadion San Mamés fahren. Nicasio war Witwer und Rentner und wohnte zwei Häuserblocks von seiner Tochter entfernt. So war er jederzeit verfügbar, um mit dem Jungen spazieren zu gehen oder mit ihm zu spielen. Rief Mariaje ihn an, machte er sich sofort auf den Weg, seinen Enkel abzuholen. Wie oft und mit welcher Bitterkeit sollte er in Zukunft sagen, dass er es sich niemals verzeihen werde, den Jungen an jenem Morgen zur Schule gebracht zu haben!
Ich bin mir bewusst, dass ich als Erzählungsträger eines Unglücks fungiere, dessen Ausmaß beschreiben zu wollen immer vergeblich bleiben muss. Auf den diesem Kapitel vorausgehenden Seiten hat mich immer etwas belastet, ich weiß nicht genau, was, eine Besorgnis oder ein Skrupel. Wäre das Erzählte reine Fiktion, eine Erfindung des fiebrigen Hirns dessen, der mich schreibt, würde ich ihm – selbst wenn er sich auf überwiegend eigene Erfahrungen stützt – ohne jedes schlechte Gewissen zu Diensten sein. Nun ist es aber so, dass ich mich hier immer wieder mit Zeugnissen höchst bedrückender Emotionen konfrontiert sehe, da ein großer Teil der Geschichte, die zu erzählen mir aufgetragen ist, tatsächlichen Geschehnissen entspringt, und ich mir des nicht geringen Risikos bewusst bin, dass man darauf mit einem Übermaß an Sentimentalität oder mit hemmungslosem Pathos reagiert.
Ich betrachte mich selbst nur als bescheidenen fortlaufenden Text, als eine Summe von Wörtern, die so angeordnet sind, dass sie eine Bedeutung erlangen. Ich kann mich nicht einmal hinter dem Alibi des Stils verschanzen. Gewagte Vergleiche, glänzende Metaphern und Allegorien zuhauf wird man bei mir nicht finden; allerdings bin ich – jedenfalls glaube ich das – auch nicht das Ergebnis eines quälend trockenen Tatsachenberichts. Ich habe genug damit zu tun, präzise zu sein und es nicht jenen gegenüber an Respekt fehlen zu lassen, die so viel erlitten haben und, falls sie noch leben, über vierzig Jahre nach ihrem Unglück möglicherweise immer noch leiden.
Vergleiche mich niemand mit dem, was ich übermittle; besser gesagt, mit dem, was derjenige, der mich schreibt, möchte, dass ich übermittle. Es liegt mir fern, mich an die Stelle irgendjemandes Schmerzes setzen zu wollen. «Leiden ist Dummheit», behauptet Cesare Pavese in einem Eintrag seines Tagebuchs. Ich denke, das Recht, so etwas zu behaupten, hat nur jemand, der Leid am eigenen Leib erfahren hat. Ich glaube nicht, dass es mir gegeben ist, auf eine nachvollziehbare Weise den Kummer in Worte zu fassen, den der Verlust eines Kindes mit sich bringt; obwohl es meine Pflicht als Mittler, als Überbringer oder einfacher Übersetzer ist, dies zu versuchen.
Gestern noch hat seine Mutter, sein Vater dem Jungen einen Kuss gegeben, mit ihm gesprochen, ihn an der Hand gehalten, und jetzt liegt dieses Kind, das so viel Zukunft in sich barg, im Leichenschauhaus, tot; ganz und gar tot; mehr als tot, unmöglich. In einigen Stunden wird die natürliche Verwesung des Körpers einsetzen, und mit einem Mal ist der Junge nur noch ein Bild, an das man sich leidvoll erinnert, ein paar Fotos, weißt du noch?, ein Name, ausgesprochen in wehmütiger Einsamkeit oder in eine Grabplatte gemeißelt, von Witterung und Zeit erbarmungslos abgewetzt.
Der 23. Oktober 1980 war ein Donnerstag. Fünfzig Schüler im Alter von fünf und sechs Jahren, plus drei Erwachsene, verloren ihr Leben infolge einer Propangasexplosion in einer Schule von Ortuella. Darüber kann ich und muss ich wohl, so wie zahllose Texte, die mir vorausgegangen sind, hier Zeugnis ablegen. Dafür reicht eine bestimmte Anzahl von Wörtern, die benennen und beschreiben. Trotzdem bedrängt mich die Sorge, gegen meinen Willen zu kunstvoll, zu literarisch zu werden und am Ende ein Büchlein hervorzubringen, das wie ein Roman daherkommt und Gefahr laufen könnte, mögliche Leser zu Beifall oder sogar Lob zu bewegen, und dies auf Kosten einer Tragödie, die für viele Familien ein furchtbarer Schicksalsschlag gewesen ist.
Vor allem in den ersten Monaten gingen die Angehörigen oft auf den Friedhof, stellten frische Blumen hin, putzten die Glasscheiben, standen zusammen und unterhielten sich. Nicasio wollte keinen dort treffen. Denen steht der Tod ins Gesicht geschrieben. Ihretwegen fliegen die Vögel nicht mehr über den Friedhof.
Vater, du übertreibst.
Mehr als einmal kehrte Nicasio um, wenn er beim Betreten des Friedhofs Stimmen vernahm. Dann spazierte er mit seinem Schirm, seiner Ungeduld und seinem Ärger in der Nähe umher und wartete, bis die Besucher gegangen waren. Sonst sprechen sie dich an, erzählen dir, wie schlecht es ihnen immer noch geht, und wiederholen stets das Gleiche: dass sie das nie vergessen können, dass sie Albträume haben oder unter Schlaflosigkeit leiden, dass sie ich weiß nicht welche Medikamente gegen Depressionen nehmen, dass sie alles versuchen, die Tragödie zu überwinden, weil das Leben ja weitergehen muss, und einige haben noch andere Kinder, um die sie sich kümmern müssen, und dass der Psychologe gesagt hat oder inzwischen nicht mehr sagt.
Er will mit dem Nuco allein sein und mit ihm sprechen, ohne dass jemand zuschaut, zuhört und sich einmischt, nur um hinterher herumzuerzählen, dass ich sie nicht mehr alle beisammenhabe.
Mariaje bemüht sich, die Ruhe zu bewahren; doch es gelingt ihr nicht immer. Den ganzen Tag knurrst du herum. Kannst du nicht verstehen, dass andere ebenfalls trauern?
Ihr Vater hat gehört, dass der Friedhof zu Ehren der toten Kinder nachts geöffnet bleibt, für den Fall, dass jemand plötzlich den Drang verspürt, sie zu besuchen. Menschenskinder, wenn er es sich recht überlegt, wäre das doch eine Möglichkeit, frühmorgens um drei mit einer Taschenlampe hinaufzugehen; obwohl, wer weiß, ob nicht zu der Zeit auch schon Leute da rumstehen und quatschen, sich übers Wetter unterhalten und aus Thermoskannen Kaffee trinken. Jedenfalls geht Nicasio früh zu Bett. Ab neun Uhr fallen ihm die Augen zu. Es liegt wohl am Alter und am Wein zum Abendessen, dass ihm die Augenlider schwer werden. Spätestens um zehn liegt er im Bett.
Anderen Besuchern aus dem Weg zu gehen, gelingt ihm nicht immer. Morgens ist Nicasio manchmal der Erste auf dem Friedhof. Er freut sich, weil er niemanden sieht; doch dann taucht plötzlich diese Frau auf und etwas später der Mann da, beide aus dem Dorf, dann gibt es für ihn kein Entkommen mehr.
Einer sagt: Wenn ich dem Klempner auf der Straße begegne, würde ich ihm am liebsten die Meinung sagen. Der Kerl hat unser Leben zerstört.
Ein anderer dazu: Ich glaube, man hat ihm das Auto abgefackelt.
Ersterer: Mir wäre es lieber gewesen, man hätte mir das Auto abgefackelt, als meine Tochter zu verlieren.
Nicasio hält sich aus solchen Gesprächen heraus. Er kennt den Dorfklempner persönlich. Ein guter Mann, Opfer des Schicksals und eines Pfuschs an der Gasleitung. Wie hätte der arme Kerl das wissen sollen? An dem Morgen befand sich sogar seine Tochter in einem der Klassenzimmer.
Einen solchen Verlust erlitten zu haben und darüber untröstlich zu sein, rechtfertigt nicht alles.
In dem Punkt gibt Mariaje ihrem Vater recht.
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