Der Jüngste Tag des Peter Gottlieb - Christian Mähr - E-Book

Der Jüngste Tag des Peter Gottlieb E-Book

Christian Mähr

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Beschreibung

Alles hatte damit angefangen, dass der Hildmeyer dem Peter Gottlieb vors Auto lief. Mitten in der Nacht war er aus einem abzweigenden Waldweg auf die Straße gestolpert, ohne zu schauen, und im hohen Bogen über Gottliebs Wagen geschleudert worden. Dass der Verunglückte ein paar Sekunden später wieder aufsteht, sich den Anzug ausklopft und dann auf Gottliebs Beifahrersitz steigt, ist die erste von vielen Begebenheiten, die den Rahmen dessen, was jener bis dato für normal gehalten hat, bei Weitem übersteigen. "Das Unheimliche ist nicht das Gegenteil des Heimeligen, sondern der Giebelstein desselben. Seit E. T. A. Hoffmann hat kein Schriftsteller diese Wahrheit in so sachlich kühler und gerade darum poetischer Form ausgesprochen wie Christian Mähr. Schon mit den ersten Sätzen packt er den Leser am Kragen. Wir danken mit Hingabe." Michael Köhlmeier

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Seitenzahl: 509

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CHRISTIAN MÄHR

Der Jüngste Tag des

Peter Gottlieb

Roman

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

1. Auflage 2018

© 2018 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Coverfotos: © Shutterstock, STILLFX; © iStock, SvetlanaK

Covergestaltung: Manfred Poor

ISBN 978-3-99200-203-0

eISBN 978-3-99200-204-7

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

1

Es wäre vielleicht alles anders gekommen, wenn er an diesem Tag nicht so nervös gewesen wäre. Wer so nervös ist, dass er Mühe hat, seine motorischen Fähigkeiten zu kontrollieren, sollte nicht Auto fahren. Dabei war er nicht betrunken. Er hatte, um genau zu sein, an diesem Tag noch überhaupt keinen Alkohol getrunken. Man muss zugeben, die Straße war kurvig, lief durch den Wald und es war dunkel. Außerhalb der Scheinwerfer pechschwarz.

Als es dann passierte, lief nicht alles wie in Zeitlupe ab, auch das Leben zog nicht an ihm vorbei, warum auch? Er war ja nicht in Gefahr. In Gefahr war nur der andere. Er sah ihn nicht einmal im Scheinwerferlicht auftauchen, da „tauchte“ gar nichts auf, kein Schatten, keine Gestalt. Der andere krachte gegen die Windschutzscheibe und flog über das Dach nach hinten. Dann fiel er auf den Boden, der Aufprall mischte sich mit dem Geräusch der Bremsen. Ich habe ihn umgebracht. Das war das Erste, was er dachte. Ich habe den Idioten, verdammt noch mal, umgebracht! Es kann nicht anders sein. Was war er gefahren? Höchstens sechzig. Sechzig reicht. Er schaltete den Motor ab und stieg aus.

Man kennt das: Fußgänger haben keine Chance. Sie werden nicht das Opfer von Rasern, sondern von ganz normalen Typen, die mit fünfzig, ja, auch mit sechzig durch Ortschaften cruisen. Sie laufen einem rein. Da hat niemand eine Chance. Der Fahrer nicht mit dem Bremsen, der Idiot nicht mit dem Überleben. Der Typ lag weit hinter dem Wagen. Erstaunlich … so erstaunlich auch nicht, dachte er, der Anhalteweg. Fahrschulwissen. Tachowert durch zehn mal drei, plus Tachowert durch zehn zum Quadrat. Macht bei sechzig km/h achtzehn plus sechsunddreißig, gleich vierundfünfzig Meter. Wenn man keine volle Schrecksekunde rechnet, ein bisschen weniger. Egal: Vierundfünfzig Meter sind zu viel, wenn das Hindernis zwei Meter vor dem Kühler auftaucht. Er wunderte sich, was ihm durch den Kopf ging. Das ist der Schock, nur der Schock, das Hirn schützt sich selber. Nach ein paar Minuten werde ich zusammenbrechen und wimmernd neben dem Opfer kauern. Oder durch den Wald laufen, mich verirren. Zwei Tage später unterkühlt aufgelesen werden.

Er hatte eine grotesk verdrehte Gliederpuppe erwartet, eine Blutlache, ein bisschen Hirnmasse, warum nicht? Darauf kam es auch schon nicht mehr an. Aber der Mann lag einfach auf der linken Seite, das Gesicht abgewandt, nur der weißhaarige Hinterkopf war sichtbar. Beim ersten Hinsehen konnte er keine anatomisch falschen Winkel feststellen, alles war an der richtigen Stelle richtig rum angebracht. Vielleicht verdeckte der schwarze Anzug ja einiges. Die Leiche machte von hinten einen … ja, was für einen Eindruck? Als ob er sich grad umgedreht hätte. Vorher lag er auf dem Rücken, jetzt hat er sich auf die Seite gedreht. Bequemer so. Wo waren überhaupt die Arme? Vom einen sah er nur den Oberarm, den unteren Teil verdeckte der Körper, der andere war nicht sichtbar. Bis auf die Hand. Die lag unter dem Kopf. Damit der nicht auf dem harten Asphalt liegt. Merkwürdig. Er ging um die Leiche herum. Der Typ lag auf der Seite und hatte den Arm angewinkelt, damit er den Kopf auf die Handfläche legen konnte. Das sah nicht aus wie eine Leiche. Sondern wie jemand, der sich auf die Straße gelegt hat, um ein Nickerchen zu machen. Dazu passte, dass sie die Augen aufschlug, die Leiche, und sagte: „Entschuldigung.“

Er sagte nichts. Das Gefühl der Erleichterung überwältigte ihn, er brachte kein Wort heraus. Der Mann rappelte sich auf, stand dann vor ihm, klopfte mit der flachen Hand die Hosenbeine ab, wie man es tut, wenn man etwas Staubiges gestreift hat, einen Zaun, eine Mauer.

„Es tut mir leid“, sagte er. Die Stimme klang brüchig, rostig. „Ich hab Sie nicht gesehen …“

„Macht nichts, es ist ja nichts passiert.“

„Ich werde Sie in ein Krankenhaus fahren. Sie müssen sich untersuchen lassen nach dem … dem Aufprall.“

„Das ist nicht nötig, glauben Sie mir. Aber ich hätte nichts dagegen, wenn Sie mich ein Stück mitnehmen könnten. Ich heiße übrigens Hildmeyer, Lukas Hildmeyer.“

„Mein Name ist Peter Gottlieb“, antwortete er und gab dem Mann die Hand. „Bitte, steigen Sie ein.“ Er machte dem Anzugträger die Tür auf, der stieg mit solcher Behändigkeit ein, dass Gottliebs Zweifel über den Gesundheitszustand des Unfallopfers verschwanden. Man hörte immer wieder Horrorgeschichten, dass solche Leute, nachdem sie der Laster überfahren hat, putzmunter aufstehen, etwas reden und ein paar Schritte gehen, bevor ihnen das dampfende Gekröse durch die geplatzte Bauchdecke auf die Straße fällt. Aber dass sie in ein Auto einsteigen und Konversation machen, hatte Peter Gottlieb noch nie gehört. Das nämlich tat dieser Herr Hildmeyer. „Ich kannte einen Gottlieb“, sagte er, „aus Holzgarten. Sind Sie mit dem verwandt?“

„Ich bin der Neffe.“

„Ah, verstehe! Sie treten das Erbe an!“

„Woher wissen Sie das?“ Peter startete den Wagen und fuhr los.

„Das wissen alle. Holzgarten ist ein Dorf. Man hört es nicht so gern, aber es stimmt. Alle wissen alles übereinander. Oder glauben es wenigstens.“

„Haben Sie meinen Onkel gekannt?“

„Flüchtig. Ich bin nicht oft ins Wirtshaus gegangen.“

„Sie gehen lieber in der Nacht spazieren.“

„Nein, eigentlich nicht, ich hab das früher nie gemacht. Ich weiß nicht, was heute über mich gekommen ist. Ich hatte einfach Lust, zu gehen, wissen Sie, einfach gehen …“ Er verstummte. Peter Gottlieb musterte ihn mit Seitenblicken. Rotes Gesicht, geplatzte Äderchen auf den Wangen, aber nicht von dem Unfall. Die Augenfarbe war im Dunkel des Wageninneren nicht zu erkennen. Hoher Haaransatz, weiße Haare. Entweder war er Mitte sechzig und hatte ungesund gelebt. Oder er hatte mäßig gelebt, dann konnte er auch achtzig sein. Unter dem schwarzen Anzug trug er eine Weste in hellerem Ton, beige vielleicht, und eine rote Krawatte. Nicht die Adjustierung für nächtliche Ausflüge. Konnte ja sein, dass das mit der Wanderung gar nicht stimmte und der etwas demente Herr Hildmeyer aus einem nahen Pflegeheim entlaufen war. Der Gedanke gefiel Peter Gottlieb nicht. Er hasste Scherereien. Scherereien würden aber auf ihn zukommen, wenn Hildmeyer ein abgängiger Pflegefall war.

„Wo soll ich Sie absetzen?“, fragte er.

„Fahren Sie einfach in den Ort. Dort können Sie mich rauslassen.“

„Wohnen Sie in Holzgarten?“

„Ja, ja. Ich wohne in … Holzgarten.“ Das Zögern kam Peter seltsam vor. Der gute Hildmeyer schien nicht zu wissen, wo er wohnte. Peter Gottlieb seufzte. Das war doch typisch für Demente: Sie vergessen ihre Adresse. Also würde er den alten Herrn nicht einfach vor dem „Lamm“ absetzen können und seines Weges ziehen, weil das auf Im-Stich-Lassen einer hilflosen Person hinausliefe, oder unterlassene Hilfeleistung oder weiß der Geier, wie das genau hieß, etwas mit Hilfe auf jeden Fall, und dafür gab es einen Paragrafen. Es gab für diese Dinge immer einen Paragrafen. So ländlich ruhig konnte Holzgarten gar nicht sein, dass ihn nicht jemand beobachten würde, wie er den armen Herrn Hildmeyer mitten auf der Straße aussetzte und davonfuhr. Seine Laune wurde schlechter. Er musste den Unfall der Polizei melden, schon um den dementen Passagier loszuwerden. Und um keine Fahrerflucht zu begehen. War das nicht überhaupt schon Fahrerflucht, was er hier durchzog? Er war schließlich, ohne irgendwelche Stellen zu verständigen, vom Unfallort weggefahren. Ja, schon – mit der Einwilligung des Unfallopfers, sogar mit dem Unfallopfer selber, aber reichte das aus? Ab wann galt ein Verhalten als Fahrerflucht? Es hatte keinen Zweck, sich damit zu befassen, er steckte jetzt drin und musste schauen, wie er ohne große Scherereien wieder herauskam.

„Wie weit ist es noch bis Holzgarten?“, fragte er.

„Nicht sehr weit. Fünf Kilometer oder so.“ Jetzt waren sie aber schon eine Zeit lang unterwegs. Zehn Minuten? Das konnte hinkommen. Und das wollte dieser Hildmeyer gegangen sein, einfach so? Das glaubte kein Mensch. Sie waren sicher an der Einfahrt zum Hospiz vorbeigefahren, natürlich war es so gewesen, ein oder zwei Kilometer vor der Unfallstelle. Oder dahinter, spielte keine Rolle, er war daran vorbeigefahren. Jetzt hatte er ihn am Hals. Hildmeyer schien die Fahrt zu genießen. Er lächelte. Die lassen sie nicht raus, dachte Peter Gottlieb, die haben nicht viel Abwechslung in solchen Heimen, das kennt man doch, zu wenig Personal, keine Mittel … da war Hildmeyer einfach abgehauen, auf Wanderschaft gegangen. Und von einem Glückskind namens Gottlieb durch die Nachtluft katapultiert worden. Er hätte nicht fahren sollen. Renate hätte ihm abgeraten, das wusste er; sie riet bei Sachen dieser Art immer ab. Aber Renate hatte ihn vor langer Zeit verlassen, und nicht im Guten. Er hatte nicht um Rat fragen können. Brauchte er ja nicht, er wusste, was sie gesagt hätte. „Du hast was geerbt? Ein Dorfgasthaus? Und willst dort hinziehen? Bist du total bescheuert?“ So etwa. Und sie hatte Recht. Einerseits. Andererseits gab es noch Hildegard, seine Frau. Hildegard war skeptisch gewesen, als er mit dem Plan daherkam, sogar sehr skeptisch. Aber sie war verbindlich, sie drosch nicht gleich mit verletzenden Worten auf einen ein, sie war auch der bessere Mensch, keine Frage. Er verstand nicht, warum ihm bei solchen Gelegenheiten immer als Erstes Renate in den Sinn kam: Was würde Renate dazu sagen, davon halten? Sie war Geschichte … es beunruhigte ihn. Hildegard hatte er überreden können, sich auf das Abenteuer einzulassen, die Klausel im Testament zu akzeptieren. Das war eben der Unterschied zwischen diesen Frauen. Mit Renate wäre aus dem Plan nichts geworden, Hildegard war bereit, es zu versuchen. Auf ihre bedächtige Art war Hildegard die Draufgängerin und die extrovertierte Renate im Grunde die langweilige Konservative, starr und beharrend. Er konnte sich glücklich schätzen, dass jetzt Hildegard an seiner Seite war. Ja, er konnte sich glücklich schätzen …

Der Wald neben der Straße wich zurück, Häuser tauchten auf. Der verlassene Platz in der Mitte markierte das Zentrum von Holzgarten. Auf der einen Seite lag die Kirche, Peter Gottlieb fuhr langsam auf den Platz, in der Mitte hielt er an. „Holzgarten Zentrum“, sagte er. „Ich danke Ihnen!“, rief Herr Hildmeyer und öffnete die Tür. Er stieg mit erstaunlicher Behändigkeit aus und wandte sich zum Gehen.

„Moment! Wo wollen Sie denn jetzt hin?“

„Nach Hause!“, sagte der alte Mann. Dann begann er zu singen: „Nach Hause, nach Hause, spricht er mit frohem Sinn!“ Peters Mund öffnete sich, es kam aber nichts heraus.

„Das Lied“, erklärte Hildmeyer, „verstehen Sie? Wenn ich den Wandrer frage … das Lied! Da kommt das her … kennen Sie nicht? Na macht nichts, ist heute nicht mehr so bekannt … schönen Dank fürs Mitnehmen!“ Er drehte sich um und ging auf die Kirche zu, Peter schaute ihm nach. Kurz vor dem Tor wandte sich Hildmeyer nach links und bog um die Ecke. Dann war er verschwunden. Peter Gottlieb fuhr weiter in eine Seitengasse. Dort lag das Wirtshaus „Lamm“, das aber seit Jahrzehnten kein Wirtshaus mehr war, der Onkel, der nie Wirt gewesen war, hatte es geerbt, sich aber geweigert, das Schild mit dem Lamm inmitten labyrinthischen Schmiedeeisenzierrats abzumontieren. Für Holzgarten genügte schon damals das Wirtshaus am Marktplatz; er war aber nicht sicher, ob die „Krone“ inzwischen ihre Pforten nicht auch geschlossen hatte. Die Einwohnerzahl des Ortes nahm ab, das ging seit vielen Jahren so, langsam, aber stetig immer weiter nach unten.

Er hielt vor dem „Lamm“ an und stieg aus. Links und rechts einstöckige Häuser. Alle Fenster dunkel. Keine Straßenbeleuchtung. Peter Gottlieb schloss das Haus auf und verfrachtete die beiden Koffer in den Flur. Jedes Geräusch hallte in der Straße wider. Den Kofferraum schloss er mit sanftem Druck, um niemanden zu wecken. Denn ringsum verharrte die Welt in völliger Stille. Er blieb vor der Tür stehen und lauschte. Nichts. Absolut nichts. Er entspannte sich. Diese Stille hatte er gesucht. Er erinnerte sich an die lautlosen Nächte seiner Ferien. Wenn das Fenster offen stand, hörte man jeden Passanten auf dreißig Meter. Man hörte sogar das Tappen von Hundepfoten. Es gab keinen akustischen Hintergrund, nicht das Rauschen der Stadt, keinen Verkehrslärm, nicht von fern, nicht gedämpft. Wenn etwas rauschte, war es der Wind in der Linde hinter dem Haus.

Er ging wieder ins Haus, zwang sich, nicht auf leisen Sohlen herumzuschleichen, wie es sich aufdrängte. Hier war niemand außer ihm, es war sein Haus, er konnte herumpoltern wie er wollte. Er schleppte die Koffer in den ersten Stock. Die Zimmer oben waren klein, das würde man ändern müssen, aber das hatte noch Zeit. Eins nach dem anderen. Er wählte eines der Gästezimmer zum Übernachten. Fenster zum Hof. Es roch muffig, er lüftete durch. Im Erdgeschoss rechts vom Flur lag das Wohnzimmer, in dem sich der Onkel die letzten Jahre aufgehalten hatte. Auch geschlafen hatte er hier, weil er mit dem Wasser in den Beinen keine Treppen steigen konnte. Das Feldbett war schon weg, auch die anderen Möbel. Das hatte Peter vor einem Vierteljahr erledigt, gleich nach Antritt des Erbes. Man konnte nicht im Gastraum eines Dorfwirtshauses wohnen, das war es früher gewesen; der Onkel hatte fast nichts verändert, obwohl zu seinen Zeiten die Wirtschaft schon geschlossen war. Der Wohnzimmertisch war ein Wirthaustisch für zwölf Personen, dahinter eine Bank, davor Wirtshausstühle. Der Onkel hatte nur die übrigen Tische und überflüssigen Stühle entfernt, die Theke aber belassen, auch das Spirituosenregal dahinter. Es hatte furchtbar ausgesehen.

Peter Gottlieb hatte sich dafür entschieden, die Klausel zu erfüllen. Und hier zu wohnen. Auf Dauer. Auch jetzt bereute er es nicht, als er in der leeren Wirtsstube stand. Der Tisch war noch da, aber mit einer schönen Decke, die Theke war noch da, das Regal mit den Schnapsflaschen durch eine Schrankwand ersetzt, die Hildegard ausgesucht hatte. Peter zweifelte, ob dieses Möbel eine so große Verbesserung darstellte, hatte aber jede Kritik vermieden, um nicht Hildegards Zustimmung zum Umzug zu gefährden, die ohnehin erst nach langen Überredungsphasen erteilt worden war und, fürchtete Peter Gottlieb, auch wieder zurückgezogen werden könnte, wenn sie es gar nicht aushielt mit dem Leben auf dem Land. Er verdrängte den Gedanken und ging in die Küche. Die war redimensioniert. Normaler Herd, Geschirrspüler, Mikrowelle. Die Küche war, was ihn wunderte, eher ein Pluspunkt für das Haus gewesen; Hildegard hatte gelächelt, als sie den Raum zum ersten Mal betrat, daran erinnerte er sich noch. „Viel Platz“, hatte sie gesagt, „da kann man nicht meckern!“ Vielleicht hatte ja die Gasthausküche den Ausschlag gegeben. Jetzt sah sie leer aus, geeignet für Hallenfußball. Das rot-weiße Schachbrettmuster des Fliesenbodens glänzte im LED-Licht; die trüben Funzeln der Originalbeleuchtung waren ersetzt worden.

Peter machte sich Kaffee mit der neuen Espressomaschine. Kein Gastromodell natürlich, eins für Normalhaushalte. Er setzte sich an den Küchentisch. Die Küche gefiel ihm. Eine Wohnküche würde dennoch nicht daraus werden, dazu war sie zu groß; um den Raum zu füllen, fehlte Personal. Aber sie bot Raum, war Raum. Das hatte Hildegard am Schluss überzeugt: Sie hatten zum ersten Mal Platz, richtig Platz. Das Haus war in allem das Gegenteil ihrer Drei-Zimmer-Wohnung in der Stadt.

Natürlich war es, wenn man es so verkürzt betrachtete, schiere Verrücktheit, deswegen in ein aufgelassenes Wirtshaus zu ziehen. Alle ihre Freunde hatten mehr oder weniger heftig den Kopf geschüttelt. „Ihr seid ja wahnsinnig, in dieses Kaff, was glaubt ihr denn, was dort für Leute wohnen? Es hat noch nicht einmal einen Eintrag bei Wikipedia!“ Und so weiter … Dann war da noch die Klausel des Onkels, aber die hatten ihnen die Gottliebs verschwiegen. Nein, nein, dachte Peter, es war ein guter Plan, es war ein Angebot, das man sozusagen nicht ablehnen konnte, wenn man seine fünf Sinne noch beisammen hatte.

Das Handy läutete. Also gibt es ein Netz, schoss ihm durch den Kopf, das hatten die Warner auch moniert: „Die haben doch dort kein Netz, ihr seid von allem abgeschnitten!“ Er nahm ab.

„Wie ist es?“, fragte Hildegard. „Wo bist du grade? Noch unterwegs? Dann ruf ich später an …“

„Bin eben angekommen. Es ist toll, glaub mir! Alles still, eine göttliche Ruhe, ich erhole mich jetzt schon!“

„Das ist schön, aber um Erholung geht’s ja nicht. Nicht in erster Linie.“ Da hatte sie Recht, sie hätte es nur nicht in diesem Augenblick erwähnen müssen. Er verdrängte den aufkeimenden Ärger. Gerade zur rechten Zeit – Hildegard sagte, ihr gehe es nicht so blendend, Halskratzen … Er bat sie, sich zu schonen und erst später nach Holzgarten zu kommen, er komme schon allein zurecht. Dann verabschiedeten sie sich.

Peter spürte Enttäuschung, gleichzeitig vage Erleichterung. Wie bei einer verschobenen Prüfung, auf die man sich vorbereitet hatte. Er war das Vorauskommando, der alles in Ordnung bringen und das Haus bis zu ihrem Eintreffen herausputzen sollte. Obwohl ihm nicht klar war, welche Art Schmutz sich in einem leeren Haus in den paar Wochen, seit die Handwerker draußen waren, hätte ansammeln sollen. Ihm fiel nur Staub ein. Also würde er Staub saugen. Damit hatte es jetzt keine Eile mehr.

Er packte die Koffer aus. Im einen lagen obenauf die Bilder. Fotos in Rahmen zum Aufstellen. Er brachte sie in den Gastraum. Vater und Mutter als Hochzeitspaar, die Großeltern von beiden Seiten als Einzelporträts, leichter Braunstich, steifleinen. Ein Onkel und eine Tante von der Mutterseite. Und ein kleines Bild, das einzige Farbfoto. Zwei Babys auf einer grünen Wiese. Das eine blau gekleidet, das andere rosa. Das blaue Baby war er. An das rosa gekleidete, die Zwillingsschwester, konnte er sich nicht erinnern.

Die Personen auf diesen Fotos waren bis auf ihn selbst alle tot. Aber das bedrückte ihn nicht. Bilder von Toten stellte man auf. Um sich an sie zu erinnern. Damals war das üblich. Wenn Lebende auch abgebildet waren, handelte es sich um einen Zufall. Er betrachtete das Doppelporträt. Die Babies sahen gleich aus, ohne die Farben der Strampelanzüge hätte er nicht sagen können, wer wer war. Die Bilder machten ihn nicht traurig. Sie gehörten zu seinem Leben, seit er denken konnte. Sie standen für Kontinuität, sie strahlten Ruhe aus. Hildegard verstand das nicht; von ihrer Familie gab es keine Fotos. In Alben schon, aber keine in Rahmen. Er hatte nie beobachtet, dass sie ihre Fotoalben angeschaut hatte.

Der Kaffee war keine so gute Idee gewesen. Er war hellwach. Wie im Urlaub, dachte er. Man kommt an und lässt fünfe grade sein, macht Sachen, die man zu Hause nicht tun würde. Bohnenkaffee um elf Uhr nachts. Da konnte er genauso gut einen Spaziergang machen. Er verließ das Haus.

Der Ort hatte sich verändert. Er ging über den Kirchplatz, bog in eine Seitengasse ein. Das Eckhaus war das Gemeindeamt, ein Bau aus den Sechzigerjahren, schlicht und modern, wie man es damals verstand, viel Glas, und wenn es sich irgendwie machen ließ, freitragende Vordächer. Das war beim Gemeindeamt nicht der Fall. Die Polizei war auch hier untergebracht. Er musste den Unfall melden, gleich morgen früh, schon wegen der Versicherung. Musste er? Er war sich nicht sicher. Aber besser, sich als Neubürger mit der Exekutive gut zu stellen. Er ging weiter, an der Kirche vorbei. Dahinter lag der Friedhof. Er lief an der Friedhofsmauer entlang, hier hatte es ein Tor gegeben … es war noch immer da und stand offen. Er ging hinein. Die Beleuchtung von der Straße war so stark, dass er in den ersten beiden Reihen die Inschriften auf den Grabsteinen lesen konnte; nicht alle, aber die jüngeren, unverwitterten. Die Namen sagten ihm nichts. Ein paar weckten vage Erinnerungen aus der Kindheit. Holzer. Baumann. Mikulisch. Personal des Ortes von vor vierzig Jahren, die irgendeine Funktion oder Bedeutung gehabt hatten, aber welche, war ihm entfallen. Er ging die Außenreihe entlang. Fast am Ende, an der hinteren Umfassungsmauer, fiel ihm ein Name auf, den er erst heute gehört hatte. Hildmeyer. Lukas Hildmeyer stand da auf einem Granitstein. Darunter 1919–1975. Sonst nichts. Auf dem Grab wuchs eine Staude, die er nicht identifizieren konnte. Gepflegt sah es nicht aus. Offenbar der Vater. Dann hätte er heute Lukas Hildmeyer den Zweiten kennengelernt. Es warf kein gutes Licht auf diesen Herrn, dass er das väterliche Grab vernachlässigte. Wo er doch im selben Ort wohnte. Peter Gottlieb ging mit raschen Schritten zurück. Seine Stimmung sank. Das war schon das zweite Mal an einem einzigen Abend, seinem ersten in Holzgarten, dass ihm dieser Lukas Hildmeyer die Laune verdarb. Peter schlurfte heim und ging ins Bett, ohne die Heizung zu kontrollieren, was er eigentlich noch vorgehabt hatte. Sie war neu, erst vor zwei Monaten eingebaut worden, Stückholzvergasung am neuesten technischen Stand, sie hatte auch schon funktioniert, aber bevor Hildegard kam, wollte er das Ding auf Herz und Nieren prüfen. Holzgarten wirkte, wie er es aus der Kindheit gewohnt war. Hier schlief man gleichsam schon beim Hinlegen ein, bevor noch der Körper in der Horizontalen war.

Er erwachte ohne Wecker gegen acht, stand sofort auf, machte sich Kaffee und aß einen mitgebrachten Nussgipfel. Er wusste, wo die Bäckerei war, nicht weit vom Haus, aber ob sie noch existierte, wusste er nicht. Das zu prüfen, hatte er bei allen Vorbereitungen vergessen. Hildegard wäre das nicht passiert, aber Hildegard hatte ihm klipp und klar verdeutlicht, dass sie sich nicht an der „Renovierung des Kastens“, wie sie das Wirtshaus nannte, beteiligen werde. Er trank aus, schluckte den letzten Bissen und verließ das Haus.

An die Polizeistation hatte er keine deutliche Erinnerung, er war nie drin gewesen; er wusste nur noch, dass man damals Posten gesagt hatte, heute hieß es Inspektion. Der einzige Beamte war ein hochgewachsener Blonder, der auf Peter zutrat.

„Ich möchte einen Unfall melden“, begann er. „Gestern Nacht. Mir ist jemand vors Auto gelaufen …“

„Und da kommen Sie jetzt erst?“

„Es ist nichts passiert, keine Verletzung, nicht einmal eine Schramme! Ich hab ihn dann hierher nach Holzgarten gefahren und am Kirchplatz abgesetzt. Er wollte das, kein Spital oder so.“ Der Beamte setzte sich an den Computer, begann die Unfallaufnahme. Beim Namen „Peter Gottlieb“ fragte er: „Sie sind der Erbe?“

„Ja, in der Tat, der bin ich, der Erbe vom Lamm. Aber woher wissen Sie das?“

„Hier weiß man so was, hat nichts mit der Polizei zu tun. Wo war der Unfall?“

„Auf der Landstraße, fünfzehn Kilometer von hier …“

„Fünfzehn Kilometer, aha. Dann schildern Sie doch einmal den genauen Hergang, Herr Gottlieb.“ Peter tat, wie ihm geheißen. Die Erwähnung des Namens Lukas Hildmeyer rief amtlicherseits keine Reaktion hervor. Das irritierte ihn.

„Ich möchte ihn aufsuchen und nachschauen, wie es ihm geht“, sagte er. „Ich meine, es war nichts zu erkennen an ihm. Er ist auch selber aufgestanden, hat sich entschuldigt …“

„Ja, das haben Sie ja schon angegeben. Mir ist ein Lukas Hildmeyer aber nicht bekannt. Holzgarten ist nicht sehr groß, aber auch nicht so klein, dass die Polizei jeden persönlich kennen müsste.“ Er hantierte an seinem Computer, blickte auf. „Bei uns wohnt niemand mit diesem Namen.“

„Wie kommt er dann darauf? Er war ja schon ein bisschen komisch …“

„Inwiefern?“

„Er hatte einen schwarzen Anzug an. Mit Krawatte. Damit geht er mitten in der Nacht auf der Landstraße spazieren! Ich hab mir gleich gedacht, er ist vielleicht aus einem Heim – kann das sein? Gibt es so was in der Gegend?“

„Nein, auch nicht in der Region. Ist alles in der Stadt konzentriert.“ Das Gespräch erlahmte. Wahrscheinlich heißt das, ich soll gehen, dachte Peter Gottlieb. Aber so war es nicht. Ein zweiter Beamter kam herein. Der erste informierte ihn über Peters Angaben. Der zweite sah dem ersten so ähnlich, dass Peter später Mühe gehabt hätte, sie richtig zuzuordnen, wenn sie ihm allein begegnet wären. Beide groß, blond und auf vage Art gutaussehend, der, mit dem er gesprochen hatte, ein bisschen kleiner. Der Neue gab ihm die Hand. „Mittenwald. Das ist der Stieger.“ Er deutete auf den anderen. „Chef bin ich.“ Er lächelte. Peter kam nicht dazu, sich selber vorzustellen, denn Mittenwald fuhr fort: „Wenn Sie einen Mann angefahren haben, Herr Gottlieb, müsste an Ihrem Auto was zu sehen sein. Schauen wir uns das doch an!“ Er wandte sich zur Tür, Peter folgte ihm. Chef Mittenwald wusste nicht nur, wie Peter Gottlieb hieß, er wusste auch, wo das Auto stand. Direkt vor dem Lamm. Jeder hier weiß es, dachte Peter. Dass ich einen Mitbürger angefahren habe, gleich am ersten Abend, weiß sicher auch schon jeder. Also ist es klug gewesen, den Unfall zu melden. Sehr klug. Inspektor Mittenwald inspizierte Peters Wagen. Peter kannte die korrekte Bezeichnung nicht; Inspektor als Oberbegriff war sicher richtig, aber da gab es doch mehrere Arten. Revierinspektor fiel ihm ein, Rayonsinspektor … gab es so was bei uns überhaupt? Mittenwald hatte den Amtstitel nicht genannt, Peter beschloss zu fragen, aber dazu kam es vorerst nicht, denn Mittenwald erhob sich aus der hockenden Position vor Peters Kühlerhaube und machte ein ernstes Gesicht. „Da sind tatsächlich Spuren“, sagte er. „Eine Delle in der Stoßstange und Stofffetzen. Kein Blut. Aber das werden wir noch genauer untersuchen. Sie müssen noch das Protokoll unterschreiben, Herr Gottlieb. Und das Auto müssen wir vorläufig behalten.“

„Was? Wieso denn? Ich habe diesen Unfall gemeldet, freiwillig, und jetzt …“

„Ja, schon, Sie haben ihn gemeldet, aber ein bisschen spät, oder?“

„Das war mitten in der Nacht. Wen hätte ich anrufen sollen?“

„Ich würde sagen, uns. Die Polizei.“

„Um halb elf? Da ist der Posten doch nicht besetzt.“

„Inspektion. Es heißt jetzt Inspektion. Und Sie wären automatisch an eine Stelle außerhalb vermittelt worden.“

„Ja, ja, das ist mir schon klar! Aber der Herr Hildmeyer war ja nicht verletzt! Ich hab ihn dann mitgenommen und am Kirchplatz rausgelassen. Er hat nicht einmal gehinkt …“

„Gut. Das ist Ihre Version. Was allerdings als Tatsache feststeht, sind die Stoffspuren an Ihrem Auto. Bei dieser Spurenlage ist es völlig ausgeschlossen, dass der Betreffende keine deutlichen Verletzungen davongetragen hat. Wie schnell sind Sie gefahren?“

„Sechzig ungefähr …“

„Also eher siebzig, aber das spielt keine Rolle, ich ziel nicht auf überhöhte Geschwindigkeit ab oder so. Sechzig reicht völlig.“

„Er ist mir …“

„Direkt reingelaufen, okay, das glaub ich Ihnen. Sie laufen einem immer rein. Dem Autofahrer kommt das so vor, er sieht es so. Das ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass Ihr Unfallopfer erhebliche Verletzungen davon getragen hat – wenn sich der Unfall so abgespielt hat, wie Sie ihn geschildert haben.“

„Hat er aber nicht, Verletzungen, meine ich …“

In Mittenwalds Stimme begann sich eine gewisse Ungeduld einzuschleichen, wie bei Lehrpersonen, die einem begriffsstutzigen Schüler etwas erklären wollen und einsehen, dass es keinen Zweck hat. „Das sagen Sie! Das kann nach Lage der Dinge aber nicht sein. Es ist höchst unwahrscheinlich bei diesen Spuren. – Jetzt begleiten Sie uns erst einmal zum Unfallort.“ Peter Gottlieb sagte nichts mehr. Er hatte sich, das sah er nun ein, reingeritten, aber so richtig. Er hätte nie zur Polizei gehen dürfen. Oder nicht mit der Wahrheit. Die Wahrheit war, im Licht des hellen Tages, gar nicht möglich. Das war das Problem. Ein großes Problem. Es gibt gar kein größeres Problem, dachte er, als eine Wahrheit, die einerseits wahr ist – drum heißt sie ja Wahrheit – und andererseits nicht möglich ist. Realisten mögen so was nicht. Genau genommen ist es das, was sie von allen unangenehmen Dingen am allerwenigsten mögen.

Vor der Inspektion Holzgarten stiegen alle drei in das Polizeiauto und schlugen die Straße ein, die Peter Gottlieb die letzte Nacht in der Gegenrichtung befahren hatte. Nach etwa zehn Minuten schweigender Fahrt stiegen sie aus und gingen zu Fuß weiter. Peter Gottlieb erkannte nichts wieder. Links und rechts Wald, zahllose Kurven, es sah alles gleich aus. Stieger entdeckte die Bremsspur. Sie wurde vermessen. Abdrücke eines menschlichen Körpers fanden sich nicht, dafür undeutliche Fußspuren im Moos; sie führten aus dem Wald heraus und kamen von einem Waldweg, der parallel zur Straße verlief. Da war jemand gegangen, dann in den Wald abgebogen und nach kurzer Strecke auf der Straße gelandet. Dort war er Peter Gottlieb vors Auto gelaufen. Das konnte man nicht beweisen, es gab nur Gottliebs Aussage, die Bremsspur auf der Straße und die Fußspur aus dem Wald. Peter merkte, wie sich die Atmosphäre entspannte. Er fand das paradox. Mittenwald lächelte. Es war das erste Mal seit Beginn ihrer Bekanntschaft.

„Also, Herr Gottlieb, es scheint so, dass doch alles eher glimpflich abgelaufen ist. Was Sie uns geschildert haben, weist auf einen schweren Unfall hin. Aber davon sehen wir hier nichts.“

„Versteh ich nicht, ehrlich gesagt …“

„Wenn ein Körper über das Auto geschleudert wird“, erklärte Stieger dem begriffsstutzigen Bürger Gottlieb, „dann gibt es Spuren, wenn er auf der Straße aufschlägt. Abreibungen von der Kleidung, Anhaftungen von Blut, weil der ungeschützte Kopf irgendwie in Kontakt mit dem Boden kommt. Das ist gar nicht anders möglich.“ Ah so! dachte Peter Gottlieb, ein Blutfleck auf der Straße ist kein ordinärer Fleck, sondern eine Anhaftung. Und wenn der Schädel platzt, gibt es darüber hinaus eine Anhaftung von Hirngewebe …

„Außer bei einem Stuntman“, sagte Mittenwald. „Die sind darauf trainiert.“

„Das war eher das Gegenteil von einem Stuntman …“

„Sehen Sie, da ist Ihnen einfach eine Fehleinschätzung unterlaufen, Herr Gottlieb. Es gab wahrscheinlich einen Unfall, der aber nicht so dramatisch abgelaufen ist, wie Sie das eingeschätzt haben.“ Peter Gottlieb beschloss, zu schweigen. In seiner Lage brachte es gar nichts, auf seinen Eindrücken zu beharren. Er wunderte sich, warum den Herren von der Exekutive nicht die naheliegende Frage eingefallen war, wie jemand, der sich einen schweren Unfall einbildet, überhaupt noch zur Lenkung eines Kraftfahrzeugs befähigt war; konnte es doch sein, dass er aufgrund derselben Störung nächstens einen verursacht, einen schweren Unfall nämlich … es war besser, die beiden nicht auf diese Fährte zu locken.

„Ihr Unfall, wenn man das überhaupt so nennen will, war eine Bagatelle“, erklärte Stieger. „Schon deshalb, weil in keinem Krankenhaus in der Umgebung jemand eingeliefert wurde. Das hab ich überprüft. Niemand, gar niemand, verstehen Sie? Es war eine ruhige Nacht. Ist doch schön!“ Er grinste. Sie stiegen ins Polizeiauto und fuhren nach Holzgarten zurück. Peter Gottlieb saß wieder hinten, die Atmosphäre war entspannter als bei der Hinfahrt. Stieger und Mittenwald sprachen halblaut über einen Basar, der in zwei Wochen stattfinden sollte, es ging um Details der Organisation, in die beide Beamte offenbar eingebunden waren, ein Thema von exemplarischer Belanglosigkeit. Sie setzten ihn beim „Lamm“ ab und verabschiedeten sich.

Er hatte keine Gelegenheit, die Vorkommnisse des Tages zu überdenken, denn Hildegard rief an. Ihre Stimme klang schwer verkühlt, sie krächzte und hustete, sodass er sie beschwor, sich zu schonen und keinen Anruf zu tätigen, dessen Inhalt doch nur sein konnte, dass sie demnächst nicht in Holzgarten auftauchen würde. Er empfahl ihr, ins Bett zu gehen und viel zu trinken, wie jedes Mal. Mit den ersten Anzeichen des Herbstes war sie krank. Atemwegsinfektion, sobald die Tage merkbar kürzer wurden. Das war jedes Jahr so und dauerte zwei bis vier Wochen, je nach Witterung. Sorgen machte er sich nicht, er hatte es schon oft erlebt, es lief immer gleich ab. Er hatte gehofft, die Herbsterkältung werde erst nach ihrem Umzug ausbrechen, dann hätte er sich um sie kümmern können.

„Ich komm heim“, sagte er, „ich kann gleich losfahren!“

„Auf keinen Fall! Du bleibst, ich komm zurecht, Mathilde hilft mir.“ Mathilde war ihre Nichte. „Wenn du jetzt gleich wieder wegfährst, gibst du denen nur Munition wegen der Klausel. Ruf mich heute Abend an!“ Sie legte auf. Das mit der Munition war eine fixe Idee. Es war ihm nie ganz klar, wer sie eigentlich waren, denen man, durch welches Verhalten auch immer, Munition liefern könnte. Hildegard schien die Gesamtheit der Holzgartener darunter zu verstehen, denen sie vor allem Missgunst unterstellte. Er hatte sich daran gewöhnt, dass ihm die Gedankengänge seiner Frau in manchen Dingen fremd blieben; nun schien sie anzudeuten, dass eine Rückfahrt so kurz nach seiner Ankunft das Eingeständnis frühen Versagens sein könnte, eines Unvermögens, die Klausel zu erfüllen. Der Gedanke ärgerte ihn. Und ihre Neigung, hinter den harmlosesten Vorgängen geheime Bedeutung zu wittern.

Er hatte nicht lang Zeit, sich verdrießlichen Gedanken hinzugeben. Die Türglocke läutete. Draußen stand Herr Hildmeyer. Im selben Anzug wie gestern. An beiden Hosenbeinen sah Peter einen Stoffschaden, eine Druckstelle mit Riss. Das hatte dann wohl zu der textilen Anhaftung auf seiner Stoßstange geführt. Der Anblick erheiterte ihn, er wusste nicht, warum.

„Ich habe mich gefragt, ob Sie mich vielleicht ein Stück hinausfahren könnten“, sagte Hildmeyer, „bloß ein paar Kilometer.“

„Kommen Sie erst einmal rein! Ich mach uns Kaffee. Sie trinken doch Kaffee?“

„Natürlich, sehr freundlich von Ihnen!“ Hildmeyer trat ein. Peter schaltete die Kaffeemaschine ein. „Milch? Zucker?“

„Schwarz, Herr Gottlieb, ganz schwarz. Wie die Hölle …“ Er setzte sich an den Riesentisch. Peter bezwang seine Neugier, bis er zwei Tassen serviert und sich dem Gast gegenüber gesetzt hatte.

„Wo kommen Sie denn her?“, fragte er.

„Jetzt grad?“

„Ja.“

„Von zu Hause. Wie in dem Lied, erinnern Sie sich?“ Er begann zu singen: „Von Hause, von Hause, spricht er und seufzet schwer …“

„Ja, ja, Emmanuel Geibel, das hatten wir schon. Und ich seufze auch schwer, Herr Hildmeyer, ich hatte nämlich eine unangenehme Diskussion mit der Polizei. Ihretwegen!“ Hildmeyer sagte nichts, blickte nur auf seine Tasse und nahm einen Schluck.

„Die Polizei kennt Sie gar nicht. Die sagen, in Holzgarten wohnt kein Lukas Hildmeyer. Was also …“

„… der Breiner vielleicht?“, unterbrach der Gast.

„Was? Nein, die hiesigen Polizisten halt. Stieger heißt der eine. Jetzt frage ich mich …“

„… die halten nichts von mir.“

„… frage ich mich, wer Sie wirklich sind, Herr Hildmeyer!“

„Seit der Festnahme haben die einen Hass auf mich, so was vererbt sich hier, müssen Sie wissen. Aber sie konnten mir halt nichts nachweisen, das haben die nicht vergessen!“ Er lachte in sich hinein.

„Sie sind verhaftet worden?“

„Festgenommen, Foto, Fingerabdrücke, dringend tatverdächtig …“

„Wen haben Sie umgebracht?“

„Guter Witz, wirklich. Es ging – halten Sie sich fest – ums Schwarzbrennen! Die haben getan, als sei ich der größte illegale Schnapsbrenner überhaupt. Besonders der Breiner war hinter mir her …“

„Die heißen Stieger und … und Mittenwald, jetzt fällt’s mir wieder ein.“

„Nein, nein, das sind jetzt andere. Natürlich sind das jetzt andere.“ Seine Stimme erstarb, ein Schatten legte sich auf sein Gesicht. „Ist ja eine Weile her …“

Peter Gottlieb war irritiert wie bei seiner ersten Begegnung mit dem Herrn Hildmeyer, allerdings hatte sich die Irritation nun verstärkt. Der Mann machte ihn verrückt.

„Heißen Sie wirklich Hildmeyer?“

„Ja, natürlich!“

„Warum weiß die Polizei dann nicht, dass Sie hier wohnen?“

„Ach, Herr Gottlieb, hören Sie auf! Die haben doch Mühe, ihren eigenen Hintern zu finden. Drum heißt es ja ‚Zivilversager‘ …“

„Wie bitte?“

„Kennen Sie den Ausdruck nicht? Wenn jemand keinen Job in einem Zivilberuf findet, geht er zum Staat, meistens zum Militär. Polizei oder so geht auch. Drum der Ausdruck …“ Hildmeyer verstummte, blickte Peter an. In seinen Zügen stand ein gewisser Zweifel, wie er einen befällt, wenn man entdeckt, dass der Gesprächspartner minderbemittelt ist. Das merkt man oft nicht gleich; Peter Gottlieb hatte das selber schon erlebt. Bei Hildmeyer war das Gefühl peinlicher Betroffenheit durch den Umstand ausgelöst worden, dass er den Begriff „Zivilversager“ erklären musste. Schlimm genug, wenn jemand bei einem Witz nicht lacht, schlimmer, wenn er nicht lacht, weil er ihn nicht verstanden hat.

Aber da konnte ihm Peter Gottlieb auch nicht heraushelfen. Abneigung gegen Exekutivorgane findet sich naturgemäß häufig bei Personen, die mit ihnen als Amtsbehandelte zu tun hatten. War Hildmeyer ein Krimineller? Dass er Kontakt mit der Polizei gehabt hatte, glaubte ihm Peter. Nur die Sache mit dem Schwarzbrennen war eventuell geschönt. Oder überhaupt erfunden.

„Ich glaube nicht, dass die Polizei so unfähig ist, wie Sie andeuten, Herr … Hildmeyer. Ich habe diesen Namen gestern rein zufällig auf dem Friedhof gefunden. Lukas Hildmeyer, ein Grab ganz außen an der Mauer …“

Hildmeyer nickte.

„Kennen Sie das Grab?“

„Sicher.“

„War Lukas Hildmeyer Ihr Vater?“

„Nein. Mein Vater hieß Johannes, er liegt nicht auf diesem Friedhof.“

„Dann ist es Ihr Onkel?“

„Nein.“

„Wer liegt denn dann in dem Grab?“, schrie er und erschrak vor der eigenen Stimme. Hildmeyer schien es nicht zu stören.

„Na, jetzt wohl niemand“, sagte er und trank den Kaffee aus.

Ach so.

Ein Verrückter. Aber doch besser nachfragen. „Sie meinen, Sie selber liegen … oder lagen …“

„Nein, nein, Herr Gottlieb, ich meine nicht, ich weiß. Ich lag dort drin, jetzt aber nicht mehr.“

„Dann sind Sie ein Zombie?“ Das war ihm so rausgerutscht, er schämte sich dafür. Man soll mit einem geistig Beeinträchtigten keine Scherze treiben.

Hildmeyer starrte ihn an. „Ich bin was?“

„Nur ein Scherz, vergessen Sie’s …“

„Nein, das interessiert mich. Ich hab das noch nie gehört.“

„Was haben Sie noch nie gehört?“

„Dieses Wort: Zonbie.“

„Nicht Zonbie. Zombie … Zombie, mit einem ‚m‘ in der Mitte …“

„Aha. Und was ist das?“

„Zombies sind lebende Tote, die aus ihren Gräbern steigen und andere Menschen angreifen. Sie haben Hunger auf Menschenfleisch …“

„Ich hab keinen Hunger auf Menschenfleisch. Ich hab überhaupt keinen Hunger …“

„Noch einen Kaffee?“

„Gern, wenn es Ihnen keine Umstände macht. – Diese Zombiesache, das ist doch wieder so ein amerikanischer Blödsinn?“

„Könnte man sagen …“ Peter Gottlieb ließ sich Zeit mit dem Kaffee. Das brachte eine halbe Minute zum Überlegen. Es gelang ihm nur nicht, sie zu nutzen, die halbe Minute. Sein Kopf war leer bis auf die eine Frage, die darin wie ein Karussell rotierte, immer dieselbe Frage: Wie reagiert man auf so was? Er servierte Hildmeyer den Kaffee. Und sagte: „Demnach wären Sie also auferstanden, Herr Hildmeyer.“

„Ja, natürlich …“ Hildmeyer schien überrascht.

„Wann denn?“

„Vor ein paar Tagen. Ich hab nicht genau aufgepasst, ich war … verwirrt.“

„Ah ja. Und … wie hat sich das abgespielt?“

„Die Auferstehung? Ach, das ist … irgendwie … verstehen Sie mich recht, ich will mich nicht beklagen, ich muss das eindeutig feststellen – aber wenn Sie mich schon fragen: enttäuschend …“

„Wie bitte?“

„Na ja, ich bitte Sie: Auferstehung! Da stellt man sich doch was Besonderes vor …“

„Sie meinen: Posaunen?“

„Ja, zum Beispiel, es müssen auch keine Posaunen sein, ich will jetzt nicht auf den Posaunen rumreiten, aber da war akustisch überhaupt nichts, keine Posaunen, keine Trompeten, nicht einmal Blockflöten!“ Er lachte.

„Keine Engelschöre?“

„Gar nix. Ich stand einfach auf dem Friedhof. Neben dem Grab. Ich musste mich nicht aus der Erde wühlen oder so …“

„Was haben Sie dann gemacht?“, fragte Peter Gottlieb.

„Ich bin nach Hause gegangen – also, wo ich früher gewohnt habe. Kreuzgasse 20.“ Er verstummte.

„Und?“

„Was und? Das war sowieso eine Schnapsidee. Ich bin nicht reingekommen. Ich hatte ja keine Schlüssel. Sie werden nicht mit dem Hauschlüssel begraben, verstehen Sie? – Das Haus war auch umgebaut. Das ist jetzt eine Buchhandlung. Galmei.“

„Was?“

„Galmei. So heißen die Leute. Von der Buchhandlung. Steht an der Tür. Ich kenn sie nicht, die waren zu meiner Zeit noch nicht da.“

„Ah ja … was haben Sie dann gemacht?“

„Ich bin spazieren gegangen.“

„Im Wald?“

„Ich hatte das Bedürfnis. Ist schon komisch. Ich war früher eher bequem, verstehen Sie? Kein Sport oder so. Aber jetzt …“ Er sagte nichts mehr, trank den Kaffee aus. Dann stand er auf. „Können wir?“

„Was, bitte?“

„Sie wollten mich doch ein Stück hinausfahren.“

„Ach ja … das überrascht mich jetzt. Sie gehen in der Nacht kilometerweit zu Fuß und jetzt wollen Sie gefahren werden?“

„Ist doch nicht wegen mir. Wegen Ihnen … damit Sie nicht so weit laufen müssen. Sie sind doch weit laufen nicht gewöhnt …“

„Da haben Sie Recht, aber ich will ja gar nicht laufen – Sie wollten doch irgendwohin!“

„Was? Ja, schon … nein, also: Ich will Ihnen etwas zeigen, deshalb müssen Sie mit.“ Er stand auf und wendete sich zur Tür. Peter Gottlieb folgte ihm. Er wollte schon fragen, warum man als Auferstandener nicht über die Fähigkeit zur Levitation verfüge – also einfach hinfliegen – und einen gewöhnlichen Erdenbewohner unter den Arm geklemmt mitnehmen könne, unterließ es aber. Man soll Wahnideen nicht gewaltsam mit der Realität konfrontieren, die Reaktionen sind nicht vorhersehbar. Gleichzeitig wunderte ihn, warum er sich überhaupt darauf einließ. Hildmeyer war offenbar irgendwo „entsprungen“, wie man das früher genannt hat, da hätten die Inspektoren Stieger und Mittenwald nur genauer nachforschen müssen. Es gab sicher eine Anstalt, halt ein bisschen weiter weg, Patient Hildmeyer war ja gut zu Fuß. Warum geh ich darauf ein? dachte Peter. Weil ich neugierig bin, ganz einfach.

Im Auto wurde nichts gesprochen. Die Fahrt ging, gesteuert durch knappe Gesten des Herrn Hildmeyer, wieder ins Waldgrüne, diesmal auf einem anderen Weg. Nach zwei Kilometern bogen sie auf einen Seitenweg ein und erreichten eine große Lichtung. Am Waldrand stand eine Hütte. Hildmeyer deutete darauf. Sie stiegen aus. Hildmeyer ging auf die Hütte zu.

Um mir die Überreste der sieben Personen zu zeigen, die er in den letzten Jahren auf grausame Weise ermordet und in der einsamen Hütte verscharrt hat, dachte Peter Gottlieb. Der frühpensionierte Buchhändler wäre dann das bedauernswerte achte Opfer … Peter kannte die Dramaturgie einschlägiger Kriminaldokuformate. Als sie sich der Hütte näherten, erfüllte ekelerregender Fäulnisgeruch die Luft … und so weiter.

Als sie sich der Hütte näherten, erfüllte frischer Waldgeruch die Luft, Hildmeyer griff in ein Versteck zwischen den Brettern, zog einen Schlüssel heraus, öffnete das Vorhängeschloss an der Tür und machte auf. Drin war es dunkel, heraus strömte kein faules Miasma, sondern ein schwacher, süßlicher Duft, der Peter an irgendetwas Angenehmes erinnerte, er kam nicht gleich drauf, was es war, auf jeden Fall etwas Harmloses. Sie traten ein. An der Wand gegenüber der Tür standen Bienenkästen in zwei Reihen über die ganze Breite. Es mussten Bienenkästen sein, der Geruch passte dazu, eine Honignote, die Kästen hatten hinten Türen. Altes, poliertes Holz. Peter entspannte sich.

„Das sind Hinterbehandlungsbeuten“, erklärte Hildmeyer. Er öffnete eine der Türen. Im schwachen Licht, das von der Türöffnung hereinfiel, erkannte Peter zwei Abteile, eines oben, eines unten, getrennt durch ein Brett und von einem Drahtgitter nach hinten abgeschlossen. Peter sah sich um. An der rechten Schmalseite ein großer Schrank, links ein Arbeitstisch mit Gerätschaften, deren Zweck sich dem Laien nicht erschloss. Dort lagen auch ein paar rechteckige Holzrähmchen und ein Stoß Zeitungspapier.

„Das sind Kuntzsch-Rahmen“, sagte Hildmeyer, „dreiunddreißig mal siebenundzwanzig, fast quadratisch, kann man sagen. Erstaunlich, dass er sie beibehalten hat … so lang …“

„Wer?“

„Der Harald. Mein Nachfolger.“

„Das ist … war Ihr Bienenhaus?“

„Ja, fast vierzig Jahre. Der Harald hat es dann übernommen, wo ich nicht mehr so konnte …“ Ah so, klar. Hildmeyer war ja tot und am Lebensende wahrscheinlich gebrechlich gewesen, sodass er sich nicht bis zum letzten Tag um seine Bienen hatte kümmern können. Völlig logisch.

„Wissen Sie, diese Kästen sind jetzt fast hundert Jahre alt. Schauen Sie sich das an! Alles noch picobello. So was wird heute gar nicht mehr hergestellt.“

„Ja, wirklich toll …“

„Heute haben alle Magazine, keine Hinterbehandler mehr …“

„Magazine?“

„Ja, zum Abheben. Das sind so Rahmen, wo man die Waben von oben reinhängt. Man kann mehrere aufeinanderstapeln. Ist praktischer. Hat man damals schon gesagt. Ich war zu alt zum Umstellen, ich war es gewohnt mit meinen Ausziehbeuten.“

„Woher wissen Sie, dass die anderen Imker diese Magazine haben?“

„Ich hab natürlich nachgeschaut! War das erste, was ich gemacht hab – nach dem Friedhof. Ich bin überall herumgelaufen und hab mir die Bienenhäuser angesehen. Ich hab ja gewusst, wo sie waren. Es sind natürlich lang nicht mehr so viele wie früher, die Imkerei hat abgenommen. Es gibt jetzt aber viele Freiständer, da stehen die …“

„… Moment, Sie sagen also, nach Ihrer Auferstehung haben Sie als Erstes die Bienenhäuser der ganzen Gegend inspiziert?“

„Inspiziert ist übertrieben. Ich hab nicht reinkönnen, aber man sieht von vorn gleich, was einer drin stehen hat.“

„Aber hier können Sie rein …“

„Der Schüssel liegt immer noch an derselben Stelle. Nicht einmal das hat der Harald verändert …“ Seine Stimme wurde brüchig. Peter Gottlieb war das unangenehm. Stimmungsschwankungen, Rührseligkeit, wer wusste, ob das nicht in Aggression umschlagen konnte – bei solchen Individuen. Aber Hildmeyer beruhigte sich, ging in der Hütte umher, öffnete den einen oder anderen Kasten, starrte durch die Drahtgitter. Schließlich machte er sich an einem davon zu schaffen. An dem Holzrahmen, der die Gitter umschloss, gab es auf einer Seite einen Metallring, an dem zog Hildmeyer, der Rahmen gab nach, ließ sich herausheben und gab den Blick auf eine Wabe frei. Bienen waren keine zu sehen.

„Was haben Sie vor?“, fragte Peter. Er hatte die Stimme gesenkt.

„Sie können ruhig laut reden. Die Bienen können Sie nicht hören.“

„Wo sind die denn jetzt? Ich sehe keine …“

„Weiter vorn im Stock. Man sollte um diese Jahreszeit nicht mehr aufmachen, aber ich kann es mir ja nicht aussuchen.“ Er zog an einem kaum sichtbaren Metallrahmen, die Wabe bewegte sich ein Stück aus dem Kasten heraus. Sie hing darin wie eine Mappe in einer Hängekartei. Hildmeyer zog das Rähmchen oben heraus. Leises Summen war zu hören. Dann überreichte er Peter das Rähmchen. Die Wabe, die der Holzrahmen aus vier schmalen Leisten umgab, war eine einzige, hellbraune Wachsfläche.

„Alles verdeckelt, sehen Sie? Wunderschön …“ Peter Gottlieb vermochte die Begeisterung nicht zu teilen. Es roch gut, nach Honig, das schon, aber die Leisten klebten an den Händen.

„Und wo ist jetzt der Honig?“, fragte er.

„In der Wabe, unter der Wachsschicht … ach was, geben Sie her!“ Er wickelte das Rähmchen in eine alte Zeitung und gab es Peter zurück. Dann ging er hinaus. Peter folgte ihm mit dem Paket. Hildmeyer verschloss die Hütte, legte den Schlüssel zurück. „Sie können fahren“, sagte er, „wenn es Ihnen Recht ist.“

„Wohin?“

„Wohin Sie wollen.“

„Kommen Sie denn nicht mit?“

„Nein, ich geh spazieren. Einen schönen Tag noch!“ Er wandte sich zum Gehen.

„Moment! Was soll ich denn jetzt mit der Wabe?“

„Essen! Schneiden Sie einfach mit einem scharfen Messer ein Stück heraus.“

„Braucht man keine Honigschleuder dafür? Und außerdem: Ihr Nachfolger wird nicht begeistert sein, wenn Sie seinen Honig an Fremde verteilen …“ Hildmeyer seufzte. Dann sagte er: „Sie sind schon ein Umstandsmensch, Herr Gottlieb, wissen Sie das? Sie brauchen keine Honigschleuder. Kauen Sie die Wabe einfach durch, das Wachs ist wie Kaugummi. Sie können es ausspucken, wenn es ausgekaut ist, oder runterschlucken, das tut Ihnen nichts …“

„Ich mach mir nicht so viel aus Honig …“ Hildmeyer ignorierte das.

„Was meinen Nachfolger angeht“, setzte er fort, „da machen Sie sich keine Sorgen, ich bin sicher, Harald hat nichts dagegen!“ Die nächste Bemerkung konnte Peter Gottlieb nicht unterdrücken: „Er weiß doch nicht, dass Sie die Wabe genommen haben. Ich meine, er weiß doch nicht, dass Sie … auferstanden sind.“

„Nein, weiß er nicht. Woher auch? Dass wir uns begegnet sind, Sie und ich, ist ja nur Zufall.“

„Gehen Sie eigentlich den Leuten aus dem Weg? Oder … ich meine, wie würden die reagieren, wenn die Sie herumspazieren sehen?“

„Panisch, wahrscheinlich panisch. Aber die Gefahr ist gering. Ich bin seit vierzig Jahren tot. Die Leute, die mich gekannt haben, sind selber tot oder sehr alt. Denen begegne ich nicht auf der Straße.“

Aha. Schön ausgedacht, das musste man ihm lassen. Ein abgeschottetes Wahnsystem. Auf jede Frage wusste Hildmeyer eine Antwort. Er sagte noch: „Essen Sie nicht alles auf einmal …“

„Das gäbe sicher Magendrücken.“

„Nein, das mein ich nicht. Ich will sagen, lassen Sie etwas übrig.“

„Wieso?“

„Sie kriegen Besuch. Der isst gern Wabenhonig … hab ich gehört!“ Er lachte, winkte Peter zu und verschwand am Waldrand zwischen den Bäumen. Peter sah ihm nach. Er war sprachlos. Besuch. Eine Drohung? Jemand, der gern Wabenhonig isst, das hörte sich nicht gefährlich an. Der Typ will nicht, dass ich ihm folge, dachte er, sonst hätte er die Straße genommen. Wahnsystem hin oder her: Irgendwo musste Hildmeyer wohnen, er musste essen und schlafen. Er trug denselben Anzug wie am Vortag, unzerknittert. Jedenfalls sah er aus wie der von gestern. So sieht ein Anzug aber nicht aus, wenn man damit kilometerweit durch den Wald läuft. Was war mit den Schuhen? Peter Gottlieb bedauerte, nicht auf die Schuhe geachtet zu haben. An denen müsste der weiche Waldboden hängen bleiben, Moos und Geäst.

Er wohnte irgendwo im Wald, so war das. Nicht in einem Bienenhaus. In einer komfortablen Jagdhütte zum Beispiel. Wahrscheinlich lebte er schon seit Jahren dort, der ganze Ort wusste es, aber man redete nicht darüber. Der verrückte Mitbürger, über den man nicht spricht … Peters Fantasie begann sich zu regen: Ein seelischer Schock hatte ihn aus der Bahn geworfen, was wohl? – Eine Frau, natürlich, was denn sonst! Konnte sein, dass sie ihn verlassen hatte. Oder gestorben war. Daraufhin hatte er sich in den Wald zurückgezogen und lebte als „Auferstandener“ ein neues Leben ohne Bezug zum alten. Die Umgebung billigte das nicht – wenn das nun jeder täte! Schon klar, aber man konnte nichts dagegen machen. Er war ja keine Gefahr. Also überging man ihn mit Schweigen. Die Polizisten waren natürlich eingeweiht … bröckelte hier die Theorie? Nein: Wenn er, der Zugezogene, Neffe vom alten Gottlieb, sich erst als verlässlicher Bürger erwiesen haben würde, dann würde man ihn auch in die Affäre Hildmeyer einweihen. Peter Gottlieb war erleichtert.

Zu Hause schenkte er sich einen Cognac ein. Ja, zu Hause. Jetzt fühlte es sich wie ein Zuhause an. Schon am zweiten Tag, dachte er, da kann man nix sagen – und das nach einem Autounfall! Ja, dieses Holzgarten mit seinen schrulligen Bewohnern hatte ihn aufgenommen! An manchen Orten ist man auch nach Jahren noch nicht heimisch. Aber hier schon. Obwohl er sich gerade mit dem schrulligsten Bewohner des Ortes auseinandergesetzt hatte. Er trank aus und rief seine Frau an. Ihre Stimme klang müde, sie sprach leise. Es gehe ihr soweit gut, antwortete sie auf die Frage nach dem Befinden, die Grippe sei im Abklingen.

„Lass dir Zeit“, rief er, „nur keinen Rückfall provozieren! Auskurieren ist das Wichtigste.“ Dann erzählte er ihr von seinen Abenteuern mit dem Herrn Hildmeyer. Hildegard äußerte Verwunderung, der besorgte Unterton war nicht zu überhören. Sie ließ sich alles noch einmal erzählen.

„Und die Polizei kennt diesen Hildmeyer nicht?“

„Behauptet sie wenigstens …“

„Was soll das heißen?“

Er unterbreitete ihr seine Theorie vom Dorfsonderling, der gegenüber Fremden nicht erwähnt wird. Als er geendet hatte, entstand eine Pause. Dann fragte sie: „Geht es dir gut?“

„Ja, wieso denn? Der Unfall hat mir gar nichts gemacht, das Auto ist auch in Ordnung …“

„Keine Schwindelanfälle?“

„Nein, wie kommst du denn darauf? Ich hab das seit Monaten nicht mehr.“ Er ärgerte sich und sie merkte es.

„Dann ist es ja gut!“, sagte sie. „Du weißt, was der Doktor gesagt hat. Schonung ist das Wichtigste, mach nicht zu viel auf einmal …“ Sie verabschiedete sich und legte auf. Das Gespräch hatte ihn irritiert. Was sollte diese Ermahnung, sich zu schonen? Er hatte alles hergerichtet, viel war es ja nicht, das einzige, was hier fehlte, war seine Frau. Diese Bemerkung wegen der Schwindelanfälle: Unpassend war das, in hohem Maße unpassend. Was hatten diese Schwindelattacken, die ein halbes Jahr her waren, mit Herrn Hildmeyer zu tun? Gar nichts. Es lag daran, dass sie nicht mehr richtig zuhörte. Das war ihm schon vor einiger Zeit aufgefallen. Er erzählte etwas, dann stellte sie eine Frage, aus der klar hervorging, dass sie den Inhalt seiner Rede nicht mitbekommen hatte. Sie hatte nicht zugehört. Weil es sie nicht interessierte, da war er sicher. Vielleicht unvermeidlich in einer langen Ehe. Aber dann dieses Du weißt, was der Doktor gesagt hat! Dr. Schultheiß hatte alles Mögliche gesagt. Aber es lohnte sich nicht, sich alles zu merken; da war eine Menge Blödsinn dabei. Schonung und viel Schlaf und Vitamine und Sport und dies und jenes … Die Anfälle hatten wieder aufgehört. Lag an den verschriebenen Tabletten, nicht am vielen Schlaf und Vitaminen, denn Peter Gottlieb hatte nicht mehr geschlafen als sonst auch und gegessen wie immer. Und Sport hatte er keinen betrieben, definitiv nicht. Nur die Pillen genommen. Das hatte ja auch gewirkt. Dazu hätte Dr. Schultheiß nur sagen müssen: „Ich schreib Ihnen was auf“, das hätte schon gereicht. Er nahm sich noch einen Cognac und ging zu Bett.

2

Hildegard Gottlieb machte sich Sorgen. Natürlich um Peter. Wenn das jetzt mit Peter wieder anfing … sie fühlte sich hilflos. Sie hätte dem Umzug nicht zustimmen sollen. Aber wer konnte vorher wissen, dass Holzgarten sich so negativ auswirken würde? Ländliche Ruhe würde ihm gut tun, hatte es geheißen. Sie rief Dr. Schultheiß an. Sie bekam auch gleich einen Termin. Sie kannte Martin von der Schule. Martin war in sie verliebt gewesen und eine treue Seele.

Er begrüßte sie herzlich wie immer. Wangenküsse. Bat sie, Platz zu nehmen. Sie kam gleich zum Thema, erzählte von dem Telefonat.

„Er war am ersten Tag schon so komisch, also vorgestern. Er … er scheint zu glauben, ich komme nicht, weil ich krank bin, wegen Grippe oder so. Er hat es nicht wörtlich so gesagt, aber es kam so raus, du kennst ihn ja …“

„Hat er Schwindelanfälle? Hat er davon etwas gesagt?“

„Nein, ganz deutlich: Nein. Das lässt mich ja hoffen.“ Doktor Schultheiß blickte zum Fenster hinaus. Das war keine Geste der Missachtung, das tat er beim Nachdenken. Patienten, die ihn nicht so gut kannten wie Hildegard, fühlten sich dadurch gering geschätzt, herabgewürdigt.

„Diese Konfabulationen – das gefällt mir gar nicht“, sagte er nach längerem Schweigen. „Das ist, meine ich, eine neue Dimension. Das mit deiner Grippe – na ja, eine seiner bekannten Fehldeutungen, eine Art psychischer Ausweichmechanismus …“

„Aber wie lang kann er das denn durchhalten? Er muss es doch irgendwann merken!“

„Dann sucht er sich etwas Neues für dich aus! Grippe, Asthma, sonst ein längeres Leiden, er wird schon was finden. Peter ist nicht dumm … Bleibt diese Sache mit dem … wie hieß er gleich … Hildmeyer, den die Polizei nicht kennt …“

„Du brauchst nicht drum herum zu reden! Du willst sagen, den Menschen gibt’s gar nicht. Er bildet sich das alles ein …“

„Das will ich nicht behaupten. Könnte ich auch gar nicht ohne Kenntnis der Sachlage. Ferndiagnosen sind eine Pest, glaub mir! Aber andererseits … es lässt sich nicht wegdiskutieren, dass Peter unter psychischen Störungen leidet, und zwar schon recht lang.“

„Drei Jahre …“

„Eben. Mit einer Verlaufsform in Schüben. Die neueste Entwicklung würde sich in dieses Muster einfügen – ich meine, wenn er wirklich beginnen sollte, wahnhafte Einbildungen zu entwickeln.“

„Du meinst, er halluziniert?“

„Das könnte sein, oder auch nicht. Es ist alles Spekulation. Ich müsste ihn sehen …“

„Das heißt, ich soll hinfahren und ihn herschleifen? Das tu ich bestimmt nicht, unter keinen Umständen!“ Sie war laut geworden, ihr Gesicht rötete sich. Er hob die Arme, beschwichtigte. „Nein, wo denkst du hin, du hast genug mitgemacht, so was kommt gar nicht in Frage!“ Sie beruhigte sich, blickte zu Boden. Er stand auf und ging ins Vorzimmer. Er ließ die Sprechstundenhilfe Kaffee machen. Das kam in der Praxis Dr. Schultheiß manchmal vor. Er nahm sich viel Zeit für seine Patienten. Hildegard tat ihm leid. Er verstand nicht, wieso sie sich in ihrer Situation und nach allem, was geschehen war, immer noch um ihren Mann kümmerte. Vor allem, weil es gar nicht mehr ihr Mann war. Wenigstens im rechtlichen Sinn. Sie hatte sich vor zwei Jahren scheiden lassen. Nach einer Leidenszeit von ebenfalls zwei Jahren, in denen Peter Gottlieb auf der sozialen Stufenleiter sukzessive abgerutscht war. Eher, dachte er, müsste man von einer Treppe sprechen, wo es Stufe um Stufe nach unten geht; Stufen haben eine ebene Oberfläche, sodass die Illusion eines horizontalen Bodens entsteht, und damit die Hoffnung auf ein Ende des Abstiegs. Bis die nächste Stufe nach unten genommen wird. Peter Gottlieb hatte innerhalb von zwei Wochen das geregelte Leben eines erfolgreichen Buchhändlers aufgegeben, sich eine Freundin angeschafft, in die er beträchtliche Summen investierte, die Geschäftsführung der Ehefrau überlassen. Na ja, zu saufen hatte er auch angefangen. Daran hielten sie sich jetzt diagnostisch fest. Korsakow-Syndrom. Aber das war keine gute Diagnose. Viel zu kurzer Alkoholabusus. Auch das Übrige passte nicht recht: Soziale Auffälligkeiten, als da wären: Erregung öffentlichen Ärgernisses durch Geschlechtsverkehr in einem Park (an einem Dienstag Vormittag um zehn), wiederholte Raufhändel im Milieu, Beschimpfungen von Amtspersonen, Störung von politischen Versammlungen (betrunken und nüchtern), kurz vor der Zwangseinweisung körperlicher Zusammenbruch, Entziehungskur, langsame Erholung, fast völlige Amnesie, Entlassung aus der Anstalt. In die Scheidung hatte er eingewilligt. Diagnose? Viel Herumgerede. Wie nennt man eine Krankheit, die einen angepassten Spießer – und das war er gewesen, machen wir uns nichts vor! – in ein asoziales Arschloch verwandelt? Nicht in Jahren schwerer Polytoxikomanie, sondern innerhalb von Wochen, gleichsam im Handumdrehen? Früher, fiel Dr. Schultheiß ein, in unaufgeklärten Zeiten, hätte uns jeder normale Brotesser sagen können, was mit Peter Gottlieb nicht stimmte. Da hätte es einfach geheißen: Vom Teufel besessen. Diese Zeiten waren vorbei. Und nun?

„Wir können nichts tun“, sagte er zu Hildegard Gottlieb, die den Namen ihres Mannes behalten hatte. „Er gefährdet ja niemanden, den Unfall bildet er sich ein …“

„Also alles laufen lassen? Einfach schauen, was passiert?“ Ihre Stimme hatte einen schrillen Unterton. Was geht sie das Ganze überhaupt noch an?, dachte er. Wenn sie sich so an ihn gebunden fühlt, hätte sie gleich verheiratet bleiben können. Statt sich zum Beispiel einen alten Schulfreund, Dr. Martin Schultheiß, zu nehmen. Angesehener Arzt mit gut gehender Praxis… Er riss sich aus seinen Gedanken. „Es ist nicht mehr wie früher, wo man einen Menschen mit abweichendem Verhalten für immer in einer Anstalt verschwinden lassen konnte. Heute wird besser aufgepasst. Wenn er keine Gefahr für sich und andere darstellt, kann er rumspinnen, wie er will.“ Er sah sie an, und sie tat ihm leid. Das muss Liebe sein, ging es ihm durch den Kopf. Ein anderer, der sie nicht liebt, würde das nicht für sie tun.

„Eine Möglichkeit gibt es schon noch“, sagte er. „Ein ehemaliger Kommilitone von mir, Doktor Kategoros-Korowjew, kennt sich mit solchen Fällen aus. Mit dem werd ich reden, er soll ein Auge auf den Peter haben. Der Kategoros-Korowjew ist gut, dem wird schon was einfallen.“ Sie stand auf, kam mit raschen Schritten um den Tisch herum und umarmte ihn. Wie sie ihn noch nie umarmt hatte, nicht in der sechsten Klasse, nicht in der siebten, nicht in der achten und später schon gar nicht. Ein warmes Gefühl durchflutete ihn.

„Du bist ein Schatz“, flüsterte sie, „weißt du das?“

Er gab keine Antwort. Das war auch besser, denn in so emotionalen Momenten neigte er dazu, mit einem einzigen, kurzen Satz alles zu vergeigen. Sie löste sich lächelnd von ihm und verabschiedete sich.

Er rief den Studienkollegen Alexandros Kategoros-Korowjew an.

Peter Gottlieb erwachte vom Läuten des Telefons. Zuerst war er desorientiert. Einen Augenblick kam ihm alles fremd vor. Die Gaststube, der Riesentisch mit den vielen Stühlen, das Sofa, auf dem er lag. Das tobende Handy lag nicht auf dem Sofa, sondern auf dem Boden davor. Er griff danach, eine Mobilfunknummer, die er nicht kannte. Er nahm den Anruf an. Als er den Knopf drückte, fiel ihm wieder alles ein. Holzgarten, das Lamm, der Unfall mit Lukas Hildmeyer. Das muss Hildmeyer sein, dachte er, hoffentlich entwickelt der sich nicht zum Stalker, das hätte mir noch gefehlt … andererseits, wo sollte der Spinner die Nummer herhaben? Und wie vereinbart er, der angeblich Auferstandene, dem auf dieser Erde nichts gehört als der Anzug, in dem man ihn begraben hat, den Besitz eines Handys mit seiner besonderen ontologischen Situation; eines Handys wohlgemerkt, das vor vierzig Jahren noch gar nicht erfunden war?

„Ja?“, sagte er.

„Herr Gottlieb?“ Die Männerstimme kam ihm bekannt vor, aber Hildmeyer war es nicht. Es war der Revierinspektor Stieger. Ob er kurz vorbeischauen dürfte? Er durfte. Peter Gottlieb lächelte. Jetzt rücken sie mit der Wahrheit heraus, das Hildmeyer-Geheimnis wird dem Neuankömmling enthüllt! Wahrscheinlich das Ergebnis einer Sondersitzung des Gemeinderats. Es hat doch keinen Zweck, wird es geheißen haben, der kommt sowieso dahinter, das ist ein gebildeter Mensch, ein Städter halt, der ist imstand und zieht uns noch das Fernsehen her – das brauchen wir so nötig wie einen Kropf!

Das war es nicht, was ihm der Inspektor fünf Minuten später eröffnete. Seine Vermutung traf nicht einmal annähernd.