Der Kaiser der Freude - Ocean Vuong - E-Book

Der Kaiser der Freude E-Book

Ocean Vuong

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Beschreibung

Ocean Vuongs neuer, atemberaubender Roman nach dem Welterfolg von „Auf Erden sind wir kurz grandios“

Der queere Hai, Sohn einer vietnamesischen Mutter, lebt in East Gladness, einem heruntergekommenen Kaff in New England. Auf den Straßen hängen noch die Schilder der Obama-Kampagne »Yes, we can«, doch Hai schluckt Pillen und denkt an Selbstmord. Bis er Grazina aus Litauen kennenlernt, eine Überlebende des Zweiten Weltkriegs, in deren Kopf die unerlösten Geister ihres Lebens schwirren. Hai wird ihr Pfleger und fängt an, in einem Diner zu arbeiten, dessen Belegschaft alles Underdogs sind wie er, die »in dieser angeblich freien Welt aus Arbeit, Schlaf und beschissenen Kuchen gefangen sind.« Poetisch und komisch, eindringlich und mit außergewöhnlicher Intimität erzählt Ocean Vuong von der Freundschaft jenseits aller Grenzen von Identität und Familie.

»Hier kristallisiert sich heraus, was es heißt, wenn Klasse, Herkunft, Sexualität, auch Jugend und Alter, Stadt und Provinz, aufeinander wirken.«
FAZ zu „Auf Erden sind wir kurz grandios“

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Seitenzahl: 653

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das ist das Cover des Buches »Der Kaiser der Freude« von Ocean Vuong

Über das Buch

Ocean Vuongs neuer, atemberaubender Roman nach dem Welterfolg von »Auf Erden sind wir kurz grandios«Der queere Hai, Sohn einer vietnamesischen Mutter, lebt in East Gladness, einem heruntergekommenen Kaff in New England. Auf den Straßen hängen noch die Schilder der Obama-Kampagne »Yes, we can«, doch Hai schluckt Pillen und denkt an Selbstmord. Bis er Grazina aus Litauen kennenlernt, eine Überlebende des Zweiten Weltkriegs, in deren Kopf die unerlösten Geister ihres Lebens schwirren. Hai wird ihr Pfleger und fängt an, in einem Diner zu arbeiten, dessen Belegschaft alles Underdogs sind wie er, die »in dieser angeblich freien Welt aus Arbeit, Schlaf und beschissenen Kuchen gefangen sind.« Poetisch und komisch, eindringlich und mit außergewöhnlicher Intimität erzählt Ocean Vuong von der Freundschaft jenseits aller Grenzen von Identität und Familie.»Hier kristallisiert sich heraus, was es heißt, wenn Klasse, Herkunft, Sexualität, auch Jugend und Alter, Stadt und Provinz, aufeinander wirken.«FAZ zu »Auf Erden sind wir kurz grandios«

Ocean Vuong

Der Kaiser der Freude

Roman

Aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag und Nikolaus Stingl

Hanser

Für diejenigen, die uns ernähren

So’n Wurm ist Euch der einzige Kaiser …

Wir mästen alle andern Kreaturen, um uns zu mästen; und uns selbst mästen wir für Maden.

Hamlet

Lass Sein von Scheinen das Finale sein.

Wallace Stevens

1

Das Schwerste auf der Welt ist, nur einmal zu leben.

Aber es ist schön hier, der Meinung sind sogar die Geister. Morgens, wenn das Licht diesen Ort mit einem hellbeigen Farbton übergießt, steigen sie als Dunst über dem Roggen jenseits der Gleise auf und wanken auf der Suche nach ihren Namen auf die schwarzen Spitzkegel der Kiefern zu, Namen, die in keines Lebewesens Mund mehr leben. Unsere kleine Stadt erhebt sich auf einer Kruste Land an einem Fluss in New England. Als die urzeitlichen Gletscher schmolzen, wurde das Tal zu einem weltgroßen See, von dem, als er austrocknete, ein silbernes Rinnsal mit Namen Connecticut — Algonquin für langer Tidefluss — blieb. Das Sediment hier ist reich an sämtlichen lebensfördernden Stoffen. Im Näherkommen wird man flankiert von ausgedehnten Flächen daumengroßer Knospen, die leuchtend durch Aprilmatsch schießen. Binnen Monaten bilden diese Setzlinge dichtgedrängte Reihen von breitblättrigem Tabak und Silver-Queen-Mais. Jenseits des Friedhofs, dessen Steine ihre Namen an die Jahre verloren haben, führt eine gedeckte Brücke über ein Bachbett, dessen Erinnerung an Wasser nicht bis in dieses Jahrhundert reicht. Über sie kommt man zu uns. Rechts abbiegen bei Conway’s Sugar Shack, entkernt und verrammelt, mit herausgeschlagenen Fenstern, der Slogan auf dem Holzschild — We sweeten soon as the crocus bloom — vom Wind zu Blindenschrift abgeschmirgelt. Im Frühling schäumen die Kirschblüten überall im County auf jedem Flecken Grün, der von Farmen oder Einkaufszentren verschont geblieben ist. Zu verdanken haben wir sie der Gänsescheiße, die seit Jahrhunderten auf diese Gegend niedergeht, wenn der Sommer die hohlen Knochen der Vögel nordwärts lockt.

Unsere Rasen sind von Besenkraut und Quecke überwuchert. Einer davon bietet jedes Frühjahr eine Reihe roter und pinkfarbener Tulpen, die Köpfe durch den Maschendrahtzaun gesteckt, an den sie sich lehnen. Die Veranda nahebei quillt von fahrbaren Kinderspielzeugen über: ein Wagen, Dreiräder, ein Feuerwehrauto, ihre Primärfarben mittlerweile zu österlichen Nuancen verblasst. Eine Milchkiste mit einem vor die Öffnung genagelten Stück altem Reifen als Klappe dient als Briefkasten, aufgestellt auf einer vergammelten Anrichte, auf dem Gummi in weißer Korrekturflüssigkeit die Aufschrift Ramirez 47. Daneben ein Futterhäuschen aus Blech in Form von Bill Clintons Kopf. Aus seinem lächelnden Mund rieseln Samenkörner und prasseln wie verhaltener Applaus jedes Mal, wenn der Fahrtwind des Güterzuges daran rüttelt, der in den unsichtbaren Nachtstunden durch die Gegend rauscht. Obwohl der Zug in unserer Stadt nicht hält, ist seine Pfeife noch drei Meilen entfernt in jedem Wohnzimmer zu hören. Eigentlich hält hier nichts außer uns. Hartford, die auf Versicherungsfirmen, Schusswaffen und Klinikbedarf, Bürokratien von Tod und Katastrophe gebaute Hauptstadt, liegt nur zwölf Minuten Autofahrt entfernt, und alle rasen auf dem Highway an uns vorbei, entweder auf dem Weg dorthin oder so schnell wie möglich von dort weg. Wir sind der verschwommene Fleck in den Fenstern eurer Züge und Minivans, eurer Greyhound-Busse, unsere Gesichter von Wind und Geschwindigkeit deformiert wie ausrangierte Munch-Gemälde. Das Einzige, was wir mit der Stadt teilen, sind die Krankenwagen, denn wir sind Hartford so nahe, dass sie uns holen kommen, wenn wir kurz vorm Sterben sind oder ohne nächsten Verwandten auf fahrbaren Krankentragen davonrattern. Wir leben an den Rändern, doch wir sterben im Herzen des Staates. Wir zahlen Steuern auf jede Rechnung, um auf den sinkenden Ufern eines Flusses zu stehen, der dabei ist, zur Totenkammer unserer Träume zu werden.

Die Schlaglöcher auf unseren Nebenstraßen sind so breit und tief, dass noch Tage nach einem sommerlichen Platzregen Elritzen in den grün-klaren Lachen umherflitzen. Und aus dem Dunkel einer unbeleuchteten Veranda durchschneidet jemandes Lachen so rasch die Luft, dass es auch ein unterdrücktes Schluchzen sein könnte. Die von Goldrute flankierte, beigebraune Bude ist der WWII Club, eine Bar mit drei Hockern und einem holzgetäfelten Automaten, der nur mit Marlboro und Honey Buns bestückt ist. Gegenüber liegen Reihenhäuser aus Ziegelstein. Ursprünglich für die Arbeiter der Papierfabrik in der Jennings Road gebaut, beherbergen sie mittlerweile Veteranen, die von sämtlichen nur denkbaren Schlachtfeldern nach Hause kommen, um auf Plastikgartenstühlen zu sitzen und auf den Bergkamm zu starren, ehe sie in verqualmte Zimmer zurückschlurfen, wo kleine Fernseher, so groß wie Menschentorsos, sie in Schlaf lullen.

Sieh nur, wie die nachtsüber von Staren geschwärzten Birken jäh zerbersten, wenn die ersten Funken der Dämmerung deren Schnäbel berühren. Wie die letzten Grillen durch Nebel singen, der auf Weiden mit dem beißenden Geruch von frisch ausgebrachtem Dung liegt. Im August sind die Bahngleise so heiß, dass einem der Gummi an den Schuhsohlen schmelzen würde, ginge man länger als eine Minute darauf entlang. Trotz dieser Hitze wächst alles Grün, als gelte es, die Winterödnis wiedergutzumachen, üppiges Moos zwischen den hölzernen Schwellen, sodass es bei einem bestimmten Einfallswinkel von sattem Licht wie Algen wirkt, als wäre die Gletscherflut über Nacht wiedergekehrt und wir wären endgültig geworden, was zu werden uns schon immer bestimmt war: biblisch.

Folge den Gleisen bis zu einer Abzweigung, die sich in zertretenem Unkraut verliert, einem Pfad, der zu einem Schrottplatz voller Schulbusse in unterschiedlichen Stadien von Amnesie führt, einige davon so alt, dass sie nicht mehr gelb sind, sondern grau wie Schiffswracks dastehen. Von Efeu überwuchert, auf den eingedellten Motorhauben kleine Ansammlungen von verdorrtem Laub, sind sie Relikte unseres Irrwegs. Geh über diesen Platz — wie es manche auf dem Nachhauseweg von der Nachtschicht bei Myers, der Sockenfabrik, oder beim ziellosen Umherstreifen an Sonntagnachmittagen, allein mit ihren Gedanken, getan haben —, und du durchquerst Generationen von Fernweh, eingebrannt in Kunstledersitze. Am anderen Ende des Grundstücks liegt die vor einer Woche geborgene Abwrackkarre, die Augenhöhle gefüllt mit warmem Coca-Cola, das Werk eines Jungen, der sein Getränk auf dem Heimweg von der Schule aus Langeweile in dieses endlose Dunkel blinder Blicke geschüttet hat.

Wenn man auf Gladness zielt und es verfehlt, findet man uns. Denn wir heißen East Gladness. Gladness selbst gibt es nicht mehr, es wurde vor fast hundert Jahren in Millsap umbenannt, nach Tony Millsap, dem Jungen, der ohne Gliedmaßen aus dem Großen Krieg zurückkehrte und zum Helden wurde — lebender Beweis, dass man in diesem Land fast alles von sich verlieren und trotzdem eine ganze Stadt gewinnen kann. Eine Handvoll von uns wollte East Millsap werden, um sich in seinem Glanz zu sonnen und Kundschaft anzulocken, aber wir anderen waren zu stolz, um uns nach einem Jungen zu benennen, dessen Rollstuhl niemals über unsere Bürgersteige glitt.

Der Winter dauert sieben Monate und beginnt Ende September, wenn auf dem Rasen vor dem Courthouse und auf den Motorhauben der an den Straßen geparkten Autos der Frost glitzert. Während Ahorne, Pappeln und Sassafrasbäume hin und her schwanken, sickert das Licht bernsteinfarben durch ihr schwindendes Laub. Sogar der Spitzturm der Lutheranerkirche wechselt bis Mittag von Taubengrau zum Farbton tagealter Butter.

Wir sind zwar skeptisch, aber nicht ohne handfeste Hoffnungen.

Unter alldem leuchtet unsere Hauptstraße von ihren beiden irischen Pubs, einem Diner, einem Blumenladen, dem God-First-Schönheitssalon, dem Panda Gate China Wok, einem Loch von Taco-Restaurant ohne Namen, einem Beerdigungsinstitut, zum Trost für die mit seiner Bestimmung verbundenen Heimsuchungen himmelblau gestrichen, einem Waschsalon, dessen Hintereingang in einen Keller führt, der genau drei Pornokabinen mit Münzeinwurf beherbergt. Zwei Häuser weiter findet sich die American Legion, wo man jeden Freitag unter einer windgeschüttelten Plane Kaffee und Kürbisbrotscheiben in Frischhaltefolie verkauft. Es gibt die Rechtsberatung für die in der Landwirtschaft beschäftigten Wanderarbeiter, hinter dem YMCA, der im vergangenen Jahr in einem seiner Seitenflügel endlich eine Fixerstube eingerichtet hat. Dann ist da noch die riesige viktorianische Villa Ecke Lilac und Main. Zuhause unseres ersten Bürgermeisters, ist sie mittlerweile ein Rehazentrum für Süchtige, der Fußweg gesäumt von Polyesterrosen, die nach Schneestürmen blau und violett aus Verwehungen lugen.

Es gibt das zweistöckige Cape-Cod-Haus an der Ecke, das immer nur so hoch gestrichen wurde, wie der älteste Sohn reichen konnte, und seit dem Winter, in dem er zu den Marines gegangen war, überhaupt nicht mehr, sodass es nun schon seit sieben Jahren zur Hälfte olivgrün ist. Ende Juli thront ein schwarzer Minikühlschrank mit einem ins Haus führenden Verlängerungskabel an der Straße. Darin schwitzen Blaubeeren in Reihen von grünen Pappbechern neben einer Kaffeedose mit einem Post-it, auf dem Blaubeeren $ 5 nach Möglichkeit steht.

Es ist eine Stadt, in der sich Highschool-Kids, die Freitagabend nirgendwo hinkönnen, mit den Pick-ups ihrer Stiefväter in die unbeleuchteten Ecken des Walmart-Parkplatzes verdrücken, aus Poland-Spring-Flaschen Smirnoff trinken und sich mit Weezer und Lil Wayne bedröhnen, bis sie eines Tages nach unten schauen, ein Baby in den Armen halten und sich klarmachen, dass sie in ihren Dreißigern sind und der Walmart sich nicht verändert hat, bis auf das Logo, das mittlerweile heller ist und ihren von den Jahren hager gewordenen Gesichtern einen bläulichen Schimmer verleiht. Es ist ein Ort, wo Väter mit Holzschutzflecken an den Bluejeans in der Abendröte an der Seitenlinie von Footballfeldern stehen und, eine Hand in der Hosentasche, in der anderen einen Becher Dunkin’ Donuts, ihren Söhnen beim Schwitzen zusehen. Sie könnten Denkmäler zur Erinnerung daran sein, was es heißt, darauf zu warten, dass ein Junge sich zum Mann mausert. Und jeden Vormittag sitzt man auf der von Raureif bestäubten Tribüne, ein zerlesenes Exemplar von Virginia Woolfs Zum Leuchtturm auf dem Schoß, und sieht den Spielern auf dem Platz zu, auf deren Trikots blaue Tomahawks zittern und deren Plastikschulterschützer im Dunst knistern. Und wenn man umblättert, löst sich die Seite aus der Bindung, flattert über den Platz und bekommt im feuchten Gras zerfließende Flecken, bis sie sich zwischen den Beinen der Jungs verfängt und unter einem Paar Stollenschuhe auflöst. Die zu Boden gegangenen Worte. So ist das hier.

Gegen jede Wahrscheinlichkeit haben wir eine Bücherei. Früher war sie ein Zeughaus, das einmal eine Gruppe entlaufener Sklaven auf dem Weg nach Nova Scotia beherbergte, Anlass für die Bronzestatue von Sojourner Truth auf dem Brunnen in der Platzmitte, der seit nunmehr drei Jahren kein Wasser mehr führt. Der Statue gegenüber steht ein rotes, eins vierzig hohes Legomodell eines T-Rex aus dauerhaft zusammengeklebten Steinen. Es entspricht der Körpergröße eines Jungen namens Adam Munsey, der nur wenige Meter entfernt von ebendem Schulbus, der ihn abholen sollte, überfahren wurde, nachdem der Fahrer, sturzbetrunken von einer Magnumflasche Southern Comfort, die ganze Nacht aufgeblieben war, um den Patriots bei ihrem Sieg in der Super Bowl 2002 zuzusehen. Ein Stück weiter, wo sich die Straße zur Route 4 verbreitert, der Bürgersteig zu Staub zerfällt und da und dort roter Mohn und blaue Astern das Grün zur Rechten sprenkeln, stößt man auf die Colt-Fabrik, deren Gründer Samuel Colt mit dem Verkauf von Revolvern an beide Parteien während des Bürgerkriegs zu einem der reichsten Männer des Landes wurde. Heute ist es eine Coca-Cola-Fabrik, wo blank polierte rote Lkws die alten Ladebuchten aus Ziegelstein säumen, während die Sonne hinter den Bergen im Westen untergeht.

Es gibt die zum Frauengefängnis Women’s County Corrections führende Cumberland Road, zu dieser Jahreszeit eingefasst von Kürbissen, die die graubraunen Felder mit ockergelben Abschnitten überziehen — Beute für Hasen und ausgehungerte Opossums, die Wintervorräte anlegen. Dahinter rahmen Sandsteinblöcke den Fluss; voller Podekesaurus-Fußabdrücke, die vor über 195 Millionen Jahren entstanden sind, reichen sie bis an den Parkplatz des Wendy’s heran. Dann die anderen Franchise-Läden: Burger King, Auto Zone, Mattress Firm, Family Dollar, Dollar General. Dann das Nite_E-Nite Motel mit seinen fünf babykackegelben Türen gegenüber dem Kahoots-Nachtclub auf der anderen Straßenseite, der ALLE SIEBEN MONATE NEUE FRAUEN! verheißt. Dahinter die handgemalten Schilder und Plakate: BRYAN’S INSTA-BAIL, KAMINHOLZ $ 25 NACHLASS AUF DEN ERSTEN CORD, KEIN FRACKING IN JESU NAMEN ein verblasstes MARTHABEAN, IHRE STADTKÄMMERIN 2006. Und eins in eleganter roter Schrift, wie eine Prophezeiung: DEMNÄCHST HIER WAFFEN.

Wie gut kennst du dich eigentlich aus mit dem, was du von New England weißt?

Hinter der Betonplatte, wo einmal das Citgo stand, tritt vorsichtig, wie der Letzte seiner Art, ein Hirsch in einen Seidenpflanzenhain und springt dann in das Gebüsch, wo sich der Bach in den unter der King Philip’s Bridge hindurchströmenden Fluss ergießt. Eine Eisenbahnbrücke, benannt nach dem Wampanoag-Häuptling, der hier einen Aufstand anführte, um sein Land von den Puritanern zurückzugewinnen, ihr Betonpfeiler ein Gewirr bunter Graffiti: SpyKids 2, Guerra a los ricos, Freiheit für Mumia Abdul Jamal!!!, Laura & Jonny ’92, niños malos, und 911 war ein Insider-Job.

Sie ist außerdem der letzte Weg aus der Stadt.

Und über ebendiese Brücke ging der Junge am Nachmittag des 15. September im Jahre unseres Herrn 2009. Regen prasselte auf die um seine Schultern gelegte, übergroße UPS-Jacke, während er, im Herzen des Tals geborgen, ausschritt, das Land sich von ihm weg ins Weite erstreckte und der Himmel seine Wolkenbrocken in den Horizont senkte. Er war neunzehn, in der Mitternacht seiner Kindheit und noch ein ganzes Leben vom ersten Tageslicht entfernt. Man hatte ihm nicht verziehen, so wenig wie dir. Der Himmel von gütigem Grau, während der Nachmittag zum Abend verdämmerte und die Kälte seinen Atem in Nebel verwandelte. Unter seinen Stiefeln summten die Gleise von stetigen Böen, die gegen die Stahlbügel schlugen. Ja, es ist schön hier, ebendeshalb ziehen die Geister nicht von hier fort. Das musst du wissen, während die Stadt hinter ihm zu einem trüben Fleck verschwamm. Du musst, während unten schwarzes Wasser strudelte wie chemisch weich gemachter Granit und an den kobaltblauen Ufern eins nach dem anderen die Lichter angingen, verstehen, dass der Junge einem geschätzten Teil dieser Welt angehörte, als er über die Schulter blickte, auf die Telefonkabel, die von dämmerungsergebenen Krähen durchhingen, und, in der Ferne, den uns — East Gladness — in verblasster weißer Farbe ankündigenden, roten Wasserturm, ehe er sich von diesem Ort abwandte, ein Bein übers Geländer schwang und wie ein braver Sohn zu springen beschloss.

2

Zwar traf es zu, dass dem Jungen keine Wege mehr geblieben waren, die er hätte nehmen, keine Möglichkeiten, wie er seine Fehlschläge hätte wettmachen können, dennoch hatte er keineswegs vor, von der King Philip’s Bridge zu springen, an jenem Abend. Erst als er zwischen den Schwellen flüchtig den Fluss erblickte, der da unten so gewaltig wirbelte, ein Element, in das man einfach hineingleiten konnte, schreckte etwas in ihm hoch und schrak gleichzeitig zusammen. Man würde natürlich sagen, er sei ertrunken, wie der Zehntklässler aus Hebron, den man vergangenen Sommer aus den Untiefen geholt hatte, den Jungen, der sich auf einer Hausparty die Kante gegeben hatte und nach Mitternacht, vor sich hin singend, ins Wasser gewatet war, nur um am nächsten Morgen angeschwemmt zu werden, bis auf die Schuhe voll bekleidet. Es war keine Schande, dachte der Junge, sich in etwas so Natürlichem wie der Schwerkraft zu verlieren — wo man nicht springt, sondern rein und schuldlos meerwärts gezogen wird. Auf jeden Fall würde das seiner Mutter am wenigsten wehtun.

Doch sobald er das Bein hochschwang und sich über das Geländer hievte, sah er den Unterbau, der so weit vorragte, dass der Sprung unmöglich war. Er hielt inne, starrte über das vom Zwielicht grau gefärbte Gewirbel bis zur gerade noch erkennbaren Biegung des Flusses in Richtung Chester County, wo die Städte so klein waren, dass man sich am Ortseingang eine Zigarette anzünden und schon woanders sein konnte, ehe man den ersten Zug zum Seitenfenster hinausblies. Er holte tief Luft, ließ sich vom Atemdunst umhüllen, dann kletterte er vorsichtig auf den Unterbau, wo er sich den Rucksack abstreifte, der mit einem stummen, weißen Aufspritzen tief unten verschwand. Sich an den Stahlkabeln festhaltend, schob er sich auf die Mitte der Brücke zu, wo der Sturz am tiefsten sein würde und die Strömung unten zwischen den Metallträgern hindurchschäumte.

Ein paar Meter weiter hielt er inne. Die Brücke war über dreißig Meter hoch, wie er von einem Ausflug damals in der Mittelstufe wusste. Sie hatte einmal als wertvollste Errungenschaft der Stadt gegolten, dazu gedacht, Personenzüge und Geld in die Main Street zu bringen. Aber die Züge hielten niemals, sondern fuhren einfach vorbei, auf dem Weg nach Boston, Providence, Buffalo, Portland und sogar Montreal. Inzwischen kamen nur noch die Güterzüge hier durch, meist mit verzurrtem Bauholz oder Getreidefässern aus Ontario. Zum Zeichen für diesen fehlgeleiteten Optimismus hatte man die Brücke grellgelb gestrichen, doch die Farbe hatte sich nur noch auf ein paar Bolzen gehalten, die so tief im Trägerwerk versenkt waren, dass ihnen das Wetter nichts anhaben konnte.

Drüben, über den Schlammbänken entlang dem Ufer, waren Straßenlaternen angegangen, die dem Wasser den pinselstrichartigen Schimmer von Sonnenlicht verliehen, das an Sommermorgen auf feuchtes Straßenpflaster trifft — die Art von Licht, die man nirgendwo sonst sieht. »Tut mir leid«, flüsterte er, an niemanden gerichtet, über dem Rauschen, während die Kabel unter seinen Händen glitschten. Der seit drei Tagen unentwegt niederströmende Regen durchnässte ihm die Haare und rann ihm kalt am Hals hinab. Die junge Frau in New Hope hatte, ungefragt, erwähnt, dass es genügte, wenn man nach dem Durchstoßen der Wasseroberfläche sofort bis zum Flussgrund tauchte, dass die Stromschnellen einen mitreißen würden und man lediglich die Augen zumachen musste, bis das eisige Wasser in der Lunge warm und still wurde, die Zirbeldrüse das Gehirn mit Dimethyltryptamin flutete und man an einem klaren, windlosen Himmel schwebte, frei vom Käfig des Körpers.

Unerwähnt gelassen hatte sie, dass man, wenn man an die Grenze tritt, auf eine weitere Grenze trifft, in einem selbst, eine, die zugleich passierbar und unüberwindlich scheint. Er schluckte kräftig und senkte den Blick auf seinen Stiefel, der über den Träger kippelte. In diesem Augenblick sah er die Leiche, die auf ihn zutrieb, die Gliedmaßen unter der Wasseroberfläche ausgestreckt und opak. Das Gesicht starrte mit geschlossenen Augen himmelwärts, die Kleider bauschten sich um die dünne Gestalt. Er schnappte erschrocken nach Luft, wischte sich mit beiden Händen den Regen aus den Augen und sah blinzelnd erneut hin. Aber sie war nach wie vor da und sogar noch deutlicher zu sehen. Er barg das Gesicht im Jackenärmel und klammerte sich an das Kabel, als von irgendwoher eine Stimme übers Wasser tönte. Er dachte zuerst, sie käme aus seinem Kopf, doch dann hörte er sie erneut. »Komm zurück. Komm sofort zurück! Jesus, Maria Mutter Gottes, nicht jetzt! Nicht heute!«

Er suchte das Steilufer ab und sah auf der Böschung, dicht an der Kante, ein zweistöckiges, holzverschaltes Haus, das sich in Richtung Fluss neigte. Daran angebaut war eine Feuertreppe aus Schmiedeeisen, auf der eine Frau wild fuchtelnd mit einer Art Wäscheleine kämpfte. Er schaute wieder aufs Wasser und erkannte, dass es sich nicht um eine Wasserleiche, sondern um ein Bettlaken handelte, das sich durch die Strömung wand. Überall am Ufer standen Eisenbahnerhäuser, die er zuvor nicht bemerkt hatte, alle scheinbar leer bis auf das eine, wo die Frau jetzt stand. Ein Windstoß entriss ihren Armen ein weiteres Laken und trug es ein Stück weit weg, ehe es um einen nahe gelegenen Ahorn erschlaffte.

»Hey, Ihre Wäsche!«, rief der Junge instinktiv und bereute es sofort. Er zog sich unter den Schatten des Trägers zurück und machte sich klein. Aber zu spät.

Die Frau blieb stehen, beugte sich vor, spähte auf das Trägerwerk der Brücke. Ihre Brille, in der sich das Licht der nächsten Straßenlaterne spiegelte, flimmerte golden. Nach ihrem schulterlangen weißen Haar und ihrem gebückten Gang zu urteilen, war sie schon älter.

»Wer ist da?« Sie beschirmte mit der Hand die Augen und rief durch den trommelnden Regen. Der Junge drückte sich gegen die Streben, sodass sich ein Stahlbolzen zwischen seine Schultern bohrte, und hielt still.

»Du meine Güte!«, stieß sie mit aufgerissenen Augen hervor. »Was machst du denn da? Bist du verrückt oder was? O Vater im Himmel, hilf uns. Komm sofort da weg!«

Zitternd beugte er sich in den Lichtkegel; dass ein fremder Mensch ihn an der Grenze seines Lebens ertappt hatte, verstörte ihn aus irgendeinem Grund mehr als sein Drang, es zu beenden. »Es ist nicht, was Sie denken«, rief er zurück. »Ich hab — ich hab bloß aufs Wasser geschaut, mehr nicht.« Er zog sich die Kapuze vom Kopf und zeigte ihr, wie ein ertappter Verbrecher, sein knochiges Gesicht, blass wie das eines Molchs und umrahmt von einer schwarzen Topffrisur, sein Blick gemildert von einer mädchenhaften, aber nutzlosen Empfindsamkeit. Es war erbärmlich, so ertappt zu werden, das sah er eigentlich auch so. Was für ein Idiot stellt sich aus einer Laune heraus auf die falsche Seite eines Brückengeländers und muss dann eine alte Frau überzeugen, dass das alles — ja, was genau? — war.

»Sei nicht dumm.« Sie sah sich um, schob sich mit dem Mittelfinger die Brille nach oben. »Du darfst nicht vor meinem Haus sterben, okay? Ich kann hier nicht noch mehr Geister gebrauchen.« Sie schlug ein Kreuz und packte das Geländer, während ein Schwall fremdländischer Worte aus ihrem Mund kam. Bis auf ein Handtuch, das neben ihrem Gesicht peitschte, hatte es ihre Wäsche komplett weggeweht.

»Okay, okay, hören Sie.« Er streckte die Hand aus, als stünde er nicht über der Flussmitte, sondern nur wenige Schritte von ihr entfernt. »Ich tue es nicht. Ich verspreche es. Ich … ich sehe mir nur die Brücke an. Ich bin Student und will mal Ingenieur werden.« Inzwischen gingen ihm die Lügen ganz leicht über die Lippen, so unaufhaltsam, wie Eisenbahnwaggons eine Felswand hinabstürzen.

»Komm nur einfach schleunigst da runter. Ich meine es ernst. Sonst rufe ich die Cops.«

»Okay, in Ordnung. Nur die Ruhe.« Behutsam schob er sich auf dem Träger auf ihre Seite des Flusses zu. Die Frau verschwand, streckte dann den Kopf aus dem nächsten, ihm näheren Fenster und verfolgte sein Vorankommen. An einer Stelle ruckte sein Stiefel über einen Niet, und sie schrie auf und schimpfte in einer fremden Sprache.

»Setz den Fuß da hin. Nein, da.« Sie hatte sich halb aus dem Fenster gelehnt und zeigte auf eine Stelle, die er nicht sehen konnte. »Jetzt ein Stück nach links. Nein, halt — das andere links. Gut. Da drüben ist eine Leiter. Geh da hin und klettere sie hoch. Hoch mit dir, Junge. Beeil dich.« Sie stieß den Daumen himmelwärts. »Hinauf, hinauf! Genau so.«

Er tappte zu einer an die Brücke angeschweißten Leiter und zog sich mit vor Kälte schlotternden Armen wieder zum Gleis hinauf. Dann beugte er sich übers Geländer und holte Atem. »Danke, okay?« Er machte eine abwehrende Geste zu der Frau hin. »Alles gut. Ich wollte bloß die Eisenträger aus der Nähe sehen. Ich gehe jetzt nach Hause, machen Sie sich keine Sorgen.«

»Quatsch. Du willst dich umbringen. Komm hier rüber.« Sie deutete mit dem Kinn auf das Ufer. »Komm hier rüber, oder ich rufe die Polizei. Glaubst du, ich scherze?« Ihr Haar klebte von dem Regenguss, und der Kragen ihres Nachtgewands war vom Wasser dunkel verfärbt.

Der Junge richtete sich auf und schlurfte über die Brücke, während sie ihm von Fenster zu Fenster folgte und dabei vor sich hin murmelte. Als unter dem Gleis die Uferbefestigung sichtbar wurde, sprang er über das Geländer und eilte auf das Haus zu. Die Straße wurde zu beiden Seiten von heruntergekommenen Reihenhäusern flankiert, die der Kulisse eines Kriegsfilms ähnelten. Durch freiliegende Wände, aus denen rosafarbenes Isoliermaterial herausgequollen war, blickte er flüchtig in schimmlige, moosbedeckte Wohnzimmer. Ein Haus war sogar halb niedergebrannt, sein Inneres voller verrußter Möbelklumpen, dazwischen hatte ein junger Baum durch die Bodendielen Wurzeln geschlagen und mit seinen oberen Ästen einen breiten Riss in die Decke gekrallt.

Das Haus der alten Frau lag zur Flussseite hin, seine Hintertür nur wenige Meter vom Wasser entfernt. Im Lauf der Jahrzehnte hatte es die Farbtöne des Ufers selbst angenommen, beige getüpfeltes Schiefergrau, der Anstrich der Schalbretter längst abgeblättert. Als er die Eingangstreppe erreichte, ging die Haustür auf, und über der Querstrebe des Fliegengitters erschien ein weißer Haarschopf. Die Frau hatte Mühe mit dem Schloss, also riss er an der Klinke, das Fliegengitter flog auf, und zum Vorschein kam eine mindestens achtzigjährige Greisin. Sie war einen halben Kopf kleiner als er, hatte einen eckigen Kiefer und eine Knollennase und trug eine Brille mit Drahtgestell, die bis auf einen Strich von einem Mund und ein Kinn wie das Ende eines Brötchens das ganze Gesicht zu bedecken schien.

Seine eigene Schildpattbrille war von Regen beperlt, und er nahm die Frau als verschwommene Gestalt aus Grautönen wahr. Sie betrachteten einander einen Moment lang, er auf den Füßen schwankend, während sich ringsum Dunkelheit herabsenkte.

»Tut mir leid«, sagte der Junge, vor Nässe triefend, erneut. »Ich werde nicht mehr von der Brücke springen, okay? Kann ich jetzt gehen?«

»Komm rein, aber zieh deine Schuhe aus. Mein Mann hat die Fußböden hier gelegt.« Die Frau verschwand ins Haus. Der Junge zögerte und blickte die leere Straße entlang, wo der Regen wieder zunahm. Während in kleinen Rinnsalen Wasser an ihm herablief, trat er auf die Veranda, zog seine Stiefel aus und folgte ihr nach drinnen.

Ein knarrendes Haus, vor über einem Jahrhundert von Bahnarbeitern gebaut, bestehend aus einem einzigen langen Flur, der in drei Zimmer unterteilt war: Wohnzimmer, Esszimmer und Küche, deren trübes Licht am anderen Ende wie die Feuerstelle einer urzeitlichen Höhle glomm. Möbliert in einem Stil, den er nur aus Lassie kannte, der Schwarz-Weiß-Fernsehserie, deren Wiederholungen er als kleiner Junge auf einem Panasonic mit drei Kanälen gesehen hatte, verströmte es den muffigen Geruch von selten gelüfteten Zimmern, versetzt mit dem schimmeligen Mief von Kriechböden. Während sich seine Augen anpassten, traten amorphe Polstermöbel, bezogen mit üppigen, blassen Blumenmustern, in den Blick. Die Wände waren holzgetäfelt und mit billigen Landschaftsbildern in vergoldeten Rahmen geschmückt. Als er unter dem Türsturz, der das Wohn- vom Esszimmer trennte, hindurchtrat, blickte er auf und sah ein einstmals weißes, vom Staub von Jahrzehnten gespensterhaft grau gewordenes Kreuz. Von einer Wand starrte, vom Licht der Straßenlaternen beleuchtet, eine Gruppe von Porträts mit grimmigen Gesichtern aus einer Epoche, die er nicht bestimmen konnte. Auf der Schwelle zur Küche hielt er inne, und von seinem Kinn und seinen Haaren fielen kleine Tröpfchen auf den Laminatboden.

Die Frau setzte sich an einen kleinen Tisch und wies mit dem Kinn auf einen freien Stuhl. »Na los, setz dich. Du siehst aus wie ein eingetunkter Keks.«

Er setzte sich vorsichtig, sein Blick erfasste den Raum. Da er nicht wusste, was er mit seinen Händen anfangen sollte, legte er sie, die Handflächen nach oben, auf den Tisch, zog sie jedoch in seinen Schoß zurück, als ihm aufging, dass das psychotisch aussah.

»Hier, trockne dich ab.« Sie reichte ihm ein Geschirrtuch, das nach rohen Zwiebeln roch, aber er wischte sich trotzdem das Gesicht, und sofort brannten seine Augen.

»Armer Junge«, murmelte sie vor sich hin. »Pass auf, jetzt ist alles vorbei, okay? Egal, was passiert ist, jetzt ist es vorbei. Aber heul bloß nicht, Junge. Tränen entziehen dir Eisen, weißt du.« Sie ergriff das Geschirrtuch, beugte sich vor und betupfte ihm die Augen, wodurch sich das Brennen verstärkte. Er zuckte zusammen und wandte den Kopf ab. »Verstehe, du bist kein Junge. Du bist ein Mann und brauchst keinen, der dir die Tränen abwischt.«

Die Küche war so groß wie ein geräumiger Schuppen und enthielt eine von dreckverklebtem Fett gebräunte Herdplatte, eine Spüle und ein Stück Arbeitsfläche, so groß wie ein Schneidebrett. Sie saßen an einem runden Tisch, bedeckt mit kariertem Plastik, das nach Picknicktuch aussehen sollte. Von der Mitte einer Lampe mit tüllverbrämtem Schirm ging ein dürftiger, bernsteinfarbener Schimmer aus.

Die Frau griff nach einem Päckchen Zigaretten, einer Marke, die er nicht kannte, steckte sich eine zwischen die Lippen und zündete sie mit einem Feuerzeug an. »Normalerweise rauche ich nicht.« Sie nahm einen Zug und starrte ihn, nicht unfreundlich, an, dann beugte sie sich vor und schob einen großen Stapel Zeitschriften zur Seite. Sie waren Jahrzehnte alt und gedruckt in einer Sprache, die er nicht kannte.

»Litauisch«, sagte sie, als sie seine Neugier bemerkte. »Weißt du, was das ist?«

Er schüttelte den Kopf, wischte sich die Zwiebeltränen von den Wangen.

»Ein altes Land, weit weg, wo ich geboren bin.« Sie schwenkte die Zigarette herum und nahm einen Zug. »Aber eigentlich sind alle Länder alt, wenn man darüber nachdenkt.«

Doch er hatte nie darüber nachgedacht. Er hatte selten über irgendein Land nachgedacht, am allerwenigsten über das, in dem er geboren war — nur dass es ebenfalls weit weg lag.

»Willst du eine?« Sie hielt ihm eine Zigarette hin.

Ehe er antworten konnte, steckte sie sie ihm in den Mund und gab ihm Feuer.

»Gefallen dir meine Eulen?« Sie deutete über die Schulter auf eine Vitrine. Hinter den Glastüren war eine Kollektion von Eulenfigürchen in vielerlei Größen und Formen aufgebaut, einige aus glänzendem Porzellan, andere mit dem matten Schimmer von Holz oder Ton. »Jede Eule ist in einem freien Land hergestellt worden. Keine meiner Eulen« — sie lehnte sich zurück — »kommt von Kommunisten. Verstehst du?«

Er log, indem er nickte.

Über der Vitrine hingen drei gemalte Eulenporträts, die Gesichter aufgeschwemmt wie die von alten Gangstern, und jedes zeigte das Gesicht des Vogels wie eine Rembrandt-Studie aus einem anderen Winkel. Tatsächlich starrte ihn von fast jeder Standfläche Nippes, Schnickschnack und Krimskrams in Eulenform an. »Ich sammle sie. Weiß eigentlich gar nicht, warum.« Sie zuckte die Achseln. »Ich bekomme sie schon seit ewigen Zeiten geschenkt. Inzwischen sind sie meine Visitenkarte.« In dem mittlerweile dicht verqualmten Raum zeigte sie ein schwaches Lächeln. »Wie heißt du eigentlich?«

»Danke dafür.« Der Junge nahm einen langen Zug von seiner Zigarette. »Aber ich sollte jetzt gehen.«

»Immer mit der Ruhe, mein Lämmchen.« Ihr Grinsen entblößte gelbe Zähne. »Ich lade dich in mein Haus ein und gebe dir eine Zigarette. Und schau mal« — sie hielt ihm das Päckchen schräg entgegen —, »ich habe nur noch zwei. Ich habe dich sogar in meiner Küche weinen lassen. Du weißt doch, dass es Unglück bringt, in der Küche zu weinen, oder? Du kannst mir wenigstens sagen, wie du heißt.«

Er starrte die löchrige Plastikdecke auf dem Tisch an, erwog den Namen, den seine Mutter ihm gegeben hatte, und der Gedanke daran drückte ihn nieder. Nicht weil er seinen Namen nicht mochte, sondern weil er bereit gewesen war, ihn in den Fluss zu werfen. Seinen Namen hatte er nie loswerden wollen — bloß den Atem, der damit verbunden war. Schließlich war von allem, was seine Mutter ihm gegeben hatte, der Name das Einzige, was er behalten konnte, ohne es zu zerstören.

»Hai«, murmelte er.

»Ja, dir auch hallo und willkommen. Aber —«

»Nein, Hai. Nicht hallo. Das ist —«

»Okay«, flüsterte sie, »aber wen heiße ich denn nun willkommen?«

»Ich heiße Hai.«

»Du heißt Hallo?«

Er beschloss zu nicken. »Klar.«

»Aha.« Ihre Miene hellte sich auf, und sie zeigte mit einem krummen Finger auf ihn. »Also heißt du Labas!«

»Was?«

»Labas heißt in meinem Land ›hallo‹.« Über den Tisch hinweg streckte sie ihm die Hand entgegen. »Hallo, Labas. Ich bin Grazina. Das heißt ›schön‹.« Die glimmende Zigarette zwischen die gelben Zähne geklemmt, lächelte sie schief.

Er ergriff ihre schrundig trockene, warme Hand. »Hallo.«

»So, jetzt wissen wir, wer wer ist. Du hast also Pakete ausgeliefert und beschlossen, dass heute der Tag ist, an dem du genug hast, wie? Ist das gemeint, wenn man sagt, ihr habt euer Päckchen zu tragen?«

Hai senkte den Blick auf seine UPS-Jacke. »Ach so«, sagte er. »Nein, die habe ich von einem Freund. Ich liefere nichts aus. Aber das mit Ihrer Wäsche tut mir leid.«

»Ach was.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wenn man erst mal so lange lebt wie ich, wird alles zu Lumpen.«

Er starrte zum Fenster hinaus auf die Brücke, wo er vor einer halben Stunde gestanden hatte. Inzwischen war es dunkel, und ihre Lichterreihe reichte bis auf die andere Seite. »Ich möchte mich noch mal für den ganzen Ärger entschuldigen. Aber jetzt geht’s mir wieder gut, wirklich.«

»Entschuldige dich nicht. Wenn man so viele Jahre an einer Brücke wohnt, sieht man verrückte Sachen. Einmal, an einem Weihnachtsmorgen, ist ein ganzer Transportbehälter voller Hühner umgekippt, als der Zug drüberfuhr, und die obersten Reihen sind übers Geländer gefallen. Arme Dinger. Sie sind in ihren Käfigen ertrunken. Aber ein paar konnten sich befreien und sind geschwommen. Kannst du dir vorstellen, dass Hühner schwimmen können? Immer noch besser, als gegessen zu werden, was?« Sie erlaubte sich ein Lachen. »Aber ich bin froh, dass es dir, Mr Hallo, nicht wie den Hühnern ergangen ist.«

In diesem Augenblick zuckte etwas in ihrem Gesicht, sie hielt inne, und ihr Blick driftete zu einer Stelle knapp oberhalb seiner Schulter. Er drehte sich um, sah aber nur einen alten Kühlschrank, bepflastert mit Gutscheinen, deren Ecken vergilbt und aufgebogen waren. Irgendetwas stimmte nicht mit Grazina, wurde ihm nun klar. In ihren Augen lag, wie von einer künstlichen Quelle gespeist, ein Glitzern, das unentwegt anhielt, während sie sich unterhielten. »Labas«, sagte sie mit gedämpfter Stimme und beugte sich vor, »soll ich dir das Geheimnis verraten, wie man jeden Kummer loswird, den der Mensch kennt? Ja?«

Er machte schmale Augen und blinzelte sie an.

»Ich meine es ernst. Hier — schnapp dir die Brötchen hinter dir und folge mir. Na los, sie beißen nicht.«

Sie ging durch die Küche und öffnete eine Hintertür, die er bis jetzt nicht bemerkt hatte. Regen wehte herein und stob als feiner Dunst durch den Raum. Von der Uferböschung war das Tosen des Flusses zu hören. »Komm, Junge«, rief sie von draußen. »Ich zeige dir, was ich meine.«

Er nahm die Tüte mit den Brötchen, trat hinaus, und das Geräusch von Wasser füllte seinen leeren Kopf. Er erwog, geradewegs durch den Garten zu laufen und einfach abzuhauen, aber seine Füße rührten sich nicht. Der Garten war ein Stück nackter Boden, gesprenkelt mit grauen Grasbüscheln, die in Matsch ertranken. Sechs Meter weiter, hinter einer am oberen Rand bröckelnden Betonbefestigung, verlief der Fluss. Die Nacht brach an, doch der Garten wurde von den Neonlampen auf der Straße schwach erleuchtet. Im Wind schwankend, der an ihrem Nachtgewand zerrte, humpelte Grazina auf die Mitte des Grundstücks zu und winkte ihn zu sich.

»Was haben Sie denn hier draußen damit vor?«

»Komm einfach her und leg die Brötchen hin. Nein, mach zuerst die Tüte auf. Gut, jetzt kipp sie da hin.«

»Was?«

»Kipp sie einfach auf den Boden«, rief sie über dem Rauschen des Wassers.

Er drehte die Tüte um, und etwa ein Dutzend Brötchen fiel in den Matsch.

»Bist du bereit?«, fragte sie grinsend.

Ehe er antworten konnte, trat sie auf eines der Brötchen und stampfte es platt. Dann tat sie das Gleiche mit einem weiteren, das sie durch Hin- und Herdrehen der Fußspitze in den Boden malmte, sodass es zerkrümelte und sich auflöste. »Ist das nicht wunderbar? Jetzt versuch du es mal, Labas.« Ihr Gesicht war vor Begeisterung gerötet, als sie ihn an der Hand packte und zu sich herzog. »Na los, tritt drauf. Vertrau mir.«

Er drückte einen bestrumpften Fuß auf ein Brötchen, stupste es mit dem großen Zeh an.

»Um Himmels willen, das ist doch kein überfahrenes Tier. Los, tritt richtig drauf. Gut. Fester.« Die Hände auf die Knie gestemmt, feuerte sie ihn an wie ein durchgedrehter Trainer. »Genau so! Ja, mit deinem ganzen Gewicht. Quetsch sie platt, die Mistdinger.« Sie packte mit beiden Händen seinen Unterschenkel und drückte seinen Fuß auf das Brötchen. Als er den Fuß hob, war es tief in den Matsch eingesunken, und der Sockenstoff hatte dem feuchten Teig ein Waffelmuster aufgeprägt. »Denk nicht drüber nach, mach einfach noch eins. Ist das nicht lustig?«

Er zermalmte ein weiteres Brötchen und noch eins, während Grazina johlte, mit einer Stimme, die vor kindlicher Begeisterung überkippte. Nicht lange, und sie gingen in Kreisen von Brötchen zu Brötchen. »Immer wenn ich merke, wie es in meiner Seele trübe wird«, keuchte sie, »trete ich einfach auf ein paar Brötchen, und das wirkt wie ein Zauber.«

Er bohrte die Ferse in eines der letzten Brötchen, dann schleifte er es in weitem Bogen über den Boden, sodass die sich abschilfernden Krümel einen feinkörnigen Kometenschweif durch den Matsch zogen, während Grazina in die Hände klatschte und dazu auf Litauisch krakeelte.

Um sie herum bräunte sich das Brot und sog sich zu fahlen Klumpen voll, während sie weiter darauf herumtrampelten. Von weiter weg, vom anderen Flussufer aus, hätte man im Vorbeifahren zwei Menschen in einer Nacht in New England am Ende der ersten Jahrzehnts des Jahrhunderts in einem Lichtkegel im Regen herumtanzen sehen und vergessen können, dass sich das Land im Krieg befand. Hais Gelächter, das für ihn fern und fremdartig klang, verhallte, während er Atem holte. An der Sache war tatsächlich was dran, musste er zugeben.

Strahlend klopfte Grazina ihm auf die Schulter, die Brillengläser im Regen schimmernd. »Du hast es getan, Labas. Als Brotzermalmer bist du ein Naturtalent. Früher, in Litauen, war Brot kostbar. Wir mussten sogar hartes, schimmeliges Brot essen, grünes Brot, das nach Benzin schmeckte. Jetzt können wir es jederzeit zermalmen, wenn uns danach ist« — sie unterstrich das Wort zermalmen mit geballter Faust —, »und keiner kann uns dafür bestrafen. Aber jetzt komm, komm her. Jetzt müssen wir beten, Junge …« Sie beugte sich vor und packte ihn an der Schulter. »Der Herr vergebe uns diese Sünde der Verschwendung«, begann sie, ihre Stimme ebenso wackelig wie ihr Gleichgewicht, »Er wache über die Fremden und beschütze die Witwen und Waisen, doch Er mache die Schliche der Bösen zunichte. Denn der Herr verzieht nicht die Verheißung, wie es etliche für einen Verzug achten, sondern Er hat Geduld mit uns und will nicht, dass jemand verloren werde, sondern dass sich jedermann zur Buße kehre.«

Er sah ihr zu, wie sie betete, diese krumme Stubbe von einer Frau mit nassen, an den Schläfen verklebten Haaren, deren Stimme ihn vorhin auf festen Boden zurückgeholt hatte.

»Wie fühlst du dich, Labas?« Um sie herum war ein Kreis aus zu Klump getretenem Brot.

Regen troff ihm vom Gesicht. »Herrlich«, sagte er nickend, erfrischt von diesem neuen Reich, in das er eingetreten war. »Ich fühle mich Grazina.«

Die über den Fluss tönende Signalpfeife des Zuges weckte ihn, und er wusste, dass es Morgen war. Als er an der Wand seine UPS-Jacke hängen sah, unter der sich eine Pfütze gebildet hatte, kamen ihm die Ereignisse der vergangenen Nacht wieder zum Bewusstsein. Nachdem sie im Regen die Brötchen zermalmt hatten, hatte Grazina ihm bei einem Tee ein Gästezimmer für die Nacht angeboten, wo er das Ende des Unwetters abwarten konnte, und er hatte dankbar angenommen. In tiefen, traumlosen Schlaf gesunken, war er davon erwacht, dass jemand sang. Ein klares, unverstelltes Geträller, als dränge die Stimme aus einem tiefen Brunnenschacht. Benommen blickte er sich im Zimmer um, sah im Halbdunkel das Eulenfigürchen auf dem Schreibtisch und wurde sich bewusst, wo er war. Er schlug die Decke zurück, verließ das Zimmer und ging auf Zehenspitzen den mit Teppichboden bedeckten Flur entlang, ehe er vor Grazinas Tür stehen blieb. Erst als er sich näher heranbeugte, erkannte er, dass es sich bei der Melodie um »Stille Nacht« handelte. Er hielt den Atem an. Ihre Stimme war dünn und mädchenhaft hoch, nicht das Gekrächze eines osteuropäischen Matrosen, das er unlängst gehört hatte. Vorsichtig schob er die Tür auf, bis er durch den sich verbreiternden Spalt Grazina sah, die stocksteif dalag und aus weit aufgerissenen Augen, in denen sich das feuchte Licht vom Fenster fing, an die Decke starrte, während ihr Mund den Text des Refrains formte. Er sah einen Moment lang hin, war tief erschrocken und kam sich zugleich mies vor. »Grazina«, brachte er heraus, aber sie sang weiter, nicht dass er gewusst hätte, was er tun sollte, wenn sie aufwachte. Er schauderte, schloss behutsam die Tür, eilte in sein Zimmer zurück und zog sich die Decke über den Kopf. Er wusste nicht, wie lange es dauerte, bis ihre Stimme verklang, aber irgendwann tat sie es, und er nickte weg.

Während er nun im staubigen Morgenlicht lag und zu sich kam, begann unten Fett in einer Pfanne zu zischen, gefolgt vom Scheppern von Töpfen. Er ging zu der Stelle hinüber, wo seine Jacke hing, und strich, den Blick versonnen auf der Stickerei, mit dem Finger am Ärmel hinunter. Die Jacke hatte einmal seinem Freund Noah gehört, einem Jungen, den er mit vierzehn bei der Arbeit auf den Tabakfeldern kennengelernt hatte, dem üppigen Grün entlang des Flusses, der East Gladness in zwei Hälften teilte. Er hieß eigentlich nicht Noah, doch so nannte ihn Hai, allerdings erst, als er schon eine Woche tot war. Nach der Arche Noah. Denn warum sollten die Toten keine neuen Namen bekommen? Schließlich gingen sie doch in eine Art Anderssein über? Wie so viele Jungen im ganzen County wurde Noah von dem breiten grünen Tal verschluckt, das auf Cedar Hill einen Grabstein, so hoch wie eine Schuhschachtel, ausspuckte, auf den gerade mal sein Name und sonst nichts passte. Es war eine dieser Freundschaften, die sich schnell ergeben, wie die Hitze an einem Julitag, wenn man noch lange nach Mitternacht einen klebrigen Film auf der Haut spürt, während man in seinem Zimmer wach liegt, in das der Ventilator hineinweht, was von den glühend heißen Stunden geblieben ist, und einem zum ersten Mal in seinem noch kurzen Leben klar wird, dass niemand je wirklich allein ist. Es war jetzt zwei Jahre her, dass man Noahs Kiefernholzkiste zugenagelt hatte, und seitdem hatte die UPS-Jacke fast jeden Tag um Hais knochige Schultern gelegen, und manchmal, in besonders kalten Nächten, auch im Bett, das Leder stellenweise zerrissen und das U fast abgeblättert. Aber Haut ist Haut, sagte er sich, auch wenn es nicht die eigene ist.

Er zog sich an und schnürte sich die Stiefel, dann griff er in die Innentasche der Jacke. Unter dem zerknautschten Marlboro-Päckchen, dem Kaugummipapier und ein paar Münzen fand er den Kontaktlinsenbehälter, hielt ihn sich ans Ohr, schüttelte ihn, lauschte auf das Klackern der Pillen und steckte ihn in die Jeanstasche, ehe er nach unten ging.

Eine einzelne, perfekt gebräunte Latke glitt auf seinen Teller und hinterließ eine Fettspur auf dem dicken Steingutteller mit dem Muster aus gesichtslosen Engeln um den Rand. Grazina tat sich selbst eine auf, dann beförderte sie die Pfanne mit einem Aufzischen von Dampf in den Ausguss.

»Das ist meine Großtante.« Sie wies mit dem Kinn auf eine Daguerreotypie an der Wand, die eine Frau mit grimmigem, von einem Kopftuch umrahmtem Gesicht zeigte.

»Sie sieht nett aus«, sagte Hai.

»Sie hatte einen Buckel und ein Herz aus Gold. Aber ihr Mann war der reinste Teufel, arme Agne. Wo ist deine Familie?« Sie schubste mit der Hüfte den Kühlschrank zu. Sie hatten die Leere mit Smalltalk gefüllt, seit er heruntergekommen war, doch nun bemerkte er eine Veränderung in ihrer Stimme.

»Ich habe keine Familie. Bloß meine Mom auf der anderen Seite des Flusses. Aber zu der kann ich gerade nicht.«

»Ein Sohn und eine Mutter. Das ist genug Familie, oder? Warum kannst du nicht zu ihr?« Sie stellte eine Schale mit Babykarotten vor ihn hin, setzte sich und nestelte an der Tischdecke. »Geht mich wahrscheinlich nichts an.«

»Ich habe einfach ein paar Sachen vermurkst, das ist alles.«

»Wie zum Beispiel deine Brille?« Sie schmunzelte über die mit Klebeband geflickte Stelle seines Schildpattgestells.

»Einer von vielen Unfällen, ja.« Das Gestell war in New Hope während einer Keilerei kaputtgegangen, an der er noch nicht einmal beteiligt gewesen war.

Mit verhaltenem Blick musterte sie ihn von Kopf bis Fuß, dann griff sie nach einer mit Eulen bemalten Teekanne und füllte seine und ihre Tasse. Er trank und wischte sich mit dem Handrücken den Mund. Er hatte bisher noch nie eine Untertasse benutzt und fand das Klacken, das jeden Schluck punktierte, merkwürdig zufriedenstellend. »Ich hab Sie gestern das Weihnachtslied singen hören«, sagte er, um Beiläufigkeit bemüht. »Ich glaube, es war ›Stille Nacht‹. Sie haben eine tolle Stimme.«

Sie warf ihm einen verwirrten Blick zu. »Sei nicht albern, Labas. Ich kann nicht singen. Als kleines Mädchen war ich im Kirchenchor, aber dann haben sie mir die Mandeln herausgeschnitten, und das war’s — kaputt. Wenn jemand singt, würde ich das hören. Ich habe gute Ohren.« Sie zupfte an einem Ohrläppchen. »Wie Gummi, von meinem Vater. Müssen die Kojoten auf der anderen Seite von den Mooren gewesen sein.« Sie wies mit dem Kinn über die Straße. »Die spielen jedes Mal verrückt, wenn es regnet.«

Er hatte sich das bestimmt nicht alles zusammengeträumt — obwohl der Mann in New Hope ihn davor gewarnt hatte, dass er Alpträume haben würde, sobald er in die wirkliche Welt zurückkehrte.

Sie deutete auf die Schale mit rohen Karotten. »Die sind für dich. Iss auf.«

Hai biss von einer Karotte ab, dann griff er voller Appetit auf die Latke nach seiner Gabel.

»Nein, iss zuerst die Karotte. Bitte.« Messer und Gabel zu beiden Seiten des Tellers, beugte sie sich vor, eine Papierserviette in den Kragen gesteckt. »Das ist wichtig.«

Er aß die Karotte auf, nahm sich eine weitere aus der Schale und steckte sie in einem Stück in den Mund.

»Die sind gut für dich, glaub mir.« Sie schnitt ihre Latke an, als wäre sie ein Steak, und aß.

»Für die Augen, stimmt’s?«

»Das ist eine Lüge, die die Army im Zweiten Weltkrieg verbreitet hat, um geheim zu halten, dass sie erstklassiges Radar verwendet hat. Karotten …«, sie hielt effektvoll inne, »geben dir Lebenswillen.«

Er nahm einen Bissen von der Latke, die perfekt zubereitet war, an den Rändern knusprig, leicht gesalzen und mit einem Hauch von Kräutern, die er nicht benennen konnte. »Wieso Lebenswillen?«, fragte er kauend.

»Karotten sind Wurzeln. Und Wurzeln verhindern, dass man trübsinnig wird.« Sie nahm eine aus der Schale, die Feldfrucht schimmerte im Licht der Küchenlampe. »Weißt du, Karotten werden hellorange, weil es im Boden so dunkel ist. Sie machen sich ihr Licht selbst, weil die Sonne nicht so tief runterreicht, genau wie die Fische im Ozean, die von selbst leuchten. Und wenn du sie isst, nimmst du den Willen der Karotte auf, nach oben zu kommen. In den Himmel.« Sie legte die Karotte in die Schale zurück, sanft, als handelte es sich um einen winzigen Menschen. »Hast du schon mal von einem Kaninchen gehört, das von einer Brücke gesprungen ist?«, fragte sie augenzwinkernd. »Natürlich nicht. Das liegt daran, dass sie das Licht in sich tragen.«

Davon hatte er noch nie gehört, aber irgendwie fand er es plausibel.

»Wenn ich trübsinnig werde, meistens im Februar, koche ich mir einen Topf davon und tunke sie in Honig. Als mein Mann gestorben ist, habe ich sechs Monate am Stück nichts als Karotten gegessen, und weißt du was?« Sie zeigte mit dem Buttermesser auf ihr Auge. »Keine einzige Träne. Roh wirken sie stärker, aber ich habe 91 meine Backenzähne verloren. Bush senior, was will man machen?«

»Wann ist er gestorben, Ihr Mann?«

»Wann stirbt jemand?«, fragte sie achselzuckend. »Wenn Gott sagt: Gut gemacht.« Als der Tee fast ausgetrunken war, wurde Grazina still. Irgendetwas in der Küche tickte. Ihre Blicke trafen sich, und sie schaute weg, dann wieder zu ihm hin, offenbar drauf und dran, etwas zu sagen — doch dann murmelte sie nur kopfschüttelnd auf Litauisch vor sich hin. Um das Schweigen zu überbrücken, goss er noch Tee ein. Die Küche, wurde ihm nun bewusst, war nur bei geöffneter Hintertür hell. Die war jetzt geschlossen, und der Raum war düster und stundenlos wie ein Bunker.

»Also«, sie fuhr sich mit der Zunge über die Zähne, »das Haus ist alt und baufällig, aber der Ölkessel gibt reichlich Wärme und wird jeden zweiten Freitag gefüllt. Die Badezimmerdecke ist undicht, aber das Wasser tropft in die Wanne, also ist es egal, oder?« Sie zuckte die Achseln. »Es gibt weder Waschmaschine noch Trockner, du kannst es aber in der Badewanne machen und dann auf die Leine hängen. Und du müsstest beim Einkaufen helfen, die Mausefalle stellen und ab und zu eins von den armen Viechern in den Fluss werfen.«

»Moment mal.« Er stellte seine Tasse ab. »Wovon reden Sie?«

»Du musst keine Miete bezahlen, und du kannst das alte Zimmer von meiner Tochter Lina haben. Wo du letzte Nacht geschlafen hast. Ich bin nicht kompliziert. Ich brauche nur jemanden, der mir hilft, meine Vitamine zu nehmen. Und …« Sie nestelte an den Zeitschriften auf dem Tisch. »Es wäre schön, jemanden im Haus zu haben. Ich werde dieses Jahr zweiundachtzig, weißt du, und …« Sie verstummte und schaute auf den Boden und zur Seite.

»Sie wollen, dass ich hierbleibe?« Er sah ihr forschend ins Gesicht, dann auf die Eulen hinter ihr.

Sie hob die Hand. »Hör erst mal zu, okay?« Sie erzählte ihm von einer mit im Haus wohnenden Pflegerin namens Janet, deren Kosten von Medicare getragen wurden. Janet sei ihr bewilligt worden, nachdem sie vor ein paar Jahren die halbe Treppe hinuntergefallen und in der Notaufnahme des Hartford Hospital gelandet sei. Aber vor einem Jahr habe Janet irgendeinen Biker geheiratet, sei auf eine Harley gehüpft und auf Nimmerwiedersehen nach New Mexico gedüst. Sie, Grazina, sei auf eine Warteliste für eine neue im Haus wohnende Pflegerin gesetzt worden, aber das könne in dieser Gegend Monate, manchmal sogar Jahre dauern.

Die Hubbard Street, fuhr Grazina fort, sei in der Gegend als die »Achselhöhle des Teufels« bekannt, und zwar wegen eines massiven Austritts von Metam-Natrium aus einem Frachtkahn, der 88 von Buffalo gekommen sei. Der giftige Schlamm sei in solcher Konzentration in den Boden und dann in die Rohre eingesickert, dass die Gemeinde den Anwohnern den Umzug bezahlt habe. Binnen eines Jahres seien nur noch irgendwelche Vandalen geblieben, die in verwüsteten Wohnzimmern Lagerfeuer anzündeten. Das Pionierkorps der Army habe angefangen, Häuser abzureißen, sei allerdings, nachdem sich infolge eines Kabelbrands gezeigt habe, dass die Wände voller Asbest waren, abgezogen und nie wiedergekommen. An den Ufern seien im Lauf der Jahre immer wieder Obdachlosencamps entstanden, aber die Gegend sei zu kalt und trostlos, als dass sie sich lange hielten. Sie, Grazina, und ihr Mann hätten sich geweigert, wegzuziehen, und sich dafür entschieden, ihre verseuchten zwei Stockwerke am Fluss zu behalten. »Unser Leben ist hier. Ich habe in diesem Wohnzimmer geheiratet, Herr des Himmels. Wie könnten wir da weggehen?« Sie warf die Arme hoch. »Jedenfalls ist eine neue Pflegerin gekommen — gleich nach Janet. Ich habe ihr Auto die Straße da langkommen sehen, und dann bleibt sie stehen. Mit ihrem kleinen Telefon ruft sie irgendwen an, und dann wendet sie und saust gleich wieder weg. Ich habe sie nie wiedergesehen. Kein Mensch will in dieser gottverlassenen Ecke bei einer alten Frau wohnen. Inzwischen stehe ich wieder auf der Liste, wer weiß, wie lang es diesmal dauert.« Sie legte die Unterarme auf den Tisch, beugte sich vor, und ihre Stimme wurde weicher. »Hör zu, wenn du wirklich nirgendwohin kannst, wie du gesagt hast, dann kannst du so lange bleiben, wie es nötig ist. Um wieder zu dir zu finden. Aber keine Angst, ich bin kein Pflegefall, kapiert? Ich bin hier lange genug allein zurechtgekommen. Und du hast immer noch deine Mutter, ja? Vielleicht musst du zu ihr gehen und die Sache einrenken.« Sie nahm einen Schluck Tee, sah ihn über den Tassenrand hinweg an. »Ein Sohn sollte vor allem Frieden mit seiner Mutter schließen.«

Den Kopf unterm Gewicht ihres Angebots gebeugt, hörte er zu. Doch noch bevor sie fertig war, wusste er, dass er ja sagen würde. Denn er hatte noch nie etwas abgelehnt, was er umsonst bekommen hatte, und genau deswegen war er überhaupt erst in die Lage geraten, in der er sich befand.

»Du magst nicht zufällig mit einer verrückten Eulen-Lady zusammenwohnen, oder?« Sie kicherte nervös.

Der Stuhl knarrte, als er sich blinzelnd zurücklehnte. »Meinen Sie das ernst?«

Sie nickte über ihre Brille hinweg.

Er nahm ihre Hand und hielt sie, überrascht von seiner Erleichterung. »Aber nur, bis ich wieder auf die Beine komme, ja? Dann sind Sie mich los.«

Wie lang er das durchziehen würde, war nicht abzusehen — aber es war eine Engstelle, die zu nehmen sich durchaus lohnte, ein schwacher Nebenfluss, der zumindest irgendwohin führen müsste.

Grazina senkte den Kopf, sodass ihr das Haar auf die Unterarme und den fettigen Teller fiel. Als sie das Gesicht hob, saß ihre Brille schief, und in ihren Augen standen Tränen. »Wir bilden ein gutes Gespann, ja? Wir kommen mit dem zurecht, was der Herr uns beschert.« Sie atmete aus, zündete ihre beiden letzten Zigaretten an und gab ihm eine. »Glaubst du an Gott, Junge?«

Er nahm einen langen Zug und überlegte. »Manchmal ist er wohl schon irgendwie da.«

»Eindeutig nicht so oft wie der Teufel«, sagte sie kichernd, und hinter dem Rauch blinkte ihre Zahnlücke auf.

3

Nicht lange, und die Tage wurden zu Wochen, und die beiden Fremden in der Hubbard Street 16 fanden zu einem stetigen Rhythmus. Hais Hauptaufgabe bestand darin, dafür zu sorgen, dass Grazina ihre Vitamine nahm, wie sie gesagt hatte, nur dass sich diese »Vitamine« als ein Plastikkasten voller rezeptpflichtiger Medikamente erwiesen. »Für meinen Verstand«, sagte sie achselzuckend.

Der Kasten war ein einziges Durcheinander, Apothekentüten mit verblasstem Aufdruck, zerknülltes Papier, verklebt mit halb geschmolzenen Hustenbonbons, Rezepte mit vergilbten Rändern und bunt zusammengewürfelte leere und volle Fläschchen. Hai ordnete die Rezepte und sortierte die Tabletten in eine rosafarbene Pillenbox, die mit den Wochentagen beschriftet war. Das bedeutete, die Form und Größe jeder einzelnen der dreizehn Tabletten auswendig zu kennen. Jeden Tag musste sie drei Gabapentin gegen Nervenschmerzen im Rücken, eine Lipitor zur Senkung des Cholesterinspiegels, eine Zoloft, zwei Aricept und zwei Namenda gegen Wahrnehmungsstörungen, eine Paroxetin, ein Antidepressivum, das auch gegen Halluzinationen wirkte, zwei Lisinopril gegen hohen Blutdruck und zum Frühstück eine Kalziumtablette nehmen.

Aus Arztbriefen, die er aus einem Umschlag in der Kommodenschublade zog, erfuhr er, dass man bei Grazina im Sommer 2004, also vor fast fünf Jahren, eine frontotemporale Demenz mittleren Stadiums diagnostiziert hatte. Er erfuhr außerdem, dass man bei Auslassen einer einzigen Dosis Aricept einen »klassischen Anfall« riskierte: zeitliche Desorientierung, Erregungszustände, Paranoia, Größenwahn und sogar unbegründete plötzliche Wut.

Dennoch meisterten sie diese ersten Wochen, überließen sich den ereignislosen Stunden und strickten sich so etwas wie ein Leben zusammen. Wie die meisten Menschen verbrachten sie ihre Tage damit, im Wohnzimmer Kabelfernsehen zu schauen. Besonders gern sah Grazina The Office, das sie allerdings oft mit den Nachrichten verwechselte, da die Naheinstellungen von Gesprächen zwischen Figuren in Anzug und Krawatte Sonderberichten ähnelten. Dann wandte sie sich nach einer Weile Hai zu und sagte: »Wann kommt denn jetzt das Wetter, Labas?« Ein andermal, während The Price Is Right, als sie den Preis eines Bücherschranks rieten, fuhr sie fort, die Namen von Einrichtungsgegenständen aufzuzählen, von denen er, der in Sozialwohnungen mit von der Heilsarmee gespendeten Möbeln groß geworden war, noch nie gehört hatte. »Plüschsofa mit Federkern 90 Dollar, Anrichte in Eiche weiß 145 Dollar, Diwan mit handgeschnitztem Holzgestell 340 Dollar.« Als betete sie einen Rosenkranz, hörte sie überhaupt nicht mehr auf, auch während der Werbepause nicht.

Um sich zu vergewissern, dass ihr Verstand so funktionierte, wie er sollte, kontrollierte er sie zuweilen, indem er sie fragte, wer der Präsident sei. Diese Frage hatte er auch seiner vor Jahren gestorbenen Großmutter, seiner bà ngoại, gestellt, wenn sie einen ihrer Anfälle von Schizophrenie hatte. Wenn er etwa für ihre Wäsche die Badewanne volllaufen ließ und ihm auffiel, dass Grazina schon ein bisschen zu lang still war, drehte er das Wasser ab, trat an die Treppe und rief: »Grazina! Wer ist der Präsident?«

»Herr des Himmels!«, schrie sie verärgert zurück. »Obama!«

»Okay, gut. Danke.«

Außerdem zählten zu seinen Aufgaben zwei Gänge pro Woche zu dem Laden auf der anderen Seite der Brücke, um Lebensmittel einzukaufen. Als er das erste Mal ging, behielt sie ihn vom Fenster aus im Auge, bis er drüben war, falls er wieder in Versuchung geriet, eine Dummheit zu machen. Ihr Lieblingsessen war das tiefgekühlte Salisbury Steak von Stouffer‹s, das Gericht, das es mit einem winzigen Klacks Brownie gab, der während der dritten Minute in der Mikrowelle fest wurde. Auf ihrer elektronischen Sozialleistungskarte war so viel Guthaben, dass sie sich etwa dreimal die Woche Stouffer’s leisten konnten. Er fragte sich, welchen Eindruck er wohl machte, wenn er mit einem schwarzen Müllsack voller Tiefkühlgerichte über der Schulter über die Eisenbahnbrücke rannte, während alle paar Minuten eine alte Lady aus ihrem Fenster schrie, dass weit und breit kein Zug zu sehen sei. Sein Laster waren Pop Tarts, die er im 48er-Karton kaufte, in seinem Zimmer aufbewahrte und ungetoastet, in Instantkaffee eingetunkt, aß.

Ab der zweiten Woche verstand er sich besser darauf, ihre Körpersprache und sogar Veränderungen in ihrer Stimme zu deuten. Falls sie beispielsweise anfing, mit dem Bildnis der Jungfrau Maria zu reden, das im Esszimmer hing, oder plötzlich beschloss, im Haus umherzuwandern, und dabei Eulenfigürchen in ihre Taschen steckte, war es Zeit, das nächste Medikament eine Stunde früher zu nehmen. Außerdem zeigte er ihr, wie man die Mikrowelle bediente und wie man die Antenne an dem alten RCA richtete, wenn das Bild wegblieb, und er brachte ihr die Knöpfe der Fernbedienung bei, alles Dinge, die sie bis zum Beginn der Abendnachrichten wieder vergessen hatte. Der demente Verstand, lernte Hai, konnte einer dieser Zaubermaltafeln gleichen, die er als Kind gehabt hatte: einmal kurz geschüttelt, und das Bild löst sich in einer grauen, übernatürlichen Leere auf. Oder, noch schlimmer, wenn der Verstand selbständig Dinge zeichnete, um die Lücken zu füllen, wie einmal nach wenigen Tagen, als Hai von den Geräuschen einer lebhaften Unterhaltung im Erdgeschoss erwachte. Seinem Nokia-Klapphandy zufolge war es 4:53 Uhr. Er ging in seinen Boxershorts nach unten, das Haus von der frühen Stunde in bläuliches Licht getaucht und kühl, und fand Grazina in der Küche sitzend vor, wo sie ein Gespräch mit einem an den Tisch geschobenen Stuhl führte. Als sie ihn sah, zeigte sie auf den Stuhl und sagte: »Labas, sei ein guter Gastgeber und mach diesem netten kleinen Mädchen einen Tee. Sie ist den ganzen Weg von Schenectady hergekommen, ist es zu fassen?«

Während er innerlich fast durchdrehte, brachte er sie wieder zu Bett. »Komm wieder, wenn es deinem Vater besser geht, Anna«, rief sie über die Schulter, als er das Licht ausschaltete.

Ein andermal kam er nach dem Duschen nach unten und sah sechs Bleche frisch zubereitete Kohlrouladen, die auf sämtlichen verfügbaren Stellflächen in der winzigen Küche abkühlten. Grazina saß zusammengesackt, schwitzend und schwer atmend auf dem Stuhl, der dem Fenster gegenüberstand. »Labas, was ist los?«, sagte sie, ohne aufzublicken, offenbar über sich selbst erschrocken. »Was habe ich getan?«

»Haben Sie Hunger oder so was?«, fragte er dümmlich.

»Es ist wegen Lina, meiner Tochter. Sie hat mich angerufen« — sie rang die Hände —, »hat gesagt, sie kommt zum Essen. Hat gesagt, sie ist endlich von der Flasche weg und hat jetzt wieder Appetit. Habe ich genug gemacht? Sie ist ein kluges Mädchen.« Sie bedachte Hai mit einem einfältigen Blick. »Sie unterrichtet Englisch als Fremdsprache, weißt du. In Pleasanton, Texas.«

»Und sie ist bloß wegen Ihrer Rouladen den ganzen Weg gekommen? Sie muss Sie furchtbar vermissen.«

Grazina nickte. »Das da drüben ist sie.« Sie zeigte auf die Kommode, wo inmitten der Horde von Eulenfiguren ein sepiabraunes Foto von einem breit lächelnden Mädchen mit Pferdeschwanz stand. »An dem Tag hat sie den Buchstabierwettbewerb der fünften Klasse gewonnen.«

Hai legte ihr die Hand auf die Schulter und ließ sie dort liegen, bis Grazinas Atemzüge sich beruhigten. Er half ihr aufzuräumen, verteilte die Rouladen auf sämtliche Tupperdosen, die er finden konnte, und verstaute sie im Kühlschrank und in der Gefriertruhe. Dann nahm er ihre Hand in seine, ein Kniff, den er schon bei seiner bà ngoại