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Der Kampf um die Wahrheit und Schatten Die Hüter des Herzens Ein uraltes Fragment. Eine Festung aus Lügen. Fünf Menschen, die keine Helden sein wollten – und doch zu Hütern wurden. Als ein verborgenes Herz aus Licht und Schatten erwacht, geraten Elena, Jonas, Malik und der Wächter in einen Strudel aus Intrigen, Verrat und uralten Mächten. Jeder von ihnen trägt Geheimnisse, jede Entscheidung fordert Opfer. Doch nur gemeinsam können sie das Fragment ertragen – und damit eine Wahrheit, die größer ist als ihr eigenes Leben. Zwischen den Flammen Roms, den Hallen der Lügen und der letzten Bastion der Gilde entscheidet sich das Schicksal der Welt. Doch der Preis der Wahrheit ist hoch – und nicht jeder, der ihn zahlt, überlebt. Ein Fantasy-Abenteuer voller Spannung, Mysterien und epischer Kämpfe um Licht und Schatten.
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Seitenzahl: 181
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Der Kampf um die Wahrheit und Schatten Hüter des Lichts
Ein Fantasie - Abenteuerroman von Ben D. Schwandt
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Kapitel 1 – Die verschwundene Fracht
Der Wind roch nach Salz und kaltem Eisen, als Elena Vargas am Kai 17 von Puerto Esperanza stehen blieb. Drei Container standen offen wie aufgerissene Münder. Der Hafenmeister lief neben ihr her, die Hände tief in einer Weste, die zu groß war für seinen Körper und zu klein für seine Sorgen.
„Dreihundertachtzig Kisten Monazit, deklariert für den Transferkorridor Nord–Ost–Afrika. Gestern Abend hat das System die Übernahme gescannt. Heute Morgen sind die Paletten leer“, sagte er. „Kein Alarm. Keine Abweichung. Nichts.“
Elena beugte sich über die Versiegelung. Das Band war unbeschädigt. Darunter lag eine zweite Schicht – perfekt nachgeahmt, bis in die Mikrokerbe, die nur interne Prüfer kannten. Sie nahm ihr Kom-Gerät. „Vargas an Zentrale. Ich brauche einen Delta-Check auf den Transfer-Hashes von Konvoi ES-041. Priorität Rot.“
Ein Klicken. Dann Dr. Malik Arans ruhige Stimme: „Verbinde dich. Ich seh’s mir an.“ Elena wischte über die Projektionsfläche auf ihrem Handgelenk. Die Abfolge der Logistik-ID, Zeitstempel, die Routen-Queuing – alles
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makellos. Zu makellos. Ihr Blick blieb an einem Artefakt hängen, das wie zufällig flackerte: Millisekundenversatz in den Wärmekameras, identisch in vier Terminals. Kein Zufall. Ein sauberer, synchroner Fehler. „Malik?“, fragte sie.
„Ich sehe es. Jemand hat das Verteilungs-OS nicht gehackt, sondern nachgebaut. Ein Schatten-Stack, der die echten Events spiegelt und deine Sensorik füttert. Wer immer das ist, er hatte Zugang zu Hardware-Schlüsseln.“ Elena hob den Kopf. Über den Kränen hingen Möwen, die nicht wussten, dass mit den Kisten, die heute fehlten, morgen ganze Fertigungslinien in Ghana stehen bleiben würden. Seltene Erden für Solarmodule. Ohne sie würden Dörfer warten, Flotten stillstehen, Wasserpumpen schweigen.
„Wer hat die Nachtschicht gefahren?“, fragte sie in die Runde.
Der Hafenmeister kratzte sich im Nacken. „Automatisiert, bis auf zwei Techniker. Einer ist…“ Er stockte. „Einer ist nicht zum Dienst erschienen.“
„Name.“
„Yara Monteiro.“
„Adresse.“
„Kein fester Wohnsitz. Dockarbeiterin, springt
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ein, wenn’s brennt.“
Elena nickte. „Dann brennt es wohl.“ Sie stapfte zum dritten Container, zog die Handschuhe fest und fuhr mit der Fingerkuppe entlang der Innenwand. Feiner Staub blieb an der Kante haften – nicht vom Erz, sondern vom Kühlgel eines mobilen Krypto-Clusters. Jemand hatte hier gerechnet. Viel. Sie hob die Finger in den Wind. Das Gel roch schwach nach Menthol.
„Sie sind noch nicht weit“, murmelte sie. „Wie bitte?“, fragte Malik.
„Jemand lässt uns glauben, es gäbe keine Spuren“, sagte Elena. „Aber Spuren sind stur. Sie bleiben, bis man sie sieht.“
Sie drehte sich um. Hinter ihr stand ein Mann mit Kamera und zu schlauer Miene. „Jonas Keller“, sagte er und hielt die Presse-ID hoch. „Sieht aus, als hätte die Gerechtigkeits-Ökonomie ein Leck.“
„Verschwinden Sie von meinem Tatort, Herr Keller.“
„Ich verschwinde nie, wenn etwas beginnt“, sagte er, und sein Lächeln war mehr Waffe als Gruß.
Elena entschied, ihn zu ignorieren. „Malik, zieh mir den Schatten-Stack auf. Ich will wissen, wo er endet.“
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„Wenn er sauber gebaut ist, endet er genau da, wo er begann“, entgegnete Malik. „Bei uns.“ Elena spürte den alten Stich im Bauch, den sie seit dem Übergang ins Ressourcensystem für erledigt gehalten hatte: Wut. Nicht auf die Täter. Auf die Möglichkeit, dass die neue Welt die alten Schatten nicht kennt – und gerade deswegen von ihnen gefressen werden könnte. „Nicht bei uns, Malik“, sagte sie leise. „Bei denen, die glauben, dass Knappheit Macht ist.“ Der Hafenmeister trat nervös von einem Fuß auf den anderen. „Was soll ich der Koordinationsstelle sagen?“
Elena sah zu den offenen Mäulern der Container.
„Sagen Sie ihnen die Wahrheit“, sagte sie. „Sagen Sie, dass jemand das Herz der Verteilung anfasst. Und dass wir ihm die Hand abschlagen.“
Kapitel 2 – Schatten-Stack
„Ich geb’ dir fünf Minuten“, knurrte Jonas und drückte den Rücken gegen die kalte Betonwand, während Elena die Tür zu Lagerhalle 3 öffnete. Der Geruch von Öl, Salzwasser und altem Kaffee schlug ihnen entgegen.
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„Du gibst mir gar nichts“, sagte Elena. „Du atmest still und bleibst hinter mir.“ Die Halle war fast leer. Fast. In der Mitte stand ein offener Kasten, der eben noch ein Generator gewesen sein mochte. Daneben lagen Kabel, säuberlich gerollt, als hätte jemand aufgeräumt. Zu sauber.
Elena kniete sich hin. „Hier lag der Cluster“, murmelte sie. „Vier Rigs, luftgekühlt. Sie haben die Hash-Signaturen on-site generiert und in den Schatten-Stack gepusht.“ „Warum vor Ort?“, fragte Jonas, dessen journalistische Neugier schneller war als seine Vorsicht.
„Weil sie die Latenz brauchten. Der Stack musste die echten Sensoren in Echtzeit spiegeln.“
„Klingt teuer.“
„Ist es.“
Elenas Kom-Gerät vibrierte. Malik. „Ich habe was“, sagte er. „Der Schatten-Stack hat Proxy-Knoten. Drei. Einer davon – kleine Ironie – liegt in einem Kloster in Asturien. Aber die anderen zwei sind spannend: eine alte Freihandelszone in der Sahara, long gone, und… ein Behördenknoten in Genf.“ Elena fror ein. „Genf?“
„Genau. Genf.“
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„Dann ist es kein Diebstahl mehr“, sagte Jonas leise. „Das ist Politik.“
Elena trat an einen Seitenraum, in dem nur ein provisorischer Tisch und zwei Pappbecher standen. Auf dem Holz war ein Muster eingeritzt: ein Kreis mit drei Punkten – alt, einfach, fast kindisch.
„Kennst du das?“, fragte Jonas.
„Jeder kennt das“, antwortete sie. „Die drei Punkte, die an die zehn Stufen* erinnern. Verbundenheit. Teilen. Vertrauen.“ „Das hier ist kein Vertrauen.“
„Genau deswegen ritzt man Symbole in Tische“, sagte Elena. „Weil man sich selbst überzeugen will.“
Sie fotografierte das Symbol, dann die Kanten der Halle, die zu sauber waren. Ihre Finger glitten über die Wand. Ein Hauch von Menthol. Wieder.
„Yara Monteiro?“, fragte Jonas.
„Vielleicht Zeugin. Vielleicht Schlüsselfigur. Vielleicht tot.“
„Zynisch.“
„Erfahrung.“
Elena atmete durch. „Malik, ich will die Begründungslogs aus Genf. Jede Abweichung im Autorisierungsweg der letzten 72 Stunden.“ „Wenn ich das anfrage, schreie ich die Gilde
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wach“, sagte Malik.
„Welche Gilde?“
„Nenn es, wie du willst. Irgendjemand, der Schatten baut. Die nennen sich sicher nicht ‚Gilde der Schatten‘, aber sie existieren. Und sie haben Freunde in hohen Häusern.“ Jonas hob die Kamera. „Ein Zitat?“ „Keines von mir“, sagte Malik. „Und Elena? Pass auf Keller auf. Wenn er recht behält, überlebt er es nicht.“
Die Verbindung brach ab.
„Das war charmant“, sagte Jonas. „Dein Doktor mag mich.“
„Er mag Daten. Menschen sind Störgrößen.“ Elenas Blick blieb an einem feinen Abdruck auf dem Beton hängen, kaum zu sehen. Ein halbes Reifenprofil. Der Rest war verwischt, doch an der Flanke klebte etwas wie dünnes Blattgold.
Sie hob es auf. Es war kein Metall. Es war ein Etikett. Ein winziger QR mit einem Logo: Helios Logistics.
Jonas pfiff. „Die sind offiziell raus aus dem Spiel, seit die Verteilungsbehörde die Transporte übernommen hat.“
„Offiziell“, sagte Elena. „Und inoffiziell fahren sie noch immer – für die, die nicht warten wollen.“
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„Oder nicht teilen.“
Elena steckte das Etikett ein. „Wir fahren nach Genf.“
„Und Yara?“
„Wenn sie lebt, finden wir sie. Wenn sie tot ist, findet sie uns.“
Jonas blinzelte. „Das ergibt keinen Sinn.“ „Für Täter schon.“
Kapitel 3 – Genf, sauberer Boden
Der Himmel über Genf war so klar, dass man meinen konnte, diese Stadt sei immun gegen Schmutz. Elena mochte diese Lüge. Sie hielt die Sinne scharf.
Malik erwartete sie in einem Café, das aussah, als hätte jemand die Zukunft aus Glas gegossen. Er trug ein Hemd, das nie Falten bekam, und Augenringe, die es sollten. „Ich bin nicht über die Hauptschleuse gegangen“, sagte er, ohne Begrüßung. „Zu viele Blicke.“
„Und die Logs?“
Er drehte das Display zu ihr. Linien, Knoten, Einträge. Elena mochte das Geräusch, das Zahlen in Maliks Kopf machten, wenn sie zu Mustern wurden.
„Hier“, sagte er. „Eine Autorisierung, die es
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nicht geben dürfte. Sie ist korrekt signiert, aber der Schlüssel ist nur ausgemietet – ‚Temporary Trust Token‘. Offiziell für Wartungsarbeiten.“ „Wer hat ihn ausgestellt?“
„Eine Nebenstelle, die es seit einem Jahr nicht mehr gibt. Aufgelöst. Im System: ‚inaktiv‘. In der Realität: perfekt aktiv.“
Jonas, der sich ungefragt dazugesetzt hatte, beugte sich vor. „Jemand hat eine tote Stelle zu einem lebenden Knochen umgebaut.“ Malik ignorierte ihn. „Ich habe den Token verfolgt. Er springt zwischen Untermodulen. Normalerweise bleibt so etwas in einer Kette. Hier nicht. Er gleitet.“
„Wer kann so etwas?“, fragte Elena. „Jemand, der den Code kennt. Nicht nur die Dokumentation. Jemand, der assistiert hat, als wir das Verteilungssystem gebaut haben.“ Elena sah zwischen den Zahlen einen Schatten. „Ein Insider.“
„Oder mehrere“, sagte Malik.
„Und Helios Logistics?“, fragte Jonas. Malik zog die Brauen hoch. „Die haben offiziell keine Zugänge mehr. Inoffiziell…“ Er tippte. „… tauchen ihre Geräte in den Wartungslogs auf. Nur als ‚legacy devices‘. Niemand löscht Legacy. Aus Respekt. Oder aus Bequemlichkeit.“
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Elena lehnte sich zurück. „Wenn du Legacy bist, darfst du überall rein. Weil niemand hinschaut.“
„Weil niemand sich traut, die Geschichte zu löschen“, sagte Malik.
Ein leises Surren. Elenas Kom-Gerät vibrierte. Eine anonyme Nachricht, reines Textfeld: Yara Monteiro
Nicht Genf. Nicht Hafen.
Wartungsschacht A-19.
Heute, 22:30.
Komm allein. Oder komm gar nicht. Jonas beugte sich unverschämt nah. „Hafen?“ „Schacht“, korrigierte Elena. „Unter der Stadt.“ „Eine Falle“, sagte Malik.
„Natürlich“, sagte Elena.
„Dann gehen wir nicht“, sagte Malik. „Doch“, sagte Elena. „Aber wir gehen auf unsere Art.“
Sie stand auf. „Ich brauche einen Grundriss der Wartungsschächte, Zugänge, Kameras, blinde Winkel. Und einen Störsender, der nur für zwanzig Sekunden wirkt.“
„Zwanzig?“
„Länger und sie merken es. Kürzer und ich bin tot.“
Jonas starrte sie an, als versuche er, Mut zu wiegen. „Ich komme mit.“
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„Du bleibst oben“, sagte Elena. „Du bist die Verstärkung, wenn ich nicht wieder rauskomme.“
„Das ist das Gegenteil von Verstärkung.“ „Es ist die Definition davon.“
Er wollte protestieren, doch dann sah er ihr in die Augen und schwieg.
Um 22:12 Uhr stand Elena an einer unscheinbaren Metallklappe, auf der nur „Wartung“ stand, als wäre das Wort ein charmantes Understatement. Sie setzte die Lampe auf den Gürtel und rutschte die Leiter hinab. Der Schacht war eng, die Luft kalt, das Echo nah.
22:28. Sie versteckte den Störsender in der Handfläche, atmete durch, hörte das ferne Rauschen der Stadt, das selbst hier unten zu denken schien.
22:30. Schritte. Eine Gestalt am Ende des Tunnels, Kapuze, schmal, schnell. „Yara?“, fragte Elena.
Die Gestalt blieb stehen. Dann hob sie beide Hände.
„Ich bin nicht deine Feindin“, sagte eine junge Stimme. „Aber du bist nicht allein, oder?“ Elena schob die Lampe nur einen Hauch höher. Im Augenwinkel ein zweiter Schatten, hinter Yara, an der Wand klebend, zu ruhig für Angst.
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Zu ruhig für Zufall.
Sie drückte den Störsender. Zwanzig Sekunden, in denen die Kameras blind waren, die Kommunikation stockte, die Stadt nicht hinsah. „Zwanzig“, murmelte sie. „Neunzehn. Achtzehn.“
Der zweite Schatten löste sich von der Wand und trat ins Licht. Eine glatte Maske, kein Gesicht, nur Spiegel.
„Ich habe eine Nachricht“, sagte Yara, die Augen weit. „Nicht für dich. Für den, der dich schickt.“
„Wer schickt mich?“, fragte Elena. „Die, die glauben, dass das System sich selbst gehört“, sagte Yara. „Aber es gehört denen, die es füttern.“
„Und wer füttert es?“
Die Maske nickte kaum merklich. „Wir.“ Elena fühlte das Messer der Erkenntnis. „Gilde“, sagte sie.
Der Störsender tickte: elf, zehn, neun. „Wenn du hören willst, wie man eine Welt zurück in Knappheit stürzt“, sagte Yara heiser, „dann folge mir jetzt. Oder du hältst mich fest – und alles geht weiter.“
Acht. Sie hatte eine Wahl. Sie hasste Wahlen.
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Kapitel 4 – Wartungsschacht A-19
Die Luft im Schacht roch nach Staub und Metall, ein kalter Atem, der aus der Tiefe kam. Elena schob sich vorsichtig weiter, das Licht ihrer Lampe tanzte an den Wänden, wo Kabelbündel wie Adern entlangliefen. Yara ging voran, schlank, leise, der Schatten einer Überlebenden.
Hinter ihr folgte der Mann mit der glatten Maske, stumm, nur der Widerhall seiner Schritte verriet seine Präsenz.
„Warum hier?“, fragte Elena. Ihre Stimme klang gedämpft im Tunnel.
„Weil oben jeder Weg vermessen wird,“ antwortete Yara. „Hier unten zählt kein Maß. Hier unten sind wir frei.“
Elena blieb stehen. „Frei? Das Maß schützt uns alle. Ohne es hätte dein Dorf kein Wasser, kein Strom, keine Zukunft. Du nennst es Fessel – doch es ist das Gegenteil.“
Yara drehte sich um, ihre Augen blitzten im Lichtstrahl. „Das sagst du, weil du auf den oberen Stufen* stehst. Aber frag die, die unten bleiben. Sie fühlen sich wie Zuschauer, während andere hinaufsteigen. Teilen ist ein schönes Wort, Elena. Aber teilen heißt auch, dass jemand entscheidet, was du bekommst –
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und was nicht.“
Ein Knistern lief durch die Kabel, als ob das System selbst lauschte.
Elena spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Yaras Worte trafen einen Nerv. Sie hatte es selbst gesehen: Menschen, die mit dem Aufstieg kämpften, Menschen, die an ihrer eigenen Geduld zerbrachen.
„Und wenn du das Maß zerstörst,“ sagte Elena leise, „was bleibt dann? Knappheit. Schwarzmarkt. Hunger. Die alte Welt. Ich habe sie gesehen – und ich schwöre dir, ich gehe nie zurück.“
Die Maske trat einen Schritt näher, spiegelte Elenas Gesicht in kaltem Silber. „Und doch,“ sagte eine verzerrte Stimme, „brauchst du uns. Zweifel hält Systeme ehrlich. Ohne uns kippt euer Maß in Dogma. Heute verteilen sie Wasser, morgen zählen sie Gedanken.“ Yara legte eine Hand auf Elenas Arm, fast flehend. „Wir kämpfen nicht, um alles zu stürzen. Wir kämpfen, um zu erinnern: Keine Ordnung bleibt ewig rein. Jemand muss die Kanten kratzen, damit ihr wachbleibt.“ Elena blickte zwischen den beiden hin und her. Ein Teil von ihr wollte das Mädchen festnehmen, die Maske herunterreißen, Beweise sichern. Doch ein anderer Teil hörte
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die Wahrheit im Kern: Das Maß war stark – aber verletzlich.
„Dann sag mir, Yara,“ flüsterte Elena, „was ihr wirklich wollt.“
Die junge Frau sah sie an, müde und trotzig zugleich. „Wir wollen ein Maß, das niemand besitzt. Nicht einmal ihr.“
Kapitel 5 – Die Botschaft im Schatten
Der Schacht vibrierte leise, als ob die Stadt über ihren Köpfen atmete. Elena hielt den Blick fest auf Yara gerichtet. Die Maske blieb still, doch sie wusste: Jede Sekunde war gefährlich.
„Sprich,“ sagte Elena. „Wenn du etwas zu sagen hast, dann jetzt.“
Yara holte tief Luft. „Die Gilde hat nicht nur Container gestohlen. Sie hat Zugang. Echten Zugang. Sie sitzen im Herz des Verteilungsnetzes.“
Elena spürte, wie ihr Magen sich zusammenzog. „Das ist unmöglich. Die Schlüssel sind mehrfach verschlüsselt, fragmentiert, von Dutzenden Hütern überwacht.“
„Und doch,“ flüsterte Yara, „sehen sie alles, bevor es verteilt wird. Sie verschieben nicht
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nur Kisten – sie verschieben Entscheidungen. Ein Dorf in Mali wartet länger auf Wasser, eine Klinik in Nepal bekommt ihre Medikamente später, während irgendwo Lagerhallen vollstehen. Es sind kleine Eingriffe, fast unsichtbar. Aber sie wachsen.“
Elena dachte an die Philosophie der zehn Stufen*: Wer aufstieg, tat es durch Teilen, durch Verantwortung. Doch wenn der Fluss der Ressourcen selbst verzerrt wurde, dann kippte das Gleichgewicht. Menschen würden glauben, das Maß sei ungerecht – und das Vertrauen würde bröckeln.
„Warum sagst du mir das?“, fragte Elena. Yaras Stimme bebte. „Weil ich es nicht wollte. Ich bin nur Dockarbeiterin. Sie haben mich benutzt. Ich sollte Spuren legen, Ablenkungen. Aber dann sah ich, was sie taten. Und ich begriff: Wenn das Vertrauen stirbt, stürzt alles. Eure Stufen*, eure Versprechen – alles.“ Die Maske hob den Kopf, als wollte sie protestieren, doch schwieg.
Elena trat einen Schritt näher. „Gib mir Beweise.“
Yara zog etwas aus ihrer Jacke – ein dünnes Pad, alt, verkratzt. „Hier sind die Routen, die verschoben wurden. Es reicht, um den Anfang zu zeigen. Aber wenn du tiefer gehst, wirst du
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sehen: Sie haben einen ganzen Spiegel der Welt gebaut. Einen Schattenplaneten.“ Elena nahm das Pad. Ihr Herz schlug schneller. Ein Schattenplaneten. Eine zweite Realität, in der Ressourcen nach der alten Logik verteilt wurden – Macht, Druck, Knappheit. „Warum erzählst du es mir und nicht den Medien?“
Yara sah sie lange an. „Weil die Medien Geschichten wollen. Du willst Wahrheit. Oder täusche ich mich?“
Elena presste die Lippen zusammen. Sie wusste: Wenn das stimmte, dann ging es nicht nur um Diebstahl. Es ging um das Fundament der neuen Welt.
„Die zehn Stufen* sind nur so stark wie das Vertrauen, das sie tragen,“ dachte sie. „Und Vertrauen stirbt leise, wenn niemand hinsieht.“ Hinter ihr knackte Metall. Der Störsender war abgelaufen. Die Kameras sahen wieder. Die Maske trat zurück in den Schatten. „Unsere Zeit ist um,“ sagte die verzerrte Stimme. „Du weißt jetzt, dass wir existieren. Und das reicht.“ Als Elena den Blick hob, war Yara verschwunden. Nur das Pad blieb in ihrer Hand – und das Gefühl, dass die Zukunft der zehn Stufen* von dem abhing, was sie als Nächstes tat.
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Kapitel 6 – Die Jagd nach dem Schattenplaneten
Das Pad lag auf dem Tisch, als wäre es ein lebendiges Herz. Malik hatte es an sein Terminal angeschlossen, doch seine Stirn glänzte vor Anspannung.
„Die Daten sind roh, unvollständig, teilweise verschlüsselt,“ murmelte er. „Aber das, was ich sehe, reicht. Es gibt tatsächlich ein zweites Netz. Kein Spiegel im simplen Sinn – eher ein Schatten, der sich über das echte legt. Jede Lieferung, jede Umleitung, jedes Paket wird doppelt vermerkt: einmal offiziell, einmal im Schatten.“
Elena stand am Fenster. Unter ihr rauschte Genf, sauber, geordnet, eine Stadt, die so tat, als könne sie Unruhe nicht kennen. Sie ballte die Hände. „Das bedeutet, dass jemand das Maß selbst kopiert hat. Einen zweiten Maßstab – einen Schattenmaßstab.“
„Genau.“ Malik zoomte hinein. „Sie können bestimmen, wo Knappheit herrscht. Und Knappheit ist Macht. Es ist, als würden sie die zehn Stufen* rückwärts drehen. Von Teilhabe zurück zu Privilegien.“
Elena erinnerte sich an Yaras Worte: Wir wollen ein Maß, das niemand besitzt. Doch das
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hier war das Gegenteil. Ein Maß, das in den Händen weniger lag.
„Wenn das öffentlich wird,“ sagte sie leise, „verlieren die Menschen den Glauben. Jeder Ausfall, jeder Engpass – sie werden es nicht mehr als Fehler sehen, sondern als Verrat.“ Jonas Keller, der sich wie immer ohne Einladung dazugesetzt hatte, zog die Augenbrauen hoch. „Und Verrat bringt Schlagzeilen. Große Schlagzeilen.“ „Es bringt Misstrauen,“ korrigierte Elena. „Und Misstrauen frisst Systeme von innen.“ Malik drehte das Pad. „Sie nennen es ‚Projekt Nyx‘. Benannt nach der Göttin der Nacht. Sehr poetisch für ein Verbrechen.“
„Oder sehr zynisch,“ sagte Elena. Jonas beugte sich vor. „Wenn ich das veröffentliche, stürzt die halbe Welt in Panik. Menschen würden denken, die zehn Stufen* seien nur eine Fassade.“
„Darum wirst du es nicht veröffentlichen,“ schnitt Elena ihm das Wort ab. „Noch nicht. Erst müssen wir verstehen, wie tief es reicht. Erst müssen wir das Vertrauen schützen.“ Malik nickte. „Ich stimme ihr zu. Wahrheit ohne Kontext ist Sprengstoff.“
Elena legte die Hand auf das Pad. Es war kalt. „Die zehn Stufen* sind kein Code, keine
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Technik,“ dachte sie. „Sie sind ein Versprechen. Und Versprechen sind verletzlich. Man kann sie nicht beweisen, nur halten.“ „Also,“ sagte sie entschlossen, „wir jagen diesen Schattenplaneten. Nicht, um ihn zu zerstören – sondern um ihn ins Licht zu ziehen.“
Jonas seufzte, doch seine Augen funkelten. „Dann hoffe ich, dass ihr gute Lampen habt. Denn im Dunkeln bin ich zuhause.“
Kapitel 7 – Die Spur nach Asturien
Die Straße nach Asturien wand sich durch grüne Hügel, die im Morgennebel lagen. Elena saß neben Malik im alten E-Fahrzeug, das sie aus der Genfer Flotte ausgeliehen hatten. Jonas folgte in einem zweiten Wagen, widerwillig, aber unaufhaltsam wie ein Schatten. „Ein Kloster als Proxy-Knoten,“ murmelte Malik, während er die Daten auf seinem Pad überprüfte. „Ironisch. Ein Ort der Stille als Tor zum Schatten.“
Elena blickte aus dem Fenster. „Vielleicht passt es. Stille kann heilen. Aber auch verbergen.“ Das Kloster San Telmo erhob sich auf einem Felsplateau, schlicht, mit grauen Mauern, die den Jahrhunderten getrotzt hatten. Ein Ort, der
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nach Gebet roch – und nach Geheimnissen. Ein Mönch öffnete ihnen das Tor. Er war alt, sein Gesicht voller Furchen, die mehr von Nachdenken als von Arbeit erzählten. „Ihr kommt wegen der Leitung,“ sagte er, als hätte er längst gewusst, wer sie waren.
„Welche Leitung?“, fragte Elena. „Die, die durch uns hindurchgeht.“ Der Mönch lächelte matt. „Ihr nennt es Daten. Wir nennen es Fluss.“
Malik zog die Stirn kraus. „Ihr wisst, dass euer Kloster als Knoten benutzt wird?“ „Wissen? Nein. Spüren? Ja.“ Der Alte sah sie an. „Seit Monaten verändert sich der Rhythmus der Leitungen. Früher war es wie Atmen. Jetzt klingt es wie Husten.“
Elena folgte ihm durch die kühlen Gänge. An den Wänden hingen alte Fresken – Szenen von Teilung, Mahlzeiten, Händen, die Brot weiterreichten. Es erinnerte sie an die Philosophie der zehn Stufen*.
„Teilen war immer das Fundament,“ murmelte sie. „Ob in Klöstern, Dörfern oder Städten. Die zehn Stufen* haben es nur sichtbar gemacht.“ „Und was, wenn jemand das Teilen stört?“ fragte Malik.
Elena blieb stehen. „Dann beginnen Menschen, wieder zu zählen. Und wenn sie zählen,
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beginnen sie zu vergleichen. Und wenn sie vergleichen, wächst Neid. Das ist der Anfang vom Ende.“
Im Technikraum des Klosters standen alte Serverracks, die wie Fremdkörper wirkten zwischen den Steinmauern. Kabel liefen durch jahrhundertealte Fensterbögen, Summen erfüllte die Luft.
Malik verband sich mit dem Hauptknoten. Sekunden später wurde er blass. „Da ist er. Der Schattenplan. Direkt hier gespiegelt. Sie leiten die Daten doppelt – durch unsichtbare Kanäle, die sich tarnen wie Gebete.“
Elena legte die Hand auf den kalten Stahl. „Und die Welt glaubt, gerecht versorgt zu werden. Während jemand anders längst bestimmt, wer steigt – und wer fällt.“ Ein dumpfes Geräusch ließ sie herumfahren. Jonas stand in der Tür, die Kamera halb erhoben. „Das ist größer, als ihr denkt,“ sagte er leise. „Ich habe schon Namen.“ „Welche Namen?“, fragte Elena.
Jonas lächelte schmal. „Leute, die im alten System Könige waren. Sie haben nie akzeptiert, dass das Maß sie zu Dienern macht.“ Die Worte hallten in den Steinmauern wie ein fernes Echo.
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Kapitel 8 – Die Namen der Könige
Die Luft im Serverraum des Klosters war stickig, Kabel summten wie Insekten. Malik tippte fieberhaft auf sein Pad, während Jonas mit der Kamera jeden Winkel abfilmte. Elena stand regungslos, die Hand am Griff ihrer Waffe.
„Da“, sagte Malik plötzlich. „Ich habe die Übertragungen entschlüsselt. Sie benutzen Codewörter – alte Rufzeichen. Aber dahinter stecken Namen.“
„Welche?“, fragte Elena.
Er zögerte. „Menschen, die längst in Rente sein sollten. Alte Vorstände von Energiekonzernen. Ein Ex-Minister aus Brasilien. Ein Waffenlobbyist, der offiziell tot ist. Sie nennen sich ‚die Könige‘.“
