Der Keim - Tarjei Vesaas - E-Book

Der Keim E-Book

Tarjei Vesaas

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Beschreibung

Tarjei Vesaas (1897–1970) beschreibt in »Der Keim« eine Gruppe von Inselbewohnern, die eine verschworene Gemeinschaft bilden. Ein Neuankömmling auf der Insel bricht in dieses fest gefügte familiäre Miteinander ein und wirft einen dunklen Schatten auf den sonnigen Sommertag. Sein triebhafter Wahnsinn lässt ihn zum Mörder werden – der Mord führt unvermeidlich zu einem zweiten, und die ganze Insel lädt Schuld auf sich. Vesaas schrieb »Der Keim« 1940, einige Jahre vor seinen berühmten Romanen, und leitete nach einem naturalistischen Frühwerk damit die Phase symbolstarker, poetisch verknappter Prosa mit enormer psychologischer Intensität ein. Im Hintergrund klingt noch der traditionelle skandinavische Kollektivroman der Zwischenkriegszeit an. Besonderen Reiz gewinnt das Buch durch sein Entstehungsjahr: 1940 befindet sich Norwegen unter nazideutscher Okkupation, der düstere Eindringling und die Reaktion der Gemeinschaft stehen unter politischen Vorzeichen. Kein zweiter Autor ist in der Lage, das Unbeschriebene und Unausgesprochene mit solch einer Spannung aufzuladen wie Tarjei Vesaas. Und kein zweiter Autor kann sich derart in seine Figuren einfühlen und eine Nähe erzeugen, die einen bei der Lektüre geradezu körperlich erfasst. Vesaas' sparsame, aber umso eindringlichere Erzählweise lässt jede einzelne Szene, jeden Satz und jede innere Regung zum Ereignis werden, und Hinrich Schmidt-Henkel gelingt in der Übersetzung das Kunststück, dieses filigrane Spiel von Andeutung und Auslassung, von Zurückhaltung und Übersprungshandlung haarfein nachzubilden.

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Tarjei Vesaas

DER KEIM

Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel

Mit einem Nachwort von Michael Kumpfmüller

GUGGOLZ

I

DER ABGRUND

1

Die beiden Sauen lagen lang und schwer in den Koben. Grau von gestocktem Schlamm. Die Koben waren mit starken Bretterverschlägen unterteilt und lagen an der Seite der Scheune. Diese Koben unter freiem Himmel verband eine besudelte Türöffnung mit dem eigentlichen Schweinestall drinnen.

Die Sonne brannte in die Koben, und die Sauen grunzten leise, wie sie ausgestreckt am aufgewühlten Boden lagen. Ihr Grunzen war ein Laut, der von tiefem Frieden zu zeugen schien und von Einsamkeit. Doch sie waren durchaus nicht einsam, ihre Laute täuschten.

Es waren Muttersauen.

Beide hatten sie rund ein Dutzend gleichalter Ferkel zu versorgen – und jetzt lagen die Kleinen in einer glänzenden Reihe neben der auf der Seite ruhenden Sau, sie winselten und quiekten leise und sogen. Die Jungen hatten die Zitzen untereinander aufgeteilt, jedes hatte seine eigene, trotzdem gab es Streit, ab und zu stieg in kleinen Wellen Lärm auf. Die Mutter beachtete es keinmal, und der Koben beruhigte sich bald wieder zu sattem Grunzen und Schnauben, während zwölf kleine Hinterteile sich voller Lebenswonne ringelten. Mitten in den Wohllaut stach bisweilen ein kurzes, erbostes Quieken, weil die Milch nicht schnell genug in die Kehle rann. Dann wälzten sie ihre glatten Kinderleiber auf die Seite und schlummerten weg. Ab und zu blinzelten sie kurz aus blassblauen, unschuldigen Ferkelaugen.

So ging es auf beiden Seiten der Absperrung. Große Ruhe, unterbrochen von kurzem Aufruhr. Ein stechend saurer Gestank stieg von dem Ganzen empor, aber den nahm, wer hier wohnte, nicht mehr wahr.

Dennoch lauerte mitten in dieser schläfrigen Ruhe etwas Bedrohliches. Was man da sah, dem war nicht ganz zu trauen. Allzu glänzend standen lange Reißzähne aus den Schweineschnauzen hervor. Zähne, die aus der Schwarte ragten – unter der sich vorwölbenden, zu Falten geschobenen und verdunkelten Stirn.

Die Ferkelchen waren dagegen freundlich und rosafleischig, sie glänzten von Fett und kindlicher Anmut.

Da fuhr ein Ruck durch alle zusammen: Ein Laut kam von der anderen Seite des dichten Plankenzauns, von außerhalb der Schweinekoben. Ein in keiner Weise angenehmer Laut, der gleich wieder in sich erstarb. Erstickt, aus welchen Gründen auch immer.

Die Sau hob leicht den Kopf, so dass ihre Lefzen über die hässlichen Zähne rutschten. Sie lauschte, schien zu erwarten, dass noch mehr von jenseits der Absperrung käme. Das war aber nicht der Fall, und sie ließ sich wieder sinken.

Die Ferkel hatten es nur als ein unbewusstes Zucken des Specks wahrgenommen. Die Milch rann ihnen allzu süß in die Kehle und den Bauch. Das nahm sie ganz in Anspruch. Sie waren schön trocken jetzt in der Sonne, mit silberfeinem Flaum – und hatten jedes seine Zitze, die niemanden sonst was anging. Alles war genau so, wie es sich gehörte. Der gefährliche Laut drang nicht zu ihnen durch.

Die Sau, die hatte es gehört. Doch sie ließ sich wieder sinken und bleckte nur den grausigen Zahn. Sie hatte gehört, dass ihr Mann seine Stimme erhob. Es sah nicht aus, als würde sie freundliche Gedanken für ihn hegen.

Da jenseits des Zauns lag der Eber, in einem extra verstärkten Koben. Ganz für sich. Lang ausgestreckt, mager und hässlich. In die hoffnungslose Ödnis gesperrt, für die er selbst gesorgt hatte. Den Untergrund hatte er so zertrampelt, dass kein Hälmchen mehr übrig war. Nur noch Schlamm und unfruchtbare Erde und schmutziggraue Steine.

Er bot dem Auge einen ausgesprochen wenig erfreulichen Anblick, mit seinem schlaffen Leib und all den wilden struppigen Borsten, und mit dem wüsten Zug im Gesicht. Er war alt und hatte zahllose Kinder gehabt. Zu Gesicht bekam er sie nie, hörte sie nur in den umliegenden Koben lärmen – in der kurzen Zeit, die sie dort lebten. Gleich nach ein paar Wochen kamen sie weg. Der Eber selbst blieb hier, immer hässlicher anzusehen.

Er stützte sich auf die Vorderpfoten, die Stirn missvergnügt gerunzelt. Das Leben war langweilig. Und die Luft allzu heiß.

Die Ohren hingen ihm bis übers Kinn, die Spitzen sogar noch etwas tiefer. Er sperrte sein kantiges Maul zu einem leeren, tonlosen Gähnen auf. Hörte von irgendwoher gedämpfte Ferkelgeräusche. Zu zehnt, zwölft, vierzehnt aufs Mal kamen sie zur Welt, er wusste es nicht, wusste es vielleicht doch irgendwie. Bekam sie nie zu sehen. Aber es waren offenbar viele. Er gähnte und vergaß, die Schnauze wieder zu schließen.

Drinnen im eigentlichen sommerheißen Schweinestall herrschten Aufregung und Lärm – im scharfen Gegensatz zu draußen. Die jüngste vollwüchsige Sau war dabei, ihren Haufen Ferkel zur Welt zu bringen.

Ein Mädchen saß dabei und schaute, dass alles seinen guten Gang ging. Aber sie starrte abwesend vor sich hin.

Zahllose Fliegen summten. Alle Öffnungen des Gebäudes standen weit auf. In der kräftigen Sonne war der Gestank aus den Koben noch aufdringlicher. Die Fliegen surrten faul, als wären sie bereit, jederzeit in einer dunklen Ecke einzuschlafen.

Das Mädchen war jung. Sie saß gekrümmt auf einem Hocker. Beugte sich vornüber, die anmutigen Mädchenarme in den Schoß gepresst. Sie war mit dem, was hier vor sich ging, wohlvertraut, alles lief, wie es sich gehörte, also machte etwas anderes sie so angespannt und gedankenschwer. Sie dachte: Ich bin nicht glücklich. Es müsste anders sein. Aber was eigentlich ? Nein, das war irgendwie nicht ganz klar.

Der Schweinestall war Teil einer großen, rot gestrichenen Scheune. Sie gehörte zu einem Hof, der auf einer kleinen, grünen, fruchtbaren Insel lag, in einer Meeresbucht, die Schutz vor dem ruppigen Wetter weiter draußen bot. Etliche Höfe befanden sich auf der Insel. Zwischen Baumgrüppchen und Hügeln. Die Erde war aufgetrieben, weil sie so üppigen Ertrag brachte. Jetzt war es Anfang Herbst. Die Kornmahd war vollbracht. Andere Feldfrüchte reiften noch weiter.

Über der Insel lag ein Moment des Ausruhens. Einer von diesen halben freien Tagen, die es geben konnte, wenn Wachstum und Wetter danach waren. Eine Zeit zwischen der Feldarbeit – die viele nutzten, um Extraarbeiten zu erledigen, die aber ebenso viele gern ein bisschen vertrödelten. Sie fanden, das hätten sie verdient.

Die gemähten Wiesen waren immer noch grün, die Äcker leuchteten. Bald hieß es wieder arbeiten, bis der Schweiß troff. Vielleicht gleich morgen. Manche waren irgendwo weit draußen auf See und fischten. Kamen weder heute Abend zurück noch morgen. Die meisten hier lebten von der Erde, sie war freigebig und zuverlässig.

Doch heute herrschte Ruhe, fast sonntägliche Schläfrigkeit. So auch hier auf dem Hof mit der dunkelroten Scheune. Niemand zu sehen außer dem Mädchen im Schweinestall.

Die Sauen dösten. Wälzten sich so auf die Seite, dass das ganze Dutzend Ferkel seine Zitzen fand. Die Ferkel seufzten in ihrem rosigen Dasein. Der Eber auf der anderen Seite der Absperrung vergaß, nach dem letzten Gähnen die Schnauze zu schließen. Die jüngste Sau ferkelte. Das war alles.

2

Zur selben Zeit tuckerte ein Motor draußen auf dem Wasser, ein offenes Boot näherte sich der Insel. Es legte bei einem der Bootshäuser an und setzte einen Mann ab.

Der Mann zahlte für die Fahrt.

Die im Boot fragten, ob sie ihn abholen sollten, wenn er hier fertig wäre. Offenbar hatte er gut gezahlt.

– Hier fertig ? Wieso ?, fragte der Mann, er schrak irgendwie zusammen. Ich fahre nicht zurück.

– Ach so, sagten sie rasch. Aber zugleich fiel ihnen auf, dass er kein Reisegepäck dabeihatte. Das bemerkte er und sagte:

– Hier, der Zettel ist für meine Sachen drüben beim Anleger des Dampfschiffs. Ihr könnt hinfahren und mir heute Abend alles bringen. Wie ihr auf dem Zettel seht, heiße ich Andreas Vest.

– Ja, wird erledigt, sagten sie und tuckerten wieder davon. Sie schauten den Mann an, aber er hatte sich von ihnen abgewandt. War ganz damit beschäftigt, die Insel vor sich zu betrachten.

Er stand allein auf dem Anleger. Niemand erwartete ihn, niemand holte ihn ab. Er schien noch nie hier gewesen zu sein, sich aber hierher gesehnt zu haben: Er schaute sich neugierig um, durstig auf alles, was er sah, das Wachsen und Reifen überall, das die Luft schwer von Kräuterduft machte – die außerdem noch Seeluft war.

Eine milde Stimme schien tröstend zu sagen:

– Andreas …

Er lauschte darauf. Als hätte er genau das zu hören gehofft. Ein Schleier legte sich über seine scheuen Augen. Offenbar war das genau der Anblick, nach dem er gesucht hatte. Genau hier war es ! Er musste so angreifbar und empfänglich sein, dass es ihn durch und durch erfüllte. Es war, als würde er gern zu jemandem sagen: Danke für den Anblick ! Er sog den Kräuterduft ein, dann blickte er in die Weite, voller Liebe für das, was sich da vor ihm ausbreitete:

– Das ist mal eine grüne Insel …

Niemand hörte das. Keine lebende Seele in der Nähe. Das Tuckern des Motorbootes klang nur mehr gedämpft.

Immer noch stand er bei den Pfosten des Anlegers und den Steinen. Bereitete sich sozusagen auf die Freude vor, die es mit sich bringen würde, wenn er weiterging und all das Schöne und Lebendige aufnehmen würde. Er spürte eine solche Offenheit in sich, es zu erfassen und einzufangen.

Wie ein Jubel:

Hier bin ich noch nie gewesen !

Hier werde ich es endlich finden – wie es aussieht.

Schau, wie es daliegt …

Dann ging er los. Auf das Gras zu und alles, was da wuchs. Es fühlte sich weich an unter seinen Füßen, er ließ sich bei jedem Schritt viel Zeit, als wären seine Fußsohlen nackt und wund. Aber er ging nicht barfuß, er war ordentlich und anständig und zurückhaltend gekleidet.

Dieser Ort auf Erden hieß ihn sozusagen willkommen. Er rief ihn mit dieser leisen Stimme, die man eher spürte, als sie zu hören:

Andreas ! Andreas !

Ja, antwortete er.

Deutlich hörte er diesen Ruf in sich. Er wurde von ihm beim Namen genannt, während er über den fruchtbaren Boden ging. Er fühlte sich erwartet – denn er sehnte sich nach allem, das hier lebte und wuchs und gedieh. Darum war es ganz richtig, dass er hierhergekommen war. Um an diesen himmlischen Gaben teilzuhaben.

Höfe und Häuser lagen vor ihm, große Bäume auf den Hofplätzen, Wiesen um die Gehöfte herum. Die Wiesen von dichten Laubhainen umgrenzt. Gärten und Obstbäume überall.

Hier kam der fremde Mann, Andreas Vest, auf seiner atemlosen Suche nach einem Ort, der Heilung für ihn bereithielte. Er war ein junger Mann, gesund und stark und schön anzusehen, aber in ihm brannte und nagte eine Unruhe, Folge von hässlichen Erinnerungen an Dinge, die er hatte erleben müssen. Dinge, die er loswerden wollte, was ihm aber nicht gelang. Sie hatten ihre Spuren in seinen Zügen hinterlassen. Ebenso wie das ruhelose Umherziehen und Suchen und die Enttäuschungen ihre Spuren dort hinterlassen hatten.

Enttäuschungen hatte er erlebt, eine nach der anderen. Wohin er auch gekommen war, war er auf Dinge gestoßen, die ihm wehtaten und ihn wieder fortjagten. Etwas Angespanntes in seinem Blick erzählte, dass er nahe daran war aufzugeben. Doch dann kam wieder dieser Ruf, meinte er, von neuen, unbekannten Orten, an denen vielleicht zu finden war, was er suchte:

Andreas – komm.

Ja !, antwortete er, ergriffen, und wendete sich sofort dorthin und fand keine Ruhe, bis er dem verhaltenen Ruf folgen konnte.

Wonach suchte er ?

Nach Stille. Frieden. Und nach Grün. Ein nicht zu bändigender Drang war über ihn gekommen, Dinge wachsen, sich nach ihrem eigenen Plan entfalten und vollenden zu sehen. Der Drang, sich dem zu nähern, was für jedes einzelne lebende Ding Vollendung bedeutete.

Davon war er seit einiger Zeit wie besessen. Nachdem er lebendigen Leibes davongekommen war, als die große Fabrik in die Luft ging. Dort hatte er im Büro gearbeitet. Viele Menschen hatten in dieser Fabrik gearbeitet, sie waren mit gefährlichen Substanzen umgegangen. Dann eines Tages explodierte sie. Die Erinnerung daran war unauslöschlich. Der Einsturz. Die Brandnester. Tod. Vernichtung. Bis auf den Grund verbrannt und verrußt. – Viele von denen, die lebend davongekommen waren, hatten heile Nerven bewahrt, er nicht. Er war versehrt, ohne äußere Anzeichen, erfüllt von dieser rastlosen Suche nach Dingen, die er nie fand. Nach diesem Frieden, einem für ihn bestimmten, in dem sich alles vollenden konnte. Und damit hing dieser schlichte Durst nach grünen, guten Feldern zusammen. Danach, zu finden, was an Frucht und gesegnetem Reifen überreich war.

Es trieb ihn von Ort zu Ort. Er hatte noch nicht gefunden, was er zu suchen meinte. Seine Unruhe war ungestillt. Er war immer noch gleich erschüttert und verletzlich durch alles, dem er begegnete.

Von Ort zu Ort.

Jetzt war er hierhergekommen. Und hier war es also, meinte er, und er ging los. Er spürte es mit ganzer Seele: Schau, hier ist es wahrscheinlich. Hier werde ich endlich Heilung finden.

Dann stach ihn etwas und flüsterte: Du hast das schon so oft geglaubt. An jedem neuen Ort hast du es geglaubt. Und dann hat sich ebenso sicher jedes Mal gezeigt, dass du in die Irre gegangen warst. Nichts gefunden hattest.

Ja, ja, aber irgendwo muss ich es finden. Und jetzt scheint es so weit zu sein, so, wie ich die Anziehung spüre.

Es sagte:

Du wirst es niemals finden. Das gibt es nirgends.

Aber darauf hörte er nicht. Er dachte: Weiche von mir, das ist nicht wahr ! Das ist eine Stimme von all dem Schlimmen. Dort war es so. Dort glaubten wir so etwas. Dem war nicht zu entkommen. Aber jetzt, hinterher glauben wir etwas anderes. Wir glauben, dass es das Paradies geben muss.

Horch, wie es hier ein stilles Willkommen ruft:

Andreas …

Hier werde ich Frieden finden.

Frieden ? Du bist so überspannt, dass du überhaupt nichts mehr aushältst. Erschöpft. Erledigt.

Ja, darum wird es so wohltuend sein, Frieden zu finden.

Er ging die sachte Steigung vom Ufer in Richtung der Höfe zwischen den Hainen hinauf. Ringsum wucherte überall still und warm das Grün.

Er kam zu einer Kurve des Sträßchens, und dort saßen zwei Männer im Schatten und stillten ihren Durst. Sie schauten etwas verlegen, dass jemand Zeuge ihres Müßiggangs an einem Werktag war. Ganz offenbar waren sie kräftige Arbeiter, die ein schlechtes Gewissen bekamen, sobald sie nicht mehr schufteten. Und jetzt hatten sie überdies ein bisschen Bier getrunken.

Da sagte der eine:

– Muss man sich nichts draus machen.

Sie sahen, dass das ein Wildfremder war.

Derselbe sagte:

– Wir müssen ja auch nicht mitten auf der Straße sitzen.

Sie schauten den Fremden unverwandt und arglos an und fragten ihn einfach so, wohin er denn wolle ?

– Nirgendwohin, antwortete er, scheu und hilflos.

Sie schauten ihn lachend an, fröhliche, neckende Augen in den wettergegerbten Gesichtern.

– Das passt, du bist ja auch nirgendwo gelandet, sagten sie. Das hier ist eine Insel. Da musst du wohl hierbleiben.

– Wenn du zur Kirche willst, die ist auf der anderen Insel da hinten, scherzten sie.

– Und Sonntag ist heute auch nicht, sagten sie.

– Wenn wir den Pfarrer brauchen, müssen wir zur Nachbarinsel, so ist das, sagten sie.

– Setz dich doch, sagten sie.

– Nein danke, ich will …

Er mochte nicht mehr in ihre bierseligen Gesichter blicken. Ging los.

Sie waren etwas gekränkt.

– Wir heißen Haug und Dal, sagten sie. Aber wir haben dich gar nicht gefragt, wie du heißt.

Dann nickten sie ihm gutherzig zu und tranken einen Schluck von dem Bier, an das sie dies seltene Mal gelangt waren.

Andreas Vest ging einfach weiter hoch. Oben auf einem Hügel lag eine wuchtige dunkelrote Scheune. Er ging auf diesen Hof zu. Aufs Geratewohl. Er hatte nirgends etwas zu schaffen. Ihn rief nur etwas durch die neue Schönheit, die er sah.

3

Der Hof mit der großen Scheune hieß Li. Dieser Hof hatte nicht nur die größte Scheune, sondern auch den größten Obstgarten der Insel. Die Wohnhäuser hingegen waren alt und klein, aber gut in Stand gehalten. Zwei solche kleinen Wohnhäuser. Der Hausherr dort, Karl Li, hatte diese gewaltige Scheune gebaut, mehr hatte er dann nicht mehr geschafft. Hatte sich mit den anderen Häusern begnügen müssen, wie sie von alters her waren, mochten sie auch eng sein. Auch den üppigen Garten hatte er angepflanzt, der den größten Teil der Lebensgrundlage lieferte.

Mari Li, seine Frau, er selbst und ihre beiden Kinder bestellten diesen Garten. Die übrige Landwirtschaft mit Äckern und Wiesen und Vieh wurde von anderen Leuten betrieben. Es wohnten also zwei Parteien auf Li. Eine in jedem Haus. Die den Hof schon so lange betrieben hatten, dass sie jetzt hierhergehörten, waren ein Paar mit Namen Jens und Bergit. Ihre Tochter Helga hielt gerade bei der Sau in der Scheune Wache. Sie hatten nur diese Tochter, in der Erntezeit mussten sie einen Lohnknecht bestellen.

Karl war auf dem Hof zur Welt gekommen und hatte ihn übernommen, als sein Vater starb. Da war Karl Li noch jung. Aber vorher war er zur Schule gegangen und hatte so manches gelernt. Sein Vater hatte sich das knapp leisten können und wollte ihm nicht im Wege stehen, sondern arbeitete hart und beschaffte das Geld, und Karl hatte einen guten Kopf, so hatte er ein paar Jahre in der Stadt gelebt und studiert.

Aber damit war es dann vorbei. Der Vater starb, Karl übernahm Li – gemeinsam mit seiner Mutter. Er hatte dann doch mehr Lust, auf der grünen Insel zu leben, wo er zur Welt gekommen war.

Als er von den Büchern nach Hause kam, tat er drei Dinge mehr oder weniger zur selben Zeit: ein Mädchen von der Insel heiraten, ein großes Wiesenstück zu einem Obstgarten umwandeln, und er baute eine Scheune, viel größer, als man sie auf diesem Hof benötigt hätte. Das größte Bauwerk der Insel.

Es war der Plan, nach der Scheune ein entsprechend großes Wohnhaus zu errichten. Zu der Zeit war es so leicht, Dinge anzugehen, Karl war voller Übermut, so sehr spürte er seine Kräfte. Seine Mutter sagte, er sei dumm, mit dieser ganzen Bauerei würde er sich übernehmen. Aber sie lobte die Tatkraft, mit der er den großen Obstgarten anlegte. Die Leute auf der Insel sagten, so gehe es eben, wenn einer aus den Büchern kommt und auf einmal einen Hof betreiben will.

Die Scheune wurde vollendet und dunkelrot gestrichen, ein schmucker Anblick auf dem sattgrünen Hügel. Aber sie war so teuer gekommen, dass die anderen Baupläne sich selbst erledigten. Außerdem kamen Kinder. Ein Sohn, Rolv, und eine Tochter, Inga. Es war mühsam genug, alles am Laufen zu halten, ohne überdies noch zu bauen. Und so stand die prächtige Scheune allein dort, Zeugin einer Kraftanstrengung, die der Hofeigner als junger Mann vollbracht hatte. »Die Scheune auf Li. So groß wie die Scheune auf Li.« Allerlei solche Wendungen gin gen unter den Leuten auf der Insel um. Auf der anderen Seite konnten sie nicht anders, als Karl Li zu bewundern. Er hatte so was an sich.

Seine Frau Mari und er kamen recht gut miteinander aus. Das ging auch nicht anders, allein um der Arbeit willen, wegen all der ineinander greifenden Dinge, die sie zu tun hatten.

Karls Mutter war gestorben, bevor der große Obstgarten ausgewachsen war, aber den ersten guten Ertrag hatte sie noch miterleben können. Sie hatte gesagt:

– Der Garten wird das mit der Scheune für dich ausgleichen.

Als die Bäume dann so groß waren, dass sie richtig Frucht trugen, brachte der Garten viel Arbeit mit sich, sie erkannten, dass sie am besten Obstbau und den übrigen Hof voneinander trennten. Also verpachteten sie die restliche Wirtschaft und kümmerten sich nur noch um die Fruchtbäume. Dieser Garten lag ihnen besonders am Herzen, er war ihr eigenes Werk. Der übrige Hof war ererbt, sie hatten nichts dafür getan, ihn aufzubauen.

Das Obst aus Li wurde ein Begriff auf den Märkten, die Familie stand sich deutlich besser als zuvor. Und Jens und Bergit, die Pächter des Hofes, kamen ihrerseits auch gut zurecht. Li verfügte über gute Böden. Harte Arbeit und Sicherheit prägten das Leben auf dem Hof.

Rolv war das ältere der beiden Kinder von Mari und Karl Li, und als er siebzehn war, stand er auf einmal vor Karl und fragte, ob er nicht zur Schule gehen könne ? So stand er vor seinem Vater.

– Zur Schule gehen ? Was willst du damit ?

– Ihnen was beibringen !, lachte Rolv kämpferisch. Ich will es so machen wie du.

Er schaute den Vater trotzig an.

Dem versetzte es einen kleinen Hieb, das zu hören. Er erinnerte sich an all die endlosen Bücherregale. Bücher hatte er auch jetzt hier auf Li. Ungewöhnlich viele Bücher, in denen er las, wenn dazu Zeit war. Auch den anderen in der Familie hatte er die Liebe zu Büchern weitergegeben, sie alle lasen gern. Jetzt stand Rolv hier und begehrte auf.

Sein Vater fragte:

– Ihnen was beibringen ? Wem denn ?

– Na jaaa …, sagte Rolv nur unbestimmt.

– Geht es dir nicht gut ? Mindestens so gut wie in einem möblierten Zimmer. Damit kenne ich mich aus. Und du hast auch keine Angst davor, ordentlich anzupacken, das habe ich gesehen.

Rolv arbeitete im Garten, dass es eine Lust war.

– Ich glaube, das Leben hier in unserem Garten wird dir mindestens genauso viel bringen, Rolv. Und vieles, das du woanders gar nicht finden kannst.

– Ich will ja zurückkommen und im Garten arbeiten !, sagte Rolv nur.

– Du willst Zeit vertrödeln, wie ich meinerzeit ?

– Ja, genau was du getan, das will ich, sagte Rolv störrisch.

– Dann werden die schon sehen !, fügte er hinzu, als sein Vater nicht antwortete. – Alle, die uns hier verspotten !

Karl Li hörte das mit Erschrecken. Dass Rolv die alte Geschichte mit dem abgebrochenen Studium schmerzte und er es den Nachbarn jetzt zeigen wollte, indem er dasselbe tat.

– Das brauchst du dir nicht zu Herzen zu nehmen, Rolv, sagte er, wir werden nicht verachtet.

Rolv antwortete nicht. Sein Vater sprach weiter:

– Wir haben es nicht nötig, uns zu wehren, herzlichen Dank, aber das habe ich schon selbst geschafft.

– Du kannst gar nicht wissen, sagte Rolv, was mir das bedeuten würde. Die haben uns verlacht !

– Aber so empfindlich sind wir nicht, antwortete sein Vater. – Wenn du es bist, dann gewöhn es dir ab.

Rolv schaute ihn erschrocken an:

– Willst du es mir verbieten ?

Sein Vater antwortete nicht. Rolv war empfindlich und jähzornig, das wusste er. Aber er hätte nie gedacht, dass diese alte Wunde wegen des Studiums und der Scheune an ihm nagte. Nun konnte er auch nicht wissen, was im Kopf von diesem verschlossenen Jungen vorging. Er war zu Rolv nie so ganz durchgedrungen. Das gab es wohl selten zwischen Vater und Sohn, sie behielten beiderseits Dinge für sich und mochten sich nicht ausliefern. Er war mit Rolv einfach gut ausgekommen, sie hatten sich immer verstanden. Die Arbeit in dem großen Obstgarten hatte sie miteinander verbunden. Der Stolz auf den Garten, die Dankbarkeit dafür, dass es ihn gab. Rolv und Inga hatten mitgearbeitet, seit sie groß genug waren, dass sie sich nützlich machen konnten. Inga war für Rolv der beste Freund. Und auch der einzige. Er gab sich nicht viel mit den anderen Jungs auf der Insel ab. War vielleicht die übertrieben große Scheune der Grund für diese Absonderung ? Es war ihm bislang nie in den Sinn gekommen, dass Rolv so empfindlich für die Neckereien der Nachbarn sein könnte – umso weniger, als der Hof Li wirklich gut dastand.

Er selbst, Karl Li, fühlte sich durchaus nicht wie ein gescheiterter Mann. Der Garten hatte ihm allgemeine Hochachtung gebracht.

Doch da stand jetzt also Rolv. Trotz allem. Wollte fort. Allein schon der Gedanke, seine Mithilfe bei der Arbeit missen zu müssen, war nicht schön.

– Willst du es mir verbieten ?, fragte Rolv noch einmal.

– Ich verstehe das nicht ganz.

– Aber ich sage doch, ich komme zurück.

– Ich fürchte nur, dass du das vielleicht doch nicht tust, sagte sein Vater. Wenn du erst mal weg bist, dann …

– Ich will den Garten ja irgendwann übernehmen, aber erst mal muss ich das tun.

– Zeitverschwendung, wandte sein Vater ein, unbedacht. Rolv entgegnete rasch:

– Hast du es Zeitverschwendung gefunden zu lernen ?

– Nein.

Nein, er war jeden Tag neu froh gewesen, dies oder jenes zu lesen. Das hatte ihm als Unterstützung gedient in Dingen, bei denen er nie damit gerechnet hätte.

– Nein, habe ich nicht, sagte er noch einmal, weil er spürte, wie Dankbarkeit in ihm aufstieg.

Rolv wartete immer noch auf Antwort.

– Lass uns das noch etwas bedenken, ich werde dir bald antworten. Hast du Mutter was davon gesagt ?

– Noch nicht.

– Lass mich zuerst mit ihr reden, sagte der Vater. Und das tat er. Berichtete, was an Rolv nagte.

– Na, du weißt ja, wie Rolv gemacht ist, sagte sie nur.

– Wie denn ? Ich weiß so wenig.

– Wir wissen, dass er sich vieles zu Herzen nimmt.

– Hält er sich darum so von den anderen fern ? Anders als Inga.

– Nein, ich weiß nicht, ja, wird schon so sein. Ach, diese dumme Scheune da, Karl.

– Hasst du sie etwa auch ?

– Na ja, manchmal vielleicht …

– Mir tut es nicht leid, dass ich sie gebaut habe, sagte der Mann.

– Auch nicht, wenn deine Kinder darunter zu leiden haben ?

– Das kann nicht sein, das bildet sich Rolv nur ein.

– Ja, es ist so seltsam, sagte die Mutter plötzlich, keiner von den beiden erzählt mir mehr was, jetzt, wo sie allmählich erwachsen werden. Sie verkriechen sich in sich selbst, so lange es nicht um die Arbeit geht oder so was.

– Ja, so ist es wohl.

– Das hätte ich nicht gedacht, sagte seine Frau bekümmert, dass es mal so kommt.

– Und jetzt geht Rolv weg. Das müssen wir ihm wohl erlauben.

– Ja, aber er kommt doch wieder, sagte die Mutter ängstlich.

Sie arbeiteten im Obstgarten. Rolv wartete auf Antwort. Es war Inga anzusehen, dass sie genauso wartete. Sie war von ihrem Bruder in sämtliche Pläne eingeweiht, dessen waren sie gewiss. Sie sahen es etwas neidvoll.

– Wir müssen wohl schauen, wie wir das schaffen, Rolv, wenn du meinst, dass es sein muss.

– Ja danke, sagte Rolv.

Rolv verließ also die Insel. Inga weinte, als es so weit war. Rolv kam nur noch in den Schulferien heim, und Karl Li musste als Ersatz einen Knecht anstellen.

Den Sommer über war Rolv daheim, wenn all das Obst im Garten reifte. Er packte gern mit an und half Jens ebenso gern auf dem Acker, wenn bei den Obstbäumen nichts zu tun war. Seine Eltern hofften bloß, dass er bald für immer heimkäme.

Sie wussten auch, dass er sich jüngst mit einem Mädchen von der Insel zusammengetan hatte. Else hieß sie. Noch etwas, das ihn an die Insel band, hofften sie.

Mittlerweile war Rolv zwanzig.

Inga war siebzehn. Was aus ihr werden sollte, stand noch nicht fest. Aber das konnte nicht mehr lange warten. Wie es aussah, wollte sie am liebsten auch weiter in diesem Garten arbeiten.

Mit Vorliebe sammelte sie alle Arten Pflanzen auf den Wiesen und in abgelegenen Winkeln der Insel. Dort begegneten ihr natürlich Leute – und begegneten ihr gern. Sie hatte ein paar Freundinnen, etwas älter als sie selbst. Jetzt, da Rolv weg war, war sie weniger fröhlich als zuvor.

Karl Li hatte Jens früh am Tage gefragt, ob er mit im Boot über den Fjord zu der kleinen Stadt drüben kommen wollte. Zum Abendessen wären sie wieder da. Er hatte dort eine kleine Besorgung zu machen.

– Nein, hatte Jens geantwortet, unsere Jungsau ferkelt heute, da ist es besser, ich bin zu Haus, falls was ist.

– Dann fahre ich allein, sagte Karl Li.

Jens war immerzu mit der Schweinezucht beschäftigt, und an dem einen Ende war die Scheune auf Li immer von Gequieke und Gelärme erfüllt. Dagegen konnte niemand was haben, so gehörte sich das auf einem Hof.

Karl Li fuhr allein. Keiner der Seinen hatte Lust, mitzukommen. Dieser Ausflug war so oft fällig, er war ohne Reiz. Mari Li sagte, sie könnten etwas später zu Abend essen, dann könnte er noch rechtzeitig wieder da sein. Hausfraulich zugewandt und fürsorglich sagte sie das.