Die Vögel - Tarjei Vesaas - E-Book

Die Vögel E-Book

Tarjei Vesaas

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Beschreibung

Tarjei Vesaas (1897–1970) ist mit zwei meisterhaften Romanen unsterblich geworden: "Das Eis-Schloss" und "Die Vögel". In "Die Vögel" erzählt er von dem Außenseiter Mattis, der sich in eine kindliche innere Welt zurückgezogen hat und von den anderen Dorfbewohnern als zurückgeblieben verlacht wird. Seinen Lebensunterhalt versucht er mit kleinen Hilfsarbeiten auf dem Feld und im Wald zu bestreiten. Mattis lebt in einer Hütte am See mit seiner Schwester Hege, die den Haushalt führt und ihn versorgt, und er fühlt sich mit der Natur ringsum verbunden. Besonders ziehen ihn die Waldschnepfen an, deren frühlingshaften Balzflug er als Zeichen sieht, als Verheißung, die er nicht entschlüsseln kann. Als eines Tages der Holzfäller Jørgen auftaucht, sich in Hege verliebt – und dann auch noch eine Schnepfe erschossen wird, wirft es Mattis aus der Bahn. In sparsamer, eindringlicher Sprache und in unvergesslichen Bildern beschreibt Tarjei Vesaas das Innenleben des Sonderlings Mattis und seinen Blick auf die Welt, und dabei auch sein Unvermögen, sich auszudrücken, sich mit anderen Menschen zu verständigen. Das Ungesagte zwischen den Zeilen, das im Grunde Unsagbare fügt Vesaas in einzigartiger, unverwechselbarer Weise ins feine Netz der Erzählung und erzeugt damit poetische Spannung und ein unbedingtes Mitgefühl für Mattis. Hinrich Schmidt-Henkel versteht es auf fast magische Weise, die Zwischentöne, Auslassungen und die Verknappung in der deutschen Übersetzung nachzubilden und uns die Geschichte mit ihrer ganz eigenen Melodie so nahezubringen, dass uns gar nichts übrig bleibt, als den Roman und seine Hauptfigur Mattis tief ins Herz zu schließen.

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Tarjei Vesaas

DIE VÖGEL

Aus dem Norwegischen vonHinrich Schmidt-Henkel

Mit einem Nachwort vonJudith Hermann

INHALT

DIE VÖGEL

I

II

III

ANHANG

NACHWORT VON JUDITH HERMANN

BIOGRAFIEN

I

1

Mattis schaute, ob der Himmel jetzt am Abend klar und wolkenlos war. Ja, war er. Dann sagte er zu seiner Schwester Hege, um ihr eine Freude zu machen:

»Du bist ja ein Blitz, du!«, sagte er zu ihr.

Dass er dieses Wort in den Mund nahm, erschreckte ihn ein wenig, war aber ungefährlich, denn der Himmel war schön.

»Mit deinen Stricknadeln, meine ich«, fügte er hinzu.

Hege nickte unbeeindruckt und arbeitete weiter an der großen Jacke. Die Nadeln blitzten. Sie strickte gerade eine große achtblättrige Rose, die bald zwischen den Schultern eines Mannes sitzen würde.

»Ja, ich weiß«, sagte Hege wie nebenbei.

»Ich versteh nämlich auch was davon, Hege.«

Er tippte sich leicht mit dem Mittelfinger aufs Knie – wie immer beim Nachdenken. Auf und nieder, auf und nieder. Hege hatte es längst aufgegeben, ihm diese lästige Gewohnheit ausreden zu wollen.

Mattis sprach weiter:

»Aber du bist nicht nur bei so Achtblattrosen ein Blitz, das bist du bei allem, was du machst.«

Sie wehrte ab:

»Ja, ja, ja.«

Mattis schwieg zufrieden.

Das Wort Blitz in den Mund zu nehmen, war so verlockend für ihn. Wenn er das Wort gebrauchte, gab es in seinem Schädel eine Art merkwürdiger Querfurchen, fand er, und das zog ihn an. Vorm himmlischen Blitz hatte er eine heilige Angst – und bei schwülem oder schwer bewölktem Sommerwetter hätte er das Wort niemals verwendet. Heute Abend war es ungefährlich. Gewittert hatte es in diesem Frühjahr schon zwei Mal, mit gewaltigem Donner. Als es ganz schlimm zuging, hatte sich Mattis wie gewöhnlich auf dem Klo versteckt – ihm hatte mal jemand gesagt, in so ein Häuschen würde der Blitz nicht einschlagen. Ob das überall auf der Welt galt, wusste Mattis nicht, aber hier bei ihnen war es bis zum heutigen Tag immer so gewesen, zum Glück.

»Ein Blitz, ja«, murmelte er, irgendwie immer noch zu Hege gewandt, die sein prahlerisches Lob heute Abend schon leid war. Aber Mattis war noch nicht fertig:

»Ich meine, auch beim Denken«, sagte er.

Da blickte sie rasch auf, wie verängstigt, er hatte an etwas Gefährliches gerührt.

»Das genügt jetzt für heute«, sagte sie, steif und abweisend.

»Was ist denn?«, fragte er.

»Nichts. Sei einfach still.«

Hege drückte alles weg, was herauswollte. So lange nagte schon das Unglück mit ihrem einfältigen Bruder an ihr, dass sie zusammenzuckte und einen Stich verspürte, wenn Mattis das Wort denken verwendete.

Mattis hatte etwas bemerkt, aber er rechnete es seinem ständigen schlechten Gewissen zu, weil er nicht arbeitete wie andere Leute – und er kam mit dem ewigen Spruch, den sie beide nur allzu gut kannten:

»Morgen musst du für mich was zu tun finden. So geht das nicht weiter.«

»Ja«, sagte sie in die Luft.

»Das ist doch nicht mitanzusehen. Ich habe nichts mehr dazuverdient seit …«

»Ja, du hast lange nichts Nützliches mehr gemacht.« Das entschlüpfte ihr unwillkürlich, etwas scharf. Es tat ihr sofort leid, aber zu spät, in dieser Frage ertrug Mattis nicht das Geringste, es sei denn, er sagte es selbst.

»So darfst du nicht mit mir reden.« Er schaute verdrossen.

Sie wurde rot und senkte den Kopf.

»Red ordentlich mit mir.«

»Ja, mache ich.«

Hege saß mit gesenktem Kopf da. Was sollte man auch tun, es war unmöglich. Bisweilen war sie kurz vorm Platzen – und dann gab es verletzende Worte.

2

Die beiden Geschwister saßen auf der Eingangstreppe des einfachen Häuschens, in dem sie allein wohnten. Es war ein guter, warmer Juliabend, und die alten Holzwände atmeten den Tag in der Sonne aus.

Sie hatten schon lange wortlos hier gesessen – bevor sie über Blitze und Dazuverdienen sprachen. Nur einfach nebeneinander gesessen. Mattis blickte mit unbewegter Miene auf die Baumwipfel. Dass er so herumsaß, war für seine Schwester auch ein gewohnter Anblick. Sie wusste, das musste sein, sonst hätte sie ihn wohl schon aufgefordert, es zu lassen.

Die beiden lebten hier mehr oder weniger abgeschieden – keine anderen Häuser waren zu sehen –, aber hinter dem Fichtenwald lagen eine Landstraße und verstreute Höfe. Beim Häuschen glitzerte ein großer See; ferne Ufer auf der anderen Seite. Der See reichte bis dicht an den Hügel, auf dem das Häuschen lag, dort unten hatten Mattis und Hege einen Steg und ein Boot. Das kleine gerodete Gelände ringsherum war eingezäunt und gehörte ihnen, aber am Zaun endete das Eigentum der Geschwister dann auch schon.

Mattis dachte: Sie weiß nicht, wohin ich schaue.

Es kitzelte ihn, ihr das zu erzählen.

Denn Mattis und Hege – die gibt es hier nämlich zwei Mal! Das weiß die Hege nicht.

Er erzählte es nicht.

Gleich hinter dem Zaun ragten die kahlen, weißen Kronen von zwei verdorrten Espen aus dem grünen Fichtenwald. Sie standen dicht beisammen, bei den Leuten hießen sie Mattis-und-Hege, aber nur, wenn die Leute untereinander sprachen. Mattis hatte das zufällig mitbekommen. Es war regelrecht zu einem einzigen Wort zusammengezogen: Mattis-und-Hege. Es wurde wohl schon lange gebraucht, bevor es Mattis zu Ohren kam.

Zwei verdorrte Espenwipfel nebeneinander, inmitten der grünen Fichtensprossen.

Er murrte innerlich empört, und er musste sie immerfort ansehen. Aber der Hege verrat ich das nicht, beschloss er jedes Mal, wenn sie so dasaßen wie jetzt. Sie wird sonst wütend, dass es um sie herum nur so saust – und die Wipfel heißen nun mal so, fertig.

Zugleich berührte es Mattis wie eine Art wortlose Rücksicht auf ihn, dass die beiden Bäume noch standen. An sich waren sie doch nur im Wege und störten dort mehr, aber der Besitzer kam nicht etwa und fällte sie vor ihren Augen, um sie in seinem Ofen zu verheizen. Das wäre auch irgendwie grausam gewesen, hier direkt vor den Menschen, die unter dem Namen litten, beinahe wie ein Mord. Darum tut der das nicht.

Den Mann will ich mal sehen, dachte Mattis. Aber er kommt nie her.

Mattis dachte weiter:

Wie das wohl im Kopf von dem aussieht, der sich diesen Namen für die beiden Bäume ausgedacht hat, so zum Spaß? Wer weiß. Man konnte nur an Sommerabenden auf der Eingangstreppe sitzen und darüber nachgrübeln. Aber ein Mann war es sicher. Mattis mochte sich nicht vorstellen, dass es eine Frau war, Frauen war er freundlich gesinnt. Außerdem ärgerte es ihn, dass Hege mit einem vertrockneten Baum verglichen wurde, das passte doch überhaupt nicht! Jeder konnte das sehen. Und so was über die Hege, die so schnell im Kopf und klug ist –

Was tut da nur so schlimm weh?

Das weißt du, antwortete etwas, eine irgendwie nichtssagende Antwort, aber die Wahrheit war es doch.

Man sollte nicht hinsehen, sich wegdrehen – stattdessen schaue ich hin, morgens als Erstes und abends als Letztes, bevor ich ins Bett gehe. So was von verkehrt.

»Mattis?«

Er schrak aus seinen Gedanken auf.

»Was siehst du?«, fragte sie.

Er kannte ihre Fragen nur zu gut. Er sollte nicht so dasitzen, er sollte dies nicht und er sollte das nicht, er sollte so sein wie andere Leute, nicht der »Dussel«, wie sie ihn nannten, der zum Gespött wurde, wenn er irgendwo auftauchte und bei der Arbeit mitmachen wollte oder so.

Rasch richtete er seine Augen auf die Schwester. Seltsame Augen. Immer verschreckt, scheu wie Vögel.

»Ich seh nichts«, sagte er.

»Aha.«

»Du bist komisch«, sagte er, »würde ich jedes Mal was sehen, wenn ich mich umschaue – was wäre dann hier? Voll wäre es.«

Hege nickte nur. Jetzt hatte sie ihn sozusagen zurückgeholt und konnte weiterarbeiten. Sie saß nie untätig auf der Treppe wie Mattis, sie hatte schnelle Strickfinger, und das war auch nötig.

Mattis schaute voller Bewunderung auf ihre Arbeit, damit brachte sie etwas zu essen auf den Tisch, so knapp es auch sein mochte. Er verdiente nichts. Niemand wollte ihn haben. Sie nannten ihn Dussel und grinsten nur, wenn sein Name in einem Satz mit Arbeit fiel. Das beides passte nicht zusammen. Drüben in dem arbeitsamen Dorf wurden sicher viele Geschichten davon erzählt, wie es ging, wenn der Dussel Mattis was arbeiten wollte – es ging schief.

Du mein Schnabel gegen Stein, dachte er urplötzlich – es durchzuckte ihn.

Was?

Aber es war weg.

Das Bild und die Wörter schossen durch ihn hindurch. Und genauso schnell waren sie wieder weg – stattdessen dicht vor seinem Gesicht eine Wand.

Rasch schaute er zu seiner Schwester. Sie hatte nichts bemerkt. Da saß sie, klein und hübsch, aber kein junges Mädchen mehr, sie war vierzig.

Wenn er so was zu ihr sagte? Schnabel gegen – das würde sie nicht verstehen.

Hege saß dicht neben ihm, also blickte er direkt in ihre glatten dunkelbraunen Haare. Plötzlich entdeckte er dazwischen das eine oder andere graue Haar. Lange Silberfäden.

Habe ich heute Habichtsaugen?, wunderte er sich freudig, das ist mir noch nie aufgefallen. Ohne sich zu bedenken, rief er:

»Hege, na so was!«

Sie blickte rasch auf, erleichtert über den neuen Klang in seiner Stimme. Sie ging bereitwillig darauf ein:

»Was ist denn?«

»Du kriegst graue Haare!«

Sie senkte den Kopf.

»Ja.«

»Schon so grau«, sagte er. »Das hab ich noch nie gesehen. Hast du das gewusst?«

Sie antwortete nicht.

»Das ist aber früh«, sagte er. »Du bist doch gerade erst vierzig. Und schon grau.«

Da traf ihn von irgendwoher ein rascher Blick. Nicht von Hege. Von irgendwoher. Ein stechender Blick. Vielleicht doch von Hege. Erschrocken wurde ihm klar, dass er sich schon wieder vergriffen hatte, aber verstehen konnte er es noch nicht, er hatte doch nur etwas entdeckt mit scharfen Augen.

»Hege.«

Endlich blickte sie wieder auf.

»Was ist denn schon wieder?«

Nein, jetzt war, was er sagen wollte, schon wieder weg. Auch keine weiteren Blicke.

»Nein, nichts«, sagte er. »Kannst weiterstricken.«

Jetzt lächelte sie:

»Na, dann ist ja gut, Mattis.«

»Das war doch nicht schlimm, oder?«, fragte er. »Dass ich das mit den grauen Haaren gesagt hab?«

Wie mit belustigtem Trotz schüttelte sie ihre Haare.

»I wo! Das wusste ich doch.«

Sie hatte die ganze Zeit mit ihren blitzenden Nadeln weitergestrickt. Die bewegten sich den ganzen Tag lang wie von selbst, fand er.

»Ja, du bist so klug, messerscharf«, sagte er rasch, um die unpassende Bemerkung von eben auszugleichen.

Da hatte er wieder so ein Wort angebracht, das leuchtend und verlockend vor ihm stand. Irgendwo warteten noch mehr so scharfkantige Wörter. Die waren nicht für ihn, aber manchmal benutzte er sie heimlich doch, sie fühlten sich gut an auf der Zunge und kribbelten im Kopf. Ein bisschen gefährlich waren sie alle.

»Hast du gehört, Hege?«

Sie seufzte:

»Ja.«

Kein Wort mehr. Nein, nein, so war sie nun mal. Hatte er sie vielleicht schon zu viel gelobt?

»Trotzdem, ganz schön früh für graue Haare«, murmelte er so, dass sie es nicht hörte. Und bei mir? Mal nachsehen, solang ich dran denke.

»Gehst du schlafen, Mattis?«

»Nein, ich will nur …« Er wollte sagen, in den Spiegel schauen, aber er unterbrach sich. Ging hinein.

3

Erst als Mattis ins Haus ging, bemerkte er, was für ein schöner Abend es war. Der große See spiegelglatt. Die Hänge gegenüber am westlichen Ufer dunstverhüllt – wie auch sonst meist. Frühsommerduft. Auf der Landstraße, sie war von hier aus durch den Fichtenwald nicht zu sehen, surrten Autos wie zum Vergnügen. Und der Himmel war klar, diese Nacht würde es kein Gewitter geben.

Mitten durch den Blitz, dachte er mit einem Schaudern.

Mitten durch die Mitte, dachte er.

Wer das könnte.

Gedankenversunken stand er neben seiner Schlaftruhe.

Von klein auf hatte Mattis in der Schlaftruhe in der Stube geschlafen – er durfte behaupten, dass er sie kannte. Und so wollte er es den Rest seines Lebens über halten, hatte er beschlossen. An der Bank waren Kerben von damals, als der junge Mattis ein Messer bekommen hatte. Auf dem rohen Holz waren auch verblasste breite Striche aus der Zeit, als er einen Bleistift bekommen hatte. Diese Striche und merkwürdigen Figuren saßen auf der Unterseite des Deckels, er betrachtete sie allabendlich beim Einschlafen, und er mochte sie, weil sie sich nie veränderten. Sie waren, was sie sein sollten. Er konnte sich auf sie verlassen.

Hege schlief in der kleinen Schlafkammer hinten. Mattis riss sich los und ging hinein, denn dort hing der Spiegel. Er betrat ihre Kammer. Hier drin war ein sauberer Geruch, sonst nicht viel mehr. Und da war der Spiegel, den er jetzt brauchte.

»Hm«, meinte er zu sich selbst, sobald er sich darin sah.

Es war wirklich lange her, dass er sich so betrachtet hatte. Manchmal holte er sich den Spiegel von hier, wenn er sich rasieren wollte. Dann achtete er nur auf die Rasur, und trotzdem bekam er die Bartstoppeln nicht ordentlich weg.

Jetzt aber sah er diesen Mattis an.

Nein, nein, sagte etwas in ihm. Ein kurzer stummer Ruf, den er sich nicht weiter erklärte.

»Nicht viel zu sehen«, murmelte er.

»Nicht viel Fett«, sagte er dann.

»Und auch nicht viel Fleisch.«

»Schlecht rasiert«, sagte er.

Das klang für ihn bedrückend.

»Aber irgendwas ist da«, sagte er rasch und forschte weiter. Der Spiegel war auch schon alt, das Bild war verzerrt – aber daran hatten er und Hege sich mit den Jahren gewöhnt.

Nicht lange, und Mattis’ Gedanken schweiften ab, weil er in dieser kleinen, sauber duftenden Kammer einer Frau stand.

Jetzt schaue ich in den Spiegel wie ein Mädchen, dachte er mit Wohlbehagen. In diesem abgenutzten Spiegel haben sich sicher viele Mädchen angeschaut, bevor sie in die Kleider schlüpften.

Viele schöne Bilder dachte er sich aus, verlockende.

An die will ich denken.

Aber er hielt wieder inne.

Nein, nicht mitten in der Woche an Mädchen denken. Das gehört sich nicht. Das macht niemand.

Er war unsicher:

Doch, ich, manchmal, gestand er sich.

Aber das weiß niemand.

Er blickte sich selbst ins Gesicht. Begegnete seinen Augen, die sich sofort mit Trotz füllten. Ich darf das ja wohl, wenn ich es niemandem erzähle.

Ich bin wohl einfach so.

Wieder begegnete er seinem eigenen Blick – jetzt wurden die Augen groß und erwartungsvoll.

Was ist das?

Nein, also wirklich, sagte etwas in ihm verwundert, ins Leere. Manchmal musste man einfach so was sagen, fast ohne Grund, ja, auch mit sehr viel weniger Grund als jetzt.

»Was gibt es da schon zu sehen«, sagte er laut. Jetzt schnell wegschieben, was nicht hierher gehörte, aber Macht über ihn erlangt hatte.

Nachdenklich und hager war das Gesicht da vor ihm. Blass. Aber dieses Augenpaar zog ihn an und wollte ihn nicht loslassen.

Am liebsten hätte er den vor sich gefragt:

Wo kommst du bloß her?

Und warum?

Er würde keine Antwort kriegen.

Aber es stand eine in diesen Augen – Augen, die nicht ihm gehörten, sondern weit gereist waren und so vieles gesehen hatten. Etwas kam näher. Es leuchtete auf. Im selben Moment wurde auch das schwarz und war vorbei.

Er dachte kurz:

Mattis, Dussel.

Dussel.

Die würden lachen, wenn sie mich hier vor dem Spiegel sehen würden.

Endlich kam er wieder darauf, was er hier in Heges Kammer eigentlich wollte. Nach grauen Haaren schauen.

Vorn waren keine. Er senkte den Kopf und schielte unter den Strähnen hervor, die ihm ins Gesicht fielen, ob er wohl graue Haare entdeckte. Kein einziges. Dann schaute er so weit hinter den Ohren nach, wie es ging.

Nirgends auch nur ein einziges graues Haar. Dabei war er nur drei Jahre jünger als Hege, und die war vierzig.

Nein, der da, dem seine Haare bleiben noch lange so, dachte er.

Aber in drei Jahren hab ich die Hege eingeholt.

Kein einziges graues Haar. Das erzähl ich der Hege, die wird staunen, dachte er und vergaß, dass sie dieses Thema gar nicht mochte.

Mit großen Schritten ging er hinaus. Hege saß ja bestimmt noch immer mit ihrer Strickarbeit auf der Treppe.

Ja, genau. Die Jacke wuchs unter ihren flinken Fingern wie von selbst. Ihre Hände führten etwas wie einen stummen Tanz auf, und unterdessen strickte sich die Jacke ganz allein.

»Was ist denn?«, fragte sie, weil er so stürmisch ankam.

Mattis deutete auf seinen Haarschopf:

»Kein einziges graues Haar, Hege. Ich hab im Spiegel nachgeschaut.«

Hege wollte nichts mehr davon hören.

»Aha«, sagte sie kurz angebunden.

»Ist das nicht schön?«, fragte er.

Sie antwortete ruhig:

»Natürlich.«

»Schau dich selbst an«, sagte er, »ich bin ganz sicher, du hättest gern …«

Sie platzte heraus:

»Jetzt reicht’s!«

Er verstummte. Hege hatte auf einmal so was an sich, da war man gleich still.

»Ist was?«, fragte er ängstlich.

Jetzt stand sie auf.

»Du, Mattis.«

Er blickte sie gespannt an.

»Sag.«

»Ich finde es nicht lustig, wie du heute Abend redest. Kannst du nicht aufhören?«

»Haben wir es denn sonst lustig?«, gab er zurück. Seltsam, wie sie redet, dachte er.

Hege sah ihn hilflos an, wie in plötzlichem Schrecken. Jetzt musste schnell etwas passieren, sonst geriet Mattis in eine Laune, in der er für sie nicht mehr erreichbar war.

»Viel lustiger, als du jetzt denkst!« Sie schlug die Wörter ein wie Nägel. »Du denkst nur nicht darüber nach. Jeden Tag haben wir es lustig!«

Er wich zurück, fragte aber:

»Wann denn?«

»Wann?«, fragte sie hart.

Sofort versuchte sie es noch mal anders. Etwas musste aufgehalten werden.

»Denk mal nach, Mattis«, sagte sie, ohne an den Stich zu denken, den das Wort ihr sonst versetzte. Da stand sie fordernd über ihm, dabei war sie die Kleinere.

Mattis antwortete:

»Ich denk ja nach, dass es fast wehtut.«

»Dann fällt dir auch ein, wann wir es lustig hatten!«

Er überlegte angestrengt, antwortete nicht.

Hege legte nach. Sie musste es so hart und heftig tun, dass kein Schlupfloch blieb.

»Wir haben es lustiger als andere!«

»Stimmt das?«, murmelte er kraftlos, kaum hörbar.

»Ja! Das darfst du nie vergessen.«

Mehr kam nicht. Mattis richtete sich ein wenig auf, wagte aber keine Widerworte. Hege war klug, sie wusste sicher, was lustig bedeutet. Besser nicht widersprechen und dann dumm dastehen. Sie schaute ihn wütend an.

»Ich hab das nicht gewusst, nein«, sagte er nur.

Dann ging ihm ein großes Licht auf, und er sagte fröhlich:

»Ein Glück, hast du das gesagt.«

»Was?«

»Weil ich es nicht gewusst hab.«

Er war so froh, er lachte kurz.

»Willst du gehen?«, fragte er.

Statt einer Antwort nickte Hege etwas mühevoll und ging hinein.

4

An diesem Abend ging Hege früher ins Bett als sonst. Jedenfalls ging sie früher in ihre Schlafkammer. Mattis wollte sie nach dem Grund fragen, aber bevor er es herausbrachte, wehrte sie ihn ungeduldig ab:

»Das kann bis morgen warten, Mattis. Sei lieb und lass es für heute gut sein.«

Darauf verlor er die Lust nachzufragen und nachzubohren. Sie war schlecht gelaunt, sollte sie doch gehen. Er fragte sich, ob er was Falsches getan oder gesagt hatte? Wahrscheinlich das mit den Haaren. Aber warum war das so schlimm, dass sie graue Haare hatte und er nicht? Dafür konnte doch er nichts.

Andererseits, Hege gab ihm zu essen – sie hatte zu bestimmen. Und vor allem war sie klug, das beeindruckte ihn am meisten.

Ohne ein weiteres Wort ging Hege hinein. Jetzt saß er allein da und grübelte über alles nach.

Morgen mache ich eine Runde über die Höfe und horche nach, ob wer Arbeit für mich hat, dachte er, und er wand sich schon jetzt, allein bei dem Gedanken.

Denn das hat die Hege eigentlich. Das ganze Jahr lang gibt sie mir zu essen. »Seit vierzig Jahren«, sagte er dann noch, um es nicht zu schmälern.

Sie gibt mir zu essen. Zu essen.

Die Worte waren so bitter wie Espenrinde zu zerkauen. Und er hatte jahraus, jahrein daran zu kauen. Wenn er allein war, wie jetzt, war er ohne Gnade gezwungen, diese Worte auf die Zunge zu nehmen und zu kosten. Die bittersten, die er kannte.

Morgen gehe ich arbeiten.

Wenn nichts dazwischenkommt, ergänzte er, zur Sicherheit.

Wie ein Erinnerungsschatten lagen die vielen Male in seinem Gedächtnis, wo er für jemanden arbeiten wollte. Auf dem Hof oder den Feldern, im Wald. Immer hatte irgendwas dafür gesorgt, dass er nicht mal ein Tagwerk beenden konnte. Und diese Leute fragten ihn nie wieder. Die klugen Leute, die etwas besaßen und Arbeit zu vergeben hatten, gingen an ihm vorbei, als wäre er Luft.

Und dann kam er wieder mit leeren Händen zu Hege zurück. Sie war es so gewohnt, dass sie kein böses Wort dazu sagte. Aber sie schleppte ihn mit durch. Wer weiß, wie sie darüber dachte.

Mich morgen zusammenreißen. Geradewegs zu den Höfen gehen und um Arbeit fragen.

Das geht ja so nicht weiter, sagte er sich, finster dreinblickend. Ich muss Arbeit finden, die Hege wird schon grau.

Da beschlich es ihn:

Ich bin schuld, dass die Hege grau wird.

Allmählich ging ihm die Wahrheit auf. Er war tief beschämt darüber, wie er sich verhielt.

5

Allmählich war es spät am Abend. Später, als Mattis sonst auf war. Trotzdem mochte er nicht ins Bett gehen, sondern tigerte draußen herum. Nagte etwas an einem, dann war es noch viel schlimmer, wenn man sich im Bett hin und her wälzte.

Vielleicht schläft die Hege ja auch nicht. Ist nur so früh reingegangen, damit sie mich nicht mehr sehen braucht.

»Und das ist wirklich nicht lustig«, sagte er laut, so laut, dass es vielleicht durch die Wand bei ihr drinnen zu hören war.

Ihm machte das zu schaffen.

Ein plötzlicher Gedanke ließ ihn zusammenschrecken:

Du darfst mich nicht alleinlassen!, durchfuhr es ihn, an Hege in ihrer Kammer gerichtet. Was dir und mir auch passiert, du darfst mich nicht alleinlassen.

Neu war dieser Gedanke nun wirklich nicht, er fühlte sich nur jedes Mal neu an, jedes Mal gleich schlimm. Jedes Mal musste er den Gedanken wegschieben, das war Unsinn, Hege hatte nie ein Wörtchen von alleinlassen gesagt. Warum sich damit quälen?

Das Bild wollte nicht weichen. Er sah Hege weggehen, immer weiter weg. All ihr Eigentum in einem Bündel unter dem Arm.

Gehst du weg?

Ja, Mattis.

Das wird schwer, Hege.

Ja, Mattis.

Dann ging sie.

Hörte nicht mehr, was er sagte, wurde immer kleiner, war am Ende nur noch ein schwarzes Pünktchen – und so blieb sie. Ganz und gar verschwinden konnte sie nicht in diesem traurigen Spiel.

Und genau da passierte etwas Großes:

Wie er nachgrübelte und Hege weggehen sah, saß er auf seinem alten Stammplatz auf der Vortreppe und blickte über den See zu den Hängen im Westen. Der See lag jetzt schwarz, über den Hängen dunkelte es immer mehr. Schöne Sommerdämmerung überall, am Himmel und auf Erden. Mattis war für so was durchaus nicht blind.

Ihr Häuschen lag in einer etwas moorigen Senke, die sich vom See heraufzog. Fichtenwald, mit Birken und Espen gemischt. Ein schmaler Bach rann durch sie hinab. Manchmal fand Mattis, hier war es schöner als an allen anderen Orten, die er je gesehen hatte – was herzlich wenige waren.

Vielleicht hatte er auch jetzt diese Empfindung – jedenfalls blickte er gedankenverloren vor sich hin und ließ die Dämmerung voranschreiten, soweit man das noch dämmern nennen konnte und es nicht nur etwas unsagbar Mildes war.

In diesem Augenblick kam das Unerwartete.

Auf dieser Seite vom Wind ist es still, dachte er gerade, während er auf die beiden Espenwipfel und den Nachthimmel blickte. Da tat sich etwas zwischen den Wipfeln, er bildete sich ein, es sehen zu können, so klar war es. Kein Wind, nur eine Bewegung – und hier war es so still, dass sich an den belaubten Espen kein Blatt regte.

Und da, ein leiser Laut! Merkwürdige Töne auf einmal. Zugleich waren da undeutlich in der Luft über ihm ein paar kurze, rudernde Flügelschläge. Dann nochmals ein paar leise Lockrufe, in einer unbeholfenen Vogelsprache.

Es ging geradewegs übers Haus weg.

Aber Mattis durchzuckte es durch und durch. Stumme Erregung packte ihn, hellwach und getroffen saß er da:

War das etwas Unnatürliches gewesen?

Nein, alles andere als das. Obwohl …

Eine Waldschnepfe war das gewesen. Und die flog um diese Tageszeit nicht einfach so irgendwo lang: Ihr Balzflug hatte über sein Haus geführt!

Seit wann wohl?

Das hatte es im Frühling bislang noch nie gegeben. Nicht, soweit er sich erinnern konnte. Und er war oft so spät draußen unterwegs, er hätte es gesehen und gehört.

Aber heute Abend führte der Balzflug direkt über ihnen entlang, über Hege und ihm. Und so würde es weitergehen, jeden neuen Morgen und Abend wieder.

Mattis schaute auf sein Haus, es war wie verwandelt, man musste es mit anderen Augen ansehen. Der Flug der Schnepfen war irgendwie etwas, das in feinen Streifen weit von hier über ferne Täler ging. Das hatte er immer gedacht. Jetzt führte er hier entlang, war ganz einfach hierher verlegt.

Es sei denn, es wäre Einbildung gewesen – er wusste, so was passierte ihm häufig. Kam es denn vor, dass die gewohnte Strecke des Balzflugs verlegt wurde? Das wusste er nicht. Und warum hierher?

Atemlos saß Mattis da und wartete. Denn wenn das wirklich der Balzflug war, der Schnepfenstrich, dann kam der Vogel bald wieder vorüber, auf derselben Strecke, Mal ums Mal, während der kurzen abendlichen Flugzeit. Er kannte das von alteingeführten Strecken andernorts, von denen er wusste. Frühmorgens folgt der Vogel wieder demselben Strich, hatte ein Jäger ihm erzählt. In trockenen Gräben hatte er manchmal Stellen gesehen, wo Schnepfenschnäbel gestochert hatten, daneben die Spuren zarter Vogelfüße.

Er wartete gespannt. Die Zeit wurde ihm lang, der Zweifel wuchs.

Psst, da war es. Das ruckartige Flattern, der Vogel selbst schemenhaft und rasch in der Luft direkt über dem Haus, jetzt in der entgegengesetzten Richtung. Und wieder weg, verborgen im weichen Zwielicht und den schlafenden Baumwipfeln.

Da sagte Mattis laut:

»Ja, das ist der Schnepfenstrich.«

Er wusste nicht, warum er das sagte und woher er es hatte. Weniger konnte er nicht sagen oder tun – und niemand hörte ihn dabei.

Es fühlte sich an, wie wenn nach langer, schwerer Zeit etwas überstanden war.

Sein erster Gedanke war, es Hege zu erzählen, er wollte gleich hinlaufen. Ob sie jetzt schlief oder wach war, sie musste sofort davon erfahren – aber er hielt wieder inne. Wenn es wirklich stimmte, dann kam der Vogel bald zum dritten Mal, und Mattis war sich seiner Sache so wenig sicher, dass er das noch abwarten musste. Selig dasitzen und warten.

Wenn ich es drei Mal gesehen habe, muss Hege es glauben. Alle müssen es glauben.

Psst, da ist es wieder.

Genau wie vorhin, das Flattern, der pfeilschnelle Schatten im Dämmer – und der schöne Lockruf, ob den nun wer hörte oder nicht. Gleich überm Dach hier, und fort ins Unendliche. Dann wieder nichts als der Spätabend.

Aber es war wirklich da gewesen. Jetzt weiß ich was, stellte er fest, ohne weiter nach Erklärungen zu suchen. Er war spürbar verändert, innerlich.

Und Hege schläft!

Jetzt durfte auch Hege verändert werden.

6

Die schlafende Hege – wie ein Blitz mit Achtblattrosen und Strickzeug, die alles meisterte – jetzt war Mattis nicht mehr sicher, wer von ihnen beiden wichtiger war. In diesem Augenblick konnte er beinah wagen, sich an die erste Stelle zu setzen.

Etwas geräuschvoll betrat er die Kammer.

Das war unklug. Hege war vor längerem ins Bett gegangen, vielleicht eingeschlafen – jetzt wurde sie zur Unzeit geweckt. Sie schlug einen ziemlich scharfen Ton an.

»Was ist denn jetzt schon wieder?«, fuhr sie auf, bevor er auch nur einen Ton aus seinem vollen Herzen herausgebracht hatte. Den Klang kannte er nur zu gut. Wahrscheinlich war sie gerade eingeschlafen, und da kommt er reingetrampelt. Aber er wusste auch, wie es weiterging: Sie würde sich räuspern, zur Entschuldigung und um den Schmerz ihrer Bemerkung zu stillen.

»Ja, was ist, Mattis?«, sagte sie jetzt leise und müde, bereit zu zeigen, dass es ihr leidtat.

Mattis kam mit etwas Großem. Er wusste gar nicht, wie er es in Worte fassen sollte. Also einfach raus damit.

»Der Schnepfenstrich ist hier!«, erzählte er, es klang steif.

Er fühlte sich selbst ganz fremd, wie er da vor dem Bett stand.

Hege bemerkte seinen Tonfall wohl auch. Die vor Staunen und Ehrfurcht ungeschickte Zunge. Aber sie kannte es allzu gut, dass Mattis mit irgendwelchen Merkwürdigkeiten ankam. Die dann meistens rasch gar nicht mehr so merkwürdig waren und sich auflösten.

Sie sagte ruhig:

»Der Schnepfenstrich? Aha. Geh jetzt schlafen, Mattis.«

Mattis begriff es nicht.

»Geh schlafen, Mattis«, sagte sie behutsam, denn sie sah sein verstörtes Gesicht.

Mattis stöhnte enttäuscht auf.

»Hast du nicht gehört? Da ist eine Schnepfe, sie fliegt bei uns übers Dach. Jetzt. Jetzt, wo du in deinem Bett sitzt.«

Hege blieb sitzen, sah unverändert aus.

»Natürlich habe ich es gehört. Und? Die kann doch langfliegen, wo sie will?«

Ihm war das unbegreiflich. Als ob sie eine fremde Sprache spräche.

»Aber das ist doch was! Hast du schon mal gehört, dass eine Schnepfe ihren Balzflug einfach so verlegt und jetzt über deinen Kopf weg fliegt?«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Was weiß ich.«

»So was hast du noch nie gehört! Los, zieh dich an und komm raus!«

»Jetzt? Mitten in der Nacht?«

»Klar! Das musst du sehen.«

»Ach, nein«, sagte sie.

»Doch, du musst! Es ist jetzt, draußen. Wenn das auch nichts ist, dann …«

Hege legte sich wieder hin, nichts zu machen. Sie gähnte, rasend müde.

»War sicher schön, das zu sehen«, sagte sie, »ich schau es mir ein andermal an. Wenn die heut fliegt, dann morgen sicher auch, oder?«

Mattis starrte sie an, mit aufgesperrtem Mund.

»Wenn die heut fliegt, dann morgen auch?«, echote er fassungslos. »Und du willst klug sein?«, entschlüpfte es ihm vor lauter Verblüffung.

»Wie meinst du das?«, fragte sie.

Er schaute sie immer noch ungläubig an. Und stellte fest:

»Du verstehst also gar nichts.«

Enttäuscht und ratlos stand er über ihr.

Sie berührte ihn kurz am Arm. Ihm war klar, das war versöhnlich gemeint. Aber dafür, dass Hege vollkommen übermüdet war, hatte er keine Augen. Da lag sie in ihrem verwaschenen Nachthemd, sah ihn nicht an, drehte ihm den Rücken zu und blickte an die Wand.

»Lass uns morgen drüber reden, Mattis. Geh jetzt ins Bett, hörst du.«

Für Mattis klang es reineweg wahnwitzig, so was zu verpassen.

»Ich sag doch, sie fliegt jetzt. Und das willst du nicht sehen? Ich versteh dich nicht, nichts findest du besonders!«

Jetzt war es Hege zu viel, es wuchs ihr über den Kopf. Sie schlug mit der Faust auf den Rand des Betts und rief:

»Was weißt du schon! Ausgerechnet du sagst so was, du, der …«

Sie hielt inne.

Er fragte erschrocken:

»Ich? Was ich?«

Immer noch mit dem Rücken zu ihm, rief sie:

»Lass mich endlich in Ruhe! Ich schaff das nicht mehr, wenn du nicht – kannst du nicht bitte gehen! Es ist so spät, Mattis, wir müssen schlafen!«

Mit einer jähen Bewegung rückte sie näher zur Wand. Er sah, wie ihre Schultern zuckten. Das machte ihm zu schaffen, er fühlte sich schuldig, ob er es jetzt war oder nicht.

Er war ratlos. Hatte er ihr was Böses getan? Er hatte ihr mit dem Schnepfenstrich nur eine Freude machen wollen. Ihm war es unvorstellbar, dass das für Hege weniger wichtig war als für ihn. Jetzt und hier war es, da draußen – aber Hege blieb gleichgültig, schimpfte, und jetzt weinte sie so unbegreiflich hilflos.

»Aber Hege – ich hab dir nichts tun wollen, hab doch nur …«

Jetzt schrie sie:

»Hörst du nicht, was ich sage!«, und mit ein paar schnellen Schritten war er aus der Kammer hinaus. Behutsam zog er die Tür zu, als ob Hege schliefe und nicht geweckt werden dürfte.

Wie verschieden die Leute sind, dachte er draußen verdattert. Jedenfalls Hege und ich.

Wahrscheinlich glaubt sie mir nicht mal.

Aber ich hab es gesehen und gehört. Da leg ich die Hand ins Feuer. Aber für heute Abend ist es vorbei.

Und jetzt singen wir ein Lied, sagte etwas in ihm. Natürlich fing er nicht an zu singen. Es passte nur so gut nach dem anderen Satz: Für heut Abend ist es vorbei. Ich bin bei vielen Versammlungen gewesen, ich weiß so ungefähr, wie es da zugeht.

Für heut Abend vorbei. Denn jetzt hat der Vogel seinen Schatz gefunden.

Als er aufblickte, sah er Lichtstreifen dort, wo der Balzflug entlanggegangen war. Direkt über dem Haus.

So ganz sicher war er da zwar nicht, um die Wahrheit zu sagen – aber dort oben war was anders als vorher, fand er. Und morgen ist es wieder da, genauso schön wie heute Abend. Da soll die Hege es auch sehen, und wenn ich sie hier draußen festbinden muss.

Jetzt wird alles anders, dachte er vor dem Einschlafen, gekrümmt wie ein Kind in der Schlaftruhe.

Für mich?

Bei dem Gedanken wurde ihm heiß.

7

Mattis nahm den Schnepfenstrich mit in den Schlaf, und warum auch immer, das bescherte ihm einen herrlichen Traum.

Ein Ruf erst, bevor er etwas sah:

»Wir kommen, wir kommen«, hieß es. »Du bist doch da?«

»Ja, klar«, antwortete er vielleicht.

»Das hat lange gedauert, Mattis«, hieß es freundlich, »aber die Zeiten sind jetzt vorbei.«

Und dann kamen sie wirklich. Ein heller Streifen hoch über dem Haus, und dicht über dem Haus, und zu den Seiten des Hauses, und ein Laut, gerade so hörbar – wie solche Laute sein sollen. Das Haus wurde auf einen Schlag neu, durch und durch.

»Aber das Haus ist nicht das Wichtigste«, sagte er.