Der kleine Mordratgeber - Michael Nolden - E-Book

Der kleine Mordratgeber E-Book

Michael Nolden

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Beschreibung

Sie wollten schon immer wissen, wie es gemacht wird? Ohne dabei erwischt zu werden? Max Heiliger ist im Rentenalter. Seine Frau Emilie ist blind und zeitweise verwirrt. Um die Finanzen ist es schlecht bestellt. Da scheint es ein Wink des Schicksals zu sein, als Max Heiliger auf einem Flohmarkt eines Tages ein Buch mit dem merkwürdigen Titel "Der kleine Mordratgeber" entdeckt. Die vielfältigen Möglichkeiten, jemanden umzubringen, offensichtlich oder verdeckt, die in dem über tausend Seiten starken Buch geschildert werden, lassen in Max Heiliger eine Idee reifen. Eine verzweifelte zwar, aber eine, seit langem echte, umsetzbare Idee. Max Heiliger will zur Aufbesserung der Rente zum Auftragsmörder werden. Wollten da nicht ein paar alte Bekannte jemanden aus ihrem Umfeld loswerden?

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Seitenzahl: 449

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Der kleine Mordratgeber

von

Michael Nolden

Roman

Inhaltsverzeichnis

Titelbild

Titel

Danksagung

Kapitel 1:Ein Ratgeber für Mord

Kapitel 2: Ein rostroter Kadett

Kapitel 3: Der liebe Herr Ganter

Kapitel 4: Zimtgeruch und Butterduft

Kapitel 5: Der Selbstmord von Uli Toller

Kapitel 6: Ein Tag auf dem Kahlen Asten

Kapitel 7: Das Phantombild

Kapitel 8: Zu Befehl, Oberst Stinker

Kapitel 9: Papa Pott

Kapitel 10: Schlangen-Paule

Kapitel 11: Das is knorke

Kapitel 12: Schlange am Sack

Kapitel 13: Ne verdammte Hexe

Kapitel 14: Auftrag abgelehnt

Kapitel 15: Ich brauchte das Geld

Kapitel 16: Häuptling Graue Wolke

Kapitel 17: Für den Tag X

Kapitel 18: Charles Bronson

Kapitel 19: I wie Inspiration

Kapitel 20: Die kalte Deller und der große Tag

Epilog

Ein Nachwort von Utz Entle, Oberst außer Dienst, Schweizer Armee

Rechtliche Hinweise

Impressum neobooks

Danksagung

Für meine Eltern

Kapitel 1: Ein Ratgeber für Mord

»F wie Feuertod. Siehe auch A wie Anzünden, B wie Benzin, B wie Brandbombe, B wie Brandbeschleuniger, B wie Brandstiftung, B wie Brandursache, F wie Flammenwerfer, M wie Molotowcocktail, P wie Phototoxie, R wie Rauchvergiftung, S wie Scheiterhaufen, V wie Verbrennen, V wie Verpuffung und Z wie Zunder.«

Interessiert fuhr Max Heiliger mit dem Zeigefinger der rechten Hand über die Zeilen, leicht blinzelnd, stetig bemüht, jedes Wort auch ohne seine Brille lesen zu können. So lange jedoch die linke Hand, die das dicke Buch hielt, dabei zitterte, fiel ihm der innere Kampf, Wille gegen körperliche Befindlichkeit, nicht gerade leicht. P wie Phototoxie. Max Heiliger schlug Seite 751 in dem über eintausend Seiten starken Buch mit dem eindeutigen Titel »Der kleine Mordratgeber« auf und las langsam und konzentriert, jedes Wort im Geiste wiederholend, über den chemischen Vorgang, der auf menschlicher Haut starke Verbrennungen ohne Feuer hervorrufen konnte. Er nuschelte: »... ist es nicht sinnvoll, einen Gegner mit einem Stängel der Herkulesstaude anzugreifen. Effektvoller ist der Pflanzensaft, der auf der Haut eine starke Entzündung – siehe auch P wie Photodermatitis – hervorruft. In einer wässrigen Lösung im Verhältnis eins zu zehn, – 1 Teil Pflanzensaft, zehn Teile Wasser und vergessen Sie niemals den Gebrauch von Gummihandschuhen beim Herstellen der Lösung – in eine Wasserpistole abgefüllt, auf die Augen des Gegners abgefeuert, kann der Pflanzensaft der Herkulesstaude eine hervorragende Defensivwaffe sein. Siehe auch P wie Pfefferspray. Noch effektiver in der Eigenherstellung.«

Der alte Mann ließ das Buch erschöpft sinken. Die Anstrengung schmerzte in seinen Augen. Seine rechte Hand suchte die erkaltete Teetasse und fand sie gerade außerhalb des Scheins der kleinen Leselampe. Nach 79 Jahren hatte sich Max Heiliger immer noch nicht damit abgefunden, dass der Körper eines Menschen Abnutzungserscheinungen von verschiedener Qualität unterworfen war und dass kaum eine Maßnahme diesen Prozess aufhalten oder effizient mindern konnte. Durch die Anhäufung von Wissen hatte er sich stets gegen das wie auch immer geartete Schicksal auflehnen wollen. Der Erfolg gab ihm manchmal recht, in der Summe allerdings, wenn er all die kleinen und großen Schlachten addierte, gegen Ämter, Krankenhäuser, Kassen und Versicherungen, Fahrzeughersteller, Unternehmungen, Arbeitgeber, auch Nachbarn, sogar Stadt, Land und Staat, blieb ihm nichts anderes übrig, als zuzugeben, den Krieg auf gesamter Breite verloren zu haben. Doch so verzweifelt dieses Ergebnis ihm auch erscheinen musste, so gab Max Heiliger doch nicht klein bei. Er mochte ein Verlierer sein, aber er war kein Aufgeber. Es gab immer dieses berühmte Licht aus der Ferne, so hoffnungsverbreitend und höhnisch alles überstrahlend. Dieses Mal hatte Max Heiliger seinen Glanz gefunden, als er gar nicht danach suchte.

Eines Morgens, vor beinahe vier Wochen, hatte er auf einem Bücherflohmarkt ein dickes Taschenbuch entdeckt. Der Einband machte sich zwischen den übrigen, eher schmalbrüstigen Ausgaben, zumeist Lebenshilfen der esoterischen Sorte, derart breit, als wolle er die anderen Bände wie ein falsches Küken im falschen Nest aus der Aufbewahrungskiste schubsen. »Der kleine Mordratgeber« war sehr vornehm verschnörkelt im Gegensatz zur ordinär prallen Ausführung des Buches in Prägedruck und goldenen Lettern auf dem Buchrücken aufgebracht worden. »Preisreduziertes Mängelexemplar« hatte ein schlecht platzierter Aufkleber auf der Rückseite des Buchumschlages verkündet. Zunächst hatte es Max Heiliger für einen Roman gehalten. Der eintausendundfünfzig seitenstarke Band entpuppte sich hingegen tatsächlich als das, was sein Titel versprach. Stichwörter über Stichwörter glänzten mit all jenen Möglichkeiten, Stoffen, Situationen und Gegenständen, die einem Menschen rigoros und einmalig den Garaus machen konnten. Spezielle Anleitungen gaben sehr detailliert darüber Auskunft, wie vorzugehen war, beabsichtigte der Leser bei der Tatausführung nicht nur erfolgreich zu sein, sondern auch noch der Justiz und ihren ausführenden Organen zu entgehen. In der dritten verbesserten Auflage, so versicherte das Buch auf dem Stand des Jahres 2009, hätten Autor und Redaktion noch einige kleinere, eigentlich belanglose Fehler ausmerzen können, so dass einer ungetrübten Lektüre nun nichts mehr entgegen stehe.

»Erschienen im Ende–Gut–Alles–Gut–Verlag«, murmelte Max vor sich hin, da er noch einmal ungläubig das Buch gewendet und schließlich das Impressum aufgeblättert hatte. »Zürich, Schweizerische Eidgenossenschaft.« Max trank einen Schluck Tee und warf den Kopf nach hinten, damit die kühle Flüssigkeit schneller aus dem Mund den Rachen hinunterlief. Er hätte den Tee aufwärmen können, wollte aber Strom sparen und seine Emilie nicht wecken. Es war bereits zwei Uhr nachts.

»Über den Autor«, las Max leise, »Oberst Utz Entle wurde in den frühen 60er Jahren mit seinem 'Schweizer Armeehandbuch für Guerillataktiken' über die Landesgrenzen hinaus bekannt.« Max nickte. »Entle hat nun seine praktischen Erfahrungen aus dem Armeealltag in zivile Kreise übertragen.« Max nickte erneut. »Verrückt«, sagte er dann. »Ein Ratgeber für Mord.« Und sagte dann wieder: »Verrückt.« Und er sagte es, als wolle er sich nur selbst beruhigen.

Max spürte die Anspannung in seinem Brustkorb. Seine Entscheidung über sein künftiges Vorgehen war längst gefallen. Max Heiliger mochte in die Jahre gekommen sein, vielleicht die letzten, doch vorbei war es erst, wenn es vorbei war. So selbstverständlich diese Gewissheit auch war, so sicher war auch, dass bis zum bitteren Ende Nahrung, Kleidung, Miete, Strom und vieles mehr zum Leben bezahlt werden wollte. Geld. Oberst Utz Entle schilderte in seinem Buch die relativ wenigen Motive, die sich hinter Gewaltverbrechen finden ließen. Geld stand neben Eifersucht gleich vorne an. Max hatte viel gerechnet in den letzten Tagen. Geld. Es reichte vorne und hinten nicht. Er hatte schon darüber nachgedacht, eine Bank zu überfallen, nur war an eine schnelle Flucht mit seiner Arthrose nicht zu denken. Einfacher war Mord. Max Heiliger war fest entschlossen, einen Menschen zu töten. Für Geld. Max Heiliger hatte für Geld die unterschiedlichsten Wege in seinem Leben beschritten. Gute und schlechte Pfade waren darunter gewesen. Solche, für die er sich schämte, überwogen kaum jene, über die er sich freute. Besonders in seinen jungen Jahren war er nicht zimperlich gewesen. Schnell hatte er bei seinen Fahrten auf dem Bock eines Lkws durch den Ostblock seine Lektionen gelernt. Es hatte nur eine Attacke gebraucht, um ihn erkennen zu lassen, lieber dem anderen zuerst eine aufs Maul zu geben, als selbst an Leib und Leben Schaden zu nehmen und am Ende noch seine Ladung zu verlieren. Getötet hatte er, in diesen längst vergangenen Tagen, nie, aber es waren nicht wenige Situationen an ihm vorbeigezogen, die sein Gewissen nur um Haaresbreite mit nicht mehr als ein paar gebrochenen Rippen belastet hatten. Den Tod eines anderen Menschen – eines Angreifers, wie er sich gerne einbläute – hätte er jederzeit verursachen können. Dem Zufall war es zu verdanken, dass es nie so weit gekommen war.

Er legte das Buch mit einer fahrigen Bewegung aus der Hand, so dass es mit einem überlauten Knall in der nächtlichen Stille auf der Tischplatte aufschlug. Max horchte nach Emilie. Sie schlief weiter. Er hörte ihre Atemzüge. Sein Gehör hatte in den Jahren nicht gelitten und schien ihm zuweilen schärfer zu funktionieren als jemals zuvor. Ihre beiden Renten zusammengenommen finanzierten das Nötigste, besondere Ausgaben indes waren eine Unmöglichkeit. Geld. Max Heiliger hasste das Wort inzwischen. Geld. Er biss die Zähne zusammen. Der Winter hatte seine ersten Fühler ausgestreckt. Die Wände wurden kalt. Diese Kälte schob sich über seine Gewissensbisse. Mit klammen Fingern drehte Max die Leselampe zur Seite, damit kein Lichtschein über sein Gesicht fiel, sobald er sich zum Fenster wandte, um nach unten in den Hof zu schauen. Es war noch etwas zu früh. Um drei Uhr beabsichtigten er und Maria Deller, sich an der Tür zum Kohlenkeller in verschwörerischer Absicht zu treffen. Die Abenteuerlichkeit der Situation bereitete Max sogar ein wenig Freude. Emilie durfte nicht das Geringste davon erfahren, denn es bestand die Gefahr, sie könne falsche Schlüsse aus solch einem Treffen ziehen und glauben, er habe ein Verhältnis mit Maria. Max schmunzelte. Vorsichtig stand er vom Küchenstuhl auf, griff nach seinem Stock, ganz altmodisch schwarz glänzend, mit einem Griff aus Hirschhorn und metallener Spitze, die er nach der Lektüre des Ratgeberbuches zugefeilt hatte und nun, damit die Arbeit nicht litt, mit einem Korküberzug schützte. Bevor er in die Diele ging, warf er noch einen Blick ins Schlafzimmer. Emilie schlief tief und fest. Ihr weißes Haar bildete ein engelsgleiches Vlies auf dem Kissen. Vorsichtig zog er am Fußende des Bettes die Decke über ein paar vorwitzig freiliegende Zehen. Max verließ die Wohnung.

Unten am vereinbarten Treffpunkt wartete Maria Deller bereits auf ihn. Sie drückte sich in den Eingang zum Kohlenkeller, den Kopf eingezogen, allzu verständlich bei einer Größe von 1,80 Meter. Ihr Auftreten war garstig wie immer, ihr Blick stechend, erstechend beinahe, und hätte Max es nicht besser gewusst, hätte er annehmen können, auch sie wäre in den Bann des »kleinen Mordratgebers« geraten und beabsichtige ihn gleich hier auszuschalten, gab es doch noch eine Lebensversicherung, die auf Emilie wartete, falls er auf halbwegs natürlichem Wege aus dem Leben scheiden sollte. »Zu spät«, sagte sie mit patziger Zurechtweisung, »und du willst ...«

»Still«, unterbrach Max ihre aufkeimende Litanei, die er nicht zum ersten Mal hörte. Sogleich bequemte er sich dazu, gut Wetter zu machen, denn sie war seine erste Auftraggeberin und sollte ihm noch weitere Kontakte vermitteln. »Ich bin da, du bist da, also ...«

»Cornelius fährt in einer Woche in Urlaub«, fiel sie ihm nun ins Wort. »Es muss vorher passieren.«

»Warum?« Max zog die Stirn kraus. Es war nie davon die Rede gewesen, die Angelegenheit übers Knie zu brechen. »Wenn er in Urlaub fährt, könnte die Sache doch umso besser vorbereitet werden können ...«

»Weil«, fuhr sie dazwischen, »ich es nicht mehr mit ihm aushalte. Nicht mehr.« Sie trat aus dem Eingang heraus, behielt ihre gebückte Haltung dennoch bei. »Jeder Tag, den mich mein Sohn weiter bevormundet, ist eine Qual. Das ist kein Leben.«

»Stiefsohn«, warf Max ein.

»Sicher, Stiefsohn! Würde ich mein eigen Fleisch und Blut tot sehen wollen?«, antwortete Maria Deller mit herablassendem Flüsterton.

Max Heiliger zuckte mit den Schultern. Es war ihm einerlei. Er musste über Cornelius Deller nur so viel wissen, wie er wissen musste. V wie Verschwörung, dachte er. Eine meist zeitlich begrenzte Verbindung von zwei oder mehr Personen zu gegenseitigem Nutzen, in aller Heimlichkeit ausgeführt, häufig um den Einflussbereich eines anderen zu untergraben. Oft zu finanziellem Vorteil, zu mehr Machtgewinn in der Geschichte praktiziert. Nicht weniger selten führte der Erfolg einer Verschwörung über den Tod einer oder mehrerer Personen oder Personengruppen.

»Wach auf!«, schnauzte Maria Deller ihn viel zu laut an. »Schläfst du schon wieder? Was soll das werden? Du willst ein Auftragsmörder sein und schläfst schon im Stehen ein ...«

»Ich schlafe nicht«, sagte Max, ganz die Ruhe selbst, »ich habe nachgedacht.« V wie Verschwörung. Mehr als zwei Verschwörer bilden ein unnötiges Risiko. Zwei können sich gegenseitig kontrollieren. Ein Verschwörer muss misstrauisch sein. Gutgläubigkeit führt geradewegs ins Verderben. Hier hatte sich Oberst Entle zu einer Gefühlsduselei hinreißen lassen, wie Max Heiliger fand, unter dem Strich war er jedoch mit dem schweizerischen Offizier einer Meinung. »Wenn es schneller ablaufen soll, kostet das mehr«, fuhr Max mit selbstbewusst klingender Stimme fort. »Weniger Zeit, höheres Risiko.«

»Mehr? Wie viel mehr?«, zischte Maria Deller.

»Das Doppelte«, erwiderte Max ungerührt.

Ein Schütteln lief durch Maria Dellers hagere Gestalt. Ausdruckslos starrte sie ihn an. Endlich nickte sie.

»Die Hälfte davon gleich«, sagte Max.

»Ich habe nur das dabei, was vereinbart war. Glaubst du, ich renne in diesen Zeiten mit wer weiß wieviel Geld durch die Gegend?! Nachts?!« Die alte Frau griff in die Jutetasche.

Max hörte Papier rascheln.

»Hier«, meinte Maria Deller nach einer Minute, als sie sämtliche Geldscheine aus dem Beutel zusammengerafft hatte. »500 Euro. Mehr habe ich nicht dabei«, betonte sie noch einmal.

Max Heiliger hoffte, Maria Deller werde nicht das Zittern in seinen Händen sehen. Umso mehr bemühte er sich um Festigkeit in seiner Stimmlage, eine Spur tiefer, dunkler, selbstsicherer. Der Effekt auf Maria war sofort sichtbar. Der Trick hatte ihm damals in Jugoslawien geholfen. In Rumänien ebenso. Sogar in der ehemaligen DDR. Dort noch besser, da man an den Verladestationen seine geknurrten Worte verstand. Überrascht ließ sie das Geld los. »Ist so gut wie erledigt«, brummte Max und steckte die Scheine in die Innentasche seiner Jacke. »Mach dir keine Gedanken mehr um deinen Stiefsohn. – Ich brauche noch die Schlüssel.«

Maria überreichte ihm drei Schlüssel. »Rot ist für das Tor, blau für die Baracke, grün für die Werkzeughütte. Der Hund wird morgen eingeschläfert«, kicherte sie leise.

»Wie hast du das geschafft?«, fragte Max angewidert von ihrer Begeisterung.

»Ich habe denen gesagt, die Töle hätte mich gebissen.« Maria Deller zog den Ärmel ihres linken Unterarms hinauf. Im spärlichen Licht im Eingang des Kohlenkellers erkannte Max einen mit Blut durchtränkten Verband. »Hab ich selbst gemacht«, sagte Maria stolz. »Hat weh getan. Tut's noch. Aber das isses mir wert. Die verflixte Tetanusspritze auch! Cornelius hat nichts dagegen unternehmen können.«

Auf einmal schien keinem der beiden mehr daran gelegen, die eigene Stärke als Schild vor sich herzutragen. Plötzlich sahen beide alt und müde aus. Sie nickten sich abschließend zu und gingen, nachdem sie sich vergewissert hatten, dass keiner den Hof beobachtete und sich hinter den zahllosen Fenstern der umliegenden Stockwerke nichts rührte, schleichend davon. Max Heiliger verzichtete darauf, sie daran zu erinnern, dass sie nach Erledigung der Arbeit nicht 500, sondern 1500 Euro an ihn zu entrichten hatte. Das würde er zu gegebener Zeit nachholen.

In den letzten beiden Jahren hatte Max Heiliger diese ungewöhnlichen Gedanken gehabt. Böse Gedanken. Wie ein zartes Pflänzchen hatten sie sich durch die Asphaltdecke gegraben, die seine gemütliche Sozialisation bildete, und waren dann zu einem stattlichen Baum geradezu emporgeschossen. Jünger wurde er nicht, doch je älter er wurde, desto mehr verschoben sich die Werte, desto geringer wurden die Gewissenbisse, ein Umstand, der ihm häufiger aufgefallen war, den er allerdings stets erfolgreich an die Rückwand seiner Gedankenwelt gedrängt hatte, denn die Bosheit war zu jenem Zeitpunkt noch unwillkommen. Nach einer Weile ersetzte er Bosheit durch Eigennutz, Rücksichtslosigkeit, giftig glänzenden Egoismus. Ich muss essen, dachte er, auch im Alter. Nun wollen sie mir – uns, verbesserte er sich – die Grundlagen vorenthalten. Was soll mir schon passieren, lautete der nächste Gedanke. Max Heiliger beobachtete Verbrechensfälle und Gerichtsprozesse. Er schaute, wer welche Strafe für welche Tat erhielt und wie alt diese Verbrecher waren. Zwar plante er nun einen Mord, nur war er weit davon entfernt, sich mit diesen Verbrechern in einen Topf zu werfen. Ich bin nicht wie die! Diese Feststellung klang bei jedem Gedanken als Untertitel mit. Die, das waren diejenigen, die sich nie bemüht hatten. Die von Natur aus verkommen waren. Schlechte Menschen waren, wie sein Schwager Jupp. Ewige Drückeberger, die immer die Schuld auf andere schoben. Die das eigene Versagen auf andere schoben. Ein unbequemer Geistesblitz schoss durch Max’ Hirn. Das eine Wort – Versagen – blendete mit der Schärfe und der Endgültigkeit eines Fallbeils vor den übrigen dunklen Gedanken auf. Versagen! Dieses eine Wort verbreitete eine größere apokalyptische Stimmung als das andere unbequeme Wort – Gefängnis –, das Max dem Versagen folgend immer weniger Furcht einflößte. Gefängnis. Ein scheußlicher Ort, mit allerlei Geschichten behaftet, meist grauenhaft, so dass das Wort Gefängnis in seiner Gedankenwelt stets eine schwer vergitterte, aus rußgeschwärzten Steinblöcken bestehende Trutzburg war, hinter deren Mauren unbeschreibliche Dinge geschahen, in Räumen, die im Gegensatz zur Gigantomanie des Gebäudes so klein waren, dass sie es einem Insassen nur erlaubten, sich um die eigene Achse zu drehen und im Stehen zu schlafen. Wie lange mag's dauern, bis ich darin zugrunde gehe, überlegte Max und kam zu einem klaren Ergebnis. Bei besonderer Schwere der Schuld belief sich das gängige Strafmaß für Mord auf maximal 25 Jahre Haft. Die schaffe ich sowieso nicht mehr, zog Max sein Fazit. Und mehrere Morde? Im Zweifelsfall drohte ihm nach der Haft eine Sicherungsverwahrung. Darüber, wie er diesen Gedankensprüngen mit großer Ernsthaftigkeit einst gefolgt war, war ihm mittlerweile schleierhaft, und er konnte sich heute ein Grinsen über sein damaliges Unbehagen nicht mehr verkneifen. Ein Grinsen, das ihm mit der Planung über den bevorstehenden Mord gleich wieder verging. Ich kann das, dachte Max mit der Widerborstigkeit des von seiner Aufgabe Besessenen.

Einen Menschen zu töten, ist für einen Menschen, der nicht durch äußere wie innere Umstände dazu gezwungen wird, kein leichtes Unterfangen, hatte Oberst Utz Entle ausgeführt. Zwänge, entstanden aus Notlagen, Krankheiten, aus Leidenschaft, Hass, politischer Indoktrination und weiteren sehr unterschiedlichen Motiven, überdecken stets die natürliche Abneigung der menschlichen Psyche gegen Gewalt. Und es wäre ein Fehler zu glauben, eine rationale Entscheidung könne die Tötung eines Menschen beim ersten Mal vereinfachen, erklärte der schweizerische Offizier weiterhin. Für Entscheidungshilfen zur Tat siehe auch A wie Angst beziehungsweise F wie Furcht, G wie Gefängnis, G wie Gewissen, L wie Lampenfieber und P wie Polizei. Überwiegend aber verzichtete Oberst Entle darauf, seinen Leser von der Tat abzubringen. T wie Tat. Siehe auch M wie Mordtat. T wie Tat ausführen. M wie Morden. T wie Tötungsabsicht. T wie Tatort. Seite 820. In einer 8–Punkt–Schrift abgedruckt, also winzig und für Max Heiliger nur mit Lesebrille und Lupe gleichzeitig zu lesen, hatte sich der Auftragsmörder in spe über die richtige Wahl des Tatortes informiert. Die Beschreibung überzog mehrere Seiten.

Max Heiliger hatte sich für den Schrottplatz entschieden. Der Hund, ein großer Rottweiler, auf dem Gelände meist freilaufend, bereitete ihm nun auch keine Probleme mehr. Maria Deller hatte für die Hinrichtung des Tieres gesorgt. Cornelius Deller sollte erstochen werden. Das war beschlossene Sache. Zweifellos kein schöner Tod, immerhin aber glaubte Max Heiliger, es werde außerordentlich schnell vonstatten gehen und für Cornelius Deller keine Qualen bedeuten. Von der wirklichen Todesursache würde am Ende nichts nachweisbar sein. S wie Schwäche. Jeder Mörder wies eine Schwäche auf. Niemand war in seinem Verhalten, in seinem Auftreten, geistig wie körperlich perfekt. Oberst Utz Entle formulierte Schwäche als potentielle Fehlerquelle. Dann, resümierte Max Heiliger, bin ich eine einzige Fehlerquelle. Max besaß nicht die Kraft, um in einem Kampf gegen den vierschrötigen Cornelius Deller zu bestehen. Ihm blieb nur U wie Überraschung, das Überraschungsmoment. Nur eine einzige Gelegenheit. Mehr nicht. Kalter Schweiß trat auf Max' Stirn. Er hatte das Buch in aller Sorgfalt durchgeblättert, doch nirgends gab es den Hinweis, den wirklich praktischen Rat, wie man es bewerkstelligte, eine Schwäche in eine Stärke zu verwandeln. So, wie es oft propagiert wurde. Mit diesen Gedanken kehrte Max in die Wohnung zurück, wo er Emilie wach im Türrahmen zum Schlafzimmer stehend vorfand, leicht benommen und desorientiert. Ihre blassen Augen glommen im einfallenden Mondlicht des Deckenfensters.

»Max?«, fragte sie in einem Tonfall, der ihm das Herz zerriss. »Ich weiß nicht, wo ich bin.« Sie legte eine Hand vor den Mund. »Ich weiß nicht, wann ich bin«, stammelte sie.

»Es ist Nacht, mein Schatz«, antwortete Max und fühlte mehr, als er es selbst sah, wie ihre blinden Augen einen Kontakt herzustellen versuchten. »Du bist in unserer Wohnung und es ist noch viel zu früh, um aufzustehen. Komm, ich bringe dich wieder ins Bett.«

»Du warst nicht da«, stellte sie enttäuscht fest.

»Ich musste mal«, sagte er, während er sie Schritt für Schritt zum Bett führte.

»Mit Jacke?«, fragte Emilie über seinen Ärmel tastend. Die Enttäuschung in ihrer Stimme schwoll immer mehr an.

Max Heiliger überlegte kurz, wie er mit ihrem Misstrauen umgehen sollte. Er antwortete nicht, aus falschem Stolz heraus, denn schließlich unternahm er diese Aufgabe für sie beide, und er wollte ihr darüber keine Rechenschaft ablegen.

Keiner der beiden sagte ein weiteres Wort bis zum nächsten Morgen. Max Heiliger brannte für seine Aufgabe, die all sein Denken in Anspruch nahm. In dem Moment, da er Emilie versorgt wusste, gab er sich ganz der Lösung des Problems, wie er es insgeheim nannte, hin. Der Schrottplatz war für Cornelius Deller nicht der hauptsächliche Broterwerb. Längst wusste seine Stiefmutter über die wesentlich einträchtigere Beschaffung und Hehlerei von Kupfer und anderen Metallwaren Bescheid. Die Polizei hatte vor mehreren Monaten eine Durchsuchung durchgeführt, allerdings hatte der gewitzte Cornelius Deller entweder keine Hehlerware auf dem Gelände oder sie war gut versteckt gewesen.

»Gut versteckt«, hatte Maria Deller berichtet, »und ich weiß auch wo.« Sie hatte Max Heiliger die Verstecke gezeigt. Unter alten Schrottkarosserien verborgen. Lediglich über den Kran ließen sich die Verstecke öffnen und schließen. Auf dem matschigen Boden des Geländes, auf dessen Beschaffenheit Cornelius Deller aus diesem Grund peinlich genau achtete, genügten einige Runden mit einem Transporter, damit jegliche verräterische Spuren in Minuten ausgelöscht wurden. Die Ermittlungsbeamten hätten den Kupferhehler schon auf frischer Tat ertappen müssen. »Auf die Idee«, hatte Maria Deller gesagt, »den ganzen Platz umzugraben, sind sie nicht gekommen. Und ich hab's ihnen nicht gesagt. Wenn Cornelius im Knast landet, kann ich das hier trotzdem nicht verkaufen. Irgendwann kommt er wieder raus und ich bin ihn immer noch nicht los.«

Max Heiliger betrat am nächsten Sonntag, vier Tage später und drei Tage vor dem geplanten Abflug von Cornelius in den unverdienten Urlaub, den Schrottplatz. Es regnete. Ein kalter Oktoberregen mit dicken Tropfen, die beim Aufprall zerplatzten. Das kurze Stück von der Bushaltestelle hierher hatte ausgereicht, dem Regen genügend Gelegenheit zu geben, Max Heiliger bis auf die Unterwäsche zu durchnässen. Vernünftige Regenbekleidung nannte er nicht sein eigen. Nach den ersten Schritten auf dem Schrottplatz schwappte der Matsch über die Ränder seiner Schuhe ins Innere und quoll durch die Socken auf die blanke Haut. Regentropfen liefen über seinen Nasenrücken, sammelten sich an der Nasenspitze zu einem noch größeren Tropfen, der, als er endlich schwer genug war, sich löste und in beinahe trauriger Langsamkeit herab fiel. Max Heiliger atmete schwer und kämpfte sich über das Gelände voran, dem aus Altmetall geformten Labyrinth, wie ein Held im Märchen oder einer antiquierten Sage, auf der Suche nach dem Verderben in Gestalt eines Riesen.

Denn riesig war Cornelius Deller auch noch, nicht mütterlicherseits natürlich, nur von der Vaterseite her, des Mannes, der mit einer Größe von annähernd zwei Metern selbst Maria Deller überragt hatte. Cornelius hatte den hohen Wuchs seines Vaters nicht zur Gänze erreicht. Mit einer Größe von 1,95 Meter, breitem Kreuz und Stiernacken, wirkte er dafür umso bedrohlicher, wie er mitten in einem der Zufahrtswege zwischen den Schrottwagen mit seinem olivgrünen Armeeponcho bekleidet auf Max wartete. Sein Gesicht verschwand im Schatten der Kapuze. Von U wie Überraschung fanden sich Querverweise zu A wie Ahnungslos und T wie Täuschung. So hatte Max Heiliger gelernt, sich noch schwächer erscheinen zu lassen, als er in Wirklichkeit war und sammelte indes alle verbliebenen Kräfte für einen geballten Akt höchster Geschwindigkeit. Doch das sagte sich so leicht. Die schneidende Kälte setzte seinen alten und völlig untrainierten Muskeln gnadenlos zu. Den Stock hielt Max nicht so sicher in der rechten Hand, wie er es sich vorgenommen hatte. Alles in allem glitt er hinüber in einen sehr diffusen Zustand, in dem, verbunden mit dem strömenden Regen, eine erstickende Lethargie ein wünschenswertes Ziel zu sein schien. Gedankenlos und frei. Emilie. Ihr Name gleißte vor seinem inneren Auge mit der Gewalt einer Bombenexplosion auf. Für sie nahm er dieses Risiko auf sich. Emilie. Max Heiliger rang sich ein Lächeln ab.

»Was is jetzt so dringend?«, fragte Cornelius Deller den alten Mann. Wie immer verzichtete er auf eine Begrüßung.

Max kramte in seiner linken Jackentasche und zog eine vergilbte Polaroidaufnahme hervor. Er reichte sie an Cornelius, der sie im Regenschatten seiner Kapuze betrachtete und dabei mürrisch vor sich hingrunzte.

»Was is das für'n Dreck?« Cornelius Deller blieb kurz angebunden.

»Das ist die Aufnahme einer Instrumentenleiste eines Kadett, Baujahr 1969. Du erkennst die Anzeigen für ...«

»Ja, und?«, fragte Cornelius dazwischen und trat einen Schritt näher.

Wenigstens haben er und seine Stiefmutter die gleiche Redekultur, obwohl sie nicht im biologischen Sinne miteinander verwandt sind, dachte Max, nun von der Situation in den Mut hineingetrieben. »Hinten auf dem Platz hast du einen Kadett stehen, der rostrote, mit dem fehlenden Kofferraumdeckel. Das ist zwar alles Schrott, aber die Instrumente sind noch drin, und ich könnte ...«

»Muss ich mir ansehen«, sagte Cornelius Deller. »Komm mit.« Der Riese schritt voran und der kleine Held folgte langsam.

Max Heiliger rief sich in Erinnerung, was er tagelang, seit der Festigung des Plans, geübt hatte. Er rollte die Schultern, ballte die linke Hand zur Faust, bewegte die Arme wie ein alter Mann sie bewegen würde, der die Kontrolle über seine Extremitäten verliert. Etwas Wärme entstand, unerheblich gegenüber der eisigen Nässe überall auf seinem Körper. Den rechten Fuß etwas nach hinten versetzen, Standfestigkeit erzeugen, dachte Max Heiliger. Sogleich musste alles weitere in einer fließenden Bewegung erfolgen. Den rechten Arm heben, den Stock in eine waagerechte Position bringen, mit der linken Hand nach rechts übergreifen, auf Mitte des Stocks, von unten stabilisieren. Wie bei einem Bajonettangriff, wie bei einem Bajonettangriff, predigte sich Max Heiliger in Gedanken. Aus dieser Position heraus hatte er einen raschen Ausfallschritt zu tun, die Arme in einer schaukelnden Bewegung mit viel Schwung, vor allem Kraft, nach vorn gestoßen, den Oberkörper des Gegners mit der Spitze des Stockes gleich unterhalb des Brustbeins treffen – und dann drücken, pressen, stoßen, mit aller Kraft, allem Gewicht, mit allem, was noch vorhanden war, die Spitze durch den Kleidungsstoff, Muskeln und Gewebe am Knochen vorbei hindurch ins Herz treiben. Wenn möglich, den Gegner zu Boden ringen – verdammt, dachte Max Heiliger angesichts des breiten Rückens von Cornelius Deller vor sich – am Boden festnageln.

Max hatte geübt. Ein altes Lederkissen, gefüllt mit einem von Motten zerfressenen Winterpullover und einer alten Gummimatte, die als Fußabtreter vor ihrer Wohnungstür gelegen hatte, war von ihm mit zwei Zimmermannsnägeln in der genauen Höhe, in der er auch Cornelius' Brustkorb wusste, an der fensterlosen Wand des früheren Kinderzimmers befestigt worden. Hinter abgeschlossener Zimmertür hatte er das Lederkissen mit dem Stock angegriffen. Er hatte erst aufgegeben, als seine erlahmenden Muskeln in den Oberarmen mit stechenden Schmerzen rebelliert hatten. Über seinen keuchenden Atem hinweg hatte er Emilies Stimme in der Diele vernommen, die ihn gefragt hatte, was denn da drin los sei, ob er stürbe, Hilfe brauchte, und sie hatte besorgt an der Klinke gerüttelt. Z wie Zeuge. Oberst Utz Entle bezog in seiner Enzyklopädie über das älteste Verbrechen der Welt eindeutig Stellung zu diesem Schlagwort. Zeugen waren um jeden Preis zu verhindern. A wie Augenzeuge. Den brauchte Max Heiliger mit seiner Emilie nicht zu befürchten, nur tasten konnte sie, mit den Fingern erkennen und hören natürlich. Die Geräuschkulisse klang merkwürdig genug, um keinerlei zweifelsfreie Zuordnung zuzulassen, blieb aber auch in der Erinnerung haften wie einer von den gelben Klebezetteln, über dessen Gekritzel aus verwischtem Bleistift man noch nach Tagen grübelte. Max hatte das vollkommen durchlöcherte, bis auf die Zimmerwand durchstoßene Lederkissen abgehängt. Später, nach einem langen Gespräch mit Emilie – in dem er ihr versprach, nie wieder eine Tür abzuschließen, ihr indes auch eine Erklärung für das Gehörte schuldig blieb – hatte er den Inhalt des Lederkissens herausgezogen. Der ausrangierte Winterpullover hatte etliche Löcher mehr, und der Fußabtreter aus Gummi, schwer und dick, war regelrecht zerfetzt. T wie Tatwaffe. Oberst Entle riet bei der Auswahl der Tatwaffe zu längerem Überlegen. Tatzeit, Tatort und Tatwaffe mussten seiner Ansicht nach wie eine Abfolge von Zahnrädchen ineinander greifen. Max Heiliger hatte die Spitze seines Stockes kontrolliert. Sie hatte nur wenig gelitten, dennoch schärfte er sie in den kommenden Stunden mit einem Schleifstein nach.

Wie Cornelius Deller so vor ihm hermarschierte, völlig ahnungslos, ertappte sich Max Heiliger bei dem Gedanken, die Aktion einfach abzubrechen, sich umzudrehen und wegzugehen oder so zu tun, als habe er wirklich Interesse an den Instrumenten eines verlorenen Oldtimers. Oder, überlegte Max Heiliger so geschwind und so gemein, wie er es niemals für möglich gehalten hätte, ich bringe Maria Deller um die Ecke, behalte die 500 Euro und stehle den Rest einfach so. Vielleicht schiebe ich es ihrem Stiefsohn in die Schuhe und verlege den Tatzeitpunkt kurz vor seine Abreise. Nein, antwortete er sich selbst, nein, jetzt oder nie.

Die beiden ungleichen Männer bogen um eine Ecke innerhalb des Schrottplatzlabyrinths. Das Rostrot fiel sogleich ins Auge. Auch der pladdernde Regen konnte nichts an der Signalkraft der alten, wenn auch ausgeblichenen Lackierung ändern. Max Heiliger hatte diesen Wagen vor langer Zeit wie einen metallenen Bruder geliebt. Keiner der unzähligen Lastwagen, hinter deren Lenkrad er gesessen hatte, war ihm in Erinnerung geblieben. Mit dem Kadett jedoch verband er ein Stück seines Lebens. Den besten Teil. Der Kadett hatte irgendwann aufgegeben. Ich nicht, dachte Max entschlossen. Der Zeitpunkt rückte näher. Wieder rief sich Max Heiliger ins Gedächtnis, warum er hier war, warum er die Tat angeboten und geplant hatte. Für Emilie. Für Geld. Für ihre Existenz. Damit sie bis zum Ende, so lange es eben ging, zusammen in dieser Wohnung verbringen konnten, für sich, ohne die Gängelei von in grellem Weiß bekitteltem Pflegepersonal, das einem den letzten Rest Würde wortwörtlich abwischte. Max Heiliger gedachte diese Tat zu vollbringen, so lange es seine Kräfte gestatteten. F wie Fehlschlag. Einer hämmernden Kirchenglocke gleich schallte das Stichwort ins Gemüt. Die Todsünde, gefolgt von einem Dominoeffekt mit Gott an der Spitze, dem Teufel und der Hölle hinterdrein und einem Gefängnis weit abgeschlagen auf dem letzten Platz. Max Heiliger sammelte allen verbliebenen Mut, da er wusste, dass der Moment der Tat in wenigen Augenblicken bevor stand.

Cornelius Deller hielt an, besah sich den alten Kadett von der Motorhaube bis zum klaffenden Kofferraum.

Max Heiliger maß die Entfernung, trat im perfekten Abstand hinter Cornelius Deller, stemmte den rechten Fuß in den Matsch und griff den Stock fest, die Spitze voraus.

Der Riese drehte sich langsam um.

Unter der Kapuze des Armeeponchos begegnete Max Heiliger Cornelius' Augen. Der alte Mann warf sich in die einstudierte Bewegung hinein und stach zu.

Kapitel 2: Ein rostroter Kadett

Die Polizei hatte im Viertel der Dellers und der näheren Umgebung für große Aufmerksamkeit gesorgt. Es waren Andeutungen, kurze Beschreibungen, die wellenartig durch die Straßen wogten. Jeder Anlauf brachte Neues, überwarf bisherige Informationen und über allem prangte die zögerliche Überschrift von Cornelius Dellers Tod. Max Heiliger hörte Satzfetzen von an ihm vorbei flanierenden Passanten, als er von einem schnellen Einkauf aus einem Discounterladen zurückkam. Im Durchgang zum Hinterhof unterhielten sich Nachbarn in der Nähe der abgestellten Mülltonnen. Max, der am Morgen nur mit Mühe aufgestanden war, noch niedergerungen vom nackten Grauen seiner vollbrachten Tat, wurde immer neugieriger. Das Buch – Der kleine Mordratgeber – hatte ihn ausdrücklich vor diesem Gefühl und einem daraus resultierenden Fehlverhalten gewarnt. Wider jede Vernunft machte er Emilie und sich für einen Ausflug fertig.

»Das ist doch viel zu teuer«, hatte Emilie ihrem Max zugeflüstert, da dieser für zwei Kurzstreckenkarten drei Euro in bronzefarbenen Münzen auf das kleine Tablett des Busfahrers gelegt hatte. Max hatte ihr natürlich verschwiegen, dass sie sich den kleinen Luxus ausnahmsweise leisten konnten. Außerdem wollte er es ihr und sich nicht zumuten, durch den Feierabendverkehr zu schleichen. Er befürchtete auch, die Polizei werde mit ihrer Arbeit fertig sein, bevor sie anlangten. Ein wenig zeitlicher Spielraum schadete nicht. Es stimmte schon. Zeit war Geld. Und drei Euro wollte er für eine gesparte halbe Stunde Fußmarsch und ein geringeres Maß Erschöpfung gerne ausgeben.

Jeder zweite aus der näheren Umgebung musste sich hierher aufgemacht haben, denn vor dem Eingang zum Schrottplatz herrschte ein Andrang wie bei einem Volksfest. Endlich einmal passierte etwas! Nahe der leuchtenden Absperrbänder, die von den ermittelnden Beamten vor den Bretterzaun und die rostige Schranke zum Tatortgelände gespannt worden waren, tummelten sich zahlreiche Zuschauer, deren Aufregung von Minute zu Minute beträchtlich nachließ. Das Fernsehprogramm war doch spannender. Hintergründig wurde immer wieder eine Frage gestellt. »Kannst du was sehen?« Gefolgt von: »Was tut sich?«

»Kannst du was sehen?«, fragte auch Emilie ihren Max, noch überrascht von der Menschenmenge und der kurzen Erklärung, es müsse sich ein Verbrechen auf dem Schrottplatz ereignet haben, wenn die Polizei einen derartigen Aufwand betreibe. Die emotionslosen Rempeleien im Gedränge ließen sie beständig zusammenzucken.

Schützend legte er seinen freien Arm um ihre Schulter. Sie antwortete, indem sie ihre Hand nach Halt suchend um seine Hüfte schob. Nun, auf seinen Stock gestützt und auf den Zehenspitzen balancierend, schaute Max über die Köpfe der anderen Schaulustigen hinweg. Zu seinem Leidwesen gab es nichts Nennenswertes zu sehen.

»Du wolltest zum Laden«, sagte Emilie gerade laut genug, dass ihr Mann sie verstand. »Zum Laden. Müssen wir hier stehen bleiben? So was interessiert dich sonst nicht.«

»Das ist der Platz vom Deller«, meinte Max Heiliger, als sei das bereits Erklärung genug. Der fehlenden Reaktion wegen fügte er hinzu: »Den kann doch keiner leiden.« Max starrte auf den Schrottplatz und wähnte sich in Sicherheit. R wie Rückkehr zum Tatort. Bei manchen Tätern, so führte es Utz Entle mit offensichtlicher wie auch unterschwelliger Süffisanz aus, herrschte ein starker Drang, den Tatort neuerlich zu frequentieren, mehrmals sogar und sich von der Tat wie vom Geleisteten zu überzeugen, sich an den Ermittlungen zu ergötzen und das Selbstbewusstsein daran zu stärken. Nur kleine Geister, so schrieb der Oberst a. D., verhielten sich so. Der professionell agierende Mörder werde nie zurückblicken, eher Vorausschau halten. Max Heiliger sah das anders. Er hielt sich nicht für einen Kleingeist, nur für einen Amateur, der noch lernen musste.

Unweit von der Stelle, wo Emilie und er standen, waren an gegenüberliegenden Positionen Polizisten aufgestellt und nicht nur mit dem Zurückdrängen der Gaffer beschäftigt. Ab und an zückte der eine, mal der andere eine Kamera und fotografierte in die Menge. Der Grund für diese Maßnahme fand sich in den Warnungen und Verhaltensmaßregeln des Obersten: Die Beamten versuchten, den Täter in der Menge vor dem Schrottplatz zufällig abzulichten.

Max Heiliger wusste Bescheid. Seine Gegenmaßnahme bestand in Emilie. Welcher Mörder kehrte mit einer blinden Frau zu einem Tatort zurück? Niemand, beantwortete sich Max die Frage selbst. Trotzdem duckte er sich möglichst unauffällig, sobald er das Objektiv des einen wie des anderen Polizisten in seine Richtung schwenken sah. Sein gesamter Körper befand sich in einer sanften Vibration, vor Anspannung und Konzentration. Max Heiliger genoss dieses Gefühl beinahe lustvoll.

»Sollen wir nicht weiter gehen?«, fragte Emilie und rückte näher an ihn heran.

Max drückte sie an sich. »Noch nicht. Noch nicht.« Er hob den Kopf. In der Zufahrt des Schrotthandels, die sich einige Wagenlängen bis hinein in das Gelände zog, kreuzten im Minutentakt Polizisten den Weg, trugen etwas herum. Einer tapste durch den Matsch, als wisse er nicht so recht, wie mit diesem widerwärtig bei jedem Schritt glucksenden Untergrund umzugehen sei. Mit einem Zeigefinger wies er unnötigerweise der nachfolgenden Maria Deller die Richtung. Hexengleich flatterte ein schwarzes Wintercape hinter ihr her, so dass es aussah, als schwebe sie über den Boden. Kurz trafen sich ihrer beider Blicke und Max wie Maria versuchten eine harmlose Miene aufzusetzen. Es gelang ihm besser als ihr. Wahrscheinlich, übertrieb Max Heiliger in Gedanken, weiß sie nicht einmal mehr, was das ist. Maria Deller verschwand mit dem voranschreitenden Polizisten hinter einem Stapel platt gepresster Autowracks. Ihre Fußabdrücke füllten sich langsam mit einer sämigen, hellbraunen Flüssigkeit.

M wie Matsch. Oberst a. D. Utz Entle nannte den aufgeweichten Boden einen Segen und Fluch zugleich. Wer Matsch nicht den nötigen Respekt zollte, legte untrügliche Spuren zu seiner Verhaftung. Wer mit ihm umzugehen verstand, konnte sich nach getaner Arbeit unerkannt davon machen und jegliche Tat verbergen. Cornelius Deller hatte das gewusst und auf seinem Schrottplatz praktiziert. Max musste erst noch viel lernen, er hatte den Fluch am eigenen Leib erfahren. Über und über verschmutzt war er nach Hause zurückgekehrt und hatte seine Kleidung unter den forschenden Ohren seiner Emilie gesäubert und gesäubert und wieder gesäubert. Erst nach der dritten Trocknung, auch der Schuhe, glaubte er, nichts werde sich von normalem Straßendreck, wie er Stoffen stets anhaftete, unterscheiden. Max hatte das Waschen mit Hilfsbereitschaft erklärt. Das Herumrutschen in der Diele, auf der Spur, die er bis zum Badezimmer hinterlassen hatte, das Putzen der Wanne, der Waschmaschinentrommel, aus der seine Stimme so geisterhaft nach draußen geklungen und er eine Entschuldigung gemurmelt hatte, sorgte für Kopfzerbrechen bei seiner Frau. Als ihr Entschluss, sich über die Hilfsbereitschaft und Tatkraft ihres Mannes zu freuen, sich endlich freie Bahn schaffte, ging er mit Mopp und Wassereimer bewaffnet in den Hausflur hinaus. In Emilie Heiliger, geborene Mistel, aus gutem Hause stammend und Sauberkeit leidend, gewann der Zweifel erneut die Oberhand. Aber Max hatte sie anschließend beruhigt. Was bliebe ihm denn zu tun, lautete seine berechtigte Frage. Mit den Zähnen knirschend hatte er ihr gestanden, wie sehr ihn sein Gewissen mit dem Umstand belastete, ihr kein besseres Leben bieten zu können. Und das entsprach der Wahrheit.

So zierlich und zerbrechlich! Die Erkenntnis traf Max zusammenhanglos. Unter seinen Fingern fühlte er noch durch den Stoff von Emilies Jacke die dünne Haut seiner über alles geliebten Frau. Er spürte ihr Frösteln und schalt sich einen Narren. Zuvor hatte er in seinem Plan, Emilie mit zur Tatortbesichtigung zu nehmen, noch einen Anflug von Genialität gefunden. Nun schämte er sich mit gleicher Intensität. Im nächsten Augenblick wurde er abgelenkt.

»Der Conny ist tot«, sagte jemand unweit ihres Standortes. »Was für'n Scheiß.«

Emilie wandte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme erklungen war. »Joseph?«

»Nein«, antwortete Max schnell. Wieder duckte er sich. »Nein, bestimmt nicht«, sagte er eindringlicher, weil er nicht über seinen Schwager sprechen, noch ihn sehen oder hören wollte. Max Heiliger verabscheute seinen Schwager Joseph in dem Maße, wie seine Frau Emilie ihren Bruder abgöttisch liebte. »Da ist kein Joseph«, erklärte Max weniger ruppig als zuvor und schirmte seine Frau gegen die Richtung der Feststellung über Cornelius Dellers Zustand mit dem Körper ab. Einzig die Art und Weise, wie über den Stiefsohn von Maria Deller gesprochen worden war, versöhnte ihn ein wenig mit der unangenehmen Situation. Er selbst horchte, ob sich jemand, schlimmstenfalls Joseph, näherte. Hinter seinem Rücken geriet nichts in zusätzliche Bewegung und Max atmete auf. Nach einer kurzen Weile gestattete er sich einen Blick über die Schulter und ins Rund, entdecken konnte er die bizarre Leibesfülle des ungeliebten Schwagers nicht.

»War ja klar«, meinte eine Frau mit Kopftuch und Mantel in der Nähe. »Musste doch. Wär doch nicht zu glauben, wär's anders ausgegangen.«

Max nickte sachte. Wenn nicht er, dann jemand anderes. Irgendjemand hätte das Urteil, nein, die Vision der Gemeinschaft vollstreckt. Cornelius Deller, der Mann, der mit Alteisen nach Kindern warf, alte Frauen anspuckte und Hunde schlecht behandelte. Wie sollte solch ein Mensch denn sonst enden? Als Monster fassten viele in der Nachbarschaft den Verstorbenen zusammen. Andere formulierten es weniger schmeichelhaft.

Über den automobilen Überbleibseln vergangener Technikgenerationen erhob sich eine feingliedrige Silhouette, die sich bei genauem Hinsehen als Kran entpuppte, stark genug, um die ausgemusterten Straßenfahrzeuge auf dem Schrottplatz ihrer vorläufigen Ruhestätte zuzuführen. Der Ausleger war relativ kurz, deckte nur einen geringen Radius ab und musste bei Bedarf auf einem Kettenlaufwerk an andere Stellen verbracht werden.

Cornelius Deller hatte nach Aussage seiner Stiefmutter, offiziell gegenüber den Beamten der Kriminalpolizei, nur wenig Gebrauch von dieser Funktion gemacht. Eigentlich konnte sie sich nicht erinnern, ihn jemals weiter in Bewegung gesehen zu haben, als seine stationäre Position erlaube. So übersetzten es die Beamten. Präzise gesagt hatte sie: »Der stand schon immer da.«

Wer innerhalb der metallenen Gassen flanierte und die Autowracks betrachtete, die sich seitwärts türmten, dem wäre diese Tatsache sofort aufgefallen. Der äußerliche Zustand deutete nicht auf eine Veränderung des Bestandes in den letzten Jahren hin. Allein die Baujahre der hier deponierten Fahrzeuge lagen derart lange zurück, dass keiner der Polizisten, die an diesem Tag auf dem Schrottplatz nach bestem Wissen und Gewissen ermittelten, bei ihrer Konstruktion schon auf der Welt gewesen waren. Ebenso verhielt es sich mit den Pkws um den Kran. Dennoch hatte sie jemand in den letzten Monaten bewegt. Nicht nur einmal, sondern mehrmals. Bei einer dieser Arbeitsgänge, so rätselhaft sie auch auf den ersten Blick anmuteten, war eines der rostigen Relikte zu Dellers Unglück zu seinem zeitweiligen Sarg geworden. Oder auch zu einer metallenen Zudecke, wie einer der Polizisten scherzte. Der Rüffel eines Beamten von der Kriminalpolizei brachte den Mann zum Schweigen. Die erwünschte Betroffenheit sprang von einem zum anderen.

»Was'n das?«, brummte jemand, sobald die Kette des Krans anzog und mit bemerkenswerter Lautlosigkeit einen ehemaligen Pkw in die Höhe hob.

»Ein Kadett«, flüsterte Max Heiliger.

Nur Emilie verstand, seit Jahren darin geübt auch die leisen Töne zu vernehmen, die Worte ihres Mannes. Zuordnen konnte sie diese indes nicht. »Max?«

»Ein Kadett«, wiederholte Max hin zu ihrem Ohr gebeugt. »Ein rostroter Kadett. Sie ziehen ihn gerade mit einem Kran hoch.« Er hoffte, er verriete sich nicht mit seinem gepressten Tonfall.

»Einen rostroten Kadett? Du hattest früher einen rostroten Kadett. Warum ziehen sie ihn hoch?«, wollte Emilie wissen. Die Frage war naheliegend.

Max hätte sie ihr beantworten können, hätte er sich selbst ans Messer liefern wollen. »Ich weiß es nicht«, erwiderte er ihr folgerichtig. »Ich weiß es nicht.«

»Können wir jetzt gehen? Es ist zu kalt fürs Herumstehen. Da hätten wir daheim rumsitzen können. Das wär wärmer gewesen. Wenn wir nicht zum Laden gehen.« Emilies Stimme verfiel in den Nörgelton. Den hatte sie bereits in ihrem sehenden Leben beherrscht. In der Rückschau klang Max' vornehme Schwiegermutter in ihr durch.

»Noch nicht. Gleich. Nicht mehr lange«, beschwichtigte er seine Frau. »Wir gehen zum Laden«, sagte er, obwohl es ihn nicht dorthin zog. Das beharrliche Verschweigen der offiziellen Bezeichnung des Ladens machte es nicht leichter.

Die Karosserie des ausrangierten Automobils schaukelte sanft an den Ketten hin und her. Der Kranführer zog den Kadett noch ein wenig höher und drehte ihn dann aus dem Gefahrenbereich darunter, wahrscheinlich aus dem Grund, damit die Polizisten sich an den Flecken Erde trauten – ein Unfall mit diesem schweren Gerät genügte – wo das Wrack vormals im Matsch versunken war, mussten sie doch mittlerweile vor Augen haben, was das Gewicht des Fahrzeugs mit den sterblichen Überresten von Cornelius Deller angerichtet hatte. Max selbst haftete der Anblick noch im Gedächtnis, denn er hatte den Wagen nach dem ersten Fall auf Cornelius Dellers Leiche erneut hochgezogen, bevor er ihn wieder, aus größerer Höhe diesmal, auf den Toten fallen ließ. Nur auf diese Weise, so hatte es sich Max dank seiner Lektüre von »Der kleine Mordratgeber« gedacht, zerstörte er die Spuren seiner Stichattacke nachhaltig. Kein noch so gewiefter Pathologe fände Schnittspuren in einem derartig deformierten Leib. Selbst ohne den Motor reichte das Gewicht des Kadett aus, um Deller bis zur Unkenntlichkeit ... Max Heiliger beendete den Gedanken rechtzeitig, bevor sich die Bilder im Geiste manifestierten. Jetzt mussten die Polizisten um den Toten herumstehen, fassungslos vielleicht, das Fehlen von Spuren verdammen. Selbstverständlich hatten sich Fußspuren vollkommen verflüchtigt. Einer übergab sich vielleicht, seitlich des Tatorts natürlich, gerade so weit davon entfernt, wie er es mit seinem rebellierenden Magen noch schaffte. Dieser konnte auf die weiteren Spuren stoßen. Oder ein anderer Beamter, der sich fragte, was Cornelius Deller wohl an diesem Ort gesucht hatte, entdeckte eines der Verstecke unter dem Morast. Es spielte keine wirkliche Rolle, wie sie es fanden. Hauptsache war, es stützte die Theorie eines Unfalls. Aus dem ersten Versteck der Kupferteile ergaben sich weitere. Ein Hehler war bei seiner Arbeit ums Leben gekommen, würde das Fazit letztlich lauten. Cornelius Deller, so hatte Max sich seine eigene Theorie gebaut, hatte sich in das Führerhaus des Krans gesetzt und den Kadett in die Höhe gezogen. Zur Kontrolle seiner Bestände war er an die Falltür herangetreten. Ein Materialfehler in der Winde des alten Krans und ein Ausfall der Lastenbremse hatten für den Sturz des Kadett gesorgt. Den Schlüssel für den Anlasser hatte Max stecken lassen. Der Motor tuckerte, so war es beabsichtigt, die restliche Nacht vor sich. Entweder bis der Treibstoff zur Neige gegangen war. Oder bis ihn jemand am Morgen abgestellt hatte. Deller war – die Beamten mussten einfach zu dem Schluss gelangen, betete Max Heiliger inständig – sofort verstorben. Max hatte Dellers Kopf gesehen und hoffte, dass seine Theorie mindestens in diesem Bereich stimmte. Der selbsternannte Auftragsmörder, wie es in Max' Hinterkopf spöttelte, hatte es nämlich vermissen lassen, sich nach dem Stich in Cornelius Dellers Brust von dessen Tod zu überzeugen. Viele Handgriffe, so überlegt im Vorfeld und aus der beruflichen Vergangenheit ins Bewusstsein gezerrt, waren während des Tathergangs in ziemlicher Überstürzung erfolgt. Einzig hatte Max zu jedem Zeitpunkt darauf geachtet, keine Fingerabdrücke zu hinterlassen.

»Was geschieht denn?« Resignation unterstrich Emilies Worte.

»Sie haben offenbar was gefunden«, entgegnete Max mühselig, um jede Silbe ringend.

»Was ist? Was hast du?«, fragte sie besorgt und suchte seine Brust mit der freien Hand. Diese senkte und hob sich unter ihrer Berührung in einem panikartigen Stakkato. Ihr Max japste nach Luft. »Max? Sprich mit mir? Geht es dir nicht gut? Brauchst du Hilfe? Du atmest so ...«

Er lehnte sich gegen sie, gerade so sehr, wie er ihre Kraft einschätzte und sie ihn zu halten vermochte, schwang den Stock unter seine Achsel, wo er ihn einklemmte. Max legte seine Hand, noch verkrampft von der Umklammerung des Spazierstockes, auf die ihre, ganz bei sich in diesem glücklichen Moment, den ihm niemand mehr nehmen konnte, ganz gleich was noch geschah. »Es ist gut, mein Herz. Es ist gut. Es war nur für einen Moment – jetzt geht's wieder. Es geht wieder.«

D wie »Das erste Mal«. Siehe auch N wie Nachschock. Der erste Auftrag. Der erste Arbeitstag. Der erste Mord. Der erste Tote. Die Auflistungen im Buch waren vom Obersten mit einer charmanten Unaufdringlichkeit aufgeführt. Rational. Spartanisch. Dennoch überzeugend. Das erste Mal. Wenn die Erkenntnis bei einem gewöhnlichen Menschen reifte, einem solchen, der nicht über soziopathische Züge verfügte – S wie Soziopath, siehe auch Seite 603 – wenn man dem eigenen Spiegelbild die bittere Klarheit im Gesicht ablas, getötet zu haben, einem Akt, der wie nur wenige auf Erden, unumkehrbar war, dann brach für den normalen Menschen – den einzigen Begriff, für den Utz Entle eine klare Definition schuldig blieb – eine Welt, bei jedem Charakter in unterschiedlicher Größenordnung, mehr oder minder laut zusammen. In Max Heiliger lösten sich aus dem Schuttberg seines kleinen Universums immer noch Brocken und polterten, Staub aufwirbelnd, einen steilen, viel zu hohen Hang hinab. Du hast getötet. Dieser anklagende kleine Satz wehte auf dem Gipfel aller moralischen Reste als Schriftzug auf einem ausgeblichenen und im langjährigen Sturm zerfetzten Fähnchen tapfer und aufmüpfig, versagte aber vor den Erdbeben und Orkanen von Max' Missgunst, die am Ende aller Gedanken und widriger Gefühle mit unfassbarer Wut alles beiseite fegte und nur vor seiner Liebe zu Emilie die Flaggen streckte. Ich werde töten. Das war ein Satz, von dem es noch ein Zurück gab, der auch eine Spinnerei, eine dunkle, sein konnte, im Alkoholdunst gestrickt, nicht gemauert, jederzeit zu zerreißen. Du hast getötet. Die Anklage kam von außen, vom System, den erlernten Werten, die das Verteidigen des eigenen Umfelds nur im Rahmen von Gesetzen und einer der Zivilisation gemäßen Antwort erlaubte. Eine Antwort, die Max Heiliger nicht mehr schmeckte, weil sie ein fades Verkriechen, Zurückweichen, ja, eine feige Flucht war, die einen hinter die Barrikaden trieb, anstatt auf sie, wo einer doch sein sollte, wenn er für sich und seine Lieben stritt. Nicht mit dem Schicksal hadern ... »Bei den Eiern packen!« Max hörte seinen Schwager Joseph im Geiste sprechen, und ganz zwanglos und nur minimal widerwillig gab er ihm Recht. Das Schicksal bei den Eiern packen, dachte Max. Das werde ich. Ich habe getötet. So lautete die nächste Feststellung. Es folgte keine Begründung. Die brauchte Max Heiliger nicht. Nicht mehr. Er nahm die Tatsache an, nicht aufs Gewissen, sondern packte sie obenauf, auf alles Erlernte, Befohlene, Verordnete, dippte sie in das zuerst verdutzte und folgend ängstliche Gesicht von Cornelius Deller, das in Gedanken das Blickfeld ausfüllte, als die Spitze des Stockes in die Brust des anderen eingedrungen war und sogleich trieb das Bild auseinander wie eine Wasserfläche, in die ein winziger Tropfen gefallen war.

Eine falsche Bewegung und sein Stock fiel auf den Boden. Max drehte sich gefühlvoll aus Emilies Griff, entschuldigte sich, hielt an ihrer Hand fest, da er sich bückte und die Gehhilfe aufhob. In der Menschenmenge auftauchend, in Kopfhöhe, in deutlicher Kühle außerhalb der Leiber, die eine sonderbare Wärme abstrahlten, vertraut und unwirklich zugleich, bemerkte Max einen Polizisten, der das Schrottplatzgelände verließ und sich um Haltung bemüht neben einen Kollegen stellte. Einige merkwürdige Flecken auf der Uniform bestätigten Max' Überlegungen. Wenn es kein Matsch war, der sich dort abzeichnete, musste sich der Beamte übergeben haben. Dieser sprach zu dem anderen Mann, der ungerührt die Kamera auf den Kollegen richtete und das Malheur dokumentierte. Daraufhin machte er einen eleganten Schwenk über die Schaulustigen und blieb mit dem Objektiv auf Max hängen.

Max Heiliger lächelte ein heiteres, offenes Lächeln, geradewegs in die Kamera, herzte seine Emilie, sagte ihr, sie gingen nun. Zum Laden, wie sie es wollte. »Bitte«, sagte er, »dürfen wir vorbei?« Und die Leute machten den Alten Platz, denn das Paar sah so erbarmungswürdig aus. Hätte Max Heiliger diesen Eindruck erahnt, wäre ihm das Lächeln im Halse stecken geblieben. So aber dauerte es zwei Blocks, bis zum Laden mit dem wunderbaren Namen Reinoldus–Haus, in dem Bedürftige einkauften, in einer zweigeteilten Passage, Lebensmittel und Kühlraum in der einen Hälfte, vornehmlich Kleidungsstücke in der anderen Hälfte. Die nächste halbe Stunde verwendete Max darauf, seine Emilie in Kleiderfragen zu beraten und ihre Farben in den getragenen Stoffen zu finden. Lila und kräftiges Blau waren ihre Lieblinge. Für den nahenden Winter waren nicht viele Kleidungsstücke in ihrer Größe zu finden. Ihren farblichen Vorlieben konnte er nicht nachkommen. Karos fanden sich, das schreckliche Beige, ein mysteriöses Braun, viel Einfallsloses, eben Aussortiertes. Er beschrieb ihr die Kleidung, auch die Farben wahrheitsgemäß, ehe sie sich für eine Jacke und einen Mantel entschied, für die sie gespart hatte. Gleich auf dem Heimweg trug sie freudig die Jacke, er hatte den Mantel in einer Tüte für sie zu transportieren. Er tat es gern, so lange sie sich freute, und beide nahmen nicht so recht Notiz davon, zu Fuß bis in ihre Straße gegangen zu sein, bis Max ihre Haustür in hundert Schritt Entfernung erspähte. Und dort, davor wartend wie schon etliche Male zuvor, Joseph Mistel, Emilies Bruder, zuweilen aus seiner Zeit als Rausschmeißer im Rotlichtmilieu auch Jupp gerufen, die Daumen irgendwo weit unter dem riesigen Bauch in der Gürtelschnalle eingehakt. Max stoppte. Zerberus' Sohn, dachte er. »Wir gehen noch einen Kaffee trinken«, sagte er zu Emilie, weil er die Peinlichkeit, vielmehr seine eigene, irgendwie zu überwinden suchte, und der Aufenthalt in einem Café, eine gemütliche weitere halbe Stunde, eine Abwechslung sein würde. »Gehen wir einen Kaffee trinken«, sagte er noch liebevoller. »Und Kuchen essen.«

»Max?!«, empörte sie sich. »Das ist zu viel.« Im Geist rechnete sie, was es kostete, wenn sie tatsächlich in einem Kaffeehaus echten Bohnenkaffee tranken und Kuchen dazu aßen.

»Nein, ist es nicht. Heute nicht.« Er hatte eigentlich vorgehabt, sie mit einer gewissen Verve herumzubugsieren, aber sie hatten viel zu lange nicht mehr getanzt, so geriet der Schwung auf dem Ballen ungelenk und seine Führung außer Kontrolle, so dass er sie fast aus den Händen verlor und sie bedenklich nahe an den Bordstein wankte. Prustend vor plötzlicher Anstrengung fing er sie rechtzeitig auf.

Joseph hatte einen Zeigefinger in seiner linken Ohrmuschel versenkt, bohrte mit viel Finesse darin und vergaß darüber, weshalb er sich vor dem Haus, in dem seine Schwester wohnte, aufgebaut hatte. In dem Moment, in dem Max und Emilie um die Ecke außer Sicht entflohen, war Joseph der Faszination seiner breiten Boxernase erlegen, gab es aber bald auf, denn sie bot, weil drei Mal gebrochen und in jeweils unterschiedliche Richtungen getrieben, seinem Finger am Rand der verknöchert gezackten Nasenscheidewand nicht ausreichend Platz. Während die Heiligers im Café saßen, sich an frühere Zeiten erinnerten und Emilie kaum wusste, wie ihr geschah, jeder von ihnen nach der Tasse Kaffee noch eine heiße Schokolade zum Apfelstrudel trank, gab es Joseph endlich auf und trollte sich in die Kälte der aufziehenden Nacht.

Kapitel 3: Der liebe Herr Ganter

»Was heißt, du hast das Geld nicht?« Max trug seine Gefühle offen zur Schau. Er hatte auf dieses Geld gehofft, es gewollt, ja, verdammt, er hatte es verdient. »Du sagst mir, dass du das Geld nicht hast?!«

»Ich hab's nicht«, gestand Maria Deller wieder. Zum fünften Mal? Zum sechsten?

Max Heiliger hatte es nicht gezählt, wusste aber sehr wohl, dass seine Frage durch das hohe Treppenhaus hallen musste, den Treffpunkt, von Maria Deller selbst gewählt, um ihn so – Max konnte es nur vermuten – von Dummheiten abzuhalten. »Du sagst mir, dass du nicht nur nicht die vereinbarte Summe vollständig hast. Du hast erst recht nicht das Doppelte?« Er hielt inne, einen kalten Blick auf Maria Dellers Geierfratze gerichtet. Sie hatte ihr Wintercape übergezogen und stand ein paar Stufen über ihm. So wie er sich von ihrem Auftreten bedroht fühlte, wie sie so gemein und siegessicher auf ihn herab blickte, konnte er nicht anders, als den nächsten Satz abzufeuern. »Du sagst einem Mörder, dass du ihn nicht bezahlen willst?«, zischte Max in wohl dosierter Lautstärke, die so eben bis zu seiner Auftraggeberin reichte.