Apokalyxodus - Michael Nolden - E-Book

Apokalyxodus E-Book

Michael Nolden

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Beschreibung

Eine Atombombenexplosion in einem nicht weit entfernten Land. Der radioaktive Niederschlag nähert sich rasch. Die Menschen fliehen. Rike erzählt davon in ihrem Apokalyxodus-Vlog. Johnny sucht seine Tochter Rike. Hilde flieht mit Karina, obwohl diese nicht mehr weiß, wer und wo sie ist. Panda will sein Leben retten und geht dafür über Leichen ...

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Seitenzahl: 128

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APOKALYXODUS

von

Michael Nolden

Eine Science-Fiction-Novelle

in drei Akten

1: FLUCHT

2: MORGENROTH

3: IM BUNKER

APOKALYXODUS: Inhaltsverzeichnis

Titelbild

Titel

1. AKT: FLUCHT

1: DER BONSAI-GARTEN

2: DYSFUNKTIONAL

3: KONTRAPRODUKTIV

4: KNOCHENSACK

5: WICHTIG

6: ACHTUNG, BABY!

7: MÖHRCHEN

8: SCHRAUBENZIEHER

9: NIEMANDSLAND

10: ABFLUG

2. AKT: MORGENROTH

11: DIE AXT

12: SHITTY REAL!

13: STRASSENSPERRE

14: IM KESSEL

15: DER AUFHOCKER

16: SAUERKRAUT, HALTBAR

17: BUTTERBROTPAPIER

18: YELLOW BONK UND BLUE BUTTERS

19: SCHLECHTWETTERFRONT

20: WIEDERSEHEN

3. AKT: IM BUNKER

21: WEINERLICH

22: DAS TOR

23: DUNKLER BESUCH

24: HÖR DIE TROMPETEN!

25: LICHTSCHIMMER

26: KOMPOSITION

27: OFFLINE

28: KUMMER

29: FOMO

30: BRIEF AN NALU (UND DIE KIDS)

31: SILBERVOGEL

Rechtliche Hinweise

Impressum neobooks

1. AKT: DIE FLUCHT

Ein Rückblick ...

Die geteilte Stadt. Umgeben von Feindesland. Rotland. Streng gezogene Grenzen, Metallzäune, Stacheldraht, Minen, Wachtürme, Maschinengewehrnester. Und als symbolträchtiges Element stand wuchtig mittendrin eine Betonmauer. Grau und löchrig - der Einschüsse wegen, als Fluchtversuche verhindert wurden - von der einen Seite. Bunt, wüst von Graffiti übersät von der anderen Seite. Auf der Seite der Freiheit.

12. Juni 1987.

»General Secretary Gorbachev, if you seek peace, if you seek prosperity for the Soviet Union and Eastern Europe, if you seek liberalization, come here to this gate.«

»Was hat er gesagt?«, fragte Jann.

»Gorbatschow soll zum Tor kommen. Wenn er Frieden sucht. Wohlstand. Lockerung. Allgemein Lockerung, denke ich«, übersetzte die Frau an seiner Seite.

Das seidene Bettzeug raschelte.

Jann suchte unter der Decke nach ihrem Nabel.

»Mr. Gorbachev, open this gate. Mr. Gorbachev, tear down this wall!«

»Was will er denn jetzt noch?«

»Reagan sagt, der Gorbatschow soll das Tor öffnen. Und der soll die Mauer einreißen.«

Aus der Ansammlung der Schaulustigen rund um die Bühne erhob sich Jubel, Applaus, und Papierfähnchen wurden wild gewedelt. Die Politiker links und rechts des amerikanischen Präsidenten blickten zufrieden.

»Schauspieler«, nuschelte Jann. Er hatte endlich die Mulde an der Oberfläche ihres Bauches gefunden. »Mach die Glotze aus.«

»Da passiert was!« Francesca richtete sich auf.

»He! Hier passiert auch was!«, beschwerte sich Jann.

»Das ist Geschichte!«

»Geschichte gibt's jeden Tag! Reagan kann mich. Gorbatschow kann mich ...«

»Aber du kannst mich jetzt nicht!«, protestierte Francesca und schob ihn weg.

»Och? Wirklich jetzt?« Jann grummelte vor sich hin, tastete um sich herum, fand einen ihrer großen Zehen und knuddelte ihn.

»Lass den Blödsinn«, befahl die gebürtige Spanierin. »Jann, du brauchst mehr Aufmerksamkeit!«

»So was da?« Er schaute unter der Decke hervor.

»Nicht so was«, meinte sie, »aber so viel.« Eine eingehende Musterung seines Gesichts brachte ein Ergebnis. »Du brauchst einen neuen Look.«

»Look?«

»Und einen anderen Namen. Jann? Nein, damit wird das nichts. Ich finde einen für dich.«

»Einen anderen Namen?!«

»Klar!«

Zuerst erwiderte er gar nichts, dann, unter einer ihrer Tigerattacken aufs Bett gepresst, brachte er atemlos hervor: »Ja, Pupsie.«

»Nenn mich nicht so!«

»Was haste denn für einen Namen für mich? Süße?«

Der Aufruhr vor dem säulengestützten Tor, auf der Seite des britischen Sektors, wo der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika seine Rede gehalten hatte, legte sich. Ronald Reagan und seine Entourage aus Secret Service, Servicepersonal und deutschen Politikern verschwanden aus dem Blickfeld der Fernsehkameras.

»Die Amis sind in«, sagte Francesca, »was so richtig Ur-amerikanisches wär das, was du brauchst. Das zieht immer.« Ihr Gesicht verzog sich zu einem unverschämten Grinsen. »Ich hab's! Wir nennen dich ...«

»Ja?«

»Hm ...«

»Ja? Was? Wie? Wie soll ich mich nennen?«

»Sag ich dir schon noch! Das muss zu deinen Bildern passen!« Francesca machte eine mehrdeutige Geste und umfasste - die Hände zeichneten einen Halbkreis in der Luft - die Aktgemälde an der fensterlosen Wand. Pinke Körper vor safrangelben Feldern. Die Ölfarben glänzten unter dem Oberlicht im schrägen Dach. »Aber vorher ...«

»Kommt noch was?«

»Ja! Wir färben deine Haare! Blond!«

»Was?!«

1: DER BONSAI-GARTEN

Auf dem kleinen Bildschirm blühten die orangefarbenen Blumen in geradezu herzerfrischender Schönheit auf.

Johnny betrachtete ihr aufplatzendes Glühen mit einer Mischung aus aufgeregter Faszination und Angst.

Der erste Film war in Bodennähe entstanden, sehr weit weg, herangezoomt, wie die Bildunterschrift verriet. Die nächste Einstellung hatte eine weitere Blüte erfasst, viel größer als die vorherige. Ein blutunterlaufener Hintergrund diente Schwaden butterweißer aufgepuffter Partikel als Kontrastmittel, wie die davonfliegenden Samen eines verblühten Löwenzahns vor einem flammenden Sonnenuntergang.

Johnny ließ das Smartphone sinken.

Um ihn rannten die Mitglieder des Künstlerkollektivs herum. Hier in ein Atelier, da auf den Innenhof des umgebauten Gehöfts hinaus, die Köpfe in die Höhe gereckt oder rufend zusammengesteckt. Zu sehen war am Himmel nichts Bedrohliches. Ein paar weiße Wolkentupfer wehten über ein von Franz Marc bevorzugtes Blau hinweg.

Die behütete Atmosphäre von FIRFJOSS TOMATE war fort. Der Name ihrer kleinen kommunenartigen Vereinigung hatte zu allerhand Spekulation verleitet. Medial hatten sich journalistische Münder verknotet, das Rätsel der Entstehung von FIRFJOSS TOMATE zu lüften. Niemand aus ihrer Intelligenzija hatte sich die ordinäre Blöße geben wollen, es mit dem orgiastischen Ergebnis einer Palette Gin und daraus resultierendem ungraziösen Nacktturnen erklären zu wollen.

Das war es also, dachte Johnny. Dabei hatte alles so gut angefangen. Damals in den 1980er Jahren. So verheißungsvoll schon vor dem besungenen Zusammenbruch bestehender Strukturen. Man war bunter gewesen als die 1970er, abgefahrener. Er hatte Streifenhosen getragen, grünweiße, völlig unpolitisch. Röhrenhosen, so eng, dass sie einem die Eier zerquetschten. Der Falklandkrieg hatte die Erwachsenen empört. Imperialismus hatten welche geschrien. Nicht laut, denn die meisten wussten nicht einmal, wo Falkland lag.

England ist hier oben auf dem Globus, hatte jemand platt erklärt. Die Falkland-Inseln hier ganz unten. Argentinien ist gleich daneben. Klar, die Argentinier glaubten, dass die Inseln eigentlich zu ihnen gehörten. England wollte sie aber behalten, allen voran die Eiserne Lady, die Premierministerin Maggie Thatcher.

Johnny erinnerte sich, wie egal ihnen das gewesen war. England hätte behalten können, was es gerade wollte. Die aus der Oberstufe dachten anders und waren auf die Straßen gegangen. In den 1980ern konnte man es sich als Teenager erlauben, auf die Straße zu gehen. Es gab keine entnazifizierten Schupos mehr, die auf Jugendliche einprügelten, wie bei den 1968ern, und die mit ihren kochtopfähnlichen Tschakos auf dem Kopf einfach nur lächerlich aussahen. Es hieß: Atomkraft, nein danke! Und: 35 Stundenwoche. Beides von einer knuffigen Sonne überkrönt. Die Zukunft war strahlend. Strahlend schön.

Ja, dachte Johnny, das war ne Menge Spaß gewesen. Und erst die Neue Deutsche Welle! Das hatte ihn überhaupt zur Kunst gebracht! Alles war möglich! Graffiti und Extrabreit. Aktionskunst. Kiffen, Ficken - vor der HIV-Welle -, Sprayen, Malen. So tun, als hätte man was auf dem Kasten. In West-Berlin vor der Bundeswehr abhauen. Kapitalismus besiegte schließlich Kommunismus. Mauerfall. Die samstäglichen Sirenenübungen, immer pünktlich um dreizehn Uhr, schienen in den folgenden Jahrzehnten obsolet zu werden und entlockten allenfalls ein gequältes Gesicht wegen des überflüssigen Lärms. Dessen Signale ohnehin keiner zu entschlüsseln wusste.

Ihr ehemaliger Bauernhof lag weit draußen vor der Stadt, näher noch am kleinen Dorf Morgenroth - mit TH -, aber doch so abseitig von der Welt, dass die Sirenen heute wie ein unerwünschter Tinitus erklangen. Ein Insektensurren, nach dem einer schlagen wollte, weil es ärgerlich war, ein hohles, dummes Geräusch, das nicht in die Natur passen wollte und sich - nach kurzer Bedenkzeit - kaum irgendwo einfügte. Selbst wenn es gebraucht wurde.

Johnny betrachtete sein letztes Bild, eine Collage, unvollendet. Unzählige Bäume, alle auf unterschiedlichen Ebenen, unterschiedlichster Art, blättrig oder nadelig, zu verschiedenen Jahreszeiten, teilten sich eine gemeinsame Fläche, miniaturisiert und schlussendlich so grob in Quadrate aufgerastert, als blicke einer im LSD-Rausch in einen Wald und lande in einem Kaleidoskop. Johnny hatte das Bild Bonsai-Garten genannt.

Die Bewegungen der Kommune beruhigten sich. Der kunstbesessene Hühnerhaufen beendete sein konturloses Gegacker und Gerenne und sortierte sich zu Gruppen. Florabell, die ihm zwei ihrer abgeschnittenen roten Strähnen in seine goldblonde Mähne geflochten hatte, winkte die drei ältesten Mitglieder, Kriegskinder von einst, zu sich und nahm sie unter ihre Fittiche.

Johnny nickte ihr zu. Er band die schulterlangen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und pustete ein loses Haar seines Schnurrbarts von seiner Oberlippe.

Ein paar Freunde stolperten mit gepackten Koffern und Rucksäcken die enge Stiege aus dem ersten und zweiten Stock herunter. Einem fiel die Tasche aus der Hand. Sie polterte die Treppe herab, ihr Besitzer überschlug sich gleich hinterher und brüllte einen Schmerzensschrei.

Ja, der Spaß war vorbei!

2: DYSFUNKTIONAL

»Er rasiert sich anschließend mehrere Tage nicht, sag ich doch. Fühlt sich dann an, als würdest du einen Kaktus reiten.« Rike lachte. »Es gibt ja noch Keno. Meinen Kublai Khan.« Am anderen Ende der Leitung versagte ihr jemand die Zustimmung. »Ach, das weißt du doch. Ich bin nicht bereit, mich mit einem Leben zu begnügen. It's never too much sex, you know?« Beiderseitige Heiterkeit über den Atlantik hinweg. »Was ...«

Eine Kette klingelnder Laute verlangte Aufmerksamkeit.

»War das bei mir oder bei dir?« Sie schaute auf das Display ihres Smartphones. Ein Atompilz pumpte sein beinernes Antlitz auf. Aus schwarzen Augenhöhlen starrte ihr die Hölle entgegen. Rike schluckte nervös. »Ich ruf dich wieder an. - Ja. Bye!« Sie rollte vor ihre Wohnungstür und streckte eine Hand vor einen unsichtbaren Scanner hinter einer Wandpaneele. Das Schloss entriegelte sich, die Tür wurde von leise surrenden Elektromotoren langsam geöffnet. Rike bewegte den Rollstuhl händisch nach drinnen, gab den Befehl zum Schließen der Tür und schaute sich nach ihrer Tasche um. Natürlich stand der Vintage-Samsonite - über vierzig Jahre alt - an der gewohnten Stelle. Gepackt. Abfahrbereit.

Sie mochte die Wohnung und hatte viel Zeit und Geld darauf verwendet, sie nach ihrem Geschmack einzurichten. Viele Farben aus den 1970ern. Vorhänge voller Fantasieblüten. Bunt, knallig. Sitzmöbel, breit, abgerundet, prall, nicht viele, denn die waren nur für Gäste. Sie hatte ja ihren Rollstuhl.

Die Warn-App meldete sich. Nicht klingelnd, mehr wie quengelndes Quieken.

Sicherheitshinweise, erkannte sie auf den ersten Blick. Was tun, was nicht tun. Vor allem, bleiben Sie erst einmal, wo Sie sind. Bullshit, dachte Rike. Sie winkte mit der linken Hand einer Soundbox zu. »Hendrix. Star Spangled Banner.« Die unerträglich verzerrte amerikanische Nationalhymne jaulte durch die Wohnung. »Lauter«, sagte Rike. Die Soundbox gehorchte. Es schmerzte in den Ohren. Das beste Mittel, einer Lieblingsspeise endgültig zu entsagen, sie loszulassen, war, ihren Geschmack zu zerstören. Mutters Worte. Bevor sie nach Indien entfleucht war. Niemand konnte sich unter den Klängen dieser E-Gitarre wohlfühlen. America's Nightmare.

»Samsonite«, sagte die junge Frau. Das mit modernster Elektronik gepimpte Gepäckstück erhob sich auf seine vier Rollen. »Koppeln«, befahl Rike dem Koffer. Der Samsonite tat eine Vierteldrehung. Ein Laserauge suchte den Kontakt zu ihrem Rollstuhl. Der Bestätigungston eines Glöckchens klang allzu fröhlich. Und wurde sogleich von Jimmy Hendrix brachial unterdrückt. Unter gequälten Gitarrenriffs vollführte Rike eine halbe Drehung. Den Koffer im digitalen Schlepptau verließ sie die Wohnung, gerade als das Star Spangled Banner in sich zusammenbrach. Das Türschloss verriegelte sich hinter ihr. Rike war zweiundzwanzig und empfand sich als dysfunktional.

»Okei«, sagte sie - sie meinte Okay, hatte sich aber angewöhnt, es so auszusprechen, weil es anders war, und anders war gut; anders war immer gut; sie hatten darum gekämpft, anders zu sein -, »da isses also! Ich hab gedacht, da ist irgendwer schlauer. Ein paar von uns müssen wohl schlauer sein. Hab ich gedacht. I think that God's got a sick sense of humor, you know?« Ein mechanischer Schwenkarm ragte über ihre Rückenlehne hinaus. Die Kamera daran hing fünfzig Zentimeter vor ihrem Gesicht. Die Ausrichtung des Mikrofons erfolgte automatisch. »Rike hier! Okei, little Lyddies, das ist der Apokalyxodus-Vlog. Live. Der Auszug aus dem gelobten Land. Die Flucht. Als Soundtrack empfehle ich ROAD TO NOWHERE. Von den Talking Heads. In Schleife. Ja, right, ich hab nen gepackten Koffer. Echt! Ich hab ne Reiseroute. Was glaubt ihr? Wohin geht die Reise? Ich glaub, ich muss flexibel sein. Da wird viel ausfallen, viel verstopft sein. Schau'n wir, was der - der viel beschworene Zusammenhalt macht.«

Unten auf der Straße fuhren Lastwagen vorbei. Der Boden vibrierte. Drei an der Zahl. Eine Sirene heulte auf. Feuerwehr. Oder ein Krankenwagen.

»Hört ihr das? Es geht los. Denke ich. Obwohl ...«

Von hinten im Hausflur kam jemand angerannt, Ziel: Aufzug. »Verpiss dich da!«, hörte Rike über die Schulter. Der Chaot aus Fünf-G. Reiche Eltern. Rücksichtslos. Fett um die Hüften, kurze Beine, o-förmig. Er trat den Samsonite aus dem Weg.

Der Koffer landete auf der Seite. Rike meinte ein empörtes Piepsen zu hören. Diggi-Samsons Räder rotierten in der Luft. Ein Klirren kündete vom Zerbrechen ihrer Lieblingstasse im Innern des Hartschalenbehälters.

»Schickse!«, rief Fünf-G im Vorbeilaufen. Seinen Namen hatte sie nie erfahren.

»Arsch«, flüsterte Rike und machte sich daran, den Samsonite wieder auf seine Rollen zu stellen. Es war umständlich, vornüber gebeugt im Rollstuhl. Sie spürte, wie sich ihre Muskeln verkrampften. Hätte doch das Workout-Programm machen sollen, dachte sie ein wenig schuldbewusst. Als das Werk vollbracht war, klopfte sie dem Koffer auf den Deckel. »Koppeln«, sagte Rike. Der Laser verband sich mit dem Scannermodul an ihrem Rollstuhl. Munteres Klingklang bestätigte die digitale Fessel. »Wo war ich? Irgendwas mit Scheiße? Flucht, oder so?« Die junge Frau stieß sich ab und bewegte sich zum Fahrstuhl. »Okei, geh'n wir auf'n Trip! Bereit, Lyddies?« Pause. »Ich bin's nicht.«

3: KONTRAPRODUKTIV

Ihr Name war Midnight, und sie war ein schwarzer Cocker Spaniel.

»Das ist kontraproduktiv.«

Midnight schnupperte an der geöffneten Hand der alten Frau und leckte ihr die Finger.

Diese zuckte vom unerwarteten Körperkontakt zusammen. In krummer Haltung starrte sie auf die Schiebetür, hinter der sich ein Tumult vorbeischob. Menschen schrien einander an, riefen sich etwas zu. Nichts davon war nett gemeint. »Das ist kontraproduktiv.«

Die Cocker-Spaniel-Dame setzte sich neben den Rollator, auf dem ihr altes Frauchen Platz genommen hatte.

Frau Doktor Karina Schönfelder erkannte Midnight seit mehr als einem Jahr nicht mehr.

Midnight war verwirrt, weigerte sich aber mit der gleichen Vehemenz, mit der Karina ihr Nichterkennen verteidigte, ihre beharrlichen Versuche, ihrem Frauchen doch noch ein Wiedererkennen zu entlocken, aufzugeben.

»Puh!« Frau Doktor Hilde Puddingholm kletterte behände auf den Fahrersitz des Oldtimer-Krankenwagens vom Typ Mercedes Benz 207D, alt, bezahlt, ohne medizinische Ausstattung, entkernt sozusagen, eine Art Trophäe für ihren jahrzehntelangen Einsatz, als nostalgisches Dankeschön in der Garage aufbewahrt, und nun endlich nützlich. Unter dem Rückspiegel baumelte ihr Bundesverdienstkreuz träge wie ein esoterisches Pendel. Es war Hilde vor neun Jahren verliehen worden, weil sie eigenständig Krankentransporte aus der ganzen Welt, vornehmlich aus Kriegsgebieten, nach Deutschland organisiert hatte. Nahezu ihr gesamtes Vermögen war dadurch aufgebraucht worden.

»Das ist kontraproduktiv.« Karina hatte sich mit sich selbst auf die Wiedergabe dieses Satzes geeinigt, manchmal ergab er Sinn, meistens jedoch nicht. Sehr selten schlichen sich andere Worte in ihr Repertoire. In der überwiegenden Zeit war niemand in der Nähe, der den Unterschied bemerkte.

»Alle abfahrbeit, ihr Lieben? Karina?«

»Das ist kontraproduktiv.«

»Gut. Dachte ich mir. Midnight?«

Die schwarze Cocker-Spaniel-Dame hatte ihren Namen vernommen und bellte eine Antwort.

»Sehr gut«, sagte Hilde. Sie drehte den Zündschlüssel. Der Dieselmotor war kurz nach Übernahme des Transporters ausgebaut und durch einen Elektroantrieb ersetzt worden. Die Kfz-Techniker hatten Hilde geraten, die Startvorrichtung gleich mit auszutauschen, aber sie wollte auf das Relikt einer liebgewonnenen Vergangenheit - Schlüssel stecken und Drehen - nicht verzichten. Ein ordinärer Knopfdruck zum Anlassen des Fahrzeugs schien ihr einfach zu wenig zu sein. Ja, genau, das war es. Zu wenig. Für sie war das einer der Mängel dieser Epoche. Zu wenig erforderlicher Aufwand. Zu viel Bequemlichkeit, selbst im Kleinsten. Zu schwierig, all das zu umschiffen. Probeweise betätigte sie das Gaspedal, welches, praktisch betrachtet, diesen Namen nicht mehr verdiente. Aus einem brummenden Tuckern war ein elektrisches Schnurren geworden.