Der Klon - Jens Lubbadeh - E-Book

Der Klon E-Book

Jens Lubbadeh

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Beschreibung

Berlin im Jahr 2033. Die Journalistin Mara Erhardt hat herausgefunden, dass ein koreanischer Biologe jahrelang illegal Menschen geklont hat. Eine Spur führt nach Berlin, zu zwei Studenten. Doch als sie die jungen Männer ausfindig macht, überstürzen sich die Ereignisse. Denn es gibt noch eine Spur nach Deutschland – zu einem Klon des größten Verbrechers der Geschichte: Adolf Hitler. Und die Auftraggeber wollen nicht, dass dessen Identität zu früh enttarnt wird. Für Mara beginnt ein tödlicher Wettlauf gegen die Zeit – und gegen eine verhängnisvolle Wiederholung der deutschen Vergangenheit …

  • Welches Schicksal lauert in deinen Genen? – Der neue packende Science-Thriller von Jens Lubbadeh
  • Hitler ist in einem illegalen Genlabor heimlich geklont worden. Doch nicht einmal Der Klon selbst weiß, wer er wirklich ist
  • Für alle Leserinnen und Leser von Andreas Eschbach, Robert Harris und Marc Elsberg

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Seitenzahl: 549

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Das Buch

Berlin im Jahr 2033. Die Journalistin Mara Erhardt hat herausgefunden, dass ein koreanischer Biologe jahrelang illegal Menschen geklont hat. Eine Spur führt nach Berlin, zu zwei Studenten. Doch als sie die jungen Männer ausfindig macht, überstürzen sich die Ereignisse. Denn es gibt noch eine Spur nach Deutschland – zu einem Klon des größten Verbrechers der Geschichte: Adolf Hitler. Und die Auftraggeber wollen nicht, dass dessen Identität zu früh enttarnt wird. Für Mara beginnt ein tödlicher Wettlauf gegen die Zeit – und gegen eine verhängnisvolle Wiederholung der deutschen Vergangenheit …

Der Autor

Jens Lubbadeh ist Journalist und hat bereits für »Die Zeit«, »NZZ«, »Bild der Wissenschaft«, »Technology Review«, »Spiegel Online« und viele weitere Print- und Digitalmedien geschrieben. Für seine Arbeit wurde er mit dem Herbert Quandt Medien-Preis ausgezeichnet. Mit seinem Romandebüt »Unsterblich« und den Science-Thrillern »Neanderthal« und »Transfusion« hat er Kritiker und Leser gleichermaßen begeistert. Jens Lubbadeh lebt in Berlin.

Mehr über Jens Lubbadeh und sein Werk auf

JENS LUBBADEH

DER

KLON

ROMAN

Originalausgabe

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe 06/2022

Redaktion: Hanne Reinhardt

Copyright © 2022 by Jens Lubbadeh

Copyright © 2022 dieser Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung und -illustration: DASILLUSTRAT, München, unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock.com / In-Finity

Satz: KCFG–Medienagentur, Neuss

ISBN: 978-3-641-24155-1V003

diezukunft.de

Das Wasser ist kalt, bitterkalt, und der Moment des Eintauchens raubt ihm den Atem. Er kennt dieses nasse Element bis jetzt nur mit Schwimmflügeln an den kleinen Armen. Wild schlägt er um sich und versucht, Halt zu finden, aber es ist überall, umgibt ihn, saugt ihn hinab. Er weiß noch nicht, wie er mit Wasser umgehen muss. Er hat noch nicht gelernt zu schwimmen.

Luftblasen vor seinen Augen. Wasser dringt in seine Nase, will durch die Lippen hindurch in seinen Mund.

Er hustet. Jetzt ist die Panik da. Sein Herz hämmert. In seinen Ohren rauscht es. Manchmal stößt sein Kopf durch die Wasseroberfläche, und er sieht das Segelboot und die Menschen darauf. Er sieht seine Mama und seinen Papa. Sie winken wild mit ihren Armen, sie schreien. Er versteht nicht, was sie sagen, aber sie haben Angst. Angst um ihn.

Das Wasser ist rau, voller Wellen. Nicht weit entfernt sieht er einen anderen Kopf auftauchen und nach Luft schnappen. Dann sinkt er wieder.

Er hat das Gefühl, atmen zu müssen. Der Drang ist mächtig. Instinktiv weiß er, dass er nicht atmen darf. Doch irgendwann wird er müde.

Er öffnet den Mund und lässt das Wasser hinein.

1

BERLIN, 2033

Er war seinem Original ähnlicher geworden in diesen vier Jahren. Hagerer. Männlicher.

So viele Menschen hatte er sterben sehen. Es hatte sein müssen. Es war wichtig gewesen für seine Entwicklung.

Alina Schalk stand in der Eingangshalle des Berliner Flughafens und sah Arthur langsam und mit düsterer Miene auf sich zukommen. Sie war eine schlanke Frau, die dunkelblonden Haare zum Zopf gebunden, wie immer etwas zu straff, was ihren zielgerichteten Blick noch härter wirken ließ.

Er erkannte sie in der Menge, und sie sah, dass er einen Augenblick lang zögerte. Ihre Brille war neu. Sie hatte absichtlich rundliche Gläser gewählt, in der Hoffnung, ihre strengen Züge etwas weicher zu machen.

Alina Schalk lächelte. Sie freute sich tatsächlich, ihn zu sehen. Dennoch gehörte Lächeln nicht zu den Ausdrücken, die man häufig in ihrem Gesicht fand.

»Arthur!«, rief sie und lief ihm entgegen. Sie breitete die Arme aus, bereit, ihn zu umarmen, aber er ging nicht darauf ein.

»Hallo«, sagte er mit unbewegtem Gesicht.

Sie wusste: Er wollte nicht hier sein. Sie hatte ihn genötigt zurückzukommen. Hatte ihn aus seinem Leben gerissen, von seinen Freunden getrennt. Es war notwendig gewesen. Nach dem, was in Baghuz passiert war, hatte sie befürchtet, dass die Dinge entgleisen könnten.

Unsicher blickte er in die Menge der freudigen Menschen, die ihre Liebsten begrüßten. Das musste befremdlich für ihn sein. Er kam direkt aus dem Krieg.

Jetzt war er wieder hier. In Deutschland. In Berlin. In einer komplett anderen Welt als dem zerrissenen Syrien.

»Hattest du einen guten Flug?«, fragte Alina.

Arthur nickte. Wortlos ging er neben ihr her. Sie spürte, dass er nicht reden wollte.

Für ihn war sie immer eine Vertrauensperson gewesen. Eine gute Freundin seiner Mutter Rebecca, mit der er ein sehr enges Verhältnis gehabt hatte – bis zu ihrem Tod. Der Vater war natürlich ebenfalls schon tot, auch dafür hatte sie gesorgt. Sie war als Arthurs Vormund bestimmt worden, hatte ihm Geld gegeben, ihm eine Wohnung besorgt.

Ihn nach Syrien zu bekommen hatte langfristige Planung erfordert. Erst hatte sie ihm eine Reise nach Jordanien geschenkt – vorgeblich, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. In der Wüste des Wadi Rum würde er zu sich selbst finden. Diese Weite, diese Stille. Außerdem hatte sie ihn mit der Kunst gelockt: Die fantastischen Gesteinsformationen würden ihn inspirieren und großartige Motive bieten.

Sie lag richtig: Arthur flog nach Jordanien. Dort hatte er – »zufällig« natürlich – zuerst Andrew kennengelernt, den coolen Aussteiger und Abenteurer, der ihn mitgerissen hatte mit seinem Enthusiasmus und ihn mit nach Syrien nahm. Beide trafen sie dort auf Wadi, ebenfalls ganz zufällig.

Natürlich hatte Alina Schalk Missbilligung und Protest vorgetäuscht angesichts seines Vorhabens, mit Andrew und Wadi an die Front zu gehen – was hätte er auch anderes erwartet von einem Vormund.

Ihr Plan war aufgegangen.

Am Auto angekommen, zückte Arthur sein Zigarettenpäckchen und steckte sich eine an. Er hatte sich das Rauchen angewöhnt, was ihr nicht gefiel – sein Original war strikter Nichtraucher gewesen. Doch sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, weil sie seinen Groll nicht weiter anfachen wollte.

Ihr entging nicht, dass seine Hand zitterte, als er die Zigarette zum Mund führte.

Er nahm einen schnellen Zug und bemühte sich, das Zittern vor ihr zu verbergen.

Arthurs schmales Gesicht war härter geworden, das Kinn spitzer, die Wangen hohler. Unter seinen Augen lagen tiefe, dunkle Ringe. Er wirkte noch ernster. Der Schnurrbart, den er sich hatte stehen lassen, machte ihn älter. Außerdem hatte er an Gewicht verloren. Der Krieg hatte ihn zum Mann gemacht. So sollte es sein.

Wie jedes Mal, wenn sie ihn sah, suchte sie in seinem Gesicht nach Ähnlichkeiten mit seinem Original. Die schwarzen Haare hatte Arthur sich in Syrien stoppelkurz rasieren lassen, was es schwerer machte, die Übereinstimmungen zu erkennen. Aber der Rest passte. Das längliche Gesicht, die eindringlichen blauen Augen. Auch Arthur hatte, wie sein Original, schlechte und schiefe Zähne gehabt. Aber sie hatte Rebecca gedrängt, sie ihm schon im Kindesalter zahnärztlich und mit Spangen korrigieren zu lassen.

Ansonsten ähnelte er dem jungen Adolf Hitler sehr. Sofern man das sagen konnte, es existierten ja nicht viele Bilder vom Führer aus diesen jungen Jahren. Nur eine Sache hatte sie immer gewundert: Arthurs Blick war einnehmend. Die Augen hatten auch das auffällige Blau, das an Hitler immer hervorgehoben wurde und das man leider auf den Schwarz-Weiß-Aufnahmen nicht erkennen konnte. Aber Schalk vermisste dennoch das Hypnotische in Arthurs Augen, das, was Hitler immer nachgesagt worden war: dass der Diktator jeden, der mit ihm sprach, nur mit dem Blick in seinen Bann schlagen konnte.

Nun, dafür gab es mehrere mögliche Erklärungen. Zum einen sahen Klone, entgegen allgemeiner Annahme, nicht immer einhundertprozentig so aus wie ihr Original. Kleinere Abweichungen waren möglich, so wie bei eineiigen Zwillingen ja auch. Moon hatte ihr und Bernd das immer wieder gesagt. Zum anderen war das menschliche Gedächtnis ein trügerischer Kamerad. Menschen verklärten ihre Erinnerungen, mystifizierten, dichteten hinzu. Hitler war eine Ausnahmegestalt gewesen, die meisten Zeitzeugenberichte stammten aus einer Epoche, in der er bereits eine Berühmtheit gewesen war. Wer konnte dem Führer gegenüber da noch objektiv sein?

Arthur rauchte weiter, während sie in Richtung Innenstadt fuhren. Sie ließ ihn gewähren, obwohl sie Zigarettenrauch hasste, vor allem in ihrem Auto.

Arthur inspizierte interessiert ihren Wagen.

»Elektro.« Sie zuckte mit den Schultern. »Unsere linke Regierung hat mich mehr oder weniger dazu gezwungen, meinen Verbrenner aufzugeben.«

Als er nichts sagte, redete sie weiter, um die Stille zu füllen. »Ich habe dir eine Wohnung in Prenzlauer Berg besorgt. Im Bötzowkiez. Wird dir gefallen. Altbau, Stuck, drei Zimmer, Balkon. Du hast jede Menge Platz.«

Er schwieg weiter und blickte aus dem Fenster. Sie fuhren durch Neukölln. Die türkischen und arabischen Läden rauschten an ihnen vorbei, getunte Teslas und BMWs mit modifiziertem künstlichen E-Motorensound dröhnten die Straße hinunter, bärtige dunkelhäutige Männer am Steuer, die Haare eigenwillig rasiert und zurückgekämmt. Alina Schalk spürte die Blicke aus den dunklen Augen auf sich, und sie musste gegen ihre Verachtung ankämpfen. Neukölln war der Abschaum Berlins, ein verlorener Stadtteil. Die ganze Stadt war verloren, eine Failed City, der nicht funktionierende Teil Deutschlands, wie es sogar einmal ein Grünen-Politiker formuliert hatte. Aber all das würde sich ändern. Sehr bald schon.

»Warum hast du mich zurückgeholt?«, fragte er. Seine Stimme war teilnahmslos. »Warum jetzt?«

Er sah sie von der Seite an, die Falte zwischen seinen Augenbrauen war bemerkenswert tief für sein Alter. Für einen Moment erkannte sie in seinem Gesicht einen Anflug von unbändiger Wut. Gut. Die Wut war Hitlers Lebensantrieb gewesen.

»Es war notwendig«, sagte sie ruhig. »Meinst du nicht? Nach Baghuz?«

Fast unmerklich zuckte er zusammen, als sie den Namen des Dorfes aussprach. Eigentlich hatte sie ihn noch eine Weile in Syrien lassen wollen. Aber nach dem Massaker hatte sie die Notbremse ziehen müssen. Sie hatte ihm mit Geldentzug drohen müssen, damit er zurückkam.

»Es ist besser so, Arthur. Glaub mir. Komm erst einmal wieder an. Akklimatisier dich. Außerdem würde Bernd dich gerne kennenlernen und dir etwas vorschlagen. Er lässt Grüße ausrichten.«

Arthur kannte Bernd Sörensen nur aus ihren Erzählungen – und natürlich aus den Nachrichten. Er wusste von Alinas politischen Aktivität, er kannte den »Deutschen Weg«, aber sie hatte es auf Geheiß von Sörensen stets vermieden, mit Arthur darüber zu sprechen. Es war zu früh gewesen, Hitler hatte als Jugendlicher auch noch keinerlei politisches Interesse oder Aktivitäten gezeigt. So hatte Sörensen es bisher auch abgelehnt, Arthur persönlich zu treffen. Er war sehr bedacht darauf, die Entwicklung des Jungen nicht in falsche Bahnen zu lenken. Nachdem Arthurs Vater »verunglückt« war, hätte der Junge jeden neuen Mann in seinem Leben als Vaterfigur akzeptiert – so jedenfalls Sörensens Sorge. Schalk fand es etwas übertrieben, aber so war Bernd nun mal: hochneurotisch.

Arthur kramte in seinem Rucksack, er war alles, was er an Gepäck hatte.

»Hast du viel gezeichnet?«, fragte sie.

Die Metallrolle an der Seite des Rucksacks war ihr sofort aufgefallen. Doch sie wusste es ohnehin von Andrew, wie sie alles wusste, was Arthur in diesen vier Jahren in Syrien getan hatte. Andrew, von dem Arthur dachte, dass er sein Freund und Kamerad sei. Der in Wahrheit von ihr und Bernd beauftragt worden war, Arthur zu beschützen – und zu überwachen.

Es war ihm sichtlich unangenehm, als sie ihn auf seine Zeichnungen ansprach, aber Alina Schalk spürte auch, wie etwas in ihm danach gefragt werden wollte. Er hatte die Ablehnung an der Kunsthochschule nie verwunden. Was er nicht wusste: Er hätte es eigentlich geschafft. Aber sie hatte dafür gesorgt, dass man ihm eine Absage erteilte. So sollte es sein, so war es auch dem jungen Adolf Hitler widerfahren.

Es war nicht schwer gewesen, der Direktor der Hochschule war mit seiner billigen kleinen Sekretärinnen-Affäre leicht erpressbar gewesen.

Arthur brauchte diese Erfahrung, um seinen Hass auf die Eliten, die Lehrer, die vermeintlich Gebildeteren und Besseren zu entwickeln.

Arthur war ein Eigenbrötler, versponnen, misstrauisch und absolut. Aber er war auch stolz, arrogant und narzisstisch. Er wollte die Bühne. Er wusste es nur noch nicht. Doch das würde sich bald ändern.

»Ein wenig«, sagte er und steckte sich eine weitere Zigarette an. Sie wusste, dass Zeichnen ihm alles bedeutete. Die hohe Kunst. Und er ahnte vermutlich, dass die Bilder das Tor zu seiner Seele waren. Er wollte nicht, dass jemand hindurchschaute.

Arthur zögerte kurz, aber dann öffnete er die Rolle und zog die Blätter heraus, seine Miene war voller Selbstkritik. Zögernd hielt er sie Alina Schalk hin, die sie beim Fahren betrachtete.

Das oberste war eine Bleistiftzeichnung. Darauf war ein junger Mann zu sehen: Es war Wadi. Sie versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie ihn erkannte. Auch Wadi war, wie Andrew, gekauft. Auf dem Bild posierte er mit Kalaschnikow und Zigarette. Es sah ein wenig albern aus, machomännliches Kriegsgehabe, Stahlgewitter für Arme.

»Wer ist das?«, fragte sie.

»Wadi. Er war mein Kamerad. Mein Bruder.«

Die Erfahrung der Kameradschaft war wichtig für seine Entwicklung. Immer wieder hatte Hitler auf seine Erlebnisse im Ersten Weltkrieg verwiesen, wie wichtig die Verbundenheit mit den anderen Soldaten in seinem Regiment für ihn gewesen war. Die absolut ergeben und treu mit ihm zusammen für die gemeinsame Sache kämpften. Eine Erfahrung, die prägte, wie er die NSDAP formte und führte.

»Die Zeichnung ist gut«, sagte Alina Schalk anerkennend. Das war nicht gelogen. Arthur hatte ein genaues Auge, einen feinen Strich, der das Wesentliche herausarbeitete.

Er sah sie prüfend an.

Sie spürte seine Unsicherheit und schaute ihm ins Gesicht. »Richtig gut.«

»Danke.« Er packte die Zeichnungen wieder ein. »Ich habe viel gearbeitet in Syrien. Ich bin besser geworden.«

»Hast du auch fotografiert?«

»Ich hasse Fotos. Sie sind immer wieder nur enttäuschend. Ich habe auch versucht, Aquarelle zu machen, aber das war zu aufwendig an der Front. Ich habe mir vorgenommen, hier in Öl zu malen.«

Sie nickte, obwohl sie genau wusste, dass er das nicht tun würde – dafür würden sie sorgen. Es gab jetzt Wichtigeres als Malen.

Sie waren in Prenzlauer Berg angekommen. Langsam steuerte sie den Wagen in die Bötzowstraße.

Arthurs politische Erziehung stand bevor. So wie die von Hitler, nach dem Krieg, in seinen Jahren in München. Bald musste er eine Partei führen.

Dann ein Volk.

Und irgendwann ein Reich.

2

Berlin, 2033

Mara trank ihren Kaffee, der Campingkocher neben ihr war noch warm. Es war schon nach ein Uhr Mittag. Seit zwei Stunden wartete sie bereits vor dem Campus der Universität der Künste. Nur vereinzelt waren Studenten zu sehen. Noch. Gleich gingen die Morgenvorlesungen zu Ende. Würde sie die Brüder finden in den Menschenmassen?

Das altehrwürdige Universitätsgebäude lag im Stadtteil Charlottenburg, nicht weit vom Tiergarten, wo sie mit Kurt, ihrem Rauhaardackel, vorhin ausgiebig Gassi gegangen war und wo sie die Nacht verbracht hatte – im Bauch ihres VW-Busses, in dem sie jetzt saß und durch dessen Scheibe sie den Campus beobachtete. Sie hing an dem Wagen, die Frage war nur, wie lange sie damit noch fahren durfte. Schon jetzt drückten die hohen Steuerabgaben für Verbrenner empfindlich auf ihre Geldbörse.

Sie warf einen Blick nach hinten in den Laderaum: Kurt lag eingerollt in seinem Korb und schlief. Gut. Sie fühlte sich etwas schuldig, dass sie dem Hund auf seine alten Tage noch diese Strapazen zumutete. Er mochte keine langen Autobahnfahrten. Normalerweise ließ sie ihn zu Hause in München und bat Freunde, sich um ihn zu kümmern – so kurzfristig hatte sie jedoch niemanden gefunden.

Sie und Kurt waren müde, weil die Nacht unruhig gewesen war. Die feiernden Teenager mit ihrem Deutsch-Rap und ihrem Geschrei. Später waren auch noch Rechte dazugekommen, vermutlich Mitglieder des »Jungen Wegs«, und es hatte Ärger zwischen den beiden Gruppen gegeben.

In wenigen Wochen waren Bundestagswahlen, doch die Jugendorganisation des Deutschen Wegs war jetzt schon aktiv dabei, die Städte mit Plakaten zuzukleistern. »Islamunterricht? Nicht an unseren Schulen!« – »Burkas? Wir stehen auf Bikinis« – »Der Deutsche Weg, der einzige Weg«. Und dann unzählige »Bernd-statt-Börek«-Plakate, auf denen Parteichef Bernd Sörensen die Arme in Siegerpose hochreckte. Auf nicht wenigen von ihnen war er umgehend mit Hitler-Bärtchen verziert worden.

Die Junger-Weg-Leute hatten offenbar die Gangsta-Rap-Halbstarken dabei überrascht, wie sie ihre Wahlplakate beschmierten. Nach schier endlosem Geschrei kam die Polizei und löste das Ganze auf. Aber immerhin: Niemand hatte sie von ihrem Schlafplatz verscheucht.

Sie hatte ein zwiespältiges Verhältnis zu Berlin. Einerseits fand sie die Stadt interessant und aufregend. Andererseits war sie nach so vielen Jahren im beschaulichen München diese Rauheit, den Müll und das Chaos nicht mehr gewohnt. Offenbar war selbst das früher so aufgeräumte Charlottenburg im Abstieg begriffen.

Jetzt strömten größere Massen aus den Eingangstoren. Mara stellte ihren Kaffee ab und stieg vorsichtig aus dem Bus, um Kurt nicht zu wecken. Langsam lief sie auf den Campus zu.

Alles, was sie hatte, waren einige Fotos der Zwillinge. Sie zeigten die beiden als Teenager. Heute waren sie zweiundzwanzig, ihr Geburtstag lag noch nicht lange zurück. Junge Männer. Würde sie sie erkennen? Die Uni war ihre einzige Anlaufstelle. Im Adressbuch standen beide nicht, die Adresse der Eltern half ihr nicht weiter. Von ihrem Informanten wusste sie nur, dass die beiden hier studierten. Von ihm hatte sie auch die Fotos bekommen.

Mara lief langsam umher, die Gesichter der Studenten musternd. Viele trugen Mappen oder Zeichenrollen, andere Instrumentenkoffer. Einer der Brüder studierte Musik, der andere Kunst.

Es wurden immer mehr Studenten. Vielleicht waren die beiden heute auch gar nicht an der Uni? Jetzt erst merkte Mara, dass sie sich vielleicht besser hätte vorbereiten sollen. Aber die Information mit dem Hinweis auf die Brüder war erst vor zwei Tagen in ihrem anonymen Krypto-Postfach gelandet.

Endlich hatte sie eine Spur nach Deutschland. Endlich konnte sie den Fall Moon Dong-soo damit auch für deutsche Leser relevant machen. Sie brauchte diese Geschichte. Dringend. Und vor allem das Geld. Sie konnte von ihren Honoraren kaum die Miete bezahlen.

Mara versuchte, möglichst unauffällig die Gesichter der Studenten zu scannen – was ihr nicht ganz gelang. Sie spürte die neugierigen Blicke. Klar, sie fiel auf mit ihren vierundvierzig Jahren. Womöglich hielten sie sie für eine übergriffige Helikopter-Mutter, die ihrer Tochter auflauerte. Wobei, sie könnte doch auch einfach eine Dozentin sein? Nein, sie sah nicht wirklich wie eine Dozentin aus, ungeduscht, die Haare sicher noch zerzauster als sonst.

Während sie weiter über den Campus strich und sich vorkam wie ein Alien, überlegte sie, wie sie die Brüder ansprechen sollte.

Wie würde sie reagieren, wenn ihr ein Fremder private Fotos aus Kindertagen unter die Nase hielte? Es würde nicht leicht werden, überhaupt mit den beiden ins Gespräch zu kommen. Und dann ging es ja auch nicht um irgendein Thema.

Aber Mara würde nicht so leicht aufgeben. Sie sah sich schon eine weitere Nacht im VW-Bus verbringen und vielleicht noch eine weitere.

Die beiden Brüder sahen sich ähnlich, jedenfalls auf den Teenie-Bildern, über die sie noch einige Lebensjahre, mögliche andere Frisuren, Bärte, Piercings und Sonnenbrillen legen musste.

Seit mehr als zehn Minuten lief sie nun über den Campus. Sollte sie jemanden nach den Wohlpflugs fragen? Damit aber würde sie noch mehr Aufmerksamkeit erregen.

Plötzlich schlug etwas in ihr Alarm. Sie war gerade an einer Gruppe Studenten vorbeigegangen. Ein paar Meter weiter blieb Mara stehen. Es waren vier Männer und drei Frauen. Einen der Männer erkannte sie. Er war hagerer als auf den Fotos und trug einen dünnen Schnurrbart, aber er war es, ohne Frage: Robin Wohlpflug. Robin hatte glatte dunkelbraune Haare, die er zu einem Zopf gebunden trug. Ein Hoodie schlabberte um seinen dünnen Oberkörper, eine schwarze Hose umhüllte die Beine.

Schnell checkte sie noch einmal die anderen Gesichter und fand auch Friedrich Wohlpflug.

Beide Brüder hatten helle blaue Augen, waren mittelgroß, etwa ein Meter siebzig. Doch Friedrichs Haare waren heller und kürzer, und vor allem wirkte er positiver als Robin, der schwermütig schien, mit seinen dunklen Klamotten, seinem ernsten Gesicht und den nach vorne gezogenen Schultern. Friedrich hingegen lächelte viel, trug blaue Jeans und ein grünes Hemd. Um seine Schulter hatte er eine Bilderrolle geschnallt, wie einige der anderen Studenten, mit denen er und sein Bruder zusammenstanden. Einen Arm hatte Friedrich um eine junge Frau gelegt. Sie hatte lange nussbraune Haare und sehr helle Haut. Die breiten Augenbrauen über ihrer Brille setzten einen starken Akzent in ihrem fein geschnittenen Gesicht. Das Mädchen sprach nicht viel, hörte aufmerksam zu, während die Brüder lebhaft diskutierten.

Während Mara überlegte, wie sie nun vorgehen sollte, verabschiedete sich ein Teil der Gruppe, und Friedrich, Robin und die junge Frau blieben alleine zurück.

War das ihre Chance? Sie zögerte immer noch. Mara hätte gerne beim ersten Kontakt die Brüder alleine erwischt. Außerdem schien die Stimmung zwischen den beiden mit einem Mal angespannt. Ob die anderen deswegen so plötzlich gegangen waren? Mara konnte nicht verstehen, was gesprochen wurde, aber Robin ging seinen Bruder wegen irgendetwas an. Sein Kopf war vorgereckt, der Blick starr auf Friedrich gerichtet, mit dem Finger zeigte er immer wieder auf seinen Bruder.

Jetzt sagte auch die Frau etwas. Sie redete auf Robin ein, schien ihn beruhigen zu wollen. Auch Friedrichs Gesicht verdüsterte sich nun, und mit einer schnellen Bewegung schwang er seine Bilderrolle vom Rücken und öffnete sie. Er entnahm ihr ein Bild und rollte es auf dem Boden aus – Mara konnte nicht erkennen, was darauf zu sehen war.

Robin betrachtete es eine Weile, dann drehte er sich um und ging. Friedrich machte keinerlei Anstalten, ihm hinterherzulaufen. Schließlich folgte die junge Frau Robin und versuchte, ihn zurückzuholen.

Kein guter Moment für ihr Vorhaben. Was sollte sie tun? Warten, bis sich die Wogen glätteten? Zumal: Auch ihre Nachrichten würde die Laune der beiden kaum heben. Es wäre besser, wenn sie die in entspanntem Zustand hörten. Aber wer wusste, ob sie eine bessere Gelegenheit bekommen würde?

Widerwillig hatte Robin sich von der jungen Frau zum Umkehren bewegen lassen und stand nun wieder bei seinem Bruder.

Mara griff in ihre Tasche und fühlte nach der Mappe und ihrem Tablet. Dann holte sie tief Luft und ging langsam auf die Dreiergruppe zu.

Die drei bemerkten sie zunächst gar nicht, so sehr waren sie in ihr Streitgespräch vertieft.

»Wir hatten eine Abmachung!«, zischte Robin. » Du hättest jede andere Szene malen können. Jede andere. Aber nein, ausgerechnet das musstest du dir für deine Abschlussarbeit aussuchen!«

»Es ist einfach aus mir rausgekommen, okay?«, verteidigte sich Friedrich. »Kannst du bitte aufhören, immer den Moralapostel zu spielen? Niemand weiß, was das Bild bedeutet!«

»Robin«, sagte die Frau. »Friedrich war nicht illoyal. Ich war dabei. So ist das doch in der Kunst, so was hat man nicht unter Kontrolle.«

»Was weißt du denn schon von Kunst!«, fuhr Robin sie an.

Die Frau wich erschrocken zurück.

Mara stand nun vor ihnen. Die junge Frau bemerkte sie zuerst.

»Hallo«, begann Mara verlegen. »Sorry, wenn ich Sie störe. Sie sind Robin und Friedrich Wohlpflug?«

Die Brüder, die sie bis jetzt gar nicht wahrgenommen hatten, sahen sie abwartend an.

»Wer sind Sie?«, fragte Friedrich.

»Oh. Stimmt, ich sollte mich zuerst vorstellen. Mara Erhardt. Journalistin. Ich arbeite für die Süddeutsche Zeitung.«

Ratlos zuckten die drei die Schultern und schwiegen.

»Woher wissen Sie, wie wir heißen?«, sagte Robin schließlich. Seine Stimme war tiefer, als sein Äußeres vermuten ließ. Er sprach ruhig, aber seine Resolutheit und seine Autorität waren unüberhörbar und überraschend für einen so jungen Mann.

»Wenn Sie ein paar Minuten Zeit hätten – ich würde Ihnen gerne etwas zeigen.«

Unsicherheit machte sich in Mara breit, und das gefiel ihr gar nicht. Gerade beim Erstkontakt mit wichtigen Informanten war Selbstsicherheit ein entscheidender Faktor. Die ersten Sekunden entschieden darüber, ob ein Gesprächspartner ihr vertrauen würde oder nicht.

Sie straffte die Schultern, verlagerte ihr Gewicht gleichmäßig auf Fersen und Zehenballen und zwang sich, Augenkontakt zu halten. Dann fischte sie ihr Tablet aus der Tasche. Als sie es auffalten wollte, rutschte es ihr aus der Hand und fiel zu Boden.

Friedrich kam ihr zuvor und hob es auf. Das bruchfeste Display zeigte mehrere Fotografien. Innerlich fluchte Mara, dass sie sie offen gelassen hatte. Die beiden mussten sie für eine Art Stalkerin halten. Tatsächlich blickte Friedrich sie verstört an.

Robins Blick fiel auf eine Fotografie am unteren Rand. Sie zeigte ein Segelboot. An seiner Miene sah Mara, dass er es sofort erkannte.

An der Reling stand ein Paar, das zwei kleine Jungen im Alter von höchstens zwei Jahren in den Armen hielt. Sie trugen kurze Sachen und Sonnenbrillen, die langen kupferfarbenen Haare der Frau wehten im Wind.

In den kindlichen Zügen der beiden Jungen konnte man schon die Gesichter von Robin und Friedrich erahnen. Beide trugen T-Shirts mit Spongebob darauf. Sie lachten in die Kamera, und Friedrich zeigte in Richtung des Fotografen.

»Woher haben Sie das?«, fragte Robin mit harter Stimme.

Mara zögerte. Jetzt kam es auf die richtigen Worte an.

»Sie kennen dieses Foto, nicht wahr?«

Friedrich nickte langsam. Etwas in seinem Gesicht verdüsterte sich. Nervös blickte er zur Seite, auf sein Bild, das immer noch ausgerollt auf dem Boden lag und das der Anlass für den Streit mit Robin gewesen war.

Jetzt erst erkannte Mara, was darauf zu sehen war: ein Segelschiff, aus einer ungewöhnlichen Perspektive dargestellt. Steil von unten, mit dem Blick von jemandem, der ein paar Meter neben dem Schiff schwamm.

Sie fühlte ein Prickeln im Nacken.

»Das Foto wurde auf Korfu aufgenommen«, sagte Robin und spießte sie förmlich mit seinem Blick auf. »Wir waren damals zwei Jahre alt.«

Sie versuchte, den Blick zu halten, was ihr sehr schwerfiel. Es fühlte sich an, als sehe Robin hinter ihr Gesicht, als könne er alle ihre Geheimnisse lesen, jede Halbwahrheit, jede Lüge erspüren.

»Das seid nicht ihr auf dem Foto«, sagte sie.

Die Brüder sahen erst sie und dann sich gegenseitig an.

Sie tippte auf das Foto und rief die Exif-Metadaten des Bildes auf. Eine lange Tabelle mit vielen Einträgen erschien auf dem Display.

Marke: Panasonic

Modell: DMC-FZ28

Exif/Version: 2.21

Maras Finger suchte in der Tabelle die Zeile mit der Kennung »DateTimeOriginal«, dem Aufnahmedatum des Bildes.

»Hier«, sagte sie und gab Robin ihr Tablet.

Als er den Eintrag sah, weiteten sich seine Augen. Dort stand:

2010:07:17 11:01:17

»Das Foto wurde am 17. Juli 2010 aufgenommen«, sagte sie. »Eine Minute und siebzehn Sekunden nach elf. Ihr wart im Jahr 2010 noch gar nicht geboren.«

Ein Raum ohne Fenster. Grelles Neonlicht auf weißen Betonwänden. Etwas ist passiert, denkt er – und wundert sich zugleich, dass er noch denken kann. Ein feines Summen tief in seinen Ohren. Er denkt, dass dies wahrscheinlich der letzte Gedanke seines Lebens ist. Er denkt, dass dieses Bild wahrscheinlich das letzte seines Lebens ist. Aber nein. Sein Blick fällt auf ein Sofa. Darauf erkennt er Muster, Figuren, Tiere. Er sieht einen Körper. Eine Frau. Ihre Augen sind geschlossen, ihr Kopf liegt auf seiner Schulter. Schläft sie? Oder ist sie schon tot? Die Erkenntnis beruhigt ihn, und er weiß, dass auch er gleich gehen wird.

Der Kampf ist zu Ende.

Er hört etwas. Tok, tok, tok. Ganz leise. Flüssigkeit tropft auf den Boden.

Er begreift: Es tropft aus seinem Kopf.

3

Seoul, 2007

Siam Biotech lag an einer Ausfallstraße am Rand von Seoul. Ein grauer, funktionaler Bau, der dennoch etwas von einer Burg hatte. Als wolle er jeden warnen, der sich ihm näherte.

Durch die Scheiben des Taxis sah Alina Schalk den Bau näher kommen. Die riesigen Werbeplakate fielen ihr auf, die Apples iPhone bewarben. Sie besaß natürlich längst eines.

Der Fahrer, der gut Englisch sprach, hatte sofort gewusst, wo er hinmusste, als Sörensen den Namen des Instituts aussprach. Moon Dong-soo war offenbar noch immer eine Berühmtheit in Südkorea, trotz allem, was er sich geleistet hatte.

»Du bist sicher, dass wir ihm trauen können?«, fragte sie Sörensen, der neben ihr auf der Rückbank saß.

Alina sprach leise. Es war zwar unwahrscheinlich, dass der Taxifahrer Deutsch verstand, aber sie war, wie immer, vorsichtig.

Sörensen warf ihr einen kurzen Blick zu. »Willst du jetzt etwa noch einen Rückzieher machen?«

Es war nur ein leiser Unterton in seiner Stimme, aber er reichte, um sie zu alarmieren. Bernd Sörensen wurde selten wütend, nach außen hin blieb er stets unglaublich gefasst. Die emotionalen Ausbrüche, die sie mit ihm erlebt hatte, konnte sie an einer Hand abzählen.

»Claude war von Anfang an dagegen gewesen, Moon zu beauftragen«, sagte sie. »Ich frage mich nur, warum?«

»Ach, Claude …« Sörensen zischte verächtlich. »Warum? Weil er ein Narzisst ist. Weil er glaubt, dass er alles weiß und alles kann. Er hat keine Ahnung. Du hast doch gesehen, dass seine Wissenschaftler Dilettanten waren.«

»Moon hat immerhin einen der größten Forschungsskandale aller Zeiten verursacht«, sagte Alina Schalk.

»Mag sein. Aber seine Expertise beim Klonen ist unbestritten. Das haben Claude und die anderen Spinner nie begriffen. Immer haben sie groß getönt, aber was ist denn wirklich passiert? Nichts. Claude hat sich mit diesem Griechen eingelassen, der ihm das Blaue vom Himmel versprochen hat. Nichts hat dieser Kretin zustande gekriegt. So viel zu Claudes Instinkt. Das einzig Gute an diesem Spinner war, dass ich über ihn an das Material gekommen bin. Allein dafür hat es sich gelohnt, ihn und seine Ufo-Heinis zu ertragen.«

Während Sörensen das sagte, griff er in seine Umhängetasche und fühlte nach der Plastikschale, in der er die Zahnbrücke aufbewahrte. Wie erwartet hatte er sie bei der Sicherheitsprüfung am Flughafen vorzeigen müssen. Die Beamten hatten die Gesichter vor Ekel verzogen, als sie das gelbliche Ding betrachteten. Sörensen hatte sie nur angegrinst und dabei seine hintere Zahnlücke entblößt. Er hatte sich tatsächlich extra einen gesunden Backenzahn ziehen lassen, nur um keinen Verdacht zu erregen.

Sie schwieg. Er war tiefer in den biologischen Details drin als sie. Sie vertraute ihm, wie sie ihm immer vertraut hatte. Und er hatte recht, was den Dilettantismus der Raëlianer betraf. Den hatte sie am eigenen Leib erfahren, als sie Sörensen dabei geholfen hatte, Claude Vorilhon, den Gründer der Sekte, um exakt 22,6 Millionen Euro zu erleichtern. Sie, die studierte Juristin, hatte dafür einfach nur den Immobiliendeal in Nova Scotia fälschen müssen. Mit dem Geld hatten die Raëlianer mehr Grund und Boden für ein neues Hauptquartier kaufen wollen. Sie und Sörensen waren mit dem Projekt betraut worden. Es war kinderleicht gewesen, das Geld auf ihre eigenen Konten umzuleiten.

Strafverfolgung brauchten sie nicht zu befürchten, Claude würde kaum zur Polizei gehen. Das Geld stammte aus Drogengeschäften.

Nun waren Sörensen und sie finanziell gerüstet. Nicht nur für das Projekt Erneuerung, sondern vor allem für den Ausbau der Partei.

Auf dem Flug waren sie die Geschichte noch einmal durchgegangen, die sie sich für Moon überlegt hatten: Sie handelten im Auftrag einer reichen deutschen Dynastie, die anonym bleiben wollte. Geld spielte selbstverständlich keine Rolle, auch die Leihmutter würde gestellt werden, Nachfragen seien unerwünscht. Aber Moon würde nachfragen, vor allem wenn er das Ausgangsmaterial sah, das nicht von einem toten Kind stammte, wie das normalerweise der Fall war.

Der Pförtner empfing sie. Sie stellten sich als Herr und Frau Jung vor und durften passieren.

Eine kleine Anhöhe führte hinauf zum Haupteingang des Gebäudes. Davor lag eine große Wiese, auf der einige Hunde herumtollten, es waren drei Beagle, sehr schöne Hunde und noch ganz jung. Mitarbeiter in blauen Overalls standen rauchend am Rand und beobachteten die Tiere. Als sich Alina Schalk und Bernd Sörensen näherten, kamen die Hunde auf sie zugestürmt und sprangen an ihnen hoch. Sörensen mochte keine Hunde. Aber Alina Schalk streichelte sie, dabei fiel ihr die frappierende Ähnlichkeit der drei Welpen auf. Sie hatten alle eine identische Fellmusterung. Schließlich zogen die Bediensteten in den blauen Overalls die Hunde wieder von ihnen weg.

Ein Mitarbeiter Moons empfing sie und stellte sich ihnen als Jae vor. Er sah aus wie Anfang zwanzig.

»Professor Moon ist noch in einer Besprechung«, sagte Jae in perfektem Englisch. »Es wird noch ein Weilchen dauern. Er bat mich, Ihnen solange die Einrichtung zu zeigen, wenn Sie mögen.«

Ohne ihre Antwort abzuwarten, schritt Jae schon voran. Alles war sehr nüchtern und funktional, es hätte irgendein Bürogebäude sein können. Doch dann, als sie mit dem Aufzug in den ersten Stock fuhren, änderte sich die Szenerie.

»Hier sind die Labors, in denen wir an Stammzelltherapien forschen. In den Räumen am Ende des Flurs produzieren wir die transgenen Tiermodelle für alle möglichen Krankheiten: Schizophrenie, Diabetes, Alzheimer, Multiple Sklerose …«

Es schien nicht das erste Mal zu sein, dass Jae diesen Vortrag hielt. Sörensen und Schalk hasteten an hell gestrichenen Türen vorbei. Durch die Sichtfenster sahen sie Menschen in Schutzanzügen mit Pipetten hantieren oder an Bildschirmen sitzen, die an Mikroskope gekoppelt waren.

Alina Schalk fragte sich, wie lukrativ es war, was Moon hier tat.

Als hätte Jae ihre Gedanken erraten, sagte er: »Wie Sie sicherlich wissen, erhalten wir keine öffentlichen Fördermittel und sind zu einhundert Prozent eigenfinanziert.«

Jae sparte sich jegliche Erklärung. Er ging davon aus, dass jeder, der hierherkam, über Moons Skandal Bescheid wusste.

»Mit den Tiermodellen erzielen wir etwa ein Drittel unserer Einkünfte. Das Geschäft mit den Hunden ist ebenfalls sehr einträglich.«

Das Geschäft mit Homo sapiens sicherlich auch, dachte Alina Schalk.

»Wo produzieren Sie die Hunde?«

»Die haben wir in einem anderen Trakt des Gebäudes untergebracht. Aus Hygienegründen«, sagte Jae, während er sie schnellen Schrittes weiter durch die Gänge führte. »Hier befindet sich nun der OP, wo wir die Eizellen entnehmen und die Embryonen einsetzen. Links sehen Sie die Kryoräume, in denen die überzähligen Embryonen lagern.«

Moon wusste, dass er unter verschärfter Beobachtung stand. Schalk ging davon aus, dass die koreanischen Behörden Kenntnis davon hatten, was er hier tat. Das Klonen von Menschen war in Südkorea, wie in vielen anderen Staaten der Erde auch, offiziell zwar verboten. Aber Moon hatte wohl einen Weg gefunden, es zu betreiben, ohne sich angreifbar zu machen.

Die Entnahme von Eizellen und das Einsetzen von Embryonen waren nicht verboten, es war Routine in Kinderwunschzentren im Rahmen einer künstlichen Befruchtung. Die verbotene Prozedur war der Klonprozess selbst: die Entnahme des Kerns der Spenderzelle des zu vervielfältigenden Menschen und ihr Einsetzen in eine leere Eizelle.

Sörensen hatte ihr erzählt, dass Moon diesen illegalen Schritt in einem unterirdischen Labor in der demilitarisierten Zone im Grenzgebiet zwischen Nord- und Südkorea durchführte. Die Genehmigung dafür hatte er offenbar von dem nordkoreanischen Diktator Kim Jong-il direkt erhalten. Der hatte, so munkelte man, im Gegenzug dafür einen Klon von sich bei Moon anfertigen lassen. Aber das war nur ein Gerücht.

Natürlich hätten die südkoreanischen Behörden Moon, wenn sie wollten, das Leben schwer machen können. Aber sie ließen ihn gewähren. Denn Steuern zahlte er noch immer, sicherlich nicht zu knapp. Außerdem ließ der südkoreanische Staat bei Moon – und das war kein Gerücht – seit Jahren seine besten Polizei- und Zoll-Spürhunde klonen.

Sie kamen wieder ins Erdgeschoss. Jae führte sie zu einer Tür, an der »Warteraum« stand. Etwa zwanzig Personen befanden sich darin.

»Ich muss Sie bitten, noch kurz Platz zu nehmen. Es wird Sie gleich jemand abholen.«

Sie hängten ihre Jacken an den Kleiderständer und setzten sich. Kaum jemand nahm von ihr und Sörensen Notiz. Die meisten Wartenden starrten auf den Fernseher an der Wand, der lautlos gestellt war. Er zeigte einen Werbeclip von Siam Biotech: niedliche Hundewelpen, die ihren Herrchen und Frauchen glücklich in die Arme sprangen. »So you want to see your loved ones again?«, waren die Bilder englisch untertitelt. »Siam Biotech – we are here to help«.

Den Gesichtern und der Kleidung nach zu urteilen, hatte Moon Dong-soo Kunden aus aller Welt. Die Mehrheit der Wartenden waren Paare, aber Alina Schalk sah auch drei Frauen ohne Mann im Wartesaal sitzen. Sie blickte in viele ernste und traurige Gesichter – was sie nicht verwunderte, wenn man bedachte, dass die meisten nicht wegen eines toten Hundes gekommen waren. Sondern wegen eines toten Kindes.

Sie bemerkte, dass Bernd Sörensen nervös war. Es gefiel ihm nicht, dass sie hier so exponiert sitzen mussten. Sie würden nicht auffallen, sie waren einfach ein weiteres Paar um die dreißig, das bei Professor Moon ein Kind bestellen wollte, vielleicht auch nur einen Hund. Doch Bernd Sörensen war immer sehr, sehr vorsichtig. Sie sagte etwas zu ihm, aber er bedeutete ihr zu schweigen. Hatte er Angst, dass hier jemand Deutsch verstand? Manchmal war sein neurotisches Verhalten selbst für sie schwer zu ertragen. Sie seufzte leise. Das Ding war nur: Meist lag er richtig. Weswegen sie ihre Genervtheit herunterschluckte und seine Autorität und seinen Führungsanspruch respektierte.

Sie holte ihr iPhone aus der Tasche. Nie zuvor hatte sie ein derart schönes Stück Technik in der Hand gehabt. Mit ihrem Finger strich sie fasziniert über das Touch-Display und begutachtete die Fotos, die sie damit gemacht hatte. Sie bemerkte, wie einige im Raum neugierig auf das Gerät starrten.

»Mister and Misses Patel«, sagte eine weiß gekleidete Arzthelferin lächelnd, und ein indisches Pärchen erhob sich. Die Frau trug einen Sari und viel Goldschmuck, der Mann einen teuer wirkenden Anzug. Die Helferin begleitete die beiden hinaus.

»Mister Jung? Misses Jung?«

Alina Schalk reagierte erst nicht auf den falschen Namen. Bernd Sörensen stand jedoch sofort auf und ging zu der Arzthelferin, die nun wieder am Eingang des Wartezimmers stand.

»Professor Moon wird Sie jetzt empfangen«, sagte sie. »Bitte folgen Sie mir.«

Sie führte sie in ein geräumiges Büro, das mit dunklem Teppich ausgelegt war. Ein großer runder Tisch mit mehreren Stühlen stand in der Mitte, am anderen Ende befand sich ein Schreibtisch, auf dem ein riesiger Monitor thronte. Zwei Ledersessel waren in einer Ecke des Raumes arrangiert.

Das Auffälligste in Moons Büro waren die vielen gerahmten Fotos an der Wand. Jedes von ihnen zeigte Hunde. Oft waren es Collagen von zwei nahezu identisch aussehenden Tieren. Unter fast jedem Bild stand etwas geschrieben, persönliche Nachrichten, Dankesschreiben seiner Kunden.

Moon erhob sich hinter seinem Schreibtisch, um sie zu begrüßen. Er war recht klein, vielleicht 1,60 Meter. Über einem feinen Nadelstreifenanzug trug er einen weißen Kittel, auf der Brusttasche war in Dunkelrosa »Siam Biotech« in Schreibschrift gestickt. Es wirkte kitschig und passte nicht zu dem respektablen Eindruck, den Moon auf sie machte mit seinen grau melierten Haaren, die er zu einem ordentlichen Scheitel frisiert hatte, und zu seinem freundlichen, wenn auch reservierten Gesichtsausdruck. Alina Schalk fiel auf, dass er deutlich älter aussah als auf den Fotos, die sie von ihm kannte. Einige Jahre war der Forschungsskandal jetzt her. Damals war sein Bild durch die Weltpresse gegangen. Der Mann, der hier vor ihnen stand, war deutlich gealtert im Vergleich zu dem Mann, der den hochkarätigsten Wissenschaftsmagazinen der Welt gefälschte Daten untergejubelt und seine Mitarbeiterinnen dazu gezwungen hatte, sich Eizellen entnehmen zu lassen, die er für seine Experimente verwenden konnte.

Moons Händedruck war sanft und betont kurz, dabei sah er einen kaum direkt an. Aber er tat das nicht aus Schüchternheit oder Unsicherheit. Es war das ehrliche Desinteresse der Arroganz.

Er bedeutete ihnen, sich an den Tisch zu setzen, eine Assistentin goss ihnen Wasser ein. Er sagte etwas auf Koreanisch zu ihr, und sie nickte.

Dann verließ sie den Raum, und sie waren alleine.

»Frau Jung, Herr Jung. Sie haben um ein persönliches Gespräch gebeten«, sagte Moon mit sanfter Stimme. Er sprach Englisch mit einem starken Akzent, was nicht ganz leicht zu verstehen war. »Ich nehme an, dass Sie nicht wegen Ihres Hundes hier sind?«

Bernd Sörensen räusperte sich, bevor er sprach. »Das ist korrekt, Professor Moon.« Sörensens Englisch war gut, wenngleich auch bei ihm ein Akzent unüberhörbar war. »Wir wenden uns mit einem Anliegen an Sie, bei dem höchste Diskretion erforderlich ist.«

Moons Mundwinkel wanderten einen Millimeter nach oben. Die Andeutung eines Lächelns. Alina Schalk hatte das Gefühl, dass er sie beide nicht ganz ernst nahm.

»Ich arbeite immer diskret.«

»Natürlich, Professor Moon«, sagte Sörensen. »Bitte verstehen Sie uns nicht falsch. Es handelt sich nur um außergewöhnliche Umstände. Wir kommen in Vertretung von sehr wohlhabenden und einflussreichen Auftraggebern, die sehr um ihre Anonymität besorgt sind.«

»Dann geht es also nicht um Ihrer beider Kind?«, fragte Moon.

Sörensen lächelte schief und sah Alina Schalk kurz an. »Nein. Ich fürchte, es ist etwas komplexer.«

Moon nahm einen Schluck aus seinem Wasserglas. Es war Alina Schalk unmöglich, in seinem Gesicht zu lesen.

»Ich verstehe. Natürlich respektiere ich den Wunsch Ihrer Auftraggeber nach Anonymität. Allerdings ist es erforderlich, dass die Mutter für den Embryotransfer persönlich anwesend ist.«

»Das wird nicht nötig sein«, sagte Sörensen. »Der Klon soll von einer Leihmutter ausgetragen werden.«

Moon runzelte die Stirn.

»Das überrascht mich. Ich habe es bislang noch nicht erlebt, dass eine Mutter nach dem Verlust des eigenen Kindes den Klon nicht selbst austragen wollte.«

»Professor Moon, wie ich bereits sagte, dieser Fall ist etwas anders gelagert.«

Der Koreaner blickte ihn einen Moment lang skeptisch an. »Wie alt ist die Leihmutter?«

»28«, sagte Sörensen nach kurzem Zögern. Mit der Frage hatte er nicht gerechnet.

Moon sagte nichts.

»Sie ist absolut vertrauenswürdig«, versicherte Sörensen, der annahm, dass Moon Vorbehalte hatte, weil eine externe Person in den Prozess involviert werden sollte.

»Haben Sie die Gewebeprobe mitgebracht?«

Sörensen nickte. Er holte das Plastikdöschen aus seiner Tasche, was Moon mit einem Stirnrunzeln quittierte.

»Haben Sie es etwa dort aufbewahrt?«, fragte er. »Hatten meine Mitarbeiter Sie nicht darüber informiert, dass Sie eine Kühlbox benötigen?«

Unbeirrt entnahm Bernd Sörensen nun aus seiner Jackentasche einen kleinen schwarzen Samtbeutel und zog eine kleine Folie heraus, die er sorgfältig auf der Tischplatte ausbreitete. Sie war etwa untertassengroß.

Moon beobachtete das Schauspiel sichtlich amüsiert.

Dann öffnete Sörensen das Döschen und entnahm ihm die Zahnbrücke, die er die ganze Zeit eng bei sich getragen hatte. An der Drahtkonstruktion war nur ein einziger Zahn befestigt. Er sah sehr unappetitlich aus mit seiner gelb-braunen Färbung und der abgenutzten Kaufläche. Mit bedächtigen Bewegungen entnahm Sörensen das Gebilde und legte es ehrfürchtig vor sich auf die Folie.

»Können Sie aus diesem Zahn einen Klon herstellen, Professor Moon?«

Moon sah Sörensen an, als sei er nicht bei Trost.

Dann griff der Wissenschaftler mit den Fingerspitzen die Brücke am äußersten Drahtende und hielt sich den Zahn wie ein zu inspizierendes Insekt dicht vors Gesicht.

Nachdem er den Zahn eine Weile begutachtet hatte, sagte er: »Das ist kein Kinderzahn.«

Er legte die Brücke wieder auf die Tischplatte.

Sörensen ignorierte seine Bemerkung.

»Können Sie daraus einen Klon herstellen?«

Moon blickte Sörensen mitleidig an. Unter seinen superreichen Kunden gab es hin und wieder Größenwahnsinnige.

»Sie sind nicht der Erste, der vorhat, sich selbst zu klonen«, sagte Moon schließlich seufzend. »Sie müssen wissen: Klonen ist kein Weg zur Unsterblichkeit. Ihr Auftraggeber«, Moon betonte das Wort so, dass nicht zu überhören war, was für Zweifel er an der Geschichte hatte, »weiß hoffentlich, dass ein Klon nicht das Abziehbild eines Menschen ist, sondern ein eigenständiges Individuum. Ein Klon ist wie ein Zwilling, der aus der Zeit gefallen ist.«

Sörensen nickte geduldig. Alina Schalk konnte sich unschwer vorstellen, was es ihn kostete, die Belehrungen Moons unkommentiert im Raum stehen zu lassen. Aber er schwieg, weil er den Wissenschaftler nicht verstimmen wollte. Schließlich brauchten sie ihn.

»Professor Moon, ich kann Ihnen versichern, dass Ihre Sorge unbegründet ist. Der Träger dieses Zahns ist bereits tot.« Sörensen lächelte leicht. »Er ist es schon eine ganze Weile.«

»Dann, fürchte ich, sind Sie umsonst hierhergekommen, Herr Jung«, sagte Moon. »Ich benötige frisches Gewebe, um einen Klon herzustellen.«

Sörensen nickte. »Das ist mir bekannt. Leider ist dieser Zahn die einzige Quelle.«

»Wie alt ist er?«

Sörensen zögerte kurz, bevor er antwortete. Innerhalb von Sekunden wog er ab, ob die Information etwas preisgeben würde, was er Moon gegenüber nicht preisgeben wollte.

»Das Alter der Gewebeprobe ist entscheidend«, sagte Moon, als hätte er seine Gedanken gelesen.

»Die Person, der dieser Zahn gehörte, starb vor etwa sechzig Jahren.«

Moon faltete die Hände.

»In diesem Fall muss ich Sie leider enttäuschen. Das wird nicht funktionieren. Tut mir leid. Meine Assistentin wird Sie hinausbegleiten.«

Er stand auf und streckte ihm die Hand hin.

Sörensen war überrascht von der brüsken Abweisung.

»Professor Moon. Sie sind der Beste Ihres Fachs. Ich weiß, diese Aufgabe erscheint unmöglich. Doch ich bitte Sie inständig: Versuchen Sie es wenigstens. Meine Auftraggeber sind bereit, Sie entsprechend zu entlohnen.«

Moon schüttelte den Kopf.

»Herr Jung, Sie verstehen nicht. Das Gewebe ist tot. Ich werde darin keine lebenden Zellen mehr finden. Ja, ich verstehe mein Handwerk, ich habe als Erster ein Rind geklont, nur ein Jahr nach Dolly. Ich bin auch der Erste gewesen, der einen Hund geklont hat – was inzwischen für mich Alltag ist, wie Sie sehen.« Er zeigte auf die Bilder an der Wand. »Und ich war der Erste, der einen Menschen geklont hat, ein verstorbenes Kind natürlich. Aber auch ich kann keine Wunder vollbringen. Nach dem Tod eines Individuums beginnt das Sterben der Zellen. Eine Woche Zeit bleibt maximal, dann ist auch die letzte der Billionen Körperzellen zugrunde gegangen. Deswegen bitten wir unsere Kunden, egal, ob es um einen Hund oder ein Kind geht, nach dem Tod schnell zu reagieren, sofort Gewebeproben zu entnehmen und sie kühl zu halten. Innerhalb einer Woche müssen diese Proben bei uns …«

»Fünf Millionen«, sagte Bernd Sörensen. »Euro.«

Moon erstarrte.

»Das ist das Hundertfache von dem, was Sie für einen Hund bekommen. Das Zwanzigfache, was Ihnen das Klonen eines toten Kindes einbringt. Und Sie brauchen das Geld.«

Moons Mundwinkel zuckte, es war nur der Bruchteil einer Sekunde, in der er sich nicht unter Kontrolle hatte. Dann hob er die Hand und schüttelte den Kopf. »Herr Jung, das ist zweifellos ein sehr großzügiges Angebot. Aber noch mal: Ohne lebende Zellen kann ich keinen Klon herstellen.«

»Versuchen Sie es!«

Sörensen hatte den letzten Satz in einem Befehlston gesagt, der Alina Schalk genauso erschreckte wie Moon Dong-soo. Für einen kurzen Augenblick hatte Sörensen die Contenance verloren. Etwas, das äußerst selten passierte.

Doch sofort hatte er sich wieder gefangen und fuhr in ruhigem Tonfall fort.

»Wenn Sie keine lebenden Zellen in dem Zahn finden, dann ist das eben so. Auch in diesem Fall werden Sie angemessen entlohnt werden: mit einer Million Euro.«

Es klopfte an der Tür, und Moons Assistentin trat ein. Moon blinzelte überrascht, er hatte wohl vergessen, dass er sie mit etwas beauftragt hatte. Das Gespräch mit Sörensen schien ihn also doch nicht so kaltzulassen, wie er den Anschein zu erwecken versuchte. Er überlegte kurz, dann nickte er seiner Assistentin zu, und wenig später trat eine Frau in einem weißen Kittel ein.

»Ich darf Ihnen meine Mitarbeiterin Park Seoyoung vorstellen«, sagte Moon. »Sie betreut viele meiner Kunden.«

Park war eine zierliche Frau, in etwa so groß wie Moon. Alina Schalk versuchte sie einzuschätzen. Eigentlich war sie gut darin, sich ein schnelles erstes Urteil über einen Menschen zu bilden. Aber an Park scheiterte sie. Die Wissenschaftlerin wirkte unscheinbar mit ihrer Brille, wie sie eher zu Boden blickte denn in die Augen ihrer Gesprächspartner. Als Alina Schalk ihr allerdings bei dem kurzen Händeschütteln für eine Sekunde in die Augen sah, war da doch etwas hinter dieser Brille, das sie aufmerken ließ. Das ist jemand, der daran gewöhnt ist, unterschätzt zu werden, dachte Schalk. Möglicherweise zu Unrecht.

Park war sehr dünn, und unter dem Kittel waren kaum weibliche Formen erkennbar. Auch ihr Alter konnte Alina Schalk nur schwer schätzen. Irgendwo in ihren Dreißigern?

Moon sprach Koreanisch mit ihr und zeigte auf den Zahn. Alina sah, dass Sörensen sich anspannte. Es gefiel ihm nicht, dass Moon sie offenbar in das Projekt einweihte. Aber der Wissenschaftler schien Wert auf ihre Einschätzung zu legen.

Sörensen sah Moon auffordernd an. Er wartete auf eine Erklärung.

Schließlich sagte Moon mit nachdenklicher Stimme: »Frau Park sagt, dass Wissenschaftler kürzlich in der Zahnpulpa Stammzellen gefunden haben.«

Als Sörensen und Schalk nicht reagierten, ergriff Park Seoyoung das Wort. In makellosem Englisch ergänzte sie: »Entschuldigen Sie, ich werde versuchen, Ihnen das zu erläutern: Ein Zahn ist wie eine Kapsel. Außen umgibt ihn eine extrem harte Schicht, in seinem Inneren jedoch enthält er Mark, das von Blutgefäßen und Nerven durchzogen ist, ähnlich wie in einem Knochen. Aber ein Zahn ist noch viel härter, und damit ist das Mark noch besser geschützt. Jedenfalls finden sich im Mark Stammzellen, das sind spezielle Zellen, die das Gewebe regenerieren können. Fürs Klonen sind sie ideal und sogar besser geeignet als Haut- oder Muskelzellen, wir haben damit …«

»Meine Mitarbeiterin ist eine der besten unseres Fachs«, unterbrach Moon sie, und Park schaute gequält. »Aber ich möchte Ihnen hier nicht zu viel versprechen. Man hat in der Zahnpulpa Stammzellen gefunden, und zwar auch bei bereits ausgefallenen Zähnen. Aber das waren Zähne, die fünf Tage lang von der Blutversorgung abgeschnitten waren. Ihr Zahn ist seit sechzig Jahren ohne Blutzufuhr. Ich halte es daher nach wie vor für sehr unwahrscheinlich, dass wir darin lebende Zellen finden werden.«

Alina Schalk beobachtete Park, während Moon sprach. Die Wissenschaftlerin versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und ihrem Chef gegenüber respektvoll zu bleiben. Aber sie konnte nicht gänzlich verbergen, dass sie anderer Meinung war. Schalk sah es in ihren Augen, die ungeduldig hin und her zuckten. Sie schien sehr ehrgeizig zu sein.

Park warf ihrem Chef einen kurzen Blick zu. Moon ergänzte schnell: »Aber wir können es gerne versuchen, wenn es Ihnen so wichtig ist.«

»Ich bin sehr glücklich, dass Sie den Auftrag annehmen, Professor Moon«, sagte Bernd Sörensen erleichtert.

Moon Dong-soo nahm die Zahnbrücke, legte sie vorsichtig in das Plastikdöschen zurück und reichte sie Park. Sörensen beobachtete den Vorgang angespannt.

»Eine Frage: Was geschieht mit dem Zahn?«

Der Wissenschaftler schien überrascht. »Nun, wir sägen ihn auf und suchen darin nach Zellen.«

Sörensen verzog das Gesicht, als hätte er Schmerzen. »Natürlich. Bestünde die Möglichkeit, ihn danach wiederzubekommen?«

Moon sah ihn verständnislos an. »Nein. Der Zahn wird bei dem Prozess vollständig zerstört werden.«

Sörensen presste die Lippen zusammen. Dann nickte er. »Dann gibt es nur diesen einen Versuch?«

Park ergriff das Wort: »Leider ist das unumgänglich.« Nach einem Moment setzte sie nach: »Aber es ist doch nur ein alter Zahn?«

»Er ist für meinen Auftraggeber von sehr großem Wert«, sagte Sörensen.

Moon sagte schnell etwas auf Koreanisch. Alina Schalk vermutete, dass er Park den Hintergrund erklärte. Die Wissenschaftlerin nickte verständnisvoll.

»Herr Jung, wir werden unser Möglichstes tun«, sagte Moon schließlich. »Wir halten Sie auf dem Laufenden.«

Sie gingen zurück ins Wartezimmer, wo sie ihre Jacken gelassen hatten. Auf den Stühlen, auf denen sie und Sörensen gesessen hatten, saß jetzt ein Paar. Sie sahen freundlich aus, wenn auch beide angespannt wirkten. Vor allem die Frau. »Sorry, I have to get my clothes«, sagte Alina Schalk lächelnd und griff nach den Jacken. Die Frau rutschte etwas zur Seite, um ihr Platz zu machen, ihre langen kupferfarbenen Haare streiften Alinas Arm, und sagte: »Sure, no problem.« An ihrem Akzent war zu hören, dass sie Deutsche war.

Als Alina Schalk den Warteraum verließ, hörte sie hinter sich noch den Aufruf: »Mister and Misses Wohlpflug, please.«

4

Berlin, 2033

Es war weit von ihren Abgeordnetenbüros im Reichstag bis nach Prenzlauer Berg, sie mussten die Innenstadt umfahren, die seit vier Jahren autofreie Zone war – eines der ersten Projekte der grün-schwarzen Regierung. Bernd Sörensen hatte Alina Schalk gebeten, ihren eigenen Wagen zu nehmen, der Tesla Zero war unauffälliger als sein BMW mit Verbrennungsmotor. Bernd weigerte sich beharrlich, auf Elektro umzusatteln, und zahlte lieber die horrenden Strafgebühren. Hier in Prenzlauer Berg würden sie mit ihrem Wagen nicht auffallen, denn alle, die hier überhaupt noch Auto fuhren, hatten ein Elektromobil.

Bernd Sörensens Bodyguards waren dabei und steuerten den Tesla durch den Verkehr. Ihre Namen konnte Alina sich nie recht merken, die mit den Locken hieß Hanna oder Anna, die Kleine Carina.

Sie sahen nicht aus, wie man sich Bodyguards vorstellt, Sörensen legte Wert auf Understatement und Mimikry. Seine Bodyguards waren zwei junge Frauen Mitte zwanzig, die eine wirkte sehr weiblich mit ihren langen Locken, die andere war eher der unscheinbare Typ, klein, untersetzt und mit Brille. Beide waren dezent tätowiert und trugen formlose T-Shirts und Hosen. Sie wirkten harmlos wie Studentinnen. Aber sie waren deutschnational erzogen und hatten ein militärisches Training erhalten. Beide waren Mitglieder des Jungen Wegs, der Nachwuchsorganisation des Deutschen Wegs, und hatten gelernt, sich unauffällig in den unterschiedlichsten Szenerien zu bewegen. Sörensen tat kaum noch einen Schritt ohne die beiden. Vor allem hier in Prenzlauer Berg stand er mit Sicherheit weit oben auf der Liste der meistgehassten Personen.

Aber auch Bernd Sörensen hasste Prenzlauer Berg, vielleicht noch mehr als Neukölln. Hier waren nicht die Kanaken das Problem, sondern die jämmerlichen Gutmenschen mit ihren veganen Pho-Suppen, ihren Bakfiets-Rädern, ihren multilingual erzogenen Kindern. Er hasste ihre Selbstgefälligkeit und ihre Arroganz, wenn sie andere belehrten, er hasste, wie sie aßen, reisten, lebten. Er verabscheute ihre Heuchelei, wenn sie einerseits die Inklusion bejubelten, andererseits aber natürlich ihre Brut im Mutterleib auf jede mögliche Behinderung testen ließen. Wenn sie die multikulturelle Gesellschaft forderten, die eigenen Kinder aber nicht auf die normale Schule schickten, weil ihnen der Ausländeranteil zu hoch war. Eigentlich müssten sie ihn wählen, wenn sie wirklich ehrlich wären.

Wie stolz waren sie auf ihren grünen Kanzler mit seiner grün-schwarzen Regierung, die dieses Land sukzessive heruntergewirtschaftet hatte. Ihr Fetisch war der angeblich menschengemachte Klimawandel, dem sich alles und jeder unterzuordnen hatte. Dass Tausende Deutsche deswegen nun weniger Geld zur Verfügung hatten, war Kanzler Schwarz scheißegal, solange nur die CO2-Werte stimmten. Der Kohleausstieg, die CO2-Steuer, die autofreien Innenstädte, der Familiennachzug für Flüchtlinge, das bedingungslose Grundeinkommen – all das hatte Deutschland so schwer geschadet, dass man sich fast schon zurücksehnte nach der Volksverräterin Merkel, die Millionen Ausländer ins Land gelassen und die deutsche Wirtschaft stranguliert hatte – aus Angst vor einem Virus. Aber hier in Prenzlauer Berg feierten sie Guido Schwarz, und sie würden ihn im September natürlich wieder wählen.

Doch so weit würde es nicht kommen. Dafür würde Bernd Sörensen sorgen.

Die Bötzowstraße 45 war ein unscheinbarer Bau in einer schönen, ruhigen Gegend, nicht weit vom Volkspark Friedrichshain entfernt. Als sie ausstiegen, sah Alina die vielen Jungfamilien auf dem Arnswalder Platz, in dem kleinen Park neben dem Stierbrunnen. Hier wohnten sie, die Gutmenschen in ihrer heilen Welt. Niemand würde hier Arthur Hendrich vermuten, den künftigen Star des Deutschen Wegs.

Es herrschte geschäftiges Treiben an diesem sommerlichen Nachmittag, die Sonne schien auf die voluminösen Tierkörper des Brunnens herab. Sie hatten Alina schon immer fasziniert mit ihrer archaischen sexuellen Ausstrahlung, und sie verstand, warum er auch Fruchtbarkeitsbrunnen genannt wurde.

Ein weiterer Grund, weswegen sie diese Gegend ausgewählt hatte: Arthur würde hier Ruhe haben. Er musste zu sich finden, nach allem, was er erlebt hatte.

Sörensen war aufgeregt. Ungewöhnlich für ihn, aber verständlich: Heute würde er den Führer treffen. Er war Arthur zuletzt im Kleinkindalter persönlich begegnet.

»Überfordere ihn nicht«, sagte Alina. »Er hat einiges durchgemacht.«

Sörensen nickte und stieg aus. Vorsichtig sah er sich um, ein antrainierter Reflex, seitdem er vor anderthalb Jahren nach einer Rede in Königs Wusterhausen von einem Linksradikalen angegriffen worden war. Das Messer hatte seine Halsschlagader nur um wenige Zentimeter verfehlt. Damals hatte er eingesehen, dass es ohne Bodyguards nicht mehr ging. Ein kleiner Trost war, dass es den Politikern der anderen Parteien nicht besser ging. Dafür sorgte die »Basisarbeit« des Jungen Wegs. Sie führten Listen mit sogenannten Gefährdern und Volksfeinden: Journalisten, die allzu kritisch über den Deutschen Weg berichteten, Aktivisten, Feministinnen, die Antifa …

Am Klingelschild stand noch der Name des Vormieters: Kusslowski. Sie hatte Arthur gebeten, es dabei zu belassen. Sicher war sicher.

Alina Schalk klingelte. Sie sah hinauf zu seinem Balkon im dritten Stock, konnte aber nichts erkennen. Arthur hatte keine Pflanzen aufgestellt, doch er war ja auch erst vor wenigen Tagen eingezogen.

Sie klingelte noch mal. Arthur wusste, dass sie vorbeikommen und jemanden mitbringen würde. Warum machte er nicht auf?

Ratlos sah sie Sörensen an und zog ihr iPhone Zero aus der Tasche, selbst Apple hatte sich dem Null-Emissions-Zirkus verschrieben. Sie drückte Arthurs Kontakt, aber er ging nicht ran.

Genervt wollte sie schon vorschlagen, wieder zu fahren, als eine Nachricht von ihm eintraf: »Bin am Brunnen.«

Die Bodyguard-Frauen nahmen Alina Schalk und Bernd Sörensen in ihre Mitte, während sie die Straße überquerten. Alina spürte Sörensens Anspannung. Er fühlte sich unwohl, hier herumzulaufen, darauf war er nicht vorbereitet gewesen. Sörensen trug keine Sonnenbrille, keine Kappe wie sonst, wenn er sich in der Öffentlichkeit bewegte. Der Plan war gewesen, Arthur in seiner Wohnung zu treffen.

Um den Brunnen herum standen Bänke, auf manchen saßen Menschen: ein Penner, der regungslos über die Lidl-Tüten mit seinen Habseligkeiten gebeugt war, zwei Teenie-Mädchen, die an ihren Smartphones klebten und kichernd Instatube-Videos verglichen. Ein dunkelhäutiger Mann, der laut auf Arabisch telefonierte, zwei junge Männer mit Sportbeuteln in der einen, Zigaretten in der anderen Hand. Beide hatten sich die linken Arme komplett schwarz tätowieren lassen. Erst auf den zweiten Blick fielen Alina in Höhe des Bizeps die Aussparungen in den Tattoos auf: eine Binde, in die wiederum ein schwarzer Kreis mit einem weißen X gestochen war. Es war das Zeichen ihrer Partei, des Deutschen Weges. Ihre Anhänger wurden immer mehr, und sie trauten sich offenbar selbst nach Prenzlauer Berg. Die Männer jedenfalls machten keine Anstalten, ihre Tattoos zu verbergen. Alina musste unwillkürlich lächeln. Sie hoffte nur, dass die beiden Sörensen nicht erkennen würden. Auch Autogramm-Fans konnten sie jetzt nicht gebrauchen.

Sie scannte die Gesichter und erkannte schließlich Arthur, der alleine auf einer Bank saß. Er trug einen dunkelbraunen Hoodie und hatte die Kapuze übergezogen. Sein Gesicht lag im Halbschatten, nur sein spitzes Kinn ragte hervor. Arthur rauchte. Eine aufgeklappte Kladde lag auf seinem Schoß. Er hatte gezeichnet, sie erkannte Stierfiguren auf dem Bild.

Arthur beobachtete sie, wahrscheinlich schon die ganze Zeit über.

Ärger stieg in ihr auf. Er spielte mit ihr. Wollte austesten, wie viel er sich erlauben konnte.

»Hallo Arthur«, sagte sie, als sie schließlich vor ihm standen. Er sagte nichts und musterte verwundert die jungen Frauen. Die beiden Bodyguards stellten sich etwas abseits, zückten ihre E-Zigaretten und begannen sich laut zu unterhalten, um die Konversation zu übertönen. Dann sah Arthur zu Sörensen auf.

Persönliche Erinnerungen an ihn würde er nicht mehr haben. Aber natürlich wusste er aus den Nachrichten, wer Bernd Sörensen war.

»Hallo, Arthur«, sagte Sörensen. In seiner Stimme konnte man die Anspannung hören. »Ich freue mich, dich kennenzulernen.«

Er streckte ihm die Hand hin, aber Arthur reagierte nicht. Mit unbewegter Miene musterte er Sörensen.

»Was wollen Sie von mir? Ich habe mit Ihrem Verein nichts am Hut.«

Sörensen schwieg einen Augenblick. Er sah auf Arthurs Zeichnung.

»Du hast Talent.«

Schnell klappte Arthur die Kladde zu, ärgerlich, aber auch verlegen.

»Ich war schon besser.« Er blickte hinunter auf seine linke Hand und ergriff sie mit der anderen. Sie hatte wieder gezittert.

»Arthur, Bernd würde sich gerne einmal in Ruhe mit dir unterhalten«, sagte Alina Schalk. »Vielleicht wollt …«

Die Bodyguard-Frau mit den Locken machte einen schnellen Schritt hin zu Sörensen und stellte sich vor ihn. Auch die andere spannte sich an. Alina folgte ihrem Blick. Sie beobachtete den Brunnen. Es war Alina entgangen, dass die beiden Männer mit den Tattoos Spraydosen aus ihren Beuteln gezogen hatten, mit denen sie nun die Stufen zum Brunnen hinaufsprangen. Dann ging alles ganz schnell. Der eine begann, auf die Bäuche der Stiere Kreise mit einem X zu sprühen, der andere nahm sich die Steinfront vor und schrieb darauf: Wir werden sie jagen!

Der Araber beobachtete die Szene, telefonierte aber weiter. Auch die Teenie-Mädchen taten so, als wäre nichts, und hielten sich ihre Telefone vors Gesicht.

»Hey!«, rief eine junge Mutter aus dem Park herüber. »Was macht ihr da?« Aber die Sprayer ließen sich nicht beirren.

»Hört sofort auf damit!«

Mehrere junge Frauen kamen angerannt.

Der andere sprühte nun den Spruch: Volksverräter entsorgen!

Eine der Frauen lief die Stufen zum Brunnen hinauf und versuchte, ihm die Spraydose zu entreißen, aber der Mann schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht, so hart, dass sie zurückgeschleudert wurde und die Stufen herunterfiel. Ihre Freundinnen eilten ihr zu Hilfe. Eine zückte ihr Smartphone und tippte darauf herum, wahrscheinlich rief sie gerade die Polizei.

Der Araber stand jetzt auf und wollte eingreifen. »Hey, hey«, rief er zu dem Mann, der die Frau geschlagen hatte. »Ganz ruhig.«

»Was willst du, Kanake?«, rief der tätowierte Mann. »Was willst du?« Dann ging er ihn an und schubste ihn. »Geh zurück in dein Scheißland!«

»Herr Sörensen, wir sollten gehen«, sagte die Leibwächterin, die bei Sörensen stehen geblieben war, während ihre Kollegin den Brunnen im Blick behielt, aber keinerlei Anstalten machte einzuschreiten. Ihr Job war es, ihren Chef zu schützen, nicht, Mitmenschen zu helfen.

Sörensen nickte. Zu Arthur, der die Szene wortlos beobachtet hatte, sagte er: »Gehen wir.«

Arthur stand verwirrt auf, während der Konflikt eskalierte. Die Frauen brüllten: »Hört auf! Hört sofort auf!«

Der Mann schlug dem Araber kurz und fest ins Gesicht, woraufhin er rückwärts zu Boden fiel. Er regte sich nicht, die beiden Männer lachten.