Der Kopf meines Vaters: Wien von der NS-Zeit bis zur Gegenwart - Eine Zeitzeugin erzählt - Luis Stabauer - E-Book

Der Kopf meines Vaters: Wien von der NS-Zeit bis zur Gegenwart - Eine Zeitzeugin erzählt E-Book

Luis Stabauer

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Beschreibung

Grete Plotnarek, von Kindesbeinen an Maxi gerufen, erzählt ihre packende Lebensgeschichte: Der Vater Franz Plotnarek geht nach der Enttäuschung über das Verhalten der Sozialdemokraten im Februaraufstand 1934 in den politischen Untergrund. Mit seiner Frau Anna Plotnarek und Freunden agitieren sie zuerst gegen die Austrofaschisten und ab 1938 gegen die Nationalsozialisten, sammeln Geld und Kleider für Ausgegrenzte und sozial Schwache. Ein eingeschleuster Spion verrät die Gruppe und Maxis Vater wird 1941 verhaftet. Manchmal wartet Maxi im Schnee vor dem Gefängnis um ihren Vater wenigstens beim Be- und Entladen der Wäsche zu Gesicht zu bekommen. Franz Plotnarek wird 1943 von den Nazis geköpft. Die berührenden Erinnerungen an ihre Eltern, an weitere Opfer aus dem Freundes- und Familienkreis sowie die Auswirkungen auf ihr Leben, eingebettet in das Wien von 1934 bis zur Gegenwart, erzählt Maxi in einem Interview mit Luis Stabauer.

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Luis Stabauer

Der Kopf meines Vaters

Wien von der NS-Zeit bis zur Gegenwart

Eine Zeitzeugin erzählt

Stabauer, Luis: Der Kopf meines Vaters: Wien von der NS-Zeit bis zur Gegenwart - Eine Zeitzeugin erzählt, Hamburg, ACABUS Verlag 2009

Originalausgabe

ISBN: 978-3-941404-09-0

Covermotiv: Wiener Guillotine, mit der Gefangene durch die NS-Justiz hingerichtet wurden, Kriminalmuseum Wien; aufgenommen von Luis Stabauer

Lektorat: Alissa Schrumpf

Umschlagsgestaltung: Ulrich Benschen, ACABUS Verlag

Der ACABUS Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

Die Buchausgabe dieses Titels trägt die ISBN 978-3-941404-08-3 und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

© ACABUS Verlag, Hamburg 2009

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

Danke Maxi (Grete Plotnarek)!

Deine Erinnerungen und deine authentischen Erzählungen haben mich in die österreichische Geschichte von 1934 bis 1945 eintauchen lassen. Ohne Schnörkel will ich deinen Geschichtsbeitrag auch einer breiteren Leserschaft zur Verfügung stellen. Jeder möge seine Lehren daraus ziehen.

Meine wichtigste Erkenntnis ist: „Erziehung in Liebe ist Offenheit, Offenheit in Liebe ist Vertrauen. Vertrauen, Offenheit und Liebe in deiner Kindheit haben deine Persönlichkeit bis heute geprägt.“

Danke Annalena (meine Nichte Annalena Stabauer)!

Du hast die Interviews akustisch, technisch und emotionell begleitet, sie dann zu „Papier“ gebracht und warst bis zum Schluss eine wichtige Stütze in allen Fragen bis zur Herausgabe dieses Buches.

Luis Stabauer, Wien, Oktober 2009

Maxi (Grete) Plotnarek (verehelichte Machalek) wird am 22. Jänner 1932 in Wien-Ottakring geboren, wo sie bis 1945 auch lebt. Ihre Eltern Franz und Anna Plotnarek betreiben eine Wäscherei. Der Vater ist 1934 in die Februarkämpfe verwickelt. Er wird danach von den Austrofaschisten verhaftet und drei Monate inhaftiert. In den Jahren danach sind die Eltern Hauptorganisatoren einer politischen Untergrundgruppe. Sie sammeln Geld und Kleider für Bedürftige und jüdische Familien, diskutieren die politische Situation, stellen Flugblätter her und halten Kontakte zu anderen Illegalen dieser Zeit.

1941 schleusen die Nazis einen Spitzel in die Gruppe ein, was noch im selben Jahr zur Verhaftung des Großteils der Gruppe führt. Franz Plotnarek wird vom Standgericht der Nazis zum Tod verurteilt und 1943 geköpft. Die Mutter ist dem Spitzel nicht aufgefallen und kämpft aufopfernd für ihren Mann. Sie stirbt 1960 an einem Nierenversagen, einer Spätfolge dieser Zeit.

Nach 1945 lebt Maxi in Wien-Hietzing und ist mit Peter Machalek verheiratet. Sie hat zwei Kinder und drei Enkelkinder. Heute lebt sie im Pensionisten-Wohnhaus Gustav Klimt in Wien-Penzing.

In Der Kopf meines Vaters stellt sie in einem Interview mit Luis Stabauer ihre Erinnerungen und Gedanken aus der Kindheit bis zur Jetztzeit dar.

Luis Stabauer, geboren 1950 in Seewalchen am Attersee, ist Unternehmensberater, Coach und Autor in Wien-Penzing. Er ist Vater zweier Töchter und Großvater zweier Enkelkinder.

Neben seinen beruflichen Aktivitäten beschäftigt er sich seit der Gymnasialzeit mit zeitgeschichtlichen Fragen, vor allem mit solidarischen, friedens- und freiheitsliebenden Bewegungen aus Europa und Lateinamerika. Der Kopf meines Vaters ist seine erste Arbeit mit einer österreichischen Zeitzeugin der Jahre 1934 bis 1945. Die Erinnerungen einer „ganz normalen Frau“ sollen deren Perspektive auf das Wien der 30er Jahre bis zur Gegenwart darstellen und das Bild, das wir von dieser Stadt haben, erweitern und vertiefen.

INHALT

VORWORT

KINDHEIT, JUGEND, JAHRE BIS 1968

GEGENWART UND RÜCKSCHAU

ANHÄNGE

VORWORT

Die 1932 in Wien-Ottakring geborene Grete Plotnarek wird 1955 zu Grete Machalek. Seit frühen Kindheitstagen ist sie allerdings „die Maxi“ und lebt mit diesem Namen heute in Wien-Penzing, im Pensionistenhaus Gustav Klimt.

Ihr Vater, Franz Plotnarek, geht, nach der Enttäuschung über das Verhalten der Sozialdemokraten im Februaraufstand 1934, in den politischen Untergrund. Der Vater, ihre Mutter Anna Plotnarek und Freunde der Eltern agitieren zuerst gegen die Austrofaschisten und ab 1938 gegen die Nationalsozialisten, sammeln Geld und Kleider für jüdische Familien und sozial Schwache und versuchen bis in die Kriegsjahre gegen Adolf Hitler anzukämpfen. Maxis Vater wird 1941 von den Nazis verhaftet.

Die kleine Maxi wartet 1942 im Schnee vor dem Bezirksgefängnis am Mittersteig in Wien-Margareten, um ihren Vater beim Be- und Entladen der Wäsche zu sehen – eine der wenigen Möglichkeiten, ihn zu Gesicht zu bekommen. „Geh, führt’s den Plotnarek wieder hinaus, damit die Kleine heimgeht, die erkältet sich noch da draußen!“ hört sie einen Wärter sagen – damals sind sie mit den Politischen noch respektvoller umgegangen.

Ihre Mutter Anna kämpft aufopfernd um ihren Mann, den Vater von Maxi. Ihr zu dieser Zeit entstehendes Nierenleiden führt fast 20 Jahre später zum Tod im Hietzinger (Lainzer) Krankenhaus.

Franz Plotnarek wird 1943 von den Nazis im Landesgericht Wien geköpft.

Die berührenden Erinnerungen, die Auswirkungen auf ihr Leben, eingebettet in das Wien von 1934 bis zur Gegenwart, erzählt Maxi in einem 2008 und 2009 geführten Interview mit Luis Stabauer.

KINDHEIT, JUGEND, JAHRE BIS 1968

Maxi, herzlichen Dank, dass dieses Interview zustande kommt. Ich bin sehr gespannt, lassen wir uns einfach von deinen Erinnerungen treiben. Heute möchte ich einmal chronologisch mit deiner Kindheit beginnen. Gab es in deiner Kindheit Weihnachten, die dir heute noch besonders in Erinnerung sind?

Ja, eigentlich aber nicht bestimmte, sondern allgemein die Weihnachten bei uns.

Meine Eltern haben einen sehr großen Bekannten- und Freundeskreis gehabt, und der hat sich zu Weihnachten immer versammelt. Es war nie ein reines Familienfest. Für mich war das ganz normal und immer schön. Am Christbaum haben immer Liebesperlen hängen müssen, sonst war es für mich kein Weihnachten. Kennst du die?

Nein, kenne ich nicht. Liebesperlen?

Ja. Das waren Zuckerkugerln mit Füllung, die es in einem silbernen Sackerl gegeben hat, und wenn das nicht am Baum gehangen hat, waren es keine Weihnachten.

Ihr habt also mit Weihnachtsbaum und allem Drum und Dran gefeiert.

Genau. Und dabei hat es etwas gegeben, das für mich schrecklich war: Vorher habe ich immer essen müssen. Das war schlimm!

Und welche Geschenke hat es gegeben?

Ich habe relativ schöne und viele Geschenke bekommen, denn meinen Eltern ist es, solange ich mich zurückerinnern kann, finanziell eigentlich gut gegangen, weil sie die Putzerei1 gehabt haben. Es kam dann die Zeit mit den vielen Arbeitslosen, da habe ich es als Kind gegenüber meinen Schulkollegen gut gehabt. Ich habe mehr oder weniger immer alles bekommen, was ich mir gewünscht habe – es waren keine Reichtümer, aber ich habe es immer toll gefunden. Wenn ich mich so zurückerinnere, hat immer ein Golo-Spiel dabei sein müssen.

Was für ein Spiel?

Ein Kugerl-Spiel. Der Name „Golo-Spiel“ ist meine Erfindung. Das muss schon sehr lange zurückliegen, dass ich noch so gesprochen habe. Ich muss noch sehr klein gewesen sein. Dieses Spiel war immer dabei und war wichtig. Weihnachten war eigentlich als Ganzes ein lustiges Fest.

Gibt es auch negative Erinnerungen daran?

Etwas fällt mir ein. Meine Eltern haben einmal für eine kurze Zeit eine Bedienerin2 gehabt – meine Mutter war ja sehr ausgelastet. Diese Frau war mir von Anfang an unsympathisch. Wie Kinder sind, empfinden sie Negatives an einem Menschen gleich. Meine Eltern haben dann auch herausgefunden, dass sie gestohlen hat. Zu Weihnachten, noch vor dieser Entdeckung, wollte ich meiner Mutter unbedingt einen Regenschirm kaufen. Und gekauft hat sie ihn, dabei war das mein Geschenk an meine Mutter. Ich war so bitterböse auf sie, das habe ich bis heute nicht vergessen.

Es wirkt wahrscheinlich heute wie eine Lächerlichkeit, aber als Kind habe ich das so empfunden.

Ansonsten war Weihnachten einfach ein Freundesfest, nicht so sehr ein Familienfest.

Wie viele waren bei so einem Fest anwesend?

Das hat schon geschwankt. So zwischen fünf und acht mindestens, wahrscheinlich auch einmal zehn. Die anderen haben entweder gar keine Kinder bekommen, oder erst viel später. Ich war das einzige. So war ich einerseits verwöhnt, weil natürlich ein jeder für mich da war, aber andererseits haben sie mich auch hart angefasst. Ich habe schon einiges einstecken müssen, von den guten Freunden.

Stichwort „gute Freunde“: Hast du aus früher Zeit, vielleicht sogar noch aus dem Vorschulalter, Erinnerungen an eine Freundin oder einen Freund?

Ja, aber natürlich!

Wer fällt dir da ein?

Die Elfi Paul aus dem Nebenhaus. Die Hauseingänge haben wir gleich nebeneinander gehabt, aber im Hof waren wir vis-à-vis. Da haben wir hin und her gerufen, sie ist herübergekommen und ich bin hinübergegangen.

Von einem Vorfall weiß ich noch ganz genau. Es war noch lange bevor wir in die Schule kamen, Elfi war ein, zwei Jahre jünger als ich. Sie hat manchmal bei mir geschlafen. An jenem Tag war ich alleine, meine Eltern waren fort, Elfi war bei mir und ich habe zu ihr gesagt: „Weißt du was? Du schläfst bei mir!“ Nun, sie schläft bei mir. Nur haben wir niemandem etwas gesagt und ihre Eltern sind herumgerannt wie die Wahnsinnigen und haben sie gesucht. Elfi hatte schon sehr große Geschwister. Sie kamen herüber, aber ich habe die Tür nicht aufgemacht: „Ist die Elfi da?“ – „Nein, die ist nicht da, die ist schon nach Hause gegangen.“

Und sie war da?

Sie war da. Als meine Eltern nach Hause gekommen sind, haben sie gesehen, dass Elfi da schläft, aber auch nichts gesagt, da sie ja nichts von dem Aufruhr wussten.

Das war dann ein Riesenkrach. Aber ich und Elfi waren sehr dicke Freundinnen.

Wenn du dich an die Elfi zurückerinnerst und wir könnten sie heute fragen: Wie würde sie dich als Kind beschreiben?

Ich glaube, ich war die Dominierende, und die Elfi hat, ich will nicht sagen, alles getan, was ich gesagt habe, aber ich war eben immer die Anführerin. Sie war auch jünger als ich. Einmal sind wir in den Wald gegangen und sie hat mich gefragt: „Haben wir uns jetzt verirrt?“ – „Aber nein, wir finden schon nach Hause.“ Ich habe auch heimgefunden, aber als ich das gesagt habe, habe ich eigentlich keine Ahnung gehabt. Wir haben schon auch gestritten, waren aber immer schnell wieder gut.

Wie hast du ausgesehen? Wie würde dich Elfi rein optisch beschreiben?

Nun ja, ich war ein ganz normales Kind, weder hässlich noch schön. Ein paar Mal habe ich meine Haarfarbe gewechselt.

Damals schon, als Kind?Bewusst gefärbt?

Aber nein, um Gottes Willen! Auf natürliche Weise. Ich war erst ganz dunkel, dann habe ich Fotos, auf denen ich nicht ganz blond, aber viel heller bin. Später wurden meine Haare wieder dunkler. Auch als Erwachsener hat sich meine Haarfarbe noch verändert.

Und welche Kleidung hast du im Alltag getragen?

Nun ja, ich war nicht herausgeputzt, war nie so ein liebes Mäderl. So bin ich auch zu dem Namen „Maxi“ gekommen. Ich hatte zeitweise einen Herrenschnitt und Lederhosen. Dann habe ich aber auch ein Sonnengold-Kleiderl gehabt, wenn du weißt, was das ist? Sonnengold war eine Seide, und wenn ich dann mit dem Kleiderl und dem Bubenschnitt herumgerannt bin, habe ich schon ein bisschen komisch ausgesehen. Aber im Alltag … ich war während der ganzen Vorschulzeit viel in der Lobau3 und da war ich nackert.

Und woher kommt die „Maxi“ genau?

Nun ja, die Eltern haben gesagt, ich bin „so schlimm wie ein Maxi“, und ich hätte Maxi geheißen, wenn ich ein Bub geworden wäre. Lange war es nur Spaß, aber irgendwann ist es mir geblieben.

Hat „Maxi“ mit Max und Moritz zu tun?

Eigentlich nicht, aber ein Maxi muss schlimm sein. Wenn ich ein Bub geworden wäre, hätte ich so schlimm sein dürfen, wie ich war. Grete war damals ein Modename, so wie später zum Beispiel Sabine. Irgendwann, ich kann nicht mehr sagen wann genau, ist mir „Maxi“ dann ganz geblieben. Meine Großmutter hat allerdings bis zum Schluss Grete zu mir gesagt.

Welche deiner Großmütter war es? Und war sie die Einzige?

Ja, ich glaube, es war nur sie. Es war die Mutter meiner Mutter, die habe ich nicht sehr mögen, auch deswegen nicht, weil sie böse zu meiner Mutter war.

Kannst du über eure Wohnung etwas erzählen? Wie hat sie ausgesehen?

Zimmer, Küche. Aber: Es war eine große Küche, eine Wohnküche, nicht so wie jene in den Zinskasernen. Vorne war die Tür, der Raum war eher quadratisch und hinten hat sich das Zimmer angeschlossen. Die Küche war fast so groß wie das Zimmer. Mein Vater hat selbst eine Bauernstube gemacht, die dann auch im Badehaus in Margareten am Moos noch gestanden ist, und es war eigentlich sehr gemütlich bei uns. Unsere Tür war die letzte auf einem langen Gang und mein Vater hat vom Hausherrn die Bewilligung bekommen, durch eine zweite Tür ein langes Vorzimmer zu schaffen. Dort haben wir Glumpert4 untergebracht. Vor allem aber war das damals schon mit dem Gedanken verbunden, dass niemand etwas aus der Wohnung hören soll. Wir haben somit nur noch im Zimmer direkte Nachbarn gehabt und dort ist ohnehin nichts geredet worden. Als wir dann Auslandssender gehört haben und so weiter war also das Vorzimmer ein Puffer.

Wo hast du geschlafen?

Im Schlafzimmer, mit den Eltern. Sie haben in den Ehebetten geschlafen. Ich kann mich sogar noch an mein Gitterbett erinnern. Ich habe wirklich lange im Gitterbett geschlafen, weil es sehr groß war. Dann habe ich eine Bettbank bekommen. Damals war das so ganz normal.

Im selben Haus hatten deine Eltern die Wäscherei und Putzerei.

Das war unter uns, im Keller.

Wie oft warst du dort für gewöhnlich?

Schon sehr oft. Ich war viel alleine in der Wohnung, da die Eltern ja gearbeitet haben, und wenn ich etwas gebraucht habe, bin ich hinuntergegangen. Ich bin in dem grauslichen, finsteren Keller hinund hergerannt, weil vorne ja das Geschäftslokal und hinten die Werkstatt war. In solch einem Keller hätten sich andere Kinder wahrscheinlich gefürchtet, aber für mich war das selbstverständlich.

Franz und Anna Plotnarek

vor ihrer Wäscherei mit einer Kundin

(Quelle: privat)

Musstest du mitarbeiten?

Nein! Dafür war ich viel zu klein. Aber das hätte ich auch später nicht müssen.

Welche Spielsachen hattest du? Gibt es etwas, an das du dich noch besonders erinnerst?

Ja, ganz sicher. Ich hatte ein Puppenwagerl, das mein Vater selbst gemacht hat.

Es hatte Klappfenster an den Seiten und das Dach war abnehmbar. So was hatte damals kein Mensch, in Ottakring natürlich schon gar nicht, und ich war schon sehr stolz auf meine Sachen. Auch einen Roller hatte ich. Er war aus zwei Brettern zusammengesetzt, eines davon beweglich, mit einem Zahnrad am hinteren Ende. Du bist oben gestanden, hast getreten und musstest nicht antauchen5. Damit war ich natürlich Kaiser in unserer Gasse. Wir waren ja alle immer auf der Gasse – wo wären wir denn sonst gewesen! Die anderen Kinder haben dann mit meinem Roller fahren dürfen. Sie sind Schlange gestanden und jeder hat eine Reihe um den Häuserblock fahren dürfen, dann ist der Nächste gekommen. Ich war die Gschaftlhuberin6. (lacht)

Das heißt, du hattest bei euch in der Gasse eine besondere Stellung.

Ja, einerseits, aber andererseits … Wenn die Buben Roller fahren wollten, sind sie schon gekommen, aber sonst haben sie uns Mädchen natürlich links liegen gelassen. Aber ich habe einfach Sachen gehabt, die andere Kinder nicht gehabt haben. Ich meine, wenn ich in Wien-Döbling gewohnt hätte, wäre ich nichts gewesen, aber in Ottakring war es etwas.

Habt ihr Kinder auch Spiele gemeinsam gespielt?

Ja natürlich. Dann, wenn sie zu mir gekommen sind. „Mensch ärgere dich nicht“ und Ähnliches haben wir dann gespielt. Aber wir waren schon sehr viel auf der Gasse.

Im 34er-Jahr zum Beispiel – da war ich ja auch noch nicht in der Schule – ist einer aus der Gruppe meines Vaters erschossen worden. In den Jahren danach bin ich alleine auf den Friedhof gegangen, habe vorher für zehn Groschen Blumen gekauft. Das alles hat niemand gewusst! Als ich dann erwachsen war, hat meine Mutter mir das bestätigt. Ich bin ihnen gar nicht abgegangen. (lacht)Ich habe mich lange an diesen Menschen erinnert, habe ihn sehr gern gehabt. Da ist es mir halt eingefallen und ich bin auf den Friedhof gegangen.

Auf den Ottakringer Friedhof?

Ja, genau.

Ist das heute noch der gleiche wie damals? Der große, den Hang hinauf? Ein wunderschöner Friedhof.

Ja. Ich war schon ewig nicht mehr dort. In Ottakring draußen, im Liebhartstal.

Draußen, wo wir gewohnt haben, ist es ja schön. Drinnen beim Gürtel weniger.

Sprechen wir noch ein bisschen über Kinderfantasien. Kannst du dich an Wünsche erinnern, an Fantasien darüber, was du werden möchtest, was du sein möchtest, wie du leben möchtest?

Ich bin mit drei Jahren in den Kindergarten gekommen und habe gesagt, „Ich werde eine Tante7“ und dabei ist es geblieben, bis ich erwachsen war. Daneben hat es nichts anderes gegeben – also vom Ausland hat man nicht einmal geträumt. Aber diesen Beruf habe ich mir von klein auf gewünscht. Ich muss sagen, fantasiert habe ich nicht viel. Ich war eigentlich schon als Kind realistisch. Also an Fantasien kann ich mich überhaupt nicht erinnern. Ich meine, wir haben gespielt, Vater-Mutter-Kind und solche Sachen, aber das war ein normales Kinderspiel.

Bekamst du als Kind Kosenamen von deinen Eltern?

(zögerlich) Maxi. (lacht)Aber eigentlich war das kein Kosename. Es war auch nicht negativ, aber wenn man sagt: „Du bist so schlimm wie ein Maxi“, hat das eigentlich mit kosen nichts zu tun. (lacht) Mein Vater war recht streng. Er hat mich nie geschlagen. Er hat mich nur ansehen müssen, und ich bin schon marschiert. Aber ich habe ihn vergöttert. Allerdings hat es keine Schmuserei gegeben, wie es heute ganz normal ist. Mit meiner Mutter später schon, aber auch eher wenig.

Das heißt, es gab wenig Hautkontakt, An-die-Brust-Drücken und Ähnliches?

Doch, mit meiner Mutter schon … mit meinem Vater auch, aber das war anders damals. (sucht nach Worten) Wie soll ich das erklären … Also ich habe alles bekommen – und nicht so wie heute, wo Eltern sich von den Kindern loskaufen, ihnen alles Mögliche schenken, damit sie keine Zeit für sie haben müssen. Sie waren immer für mich da. Auch dadurch, dass sie im Haus gearbeitet haben. Wie gesagt, ich war viel alleine in der Wohnung – als ich ganz klein war natürlich nicht, da war dann die „Mama“ da – aber ich habe jederzeit hinuntergehen können. Sie haben mit mir gesprochen, ja oder nein gesagt, aber für mehr war oft gar keine Zeit vorhanden.

Möchtest du zur „Mama“ etwas sagen? Sie war ja eine besondere Person in deiner Kindheit.

Ja, sie war eine wichtige Person für mich. Die „Mama“ hat drei Kinder, zwei Töchter und einen Sohn, gehabt. Die waren Freunde meiner Eltern und nur dadurch sind wir zusammengekommen. Obwohl ich heute noch „mein kleiner Bruder“ zu ihrem Enkel sage.

Als mein Vater im 34er-Jahr verhaftet worden ist, ist sie zu meiner Mutter gekommen: „Frau Plotnarek, sie brauchen Hilfe!“ Meine Mutter ist ja mit dem Geschäft alleine dagestanden – ich war erst zwei Jahre alt – und sie hat vorne im Geschäft stehen müssen, hinten waschen und bügeln. Sie hat wirklich Tag und Nacht gearbeitet. Und die „Mama“ war einfach da und hat mit ihr gebügelt und hat mit ihr gewaschen – einfach mitgearbeitet. Als mein Vater nach drei Monaten nach Hause gekommen ist, hat er erwartet, dass das Geschäft darniederliegt. Aber die Leute haben alle bei uns putzen lassen, weil sie sich gesagt haben: „Mein Gott, die arme Plotnarek, ihr müssen wir jetzt helfen!“ Von halb Ottakring sind sie mit der Wäsche gekommen. Meine Mutter hat zwar schön verdient in dieser Zeit, aber der Arbeitsaufwand – es war ein Wahnsinn.

Nun, und die „Mama“ ist weiterhin geblieben. Sie haben immer noch sehr viel Arbeit gehabt. Die „Mama“ ist also am Vormittag gekommen, hat für uns alle gekocht, mich nach dem Essen zu sich mitgenommen und am Abend wieder nach Hause gebracht. So ist das gewesen, bis ich in den Kindergarten gekommen bin. Danach war ich aber auch wieder oft bei ihr. Ich erinnere mich nicht, je mit meinen Eltern im Kino gewesen zu sein – nur mit der „Mama“! Damals gab es für Kinder „Schoßkarten“. Die Kinder hatten keinen eigenen Sitz. Das habe ich sehr genossen, einen Film zu sehen und bei der „Mama“ am Schoß zu sitzen. Also sie war praktisch meine Großmutter – obwohl wir überhaupt nicht verwandt waren.

Sie war auch aus Ottakring.

Ja, ja. Wir sind zu Fuß zu ihr gegangen. Sie hat oben bei der Wilhelminenstraße, in der Degengasse, gewohnt und wir in der Rankgasse. Damals ist der 10er8 noch nicht gefahren. Das ist früher alles zu Fuß gegangen worden.

Die „Mama“ spielte auch zu Kriegsende noch einmal eine Rolle. Darauf werden wir noch zu sprechen kommen. Bleiben wir aber vorerst noch etwas in deiner Kindheit. Du hast erzählt, dass Fantasien für dich damals keinen so großen Platz einnahmen. Hattest du denn Geheimnisse vor deinen Eltern, oder generell Geheimnisse, die du mit dir herumgetragen hast?

Nicht, dass ich wüsste. Also sicher nichts Großes, weil ich mich an gar nichts erinnern kann. Ich meine, es hat die Kindereien von uns Kindern untereinander gegeben, aber abgesehen davon war da nichts, an das ich mich erinnern könnte. Ich habe daheim so ziemlich alles erzählt, genauso wie meine Eltern mit mir alles besprochen haben.

Wenn ich mit der Freundin böse war, nun ja, dann war das halt so und dann waren wir wieder gut. Auch von der Schule habe ich immer alles erzählt. Ich kann mich nicht erinnern, irgendetwas verschwiegen zu haben.

Aus der Zeit, als ich schon in den Hort gegangen bin – meine Mutter war schon dienstverpflichtet – da fällt mir etwas ein: Wir haben im Hort den Muttertag gefeiert und ich habe genau gewusst: Alle Mütter kommen, nur meine nicht, weil sie gar nicht kommen kann. So bin ich an diesem Tag nicht in den Hort gegangen und hab ihr gar nicht gesagt, dass eine Muttertagsfeier ist. Wie es der Teufel haben will, will mich meine Mutter an diesem Tag abholen und ich bin nicht dort. Sie kommt nach Hause und fragt: „Nun, wie war’s?“ – „Nun ja, eh nichts vorgefallen“ – „Was habt ihr zum Essen gehabt?“ – Da habe ich gelogen und einfach irgendetwas gesagt … Ich wollte ihr ersparen, dass sie sich kränkt, weil sie nicht kommen hat können und ich als Einzige alleine bei der Muttertagsfeier war. Ich meine, ich habe ja weder etwas angestellt … ich hätte also keinen anderen Grund gehabt, nicht hinzugehen. So ist sie auf die Lüge draufgekommen und ich bin draufgekommen, dass sie weiß, dass ich gelogen habe – es war ein Drama, ein richtiges Drama. Ich habe geglaubt, jetzt komme ich in ein Kinderheim. Es war fürchterlich.

Anna und Maxi Plotnarek

(Quelle: privat)

Das unterstreicht die Offenheit als Basis eures Umgangs miteinander. Sie war so enttäuscht?

Ja. Ich war enttäuscht. Sie war enttäuscht. Ich habe ein furchtbar schlechtes Gewissen gehabt. Wenn ich den Vorfall heute betrachte, war es eigentlich eine Lächerlichkeit.

Ich habe schon auch einmal schulgstagelt9 , aber das habe ich ihr dann halt erzählt.

Gab es besondere Erwartungen von deinen Eltern an dich?