Der Körper - Mircea Cartarescu - E-Book

Der Körper E-Book

Mircea Cartarescu

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Beschreibung

Als die Schreibstube des Erzählers dem urbanistischen Größenwahn des Diktators zum Opfer fällt, kehrt Mircea in die Wohnung der Eltern zurück, wo die Vergangenheit wieder lebendig wird. Bukarest leuchtet - die Stadt wird zur Literatur, wenn er Urgroßvater Vasile herbeihalluziniert oder wenn sich Urgroßmutter Maria allmorgendlich in einen Schmetterling verwandelt. In diesem irrwitzigen Roman voller Alpträume, dem zweiten Teil der „Orbitor“-Trilogie des Schriftstellers aus Rumänien, fügen sich Phantastik und Physik, Tradition und Moderne, Sinnlichkeit und Abstraktion zu einem Kunstwerk.

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Das ist das Cover des Buches »Der Körper« von Mircea Cartarescu

Über das Buch

Als die Schreibstube des Erzählers dem urbanistischen Größenwahn des Diktators zum Opfer fällt, kehrt Mircea in die Wohnung der Eltern zurück, wo die Vergangenheit wieder lebendig wird. Bukarest leuchtet — die Stadt wird zur Literatur, wenn er Urgroßvater Vasile herbeihalluziniert oder wenn sich Urgroßmutter Maria allmorgendlich in einen Schmetterling verwandelt. In diesem irrwitzigen Roman voller Alpträume, dem zweiten Teil der »Orbitor«-Trilogie des Schriftstellers aus Rumänien, fügen sich Phantastik und Physik, Tradition und Moderne, Sinnlichkeit und Abstraktion zu einem Kunstwerk.

Mircea Cărtărescu

Der Körper

Roman

Aus dem Rumänischen von Gerhardt Csejka und Ferdinand Leopold

Paul Zsolnay Verlag

Möchte aber jemand sagen: Wie werden die Toten auferstehen, und mit welcherlei Leibe werden sie kommen?

Du Narr: Was du säest, wird nicht lebendig, es sterbe denn.

Und was du säest, ist ja nicht der Leib, der werden soll, sondern ein bloßes Korn, etwa Weizen oder der andern eines.

Gott aber gibt ihm einen Leib, wie er will, und einem jeglichen Samen seinen eigenen Leib.

Nicht ist alles Fleisch einerlei Fleisch; sondern ein anderes Fleisch ist der Menschen, ein anderes des Viehs, ein anderes der Vögel, ein anderes der Fische.

Und es gibt himmlische Körper und irdische Körper; aber eine andere Herrlichkeit haben die himmlischen und eine andere die irdischen.

Einen anderen Glanz hat die Sonne, einen anderen Glanz hat der Mond, einen anderen Glanz haben die Sterne; denn ein Stern übertrifft den andern an Glanz.

So auch die Auferstehung der Toten. Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich.

Es wird gesät in Unehre und wird auferstehen in Herrlichkeit. Es wird gesät in Schwachheit und wird auferstehen in Kraft.

Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib. Gibt es einen natürlichen Leib, so gibt es auch einen geistlichen Leib.

Paulus, Der erste Brief an die Korinther

Teil I

Ich erlebe nichts mehr wirklich, obschon ich mit einer Inten-sität lebe, die sich in schlichten Empfindungen gar nicht ermessen lässt. Vergeblich öffne ich die Augen, denn ich kann nicht mehr sehen. Vergeblich pflanze ich mich vor meinem ovalen Fenster auf und versuche Töne aufzufangen. Es ist, als hätte ich nicht nur einige wenige, sondern Milliarden Sinne, und jeder ist anders als der andere, jeder auf andere Reize eingestellt: der eine nur auf die Form der Tasse, aus der ich meinen Kaffee trinke, ein anderer auf die Form des Traums von heute Nacht. Ein nächster wiederum auf das schreckliche Flüstern in meinen Ohren, das ich — im zerschlissenen Schlafanzug, die Sohlen auf dem Heizkörper — vor einigen Jahren an der Stefan-cel-Mare-Chaussee in meinem Zimmer sitzend sehr deutlich gehört habe. Ich nehme keine Lichtveränderungen mehr wahr, unterschiedliche Tonhöhen, nicht die Chemie der Nelke und des Spül-wassers, sondern stets ganze Szenen, sie erfasst plötzlich ein virtueller Sinn, der sich im Zentrum meines Hirns ad hoc jeweils eigens für jene eine glasige und wellenschlagflüchtige Szene auftut, er geht eine Reaktion mit ihr ein, verändert sie, plattet sie ab, besetzt sie wie eine Amöbe und bildet mit ihr zusammen eine neue Wirklichkeit, zugleich uralt und unmittelbar gegenwärtig, von Sehnsucht erhellt und von Fremdheit verdunkelt. Als müssten die Dinge, um mir zustoßen zu können, mir alle bereits zugestoßen sein, als gäbe es alles schon in mir, nur eben nicht groß aufgegangen und als Ganzes, sondern in kümmerlichen, eng umeinandergewickelten schrumpeligen Folien, lauernd in den Strukturen des Gehirns — aber auch in meinen Drüsen, meinen Organen und meiner Abenddämmerung, meinen Häuserruinen —, wartend auf Bestätigung und Nahrungszufuhr durch die modulierte Flamme des Daseins, die ihrerseits noch unerfüllt ist und embryonal. Ich empfinde nur noch, was ich schon einmal empfunden habe, träume nur noch Träume, die ich bereits einmal geträumt. Ich öffne die Augen, doch nicht um der Farbe und Umrisse willen, denn es ist nicht mehr so, dass sich das Licht in Korpuskel spaltet, um den Glaskörper meines Auges und die durchsichtigen Schichten der Netzhaut zu durchdringen und in den kegelförmigen Zellen Rhodopsin zu erzeugen; nein, ganze in Rhodopsin gemeißelte Bilder tauchen auf einmal auf, umgeben von einer Art Aura aus Tonfetzen, Glühfäden des Geschmacks, des Geruchs, von Frost und Hitze, Schmerz und Mitgefühl, von einem Rechtsdrehen des Kopfes, das der Gleichgewichtssinn bestätigt und ausgleicht. Ganze Stadtteile finden sich ein, mit ihrer Zeit, ihrem Raum und ihrer Emotion, vor allem jedoch mit ihrem Realitätsgehalt — denn sie können real sein oder geträumt, imaginiert oder zugeleitet über jenes unnennbare Geäst, durch das unsere einzelnen Leben mit denen der Vorfahren verbunden sind —, da kommen Lippen und Geschlechtsteile auf uns, gleiten Straßenbahnen im Winter durch schmutzigen Schnee über die Schienen heran, kommt hin und wieder Mutter und bringt mir etwas zu essen, taucht zuweilen Herman auf. Ich könnte von all diesen Dingen gar nichts mitbekommen, wenn sie sich in meinem Gehirn (meiner Welt) nicht in veränderter Form neu wieder herstellen würden, wenn ihnen da nicht die Knospen auf-brächen, wenn ich mir nicht in jedem Augenblick meines Lebens sagte: »Dies habe ich schon einmal erlebt, da bin ich schon einmal gewesen« — so wie du das Licht nur sehen kannst, wenn das Licht zuvor schon im Okzipitalbereich deines Lebens war und den Sinn für Licht hat entstehen lassen. Daher ist mein Leben bereits gelebt und mein Buch bereits geschrieben, ist doch die Vergangenheit alles, die Zukunft nichts.

Ich könnte die überladene Architektur meines Lebens unmöglich aufrechterhalten, wäre ich nicht selbst voll und ganz Sinnesorgan dafür. Und so wie das Auge nichts anderes empfangen und verstehen kann als nur das pure Licht, weil Licht es in den porösen Schädelknochen gemeißelt hat, ja wie nichts sonst auf der Welt Licht empfangen und verstehen kann, so ist auch das kompakte Bündel der Folien und Membranen meines Körpers, mit der Anatomie und Melancholie seiner Wickelungen, mit seiner dreidimensionalen, aldehydgleich undurchschaubaren Struktur ein einziges großes Sinnesorgan, das ausschließlich auf mein Leben reagiert, auf diese Energie, die weder Licht noch Ton ist, nicht Geruch, nicht Geschmack, nichts Taktiles oder Synästhetisches und auch kein Gewebezerfetzen. Nichts sonst könnte andernfalls mein Leben je aufnehmen, es zöge im Unsagbaren dahin, gleich Billionen anderer Reize, mit denen niemand etwas anfangen kann, wie Licht in Welten ohne Augäpfel, wie Kälte in Welten ohne Epidermien. Ich bin ein einziges großes Sinnesorgan, offen wie die Seelilien filtere ich durch das weiße Fleisch meiner Nerven die Strudel dieses einmaligen Lebens, dieses einmaligen Meeres, das mich nährt und birgt. Ein einziger analytischer Blick nur, eine einzige klarsichtige Sinneszelle, der fortwährend der Sonnenwind meines Lebens entgegenweht, mit seinem kapriziösen Fransensaum wie polare Morgenröte, seinen verworrenen Abenddämmerungen und blendenden Tagesanbrüchen, die zwischen die durchsichtigen Häutchen dringen, mir Nieren und Speicheldrüsen erleuchten, mir mit Fluor und Arsen das Knochengerüst aufzeichnen und die Eingeweide mit Quecksilber färben. Dies verändert mich, bringt chemische Abweichungen hervor, Erinnerungen und Reflexe, Bilder und Töne, setzt Hormone und Träume frei, Fahrstühle und Nächte und nie gesehene monströse Fratzen, und dieser ganze organische und psychische und tragische und ethische und musikalische Strom wird — die aufsteigenden Pfade des Göttlichen hinan — weiter-geleitet, durch die Fontanelle, durch mystische Synapsen und engelgleiche Axone hin zur Sehnervkreuzung des uns umfangenden Gehirns, und von da zum Sehhügel des Karma und hinein in die Projektionen auf Wahrnehmungsbereiche, wo die bündelweise versammelten Heiligen und Richter — durchsichtige Schädel, von goldenen Ringen umrahmt, Zyan- und Flammenzungen vor den Mündern — dabei sind zu messen, zu wiegen, auszuteilen. Umgewandelt in Codes und Symbole, in allegorische Ballette, überwölbt mein unförmiges Leben den Schädel der Gottheit, nimmt ihn in seine Obhut wie ein Regenbogen, wie ein elektrischer Homunkulus — riesige Finger mit Tausenden Gelenken, Lippen wie ein Saxophonbläser, dabei aber ein Winzling, ein am seidenen Faden hängendes Würmchen. Die Gottheit nämlich ist ein enormes Gehirn, eine würdevolle, von Batterien schwach blau erleuchtete Meduse mit Milliarden Sinnen, die hinabgleitet in den Abgrund der Nacht. Ihre Kuppel wird von leichtem Pulsieren erschüttert, und ihre Transparenz ist goldene Liebe pur. Eine große Meduse, die denkt. Ein Denken allerdings, das nicht in Kategorien des Denkens, sondern in solchen des abgründigen Nichts denkt, von dem es umgeben ist, gleichsam als wäre die ganze pulsierende Kathedrale — an sich zwar größer, schmuckreicher, komplexer als des Denkens Kraft, sie zu denken, goldener als die Kraft der Liebe, sich selbst zu lieben, ja mächtiger als die Macht, gebieterischer als der Wille — nur ein winziger Webfehler des allumgebenden Nichts, eine Unregelmäßigkeit des makellosen, das ganze Vakuum ausfüllenden Todes, ein niemals zu ortender Hohlraum im Felsgestein der Nacht ohne Ende. Die an sich schon eine Fehlleistung des Über-Nichts, der Ultra-Leere, des Todes in todfacher Potenz und des Aleph in alephter Potenz ist. So ist am Ende auch die Gottheit nichts anderes als ein fantastisches Sinnesorgan, geöffnet im Kristall des Nichts, welches selbst wiederum Sinnesorgan ist für ein tiefer verborgenes Nichts. Falten in Falten, einer Rose gleich, einer Vulva.

Ich aber filtere derweil mein Leben. Ich schlürfe, schlucke, trinke es, sehe es, rieche es, knabbere daran, lebe es, hasse es, besitze es. Ich, Wurm mit vier symmetrischen Abteilungen, verwandle mein Leben in verschlüsselte Impulse und übermittle es in dieser Gestalt hierarchisch nach oben. Schädel und Brustkorb bezeugen das Paradies, färben sich beim Eintauchen in Glückseligkeit wie Lackmuspapier. Ich denke, ich atme, und ich treibe mein Sprudelblut durch die Adern. Dies ist das Dreieck meines Glücks, die Pyramide meines Menschentums, und: mein Engelschor, der da singt auf dem weitläufigen Nerven- und Muskelteppich des Bauchfells. Bin ich glücklich, so denke ich, atme und spüre mein Herz schlagen. Es sind dies die Funktionen eines Vogels, Flügel ausgebreitet über diamantenem Schädel. Es sind drei klare und blaue Augen, geöffnet auf Schmetterlingsflügeln. Bestünde ich nur aus Hirn, Herz und Lunge, so wäre ich ein Gott, denn Götter haben keine sumpfigen Eingeweide. Ich wäre einem Raumschiff vergleichbar, das in einem Strahl aus Luft und Blut dahinbrausend seinen Verstandpiloten zwischen die Sterne befördert. Er aber, der Homunkulus im perlmuttschimmernden Myelingewand, würde am eigenen Körper wie auf einer hochkomplizierten Schalttafel herumhantieren, ließe millionenfach verästelte Finger über die Milliarden Härchen und Poren seines denkenden Leibes laufen. Und das Raumschiff wäre bis obenhin angefüllt mit goldschimmernder Hirnflüssigkeit, im Schädel des abartig schönen Piloten aber ließe ein anderer Homunkulus Zehntausende spinnfadengleiche Finger über den eigenen Körper tanzen, während in seinem Schädel wiederum ein anderer Homunkulus in Goldflüssigkeit schwebte. Der Leib des jeweils größeren wäre stets der Kosmos des jeweils kleineren, und Welt, Nacht und Gott wären nichts weiter als ineinandergeschachtelte Kosmen, getrennt voneinander durch immer dünnere Schädelwände, Schädel im Schädel im Schädel …

Doch bin ich nicht nur Engel, sondern zugleich auch entsetzlicher und grotesker Dämon, lauernd unterm Bauchfell wie eine haarige Tarantel. Hier habe ich Gedärme und Nieren und im rötlichen Schrumpelsack darunter die sonderbaren Eier, die die Zeit denken. Sowie die Röhre, durch welche ich als ein Halbes und ein zum verträumten Vibrio Reduziertes dem Unterleib eines anderen Universums zustrebe. Hier versinke ich, hinabfahrend in einem Strahl von Urin und Sperma, in Schändlichkeit, hier atme ich die Schwefelglut der Hölle. Und wie mein Schädel mit dem Gehirn darin durch die ineinandergewachsenen Uni-versen segelt, so werden die Spermien vom Feuer im Skrotum und der Erde im Darm durch die Zeit befördert, die den Raum quer durchschneidet, dergestalt mit ihm ein schwereloses Quarzkreuz bildend. Und da nun, die Hölle: Nackte Männer- und Frauenleiber vereinigen sich unter Gestöhn und Konvulsionen, drängen endlos auseinander hervor, Vaginen und Gebärmütter werden zerfetzt, die erektilen Glieder füllen sich mit Schmiermittel und Blut, werden alt und kraftlos, faulen vor sich hin und sondern doch immerzu Eizellen und Spermien ab, mörderische Kapseln, die lichtquantengleich den sinnlichen Mund anderer Frauen, die haarigen Waden anderer Männer erleuchten, Eltern und Kinder und abermals Eltern und Kinder lassen die Fäulnis der verschleuderten Organe, der in Särgen aus dem gleichen blendenden Quarz langsam dahinschwindenden Gebeine hinter sich zurück. Bäuche um Bäuche, in denen Bäuche stecken, als seien die Mütter und Töchter allesamt eine in der anderen eingeschlossen, eine endlose Reihe von Schwangeren, ewiger Wechsel von Gebärmutterwänden und Föten, die im Leib Föten tragen, Gebärmütter in Gebärmüttern in Gebärmüttern …

So ist denn die himmlische Meduse nicht allein Gehirn und nicht nur Denken, sie ist gleichzeitig Sex und Liebe, und dies nicht durch eine Verschmelzung der Dinge des Fleisches mit Prinzipien, sondern kraft ihrer Wesensgemeinschaft, denn letztlich, in den Sturmgewitterkammern an den Extremen, ist der Hyperverstand, also der Raum, nichts anderes als der Hypersexus, der ja die Zeit ist. Der Hyperraum aber, der das Denken ist, ist nichts anderes als die Hyperzeit, welche die Liebe ist. Das Hyperdenken wiederum ist alles und damit nichts sonst als die Hyperliebe, welche Nichts ist. Und das unfassbare, unausweichliche, unabänderliche Alles/Nichts ist doch wahrhaft mein Leben selbst, das ich mit meinem Körper als Sinnesorgan erfahre, in dessen Saft ich flattere und flackere, das ich in dem Maße erfinde, wie es mich erfindet, bis es sich schließlich verdichtet, wohingegen ich mich verdünne und aus uns beiden ein Leib/Leben-Komplex wird, innerhalb dessen nicht mehr unterscheidbar ist, wer wen erschafft und sabotiert. Denn die Matrix meiner Organe drückt meinem Leben eine verschlüsselte Form auf, die einzige, die von der grauen Substanz verstanden werden kann. Über sie vermittle ich dir den Geruch meines Haars und den Geschmack meiner Lippen, die Farbe meiner Augen und die Härte meiner Nägel. Du findest alles in diesem einzigen großen Code, in diesem Kodex, diesem unlesbaren Buch, diesem Buch.

Jetzt, da er als Einziger noch stand, zeigte der Block auf der Uranusstraße, wo ich seit drei Jahren wohne — und wo auf meinem Tisch nun ein anderer Block, aus handbeschriebenen Blättern, emporwächst —, seine ganze Größe und Schmach in der Atomwüste aus verkrümmtem Eisen, Schutt und alten Fäkalien unter zerknüllten Zeitungen. Als priapischer, ungemein schmerzender Penis der traurigsten Stadt dieser Welt hat mein Wohnblock die Abrisswelle überstanden und zeigt sich nun bis hin zum Horizont, an dem sich das tiefgefrorene Mammut »Haus des Volkes« fast vom einen bis zum anderen Ende breitmacht, als einziges senkrecht aufragendes Objekt in einer Gegend, wo kein Stein auf dem anderen geblieben ist. Wenn ich morgens Brot und Milch kaufen gehe, sinke ich bis zu den Knöcheln ein in den Staub, zu dem die Kaufmannshäuser des einst ruhigen Viertels zerfallen sind. Seitdem sich das Licht veränderte und der Frühlingswind in warmen Wirbeln über die Mauern zu streichen begann, leerten sich die Häuser von Menschen und Möbeln, die Fensterscheiben zersplitterten, das Holz der Fensterrahmen faulte dahin, und die so hübschen, so zärtlichen, sonderbaren, sinnlichen, grauenhaften, gespenstischen Stämme der gipsernen Gorgonen, der Atlanten unter den schmiedeeisernen Balkönchen — verstümmelte Frauen, versehrte Männer, eintönig mit der gleichen rosa Tünche bestrichen — zerbröselten im blitzhaften Pfeifen des Tag-und-Nacht-Wechsels. Die Außenwände der kleinen Villen und wuchtigen Häuser, von wer weiß welchen großmannssüchtigen Architekten Anfang des Jahrhunderts erbaut, waren zuletzt dünn wie Papier, mehlig und außen überzogen von den starren Blicken der Ferngläser, innen aber von dunklen Tapeten mit mattgrünen und goldenen Blumen, die jedes Mal aufleuchteten, wenn die Abendröte mit der Wucht einer Entjungferung durch eines der Fenster brach und einen exakt rechteckigen Fleck flüssigen Purpurs an die gegenüberliegende Wand warf. Die Tapetenblümchen öffneten — damals, dort, in jenem Flammenfleck (das restliche, zischend leere Zimmer blieb pechschwarz) — ihre transparenten Fruchtbecher, sie wirkten kränklich blass wie die Triebe von lange im Dunkeln lagernden Kartoffeln, waren jedoch von blutvollen Kapillaren durchzogen und regten sich unmerklich, als würden sie von einem dickflüssigen unsichtbaren Fluidum hinauf und hinab gestoßen, glitschten hin und wieder über den Bauch einer Spinne, die, mit ekstatisch gereckten Beinen an ihrem gleichfalls purpurnen Faden abwärts gleitend, den gurgelnden schwarzen Nektar aus ihren Mäulern, jenem zum Abendrot hin aufgerissenen Rachen, schöpfte und schließlich, am Boden angelangt, aufgeregt aus einer Ecke in die andere rannte, bis sie im Dunkel verschwand.

Frühmorgens bei rotem Wetter oder auch zur Sonnenuntergangszeit, wenn das zunächst schmutzige Gelb in blau beflecktes Rosenrot wechselte, um schließlich in einem göttlichen Purpur aufzugehen, das sich in das Nichts zwischen jenen gespenstischen Häusern ergoss, kam es oft genug vor, dass ich mit dem vorsintflutlichen Fahrstuhl hinabrasselte bis zur stämmigen Wurzel des Blocks und gleich loseilte in Richtung der verlassenen Villen, in deren Fensterrahmen noch Glassplitter funkelten, denn ich wollte rechtzeitig da sein, wenn es losging und die Welt sich vollends entwirklichte, wenn Schicht um Schicht von den zerrütteten gelben Häusern fiel, so dass sie (jedes auf seine Weise, mit jeweils anderen Säulen, anderen Dachbalken und Balustraden, anderen zu unmöglichen Terrassen führenden Wendeltreppen, Türattrappen, Ziertürmchen) zuletzt so immateriell wären wie geträumt, so illusorisch wie von einem alten Meister der Perspektive gemalt. Pergamenthäutige gelbe Hunde mit Menschenaugen in ihren schmalen Hundehirnschalen erhoben sich mühsam von ihren Lagern und wedelten anmutig neben mir her. Motten mit ebenso menschlichen Augen sogen das Abendrot dermaßen schnell in ihren dichten Pelz auf, dass die Luft um sie herum azurblau wurde wie mitten am Tag. Ich öffnete hier und da eine Pforte aus verbeultem Metall und stand für einen Moment dem großen Trümmerhaufen im verwahrlosten Hof gegenüber. Es gibt nichts Einsameres — weder auf dieser Welt noch weit weg auf einer der zahllosen anderen bewohnten Welten — als ein Haus in Trümmern. Untröstlichkeit wirkt daneben wie ein Kind der Hoffnung, Trauer wie Glückseligkeit und Ruhe wie entfesseltes Blechbläserdröhnen. Auge in Auge mit dem Haus — der Backstein dünn wie Fingernägel und so durchscheinend auch, trümmerstaubumhüllt, monströses Pflanzenwuchern aus allen Ritzen und Spalten, am einzigen Stockwerk ein Balkon aus Schmiedeeisen, fein gewirkt wie ein spitzenbesetzter schwarzseidener Strumpfhalter, und darauf in einer Holzkiste eintrocknend ein blattlauszerfressener Oleander —, Auge in Auge mit jenem einst von Willen und Gedächtnis erfüllten Riesenschädel, der jetzt zertrümmert war und von schimmeligen Skalpresten bedeckt, rechnete ich jeden Moment damit, in Besitz genommen zu werden, selbst derjenige zu sein, den das Oberlicht ins Auge fasste und mit Fetischistenneugier und -leidenschaft verfolgte: ein winziges Lebewesen vor einem großen Abendrot-Portal.

Und ich wurde tatsächlich zum erotischen und metaphysischen Objekt der Riesenschimäre vor mir. Nur war ihr Autismus total und die ihr subkutan injizierte Dosis Dämmerung tödlich, und so konnte ich, indem ich tief einfallende Klingen rubinroten Lichts aufscheinen ließ, eindringen in den Spalt zwischen den Gebäudeflügeln, ich glitt auf elfenbeinern gestrichenen Dielen dahin, schmiegte mich an die Wand, die glutrot war von der zum Fenster hereinflutenden Sonne, tauchte ein ins Gewimmel der blassen, dem Bretterboden entsprießenden und von unsichtbaren Strömen hypnotisch aufgerichteten Blumen, genoss das Abendrot als Bad, als Flächenbrand, ließ mich vernichten, auszehren vom Abendrot. Da mich die durchsichtigen Tässchen auf der Tapete absorbiert hatten, ging ich in der fluoreszierenden Wand auf und verteilte mich im papierenen Gemäuer des Hauses, nahm es ganz und gar in Besitz, verstaute es als Haus in Trümmern in meinem Kopf. Begegnete mir aber ein schwammiges Stück Möbel mit Spiegel, das wegen seiner bleiernen Schwere nicht hatte transportiert werden können, so betrachtete ich mein Gesicht auf dem verblassten Gemälde in der Tiefe, sah mich da wie aus einem einzigen Purpurblock gemeißelt, im Rücken das riesige, pechschwarze Zimmer. Ich blickte mir in die Augen, das Silbernitrat hatte mein Gesicht mit einer Fertigkeit gemalt, als wäre hier der rätselhafteste Maler der Welt am Werk gewesen. Das schmale Gesicht wie aus Perlmutt mit seinen leicht asymmetrischen Zügen, das linke Auge von einer alten Parese verfinstert, das rechte wiederum glänzend wie ein Tropfen Tau, so menschlich und warm … Der Mund sinnlich und trübsinnig, hellbraun und drahtig der Schnurrbart, wild gewachsen die schwarzen Haarsträhnen und selten gekämmt, filzig werdend im dichten Filz der Dunkelheit ringsum.

Wenn ich vor dem Spiegel herumhampelte in dem öligen Nass, das den Salon bis zur Decke erfüllte und worin die Pflanzen der Tapete alle auf einmal rhythmisch mal hin und dann wie von einem Wasserkamm gekämmt plötzlich wieder her wogten, verlor ich mitunter die Besinnung und fragte mich, sobald ich wieder zu mir kam, wo ich wohl gewesen sein mochte in jenem Augenblick der Abwesenheit. Ob mein Bewusstsein so etwas wie einen Knick, eine Falte, einen Thomschen Schwalben-schwanz gebildet hatte? Senkte sich das Haus in Trümmern mit mir mittendrin plötzlich in meinen Schädel ein, dort vor dem Spiegel des uralten Möbelstücks? Fand ich mich plötzlich im Zentrum meines Verstandes wieder, Auge in Auge mit einem stummen Bruder? War dies der einzige Ort auf der Welt, wo wir uns noch sprechen und berühren konnten? Dann glättete sich die Falte, und mein ausgeweidetes Hirn pumpte mich erneut hinaus in die kindische, erbärmliche Illusion der Wirklichkeit. Als ich wieder zu Sinnen kam, wendete sich das Abendrot schon zur Nacht hin. Eine Zeitlang streifte ich noch durch den Stadtteil mit den sonderbaren Villen — sonderbar jede auf eigene Weise, mit jeweils anderer Gipsbevölkerung zwischen den Fenstern —, streichelte auch mal einer gelben Hündin den Kopf, die Menschenaugen hatte und Zitzenreihen am Bauch, und verlor mich unter den schattigen Maulbeerbäumen des Weges, der zwischen Unkrautgestrüpp und Gehäusen alter Waschmaschinen hin zu meinem phallischen und nutzlosen Wohnblock führte. Ich verhedderte mich in Transmissionsriemen aus gummiertem Leinen, meine Schuhe kickten ranzige Präservative vor sich her, minutenlang vertiefte ich mich in die Lektüre hingekrakelter Aufsätze in vermoderten Schulheften und brauchte weitere Minuten, um andere seltsame Schriftzeichen zu entziffern: die welken Innereien, die dem Bauch einer die Zähne bleckenden toten Katze entquollen waren. Im Medusenfleisch herumliegende Glassplitter hielten in ihrem Muster die Abenddämmerung fest, bläuliche kleine Feuer, indigofarbene Flammendreiecke. Gelegentlich sammelte ich sie ein, ordnete sie später auf meinem Schreibtisch nach Entwicklungsstufen, indem ich als ersten einen emporhob, der mir ein noch verborgenes, larvenhaftes Licht zeigte, jenes undifferenzierte Elf-Uhr-Azurblau des Monats März, weich und träge wie ein Wolllausweibchen, als zweiten dann einen, dessen Licht bereits Struktur besaß: eingestülpte Keimblätter, erkennbarer Wirbelkanal — dies war der kraftstrotzende Juninachmittag; im dritten, vierten, fünften durchlief das Licht seine Stammesgeschichte neu, ihm wuchsen Kiemen und Organe, die für andere Nachmittage — aus der Kreidezeit und dem Miozän — spezifisch waren und sich danach wieder zurückbildeten, und so fort bis zum letzten Splitter, der das mensch-liche, das für unsere Augen zulässige wahre Licht enthielt. Diesen bläulichen, doch wie eine Ampulle mit Purpur gefüllten Splitter hielt ich vor dem Fenster lange in die Höhe. Darin saß, kleinfingergroß höchstens, aber mit jeder Falte, Pore, Warze seiner Haut wie unter einer scharfen Lupe deutlich erkennbar, ein schweigsamer Homunkulus, dessen Gesicht, Brust und Gliedmaßen aus reinem Licht bestanden. Es war das Ende-November-Licht, kurz vor dem Einbruch der Dunkelheit und vor dem Niederrauschen eines trostlosen Regens: Licht von der Farbe des Bernsteins, in Richtung Klapperschlangengift getönt. Die Lichtaugen des Kristallkindes sahen nicht, der leicht asiatische Schnitt ihrer Augen erfasste nicht die Simulacren*1, die sich dünn wie Spinnweben von den Dingen ablösten und durch den Äther auf sie zu wanderten. Sie nahmen die Dinge und den Windhauch zwischen diesen ganz unmittelbar wahr. Was zur Folge hatte, dass der kleine Prinz von Langeweile und Melancholie verschont blieb. Hatte ich die Reihe der eckigen und barbarisch groben Splitter, die sämtliche Hypostasen des irdischen Lichts in sich schlossen, bis zum letzten durchgenommen, kramte ich eine Glaskugel aus der Tasche, die mir beim Aufpulen einer stacheligen grünen Kastanienschale zugefallen war. Ich platzierte sie unweit der Tischkante ans rechte Ende der Reihe, dann hob ich sie zwischen zwei Fingern hoch, um in ihrem Brennpunkt das unirdische Licht betrachten zu können, die Offenbarung, die Erleuchtung, die Ekstase, die epileptische Aura, die Poesie, das Kokain, den Orgasmus, die Intuition, den REM-Schlaf, die Vision und die Vision der Vision, den Kirlian-Effekt und dessen zunehmend pure Fraktale, jenes Licht, dem gegenüber unser Licht schwarze Erde und Blei ist. Ich rückte die Kugel näher an mein Gesicht heran, so dass sie, die von der Größe meiner Augäpfel war, schließlich mit den beiden ein Dreieck bildete — drei Augen, zwei aus Fleisch, eines aus Glas, die sich wechselseitig in einer Art Weberschiffchen-Hin-und-Her beschauten, bis meine Augen selbst ganz aus glänzendem Glas waren und aufmerksam, doch unpersönlich betrachtet wurden von einem in der Luft hängenden lebendigen Augapfel mit Ringmuskeln, gelblich-elfenbeinfarbener Hornhaut samt Äderchen, kaffeebrauner Iris und im Halbschatten geweiteter Pupille. Eine Weile später verglaste die Kugel wieder, und in meine Augen kehrte die Sehkraft zurück. Da fuhr ich mir mit der Kugel über den nackten Arm, sah mir durch sie hindurch die Behaarung und die Schuppen meiner plötzlich zur bewaldeten Landschaft mutierenden Haut an. Unter dem Hemd rollte ich die Eisigkalte auf dem hageren Brustkorb hin und her, spürte sie an den Brustwarzen, hielt inne, drückte sie leicht in die Vertiefung des Nabels. Schließlich strich ich mit ihr, die trotz ihrer äußersten Unbestechlichkeit etwas vom Duft meiner Haut angenommen hatte, über die Seiten meines nicht enden wollenden flaumigen Manuskripts, las dabei in der Quarzblase, neben der sich ein kleiner, höchst intensiver Lichtpunkt bildete, trapezförmig auseinanderlaufende Wörter.

In der dichten Dämmerung erinnerten die Blätter an die Häutchen, die Mutter mit dem Messer aus dem Fleisch herauslöste, oder ans Perlmuttschimmern einer Schwimmblase. Die Kugel bewegte sich über feuchte Häutchen voller Kapillargefäße. Unter dem Gewicht des durchsichtigen Globus weiteten sich die mit Kugelschreiber gemalten Schriftzüge so sehr, dass man durch ihre blauen Röhrchen das Blut fließen sehen konnte. Beim Darüberhinrollen der Kugel erschienen zwischen den Buchstaben Schweißdrüsen, freie Nervenenden und Vater-Pacini-Körperchen, Hautfett und Melanin (das an der einen oder anderen Stelle Muttermale oder gar Warzen bildete), und danach verschwand alles wieder im porösen Blatt des Manuskripts. Was war es, mein Buch? Eine Rose mit — bereits — Hunderten Blütenblättern? Eine Perle, der ich eine Perlmuttschicht nach der andern hinzufügte? Ich las nie von hinten her, brachte niemals die Ordnung der Blätter durcheinander, die unwiderruflich dem Pfeil der Zeit folgte. Die zuletzt geschriebene Seite wegzulegen und die vorletzte wiederzulesen wäre einer sadistischen Häutung gleichgekommen, hätte meinem Manuskript unerträgliches Leid zugefügt. Denn Epidermis war allein die letzte Seite wirklich. Die übrigen, obzwar jede selbst dieses Stadium hinter sich hatte, waren nach unten gesunken, im Stapel aufgegangen, hatten diesem so stetig neue Gestalt gegeben, bis er schließlich kein Blätterteig mehr war, sondern ein kompaktes Tier aus gläsernem Stoff, die Haut überzogen mit Zeichnungen als Deckschicht. Ich schreibe kein Buch, sondern ziehe einen Embryo heran im tristen Uterus meines Schädels, meines Zimmers, meiner Welt.

Dies aber war der Stand der Dinge vor Monaten, als die Ruinen des Stadtteils noch da waren und die Vagabunden, die man aus der U-Bahn oder sonstwo weggejagt hatte, noch in irgendwelchen Kammern mit ausgebrochener Wand Unterschlupf fanden. Nun hatte sie der Winter jedoch auch von dort vertrieben. Die großspurigen Wände mit rundem Oberlicht und Jugendstildekor waren über den Winter ganz und gar mürbe geworden, und die Fäkalien der Strolche hatte der Schnee zugedeckt. Das Frühjahr kam mit Schlammmassen, mit dem Duft der grünen Maulbeerruten und mit Baggern. Ich sah durch das ovale Fenster meiner Mansarde, wie nach und nach, gleichsam in einem Spiel mit Miniaturautos, gelbe und orange Insekten aus Metall mit schmutzigen Hydraulikzylindern und bis aufs blanke Eisen abgescheuerten Kippbechern die Wände niederrissen, die Grundmauern aushoben, die Zäune verbogen und aus der Erde zerrten, alles auf Kipplaster packten und ein kahles, von Raupenketten zerwühltes, morastiges Gelände zurückließen. Nachts wurde im wüsten Licht der Scheinwerfer gearbeitet. Manchmal ging ich hinunter, und obzwar der Schlamm bis über den oberen Rand der Schuhe reichte und mir auf die Füße sickerte, gab ich nicht auf, ehe ich das Operationsfeld erreicht hatte. Da wurde ein Krieg geführt. Der Feind, auf dem Ruhebett überrumpelt, verteidigte sein Geister-Territorium mit nackter Brust, schimmeliger Haut, zertrümmerter Nase, offenem Mund und blinden, doch schreckgeweiteten Augen. Am Frühjahrshimmel hoch über den Gorgonen und Chimären funkelten und grummelten duftend die Sterne. Vor dem Hintergrund ihrer Wirbel zeichneten sich Außenmauern ab, an denen noch die Balkone mit den beiden vergebens ihre Gipsmuskeln anspannenden Atlanten klebten. Mitten in der Scheinwerferglut stießen die bezahnten Becher zu, die Mauer krachte auseinander, der Putz wirbelte in Flocken und Splittern umher, die Backsteine lösten sich voneinander, wobei wattige Spinnennester zum Vorschein kamen, und plötzlich kippte das ganze Dekor um, lag hingebreitet als Müll und Reliquien unterm gewaltigen Aprilmond. Die Scheinwerfer entzogen den Bauten die Farben und füllten sie mit flüssigem Wachs. Sie stippten sie leicht in den wächsernen Fokus, so wie man einen Schlüssel eintaucht, um zwecks Nachbildung einen Abdruck davon zu machen, und vernichteten danach das Original, so dass nur die Negativabgüsse der alten Villen heil blieben, vollgestopft mit den konkaven Masken der Gorgonen von einst. Zwar war ich von oben bis unten verdreckt, wenn ich mich auf den Heimweg machte, doch in der Jackentasche hatte ich mal einen Gipsfinger mit echtem Nagel, dann wiederum eine schmiedeeiserne Blume, der zwischen den schwarzen Blütenblättern zarte Staubgefäße gesprossen waren, von durchscheinendem Grün und mit dick pollenbeladenen Korpuskeln obendran.

So stand ich in der grünlichen Frühjahrsdämmerung erneut in der Uranusstraße vor dem scharlachroten Obelisken, der mit seinen elf Stockwerken nun als einziges Objekt im Kosmos dem exorbitanten und exophthalmischen Gespenst da oben auf dem allmählich grünenden Hügel noch die Stirn bot, diesem »Haus des Volkes« mit Nebel-Frontispizen und Vakuum-Strebepfeilern. Auf dem enormen, wie die Erdkugel gewölbten Brachland zwischen den beiden Bauten fuhr mitunter ein mit seinen Heiligen beladenes Kirchlein rumpelnd auf Rollschuhen von einer Station zur nächsten, ließ an den Kreuzungen die Glocken bimmeln, ein alter orthodoxer Pope bediente die Kurbel mit dem Potentiometer und hielt von Zeit zu Zeit an, um die Weiche zu stellen. Ein unterhalb des Schutzheiligen befestigter Rückspiegel half dem Trambahnlenker in Soutane und mit langem verknotetem Bart, seitlich entlang der Fresken an den Wänden sehen zu können, was sich hinten auf dem Stoßdämpfer tat, wo die verdreckten Straßenkinder das Gleichgewicht zu halten versuchten, indem sie sich an den Glockenseilen des mittleren Turms festhielten.

Zu Fuß oder indem ich eine der Kirchen nahm — in der Nacht suchten sie scheu die Depots zwischen den Wohnblocks auf —, gelangte ich schließlich nach Hause, betrat die Eingangshalle des Blocks, rief den vorsintflutlichen Fahrstuhl, um mich von ihm zwischen die Wolken zu meiner helldunkel flackernden Wohnung bringen zu lassen. Ich stand endlos wartend an der schwarz gestrichenen Drahttür des Fahrstuhls, dessen aufragender Käfig von der Wendeltreppe weich umschlungen wurde. Die Kabine war schwer wie ein Panzerschrank und brachte das ganze Gebäude ins Schlottern, wenn sie grandios und unaufhaltsam, langsamer als eine Schnecke, in den üppig mit kaffeebrauner Vaseline geschmierten Gleitschienen herunterkam. Es dauerte länger als eine Minute, bis die pechschwarzen Darmschlaufen am Boden der Kabine auftauchten und in der Grube unterhalb des Erdgeschosses verschwanden, um schließlich die im Halbschatten spiegelnden Kristallfenster in ihrer wie Mariä Verkündigung wirkenden Pracht erscheinen zu lassen. Tag für Tag betrat ich freiwillig die Falle aus Holz, Pech und Quarz, betrachtete die Druckknöpfe aus Ebonit, auf denen die Zeit Spuren hinterlassen hatte, Streichholzflammenspuren, Spuren brutaler Zerstörungswut, zumal an jenen der unteren Etagen, an die auch die Kinder heranreichten, und drückte den letzten in der Reihe; der trug, da er allein von mir benutzt wurde, den Abdruck meines Zeigefingers bereits tief eingeprägt, und ich konnte meine Fingerspitze jedes Mal von neuem in die Ebonitvertiefung einpassen. Und beobachtete jedes Mal durch das transparente Fleisch meines Fingers hindurch, wie Bläschen voller Dopamin zur gerillten Haut an der Spitze drängten, sich daran schmiegten, eins wurden mit ihr, wie sie zerplatzten und den Neurotransmitter — heiß wie eben erst gespritztes Sperma — in den Mikrometerraum zwischen Finger und Druckknopf sprühten, wo er in Strudeln zur Synapse des rissigen Plastikteils zog. Die funkelnde Flüssigkeit wiederum drang durch die Poren, tauschte Botschaften, gab Parolen aus, öffnete Riegel und Nocken und erreichte so schließlich die Hauptnervenbahn des alten, blasierten Fahrstuhls. Der Befehl nahm den Weg über den schändlichen Nerv, der den Block erigiert hielt und seine Schwellkörper mit Abendrot vollpumpte, langte dann beim Rückenmark an, durchzuckte die Flügel des grauen Schmetterlings in einem vielfarbigen Reflexbogen und setzte schließlich den uralten Motor in Gang.

So fuhr ich dann — unerträglich langsam — Etage um Etage aufwärts und musste, ohne einschreiten zu können, mitansehen, wie sich überall Abscheuliches zutrug (hier hatte sich eine alte Frau mit langen grauen Zöpfen heulend auf den Mosaikboden geworfen, da schlitzte ein Soldat sich mit einem gezahnten Küchenmesser die Adern auf; dann wiederum rissen ein paar Schmutzfinken einen Hasen aus Stoff und Stroh vor den Augen seiner kleinen Herrin in Stücke); ganz ähnlich fuhr ich als Kind Fahrstuhl — schwer zu entscheiden, ob im Traum oder in alten Erinnerungen — durch die zunehmend bevölkerten Etagen hell erleuchteter und mit Waren angefüllter Kaufhäuser, wobei ich den Kopf an Mutters Hüfte drückte, die, riesengroß wie eine Statue, mit dem Kopf bis zur Glühbirne an der Kabinendecke reichte. Immer fuhren wir nur aufwärts, abwärts ging es nie anders als über die hintenherum führenden schmierigen Treppen bis hinaus auf die Straße voller Scheinwerfer und Neonleuchten. Ein andermal fuhr ich auf einer einfachen Platte ohne Wände und Decke, befestigt allein an einem in luftiger Höhe verschwindenden Kabel, ein riesiges und windiges Fahrstuhlhaus hoch. Mehr war es nicht, was die Kabine ausmachte: ein hin und her schlingerndes, seitlich anschlagendes Brett, durch dessen Ritzen ich in den leeren Abgrund unter mir blicken konnte. Die rauen Wände waren von Teer geschwärzt und die eisernen Türen, die sich übereinander reihten, durch merkwürdige Mechanismen verriegelt. Erfolglos versuchte ich sie im Vorbeigleiten aufzustoßen, und sie folgten wahrhaft endlos aufeinander. Als das schwindelerregende Hin-und-Her-Balancieren, der Blick ins Nichts darunter und das ewige An-die-Wände-Prallen mir den Magen für alle Zeiten zu verrenken drohten, gelangte ich jedoch unverhofft an eine türlose Öffnung, sprang trotz der Gefahr, zwischen Wand und Bretterplatte eingeklemmt hängen zu bleiben, hindurch und fand mich auf dem Flur einer stillen, überdimensionierten Etage wieder, in die ich vorher nie gelangt war. Alles hier, Traurigkeit, Unruhe, Angst eingeschlossen, war doppelt so groß wie in Wirklichkeit: die Ficusbäumchen in ihren Konservenbüchsen, die Zigarettenkippe auf dem Mosaikboden, die mittels Schablone an eine Wand gemalte Etagenzahl, die Türen mit den Gucklöchern in einer die menschliche Körpergröße überschreitenden Höhe mit unerreichbarem Klingelknopf. Die in ewigem Mattgrün getönte Luft war eisiger und kräftiger als wo immer sonst.

Unzählige Male ist mir in meinen Träumen das Treppenhaus des Blocks an der Stefan-cel-Mare-Chaussee erschienen, wohin wir umgezogen waren, als ich fünf Jahre und ein paar Monate alt war, in einem milchigen Herbst, der an dem großen, noch in Gerüste und Betonverschalungen gepackten Bau fraß. Der Block, auf dem freien Gelände vor der Dâmboviţa-Mühle erbaut, war stets den kalten und feuchten Winden vom Tonola-See her ausgesetzt, in dessen Nachbarschaft der Zirkus stand. Die Mühle dröhnte damals so laut aus allen elektrischen Mehlsieben, dass die Stille an den Sonntagen ganz und gar unnatürlich wirkte und man von der Ödnis Ohrensausen bekam. Die Pappeln, die heute so hoch sind wie der Block und im Sommer ein Wattebauschtreiben loslassen, das sich in flauschigen Belägen an den Mauerkanten festsetzt und nicht allein den Platz hinter dem Block schneeig weiß werden lässt, sondern gleichsam auch die Luft zwischen ihm und der Mühle, waren damals gerade erst gepflanzt und nicht höher als der Betonzaun. Im Traum betrat ich die Eingangshalle unseres Treppenaufgangs, wo sich rechts die Briefkästen befanden, die heute an einer anderen Wand angebracht sind. Ich schloss den Briefkasten mit der Nummer 20 auf — wie vertraut mir doch seine Lage unter all den anderen war! — und fand darin jedes Mal Stöße von Briefen und anderem. Zeitungen, Ausrisse aus Zeitschriften, Schulhefte mit Rechenaufgaben, Postkarten mit fremden, unmöglich zu ortenden Ansichten, Dinge, die mir große Freude bereiteten, ich verschlang alles begierig.

Herrje, wie viele Leute mir doch schrieben, wie viele Menschen Anteil nahmen an mir! Ich stieß auf Liebesbriefe, darin Herzen, ausgeschnitten aus rotem Glanzpapier, und versuchte die weiblichen, bis zur Unlesbarkeit verschnörkelten Schriftzüge zu entziffern, vertiefte mich so lange darein, bis mir das Mädchen leibhaftig erschien: brünett, Pagenkopf-Frisur, leuchtende Augen, und wir plauderten miteinander in einem Lokal am Meeresstrand; dann aber wandte ich mich doch wieder dem Brief zu und war erneut in der Eingangshalle des Blocks, die man mit den Leitern der Malermeister, mit Pumpen und Kalkeimern vollgestellt hatte. Ich stieg die Stufen zum Fahrstuhl hinauf, auch sie voll mit Kalk, zerfledderten Zeitungen, Stücken von Dämmplatten und Ziegeln, und dennoch: Vor dem großen Portal, das sich zum Fahrstuhlhaus hin öffnete, dieser Treppenaufgang wie der einer Kathedrale, der sah ganz genau so aus, wie ich ihn damals im Herbst unseres Einzugs gesehen hatte, als der Fahrstuhl und seine grünen Blechtüren noch nicht eingebaut waren. Ein rätselhaftes Tor zum luftleeren Raum, fünfmal größer, als ich gewachsen war. Ich näherte mich ihm voller Angst, verharrte lange in jenem Rahmen aus weißer Wand und wagte einen Blick hinauf in jene die Besinnung raubende Perspektive der acht Etagen mes-senden Leere, die sich nach oben hin verjüngte und auf eine winzige Decke zulief, um sich schließlich im Dunst nie gesehener Höhe zu verlieren. Danach ging ich in die Hocke und ließ mich langsam hinabgleiten in die etwa einen Meter tiefe Grube, aus der sich der Riesenschlot in die Höhe stemmte. Zerknüllte Zeitschriftenblätter, ausgebrannte Glühbirnen, Folien und ölige Papierstücke von alten Kondensatoren, Batteriezellen und gewundene Kotwürste vermischten sich da mit altem, versteintem Staub. Selbst im Traum war mir bewusst, dass ich vorzeiten tatsächlich einmal da hinabgestiegen war, dass ich, bis zu den Knien im Müll steckend, den Kopf in den Nacken gelegt, das beängstigende Aufragen der zunehmend schmaleren Wände mit den von Stockwerk zu Stockwerk dichter aneinandergerückten Öffnungen für die später einzusetzenden Türen bestaunt hatte. So heftig hatte ich meinen Kopf zurückgeworfen, dass die noch durchscheinenden, knorpeligen Halswirbel knackten und ich mich von meinem Knabenleib löste, aufstieg in der blassen Luft des Fahrstuhlhauses, vorbei an den Türen, gemächlich levitierend zunächst, dann allmählich immer schneller, bis es ein irrsinniges Hochschießen war und die Luft sich goldgelb färbte, ein zunehmend furioser Goldsturm, als jagte mich ein visionäres, auf Milliarden Atmosphären verdichtetes Gas wie eine Gewehrkugel aus geschmolzenem Gold durch die Röhre, die auf den Himmel gerichtet war. Die Türöffnungen huschten gleich schneller und schneller abgespulten Filmbildern an mir vorbei, und es waren nicht mehr nur acht, sondern endlos viele, und sie verbanden sich bald zu einem einzigen Schlitz, der sich in einer weit ausholenden Spirale aufwärts wand, ein Drall, in den ich mich beim irren Hochschnellen einschraubte. Über dem Kopf aber hatte ich nicht mehr die schlichte, weiß gekalkte Decke mit der Öffnung für die bald zu verlegenden Kabel, sondern ein Kirchengewölbe, eine mit bunten und wirren Allegorien ausge-malte Kuppel, die ähnlich dem Himmel unaufhaltsam höher wuchs, je mehr ich mich darauf zu bewegte. Trotzdem kam ich bei ihr an, konnte die verunstalteten Cherubim, die Jungfrauen mit Jünglingsbrustknospen, die übernatürlich schönen Büßergestalten in den Flüssen aus Blut immer deutlicher erkennen. Mit meinen blonden Locken, die flüssiges Gold versprühten, steuerte ich durch den Azur das bemalte Gewölbe von riesigen Ausmaßen an, so riesig, dass mir mehr und mehr Arme und Hüften nicht mehr ins Blickfeld passten, sondern klein gepresst in dunstige Fernen rückten, und plötzlich waren da nur noch ein grauenerfülltes hochrotes Gesicht, ein im Schrei geöffneter Mund und geweitete Augen, dann verengten sich auch die Züge des bei lebendigem Leib aufgezehrten Märtyrers wie eine Iris um die Pupille, und übrig blieb nur der Mund, das pechschwarze Loch, in das ich, gerade mal photonengroß, für die Dauer der Ewigkeit hineinstürmte.

Ich schraubte mich hinein in die Kristallruhe der Dunkelheit, war einziger Verkündiger, einziger Lichtpunkt, einziges Wort, die einzige Nachricht in einer Welt, die nicht sendet und nicht empfängt. Ich schwebte im Innern des Schweigens, hatte die Vorstellung von Geschwindigkeit und Vorwärtsbewegung längst hinter mir gelassen, ich flatterte jetzt durchsichtig und schimmernd wie das faltige und fransige Gewürm der Tiefsee. Und natürlich kam auf einmal die Dämmerung herauf. Natürlich füllte die rotflammende Sonne das Kristall des Schweigens im Nu, wie man ein Reagenzglas mit Blut vollgießt. Eine komplizierte Sonne, von strahlender, trauriger Anatomie. Mit flüssigen Membranen voller Poren für die Natrium- und Kaliumionen, mit Chemorezeptoren, die plötzlich von azurnen und grünen Facetten leuchten wie Edelsteine oder wie die Punktaugen an den Stirnen der Spinnen. Mit einer Photosphäre wie zu Zöpfen geflochtene verdünnte Flammen. Und natürlich, natürlich durchstieß ich jene Membranen und segelte, von oben bis unten damit überzogen wie von einem Spinnennetz aus Licht, karavellengleich der Sphärenmitte entgegen. Und im Zentrum der Sphäre verschmolz das Licht mit meinem Gehirn und meinem Schrei.

Hier kam ich stets an, bei dieser Aura aus Schrei und Licht, als wären alle meine Träume halbtransparente, filigrane Blütenblätter gewesen, vereint am Grunde ein und desselben Fruchtknotens aus Licht. Jedes Mal erwachte ich völlig erschöpft, stieg aus dem Bett und durchstreifte die Zimmer unserer Wohnung zur gleichen Dämmerstunde, ohne eine Spur Argwohn gegen die ganz von allein aufgehenden Türen und gegen jene irreale Fortbewegungsart, als hätte ich stillgestanden, und die Kulissen wären — quer durch die triste Sechs-Uhr-morgens-Unordnung — auf mich zu gekommen. Ich betrat federleicht das Schlafzimmer meiner Eltern, sie schliefen in Laken gewickelt wie die Statuen auf etruskischen Sarkophagen, die Gesichter blass, fast mehlig weiß, weil das Morgenlicht durch die Petunien am Fenster gefiltert wurde; ich setzte mich neben Mutter aufs Bett und betrachtete sie lange, dann kehrte ich genau so körper- und willenlos in mein Zimmer zurück, legte mich ins Bett und starrte ohne einen Lidschlag an die Decke, deren illusorische Realität ich bis ins kleinste Detail wahrnahm; auf einmal aber wurde ich, ohne eine wirkliche Veränderung zu erfahren, richtig wach und ertappte mich beim Betrachten derselben Decke im selben blumengefilterten Morgenlicht. Ich ging — diesmal in meinem Körper und im zerschlissenen Schlafanzug — ins Bad und blieb da vor Waschbecken und Spiegel eine unbestimmte Zeitlang stehen, um mir in die Augen zu schauen, ohne mich zu sehen. Ich setzte mich auf den Klodeckel und ließ da weitere Zeitwogen über mich hinweggehen, derweil ich beobachtete, wie das Mosaik am Boden abwechselnd Szenen mit Reitergestalten und bunte Landschaften zeigte. So traf mich Mutter an, wenn sie nach einigem Wuseln im Schlafzimmer das Bad ansteuerte und besorgt an die Tür pochte. Da kehrte ich in mein Zimmer zurück, wo ich schön langsam wieder zu mir fand. Mag sein, ich litt (mit siebzehn hatte ich einige Stunden in der Buchhandlung gegenüber damit zugebracht, in einem psychiatrischen Wälzer zu lesen, der viel zu teuer war, als dass ich ihn mir hätte leisten können) an einer »unkonvulsivischen Morpheo-Epilepsie des linken Schläfenlappens«, vielleicht aber auch nur an einer übersteigerten mystischen oder poetischen Disposition, die meinen Verstand restlos zerstören — oder in eine anders geartete Welt versetzen — würde.

Auf dem Bettkasten am Fenster sitzend, die Fußsohlen auf die sommers kalten, winters brennend heißen Heizkörper gestemmt, schaute ich durch das große Panoramafenster hinaus in die Stadt, sah vom unteren Rand aufwärts zunächst die über die Stefan-cel-Mare-Chaussee rumpelnden Straßenbahnen, im Vordergrund dann die Häuser und Höfe voller Menschen, die ich vom Sehen her kannte, wie auch sie selbst mir mit jedem ihrer Fenster, jeder Nische, jedem Ziegel auf dem Dach und jedem Baum vertraut waren, und schließlich weiter entfernt — durchsetzt mit verrenktem Gezweig der Bäume und Telefonleitun-gen — die einander im Nacken sitzenden Häuser der hinteren Straßen, kubistische Bauten aus der Zwischenkriegszeit zumeist, mit je einem runden Fenster für den inneren Treppenaufgang und rechteckigen Fenstern von ungewöhnlicher, raffinierter Proportion zwischen Höhe und Breite. Ich hätte meine Haut dafür gegeben, in einem dieser Häuser zu wohnen — je älter und verwinkelter, desto besser — statt in den anonymen Schuhschachteln, in denen sich nahezu mein ganzes Leben abgespielt hat. Als Kind nahm ich oft den Spiegel mit seiner löcherigen Glanzbeschichtung von der Wand im Bad und setzte an sonnigen Sommertagen den Lichtfleck in die Fenster gegenüber, hellte dabei die trüben und welken Innenräume auf oder blendete mit dem Strahl die aus den Toren tretenden Nachbarn. Mein Zielobjekt Nummer eins war ein Haus — rosa gefärbt wie ein Stück Kuchen, die Tür- und Fensterflügel grün —, auf dessen aussätzigem Balkon sich wiederholt ein hässliches Mädchen und ein rothaariger Junge zu zeigen pflegten. Das Bürschchen hob seinen Arm über die Augen und versuchte den Riesenwohnblock jenseits der Landstraße mit den Blicken abzutasten. Alles, was er zu sehen bekam, dürften am fünften Stock ein gewaltiges Aufflackern und dahinter verschwimmend die Gestalt eines Kindes gewesen sein. Er schüttelte drohend die erhobene Faust, während das Mädchen sich über den Balkon beugte, nach den Zweigen eines Nussbaums fasste, der den oberen Teil des Hauses in Schatten tauchte, und minutenlang grässliche Beschimpfungen in meine Richtung ausstieß, wie ich genau hören konnte, wenn der Verkehr auf der Landstraße ruhte.

Ich ließ den Spiegel auch weiter schweifen, über das zunehmend größere Dächerchaos im oberen Teil des Panoramas hinweg, bis sein blasses Licht sich kaum noch abhob von der Helligkeit unterhalb der locker gestreuten weißen Sommerwolken, von denen Bukarest bis zum Himmelsrand überzogen war. Sehr weit weg, jenseits des Meeres von staubbedeckten Häusern, Pappeln und Maulbeerbaumkronen, zeichneten sich am Himmel ein paar Gebäude ab, die dermaßen eng mit meinen frühesten Erinnerungen verbunden waren, dass sie mir — auch später noch, bis zu dem Zeitpunkt, als mir durch den Block, den man jenseits der Straße hochzog, die Stadt für immer geraubt wurde — recht eigentlich als Teilstücke meines Verstandes, meines Gedächtnisses und Vorstellungsvermögens erschienen: das gläserne Sägeblatt des Victoria-Kaufhauses, der Turm des Gallus-Hochhauses mit dem Globus an der Spitze, die grauen Schlote des Wärmekraftwerks, die barocke Kuppel des Sparkassengebäudes … Das gewaltige, blau getönte, melancholische Panorama wurde am äußersten Ende des Horizonts, unter dem weit intensiveren Himmel der Ferne, von nadelspitzen Pappelflammen gesäumt.

Hätte es keinen Spiegel gegeben, wäre von irgendwoher die Lupe aufgetaucht. Eine kunststoffgerahmte Philatelistenlupe, die Vater gekauft hatte, als ihn die Idee umtrieb, er müsse eine Briefmarkensammlung anlegen. Ich zündelte damit an den schwarzen Lettern der Zeitungen herum, bis sich schließlich ein feiner, gleichsam Blüten treibender Rauchfaden dem Sonnenglanz zwischen Fenster und Bettkasten entgegenreckte. Richtete ich sie auf die Stadt draußen, so füllte sie — auf den Kopf ge-stellt — halbmondförmig deren oberen Rand. Sobald ich jedoch mit dem Auge ganz nah an die Linse heranrückte, drehte sich das Bild wieder richtig, blieb aber unscharf, das Grün der Bäume griff auf den Putz der Häuser über und beschmuddelte die Dachziegel am Himmel. Ich fasste vor allem den goldenen Punkt der Lupe ins Auge. Dabei hielt ich sie waagrecht zwischen den Fingern, derweil die Sonne irre durchs Fenster glühte, als wär’s eine Reaktordüse, und neigte mich mit dem Auge bis auf einen Zentimeter hinab zu der dicken Linse, die unwirklich geworden war — gleichsam lichtdurchstrahltes Gas. Nur der glühende Punkt darin weitete sich unter meinem Auge aus, wurde zum Goldmeer, zum Flüssiggoldglanz wie jener der Heiligenscheine auf den Ikonen, wiewohl es darin nun ein ganz langsames Auf und Nieder fadenförmiger Wesen gab. Ich folgte ihnen mit den Blicken, fasziniert und zugleich verwundert, dass ich mein eigenes Auge im Hintergrund der Linse gespiegelt sah, die langen schwarzen Wimpern, die braune Regenbogenhaut rings um die goldene Pupille, in der wollige Fusseln samt ihren unvorstellbar filigranen Schatten und einige etwas höher entwickelte Tierchen mit Kiemen und Flimmerhärchen durcheinanderschwärmten. Die Goldschmiedeplatte versetzte mich minutenlang in Trance, bis eine Wolke sie auflöste und die Oberfläche der Linse wieder zur glänzenden Leinwand eines Miniaturmalers wurde, die Bukarest im Fischauge des kalten Glases zeigte.

Wie versunken in die Lichtpunkt-Ataraxie ich auch gewesen sein mochte, ich hatte doch regelrecht auf die Wolken gewartet. Dort zwischen Bettkasten und Heizkörper unterhalb des Fensters erlebte ich damals, wie die Stadt sich in der Linse sammelte, als unendlich feine Federzeichnung, zart und dennoch blen-dend koloriert — mit Hardtmuth-Farbstiften, meinen eigenen Buntstiften aus der Blechschachtel, diesen vierundzwanzig nach Zigarren riechenden Stiften, die da, abgestuft nach dem Grad ihrer Verbrauchtheit, nebeneinander lagen. Ich harrte auf die Wolken in ihren unvorhersehbaren Formen, weil sie das Blinken der Camera obscura unterbrachen und so die Voraussetzung schufen, dass sich in der Lupe wie auf einem durchsichtigen Uhrdeckel ein immer wieder anderes Bukarest spiegelte. Manchmal erschien auf der gekrümmten Linse kein einziges Bauwerk, sondern nur Wald, durchzogen von erdfarbenen Flüssen. Dann wieder fanden sich entlang einer verschlammten Dâmboviţa ein paar Kirchen und Häuser zwischen wackeligen Mauern zusammen.

In anderen Bildern wuchs die Stadt: wirre Straßen, dem Hügel im Nacken sitzend oben die Metropolitankirche, bunte Gärten kreuz und quer verstreut zwischen den Häusern, der Colţea-Turm — ein Kegelstumpf, hässlich wie ein glänzendes Stück Backenzahn im Kieferknochen der Stadt. Das Gewimmel von Pferdekutschen in den aufgeweichten Straßen wich nach und nach den ersten Automobilen, aus den von oben bis unten mit Schleifen besetzten seidenen Krinolinen wurden gerade geschnittene Kleider mit sehr tief angesetzter Taille, die Kaufmannshäuser mit Gesims und Maskaronen verfielen, und auf den frei werdenden Plätzen entstanden würfelförmige Villen, die in ihrer Strenge wie Mausoleen wirkten, vorsintflutliche Straßenbahnen fuhren an ihnen vorbei.

Je näher ich mit dem Auge an die Landschaft in der Linse heranrückte, desto tiefer drang ich in jene Welten ein, sah Details auf einmal in Großaufnahme, so dass sie bei genauerem Hinsehen ihrerseits Details ausbreiteten, von denen die klare Scheibe restlos beansprucht wurde. Ich machte mir manchmal einen Spaß daraus, den Blick ins Balkanstadtgewusel auf eine einzige blaugraue Zone zu konzentrieren, die daraufhin die ganze Linse einnahm und zum Sommergarten wurde — mit lebenden Hecken, Würstchengrill und auf Gartenstühlen aus Rohrgeflecht um die Tische sitzenden Gästen. Die durchs Laub der Bäume brechende Sonne warf Flecken von Gold und Wind auf ihre Gesichter, ihre langen Röcke und karierten Anzüge. Ich suchte mir unter den Frauen eine aus, die rotblonde dort an dem kleinen Tisch gleich beim Eingang: ein pfiffiges Gesichtchen, das hellrote Kleid bis zum Hals zugeknöpft, auf der Brust graue Perlen, den Arm über die Stuhllehne gelegt, zwischen den Fingern einen Löwenmaulstängel mit vier saftigen orangefarbenen Blüten. Die unterste davon war halb verdeckt von einem gigantischen dunkelgrünen Blatt mit tiefen Einkerbungen, an dem sich eine Blattlaus von hellerem, zarterem Grün mit sechs spinnfadendünnen Beinchen festklammerte. Ich fuhr zu ihr nieder, bis sie schlagartig die ganze Linsenöffnung besetzte, dann nur noch eines ihrer Beine sich als grüne Säge schwerfällig und bedrohlich breitmachte im trüben Kristall. Jedes Mal riss ich mich nur mit Mühe und Bedauern los vom unbegrenzten Ausloten der herrlichen Stiche. Jedes Mal fand ich mich von neuem fassungslos in meiner Welt wieder, ließ die Lupe liegen und ging in die Küche, wo Mutter andauernd irgendetwas für den Mittagstisch schmorte.

Sobald ich die Küchentür aufmachte, schwoll der Mühlenlärm mächtig an, denn Mutter ließ im Sommer die andere, die Balkontür stets offen stehen. Große, dralle Wespen düsten kreuz und quer durch den Flockenwirbel, der von den Pappeln hinter dem Block ausging und bis zu uns in die Küche gelangte, wo er sich in den Winkeln zu Häufchen ansammelte. In meiner Erinnerung an diese Zeit sehe ich Mutter nie anders als so: klein und schweißnass in ihren ewigen Duvetine-Kleidern, umgeben vom blauen Bratendunst und von den Wespen umschwirrt. Zur Balkontür drang der Strahlenglanz des Sommers herein, eines tiefen und trägen Sommers, erfüllt vom Geruch nach heißem Backstein, den das Mühlengebäude gegenüber verströmte, und in der Tiefe des Himmels mit einigen mitten im Aufquellen erstarrten, blendend weißen Wolken. Hinter dem öldampfgeschwärzten Gitter der Lüftungsöffnung über dem Gasherd hatten die Wespen ihr gleichfalls eingeschwärztes Nest. Darin wuselten die gelb gepanzerten Insekten, wirbelten ihre Beine und Fühler durcheinander. Ihr Summen aber hob sich kaum ab vom monotonen Gedröhn der elektrischen Siebe im staubbedeckten Mühlengebäude. So oft ich auf den Balkon hinaustrat — das mit Blumenkästen bestückte Geländer reichte mir damals bis zu den Schultern —, stieg ich auf eine Kiste oder auf meine Rodel und genoss minutenlang den Anblick dessen, was mir als großartigste Landschaft der Welt erschien: das riesige, ungeheure Bauwerk der »Dâmboviţa«-Mühle mit in die Wolken stechenden Türmchen und Giebeln, aufgetürmt inmitten eines unermesslichen, öden Hofes, in den sein Schatten gleich einem Gnomon fiel. Ein altersloses, melancholisches Gebäude, dessen Hunderte Fensterscheiben mit Staub und Mehl zugekleistert waren, während in den Spalten zwischen den Backsteinen Gras spross und Glockenblumen blühten. An der scharlachroten Fassade führten einige rostige röhrenförmige Feuerleitern empor, warfen ihren filigranen Schatten in den heißen Wind. Vom Tor — das ich nur mit Mühe sehen konnte, wenn ich, weit übers Geländer gebeugt, die pastellfarbenen Steinröschen in den Blumenkästen mit der Brust fast zerdrückte —, von jenem Tor hinter dem Block, das uns als Tafel diente, das wir voll malten mit Buchstaben und farbigen Kreidezeichnungen, bis zum Mühlengebäude lief man ein paar Hundert Schritt quer über den heißen Hof, wo sich nur selten einmal ein dahineilender Müllersmann im weißen Kittel zeigte. Oder besser: Man hätte sie zu laufen gehabt, denn schließlich konnte sich damals nicht jedes der Kinder hinterm Block brüsten, dass es ihm je gelungen sei, den Plattenzaun zwischen Block und Mühlenhof zu erklettern, sich durchzuwinden zwischen den Stacheldrähten, die ihn säumten, und auf der andern Seite auf den unbekannten, fremden Boden hinunterzuspringen, hinein ins beängstigende Gewummer. Wenige nur hielten diesem bösen Zauber stand und marschierten quer durch die ausgedehnte Wüste auf den kolossalen Palast zu, wobei Verlassenheit und Angst mit jedem Quadratmeter Pflastersteine drückender wurden. Ganz, ganz wenige schluckten hastig, wie der Ertrinkende Wasser schluckt, ihre Angst hinunter, rasten die letzten Meter auf die rote Ziegelwand zu, berührten sie mit den Fingerspitzen, stießen einen hellen Schrei aus und machten sich davon, so schnell sie konnten, im Gefühl gleichsam, sie hätten das raue Gemäuer knarren gehört, und es sei kurz davor, über ihnen zusammenzustürzen. Lange kannte ich nichts Überwältigenderes als die »Dâmboviţa«-Mühle, die anmutete wie herausgebrochen aus dem architektonischen Irrsinn meiner immergleichen Traumwelt.

Zwischen diesen beiden Außenbezirken fristete ich, verloren im lächerlichen Labyrinth unserer Wohnung, damals mein Leben. Auf der einen Seite, auf die nur mein Zimmer Ausblick bot: die Stadt — endlos ausgebreitet unter der Erhabenheit des fahlen, wolkenreichen Himmels —, auf der anderen Seite, nach der die übrigen Zimmer gingen, vor allem auch unser Balkon voller Königinnen der Nacht*2: die Mühle, das melancholische Schloss, umgeben von Fabriken und Werkstätten, von rostigen Leitungsrohren und von Schloten aus der Zeit des Jahrhundertanfangs, als die Industriearchitektur noch von der Leidenschaft für das unnütze Ornament geprägt war. In diesem aschgrau-grünlichen Labyrinth, in das nur selten Licht eindrang, ein durch die transparenten Blumenranken vor den Fenstern gefiltertes Licht (oder, im Winter, wenn’s schneite, durch die mit reif-rauen Eisblumen bedeckten Scheiben, von denen nur im oberen Teil eine Ecke frei und glasklar blieb, so dass man es schneien sehen konnte), war ich unentwegt auf der Suche nach Mutter. Nicht mit den Blicken, auch nicht mit dem komplexeren Auge, das meinen Schädel ausfüllte, sondern chemotaktisch, dem Ruf ihres ätherischen Körpers folgend, dem unwiderstehlichen Sog, der von ihrem Haar, ihren Augen und Armen ausging, auch von ihren mit schlechtestem, billigstem Lippenstift gefärbten Lippen und von den Blusen und Röcken, duftend nach dem Kölnischwasser, das sie seinerzeit in autoförmigen Fläschchen erstanden hatte. Gleich, an welchem Ort in meinem Beton-Schneckenhaus ich mich gerade aufhielt, ich wusste immer auch, wo Mutter sich befand, denn die bläuliche Schnur mit der Vene und den Arterien war zwar durchtrennt, doch funkelte noch, unscharf und gebieterisch, jenes andere Band zwischen unseren Augenbrauen: dehnbar wie Gummi, mit Abstufungen also, denn je weiter ich mich von dem Ort entfernte, wo Mutter sein musste, desto größer wurden meine Angst und meine Liebe und zwangen mich, zurückzulaufen zu der Stelle, die Mutter war, ich musste durch einen Freudenausbruch das Objekt, das Mutter war, identifizieren, musste der lebenden Statue Mutter auf den Schoß klettern, meine Augen ganz nah an ihre Augen heranrücken, wir mussten unsere Köpfe genau an der Stelle zwischen den Augenbrauen zusammenlegen, damit jenes blinkende Unruhe-Band verschwand und wir so, Stirn an Stirn, einander mit den Armen umklammernd, die Lider geschlossen und das gleiche entsetzte Lächeln auf den Lippen, da sitzen bleiben konnten. Ich hatte keine Zeit, unbeschwert auf ihren Knien zu sitzen, ich hatte keine Finger zum Segnen. Ich hielt mich fest an den Falten ihres Gewands, saugte mich voll mit dem Prunk ihrer Armut, kehrte der Welt meinen schmalen Rücken zu. In den Augenblicken unseres Wieder-findens blickte ich ihr stets ins Gesicht, und sie hatte mein Gesicht — in Übergröße, dunkelfarbig, Ringe um die Augen wie mit dem Pinsel gemalt, tief eingesunkene Wangen unter den Backenknochen, zwischen den Augenbrauen ein großes melancholisches Omega. Da ich jeden Augenblick meines Lebens mit ihr zugewandtem Gesicht verbrachte, sie umkreiste wie der Mond, war Mutter im Grunde der Kern meines Wesens, der Stein im komplizierten Fruchtfleisch unserer Beziehung, rau und von Riefen durchzogen wie ein Aprikosenkern, ich aber hüllte das durchsichtige Fleisch meiner Hände, meiner Brust, meiner Schenkel und Wangen darum. Ich war ihr entsprossen, jetzt aber war sie in mir, ich hatte mich von innen heraus über sie ergossen. Mutter war jetzt der Embryo im vorgewölbten Bauch meines Verstandes, auf sie blickte ich von allen Seiten zugleich, stets mit dem Gesicht ihr zugewandt, stets von ihr fasziniert, aus Liebe zu ihr und Sehnsucht nach ihr — völlig am Ende. Ich ging immerzu schwanger mit meiner eigenen Mutter, und sie zuckte im Fruchtwasser meines Schlafs manchmal träumend zusammen. Sie war von den Ausmaßen einer Statue, deren poliertes Chalzedonpostament — von den Wolken verschleiert, von den blauen Himmeln verglast — ein Viertel des Erdballs einnähme.

An den langen Sommernachmittagen, in den öden Stunden, wenn die Kinder schlafen mussten und hinter dem Block nur einige halb ausgepackte Möbelstücke herumstanden und ein paar Lastträger an einem im Schatten auf den Asphalt platzierten funkelnagelneuen Küchentisch Käse mit Tomaten aßen, ging ich nicht selten in die Küche, setzte mich auf den rauch- und dreckgeschwärzten Stuhl und unterhielt mich mit Mutter, während sie ihrem ewigen Essenzubereiten frönte, Mehlschwitze machte oder Kartoffeln briet in Pfannen, die dermaßen dunkelhäutig verkohlt waren, dass die Gabel, mit der sie darin umrührte, geradezu platinhell hervorstach. Bisweilen nahm uns das Gespräch völlig gefangen, so dass sie das Öl vom Feuer zu nehmen vergaß, die Handvoll zerkleinerter nasser Kartoffeln beim Einwerfen mit höllischem Krach explodierte und die Herdflamme bis zur Decke emporschlug, Mutter zum Erstrahlen, ja beinahe zum Verglühen brachte. Doch sie blieb gefasst, nahm die lodernde Pfanne vom Feuer und brachte sie rasch hinaus auf den Balkon, wo ein Lüftchen wehte und die Flammen allmählich erloschen. Es hatte uns beiden die Stimme verschlagen, wir konnten uns in dem dicken blauen Dunst, der uns einhüllte, kaum sehen — ich, zusammengekauert und die Hände an die Ohren gepresst auf dem Stuhl sitzend, sie, schweißgebadet, zu Berge stehend ihr dünnes Haar.

Mutter war mein großer Durchlass. Die Realität zeigte sich mir damals undurchdringlich wie eine bunte Wand: Dinge, Menschen, Häuser, Höfe, die Akazien, die vertrauten Straßen — ob wirklich gesehen oder geträumt — sah ich zweidimensional aufgemalt an die Wand, die mich von allen Seiten umzingelte. Allein Mutter mit ihrem gequälten Lächeln, den braunen Augen einer Bäuerin — auch sie, als Hochrelief in die Wand eingelas-sen —, nur sie war weich, war durchlässig, als hätte die Wand an jener Stelle einen Kalziumverlust erlitten, und anstelle der eingedellten Kalkschicht hätte sich nach und nach ein Häutchen gebildet, das zu durchstoßen war. Nur an der Stelle, wo Mutter war, gab es ein Durchkommen nach draußen, so wie wir im Augenblick des Todes durch jene Stelle zwischen vier aneinandergrenzenden Schädelknochen entschlüpfen, die so lange weich bleibt. Mutter war durchscheinend wie ein Knorpel, durch den Morgenlicht in meine Ecke drang.

Wir sprachen selbstverständlich über Tântava, über Großvater, über Mutters Brüder und Schwestern, darüber, wo überall wir gewohnt hatten, ehe wir hierher an die Stefan-cel-Mare-Chaussee zogen. Sie erzählte mir vom »Erdloch des Ouatu«, einem Teich am Dorfrand, wohin die Kinder zum Baden gingen und wo sie bisweilen von Hechten zerbissene Beine davontrugen. Die Häuser wurden zunehmend schäbiger, je weiter man aus der Mitte des Dorfes in die Randgebiete vordrang, alles moderte und verrottete vor sich hin, es roch immer stärker nach Maulbeeren, nach in Riesenfässern vergorenen Früchten, nach Zäunen aus vergilbten Maisstängeln, nach Erde, Kuh- und Pferdemist. Das wusste ich, ich war dort gewesen, alles war mir vertraut: jene Verlängerung der Welt »in Tântava«, die vollkommen anders war als das Stück Stadt, das wir »zu Hause« nannten; es war auch eine Verlängerung in der Zeit, weit hinein in jene unmöglichen Zeiten, die vor meinen frühesten Erinnerungen lagen, vor dem Moment meines Auf-die-Welt-Kommens. Begab man sich in die Tiefen der Zeit, ging es einem ähnlich, als stiege man zum Dorfrand hinab: Die Zeit zerbröckelte zunehmend, faulte in einem Bodensatz unscharfer Geschichten und Bilder dahin, bis sie sich endgültig auflöste im ranzigen Dunkel. Wie die Dorfmitte — Kneipe, Kirche, Volksrat und dazu (Richtung Băcanu) der Dorfladen, die »Kooperative« — den harten, festgetretenen Teil Tântavas bildete, mit verputzten Häusern und frisch kalkgeweißten Bäumen, wie die anschließenden »Zeilen« dann aus neueren, blechverschalten Häusern bestanden, mit bäuerlich gekleideten Bewohnern darin, und an den Rändern schließlich die durcheinandergewürfelten Hütten armer Rumänen und Zigeuner eine verwahrloste Bannmeile abgaben, so fand sich die Struktur des Dorfes auch im Gewirr der Zeiten wieder (denn für mich war damals die Zeit auch eine Art Raum, ein etwas seltsamer, unzuverlässiger Raum, wo die Lebewesen, in einer reinen Hörwelt, aus Stimmen erwuchsen); denn »echt«