Melancolia - Mircea Cartarescu - E-Book

Melancolia E-Book

Mircea Cartarescu

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Beschreibung

Nach „Solenoid“ das neue Buch des rumänischen Bestsellerautors: „Cărtărescu hat die Phantasie eines großen Kindes und die Sprachfertigkeit eines alten Meisters.“ Malte Herwig, Der Spiegel

Mircea Cărtărescu schreibt über die Kindheit und das Heranwachsen. Und er enthüllt dabei die großen Themen des Lebens: Einsamkeit, Trennung, Liebe.
Als seine Mutter einkaufen geht, ist der fünfjährige Junge überzeugt, sie kehrt nicht mehr zurück. Zuerst erkundet er die Wohnung, dann die nahe Kautschukfabrik, schließlich träumt er sich in das Kaufhaus Concordia. Um seine kleine Schwester von einer Krankheit zu heilen, unternimmt Marcel eine nächtliche Reise zum „Fuchsbau“, vor dem sie sich am meisten fürchtet. Jahr für Jahr muss Ivan die Kleidungsstücke aussortieren, die ihm zu klein geworden sind. Als er Dora trifft und sich in sie verliebt, fragt er sich, ob auch Mädchen ihre Haut wechseln müssen.

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Seitenzahl: 376

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Über das Buch

Nach »Solenoid« das neue Buch des rumänischen Bestsellerautors: »Cărtărescu hat die Phantasie eines großen Kindes und die Sprachfertigkeit eines alten Meisters.« Malte Herwig, Der SpiegelMircea Cărtărescu schreibt über die Kindheit und das Heranwachsen. Und er enthüllt dabei die großen Themen des Lebens: Einsamkeit, Trennung, Liebe. Als seine Mutter einkaufen geht, ist der fünfjährige Junge überzeugt, sie kehrt nicht mehr zurück. Zuerst erkundet er die Wohnung, dann die nahe Kautschukfabrik, schließlich träumt er sich in das Kaufhaus Concordia. Um seine kleine Schwester von einer Krankheit zu heilen, unternimmt Marcel eine nächtliche Reise zum »Fuchsbau«, vor dem sie sich am meisten fürchtet. Jahr für Jahr muss Ivan die Kleidungsstücke aussortieren, die ihm zu klein geworden sind. Als er Dora trifft und sich in sie verliebt, fragt er sich, ob auch Mädchen ihre Haut wechseln müssen.

Mircea Cărtărescu

Melancolia

Erzählungen

Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner

Paul Zsolnay Verlag

Übersicht

Cover

Über das Buch

Titel

Fußnoten

Über Mircea Cartarescu

Impressum

Inhalt

Prolog

Der Tanz

Melancolia

Die Stege

Die Füchse

Die Häute

Epilog

Das Gefängnis

Prolog

Der Tanz

Bei einer meiner unzähligen Reisen durch den Archipel traf ich auf eine Insel umgeben von grünem Wasser, auf dem die Lichthexagone farblich derart aufgehellt spielten angesichts des Miniumschimmers jener Meere und derart verschattet wurden von den riesigen Flügeln der Möwen, die über den unbefleckten Himmel glitten, dass allein der Anblick schon jedes menschliche Auge entzückte. Es war geradezu unmöglich, sich nicht zu fragen, ob sich an jenem felsigen Ort etwa der nicht von Menschenhand errichtete Palast befinde, von dem die kleinwüchsigen Menschen dieser Gegend mit ihren Fesen und den krummen Dolchen im Bauchgurt zur Zeit der Siesta sprachen. Es gebe da, sagten sie, sehr viele Zimmer im Palast, allesamt voller nie zuvor auf der Welt gesehener Wunderdinge, doch dafür lohne es nicht, sein Leben aufs Spiel zu setzen, auch lohne es nicht, neben einer Mauer auf dem Boden kauernd und an seiner Wasserpfeife nuckelnd, darüber zu reden; eine mit der Nadel in den Augenwinkel geschriebene Geschichte. Im innersten Kern des Palastes befand sich der Ausgang, und dieser wurde von einem wutschnaubenden Hüter bewacht, an dem niemand vorbeikam. Niemand hatte ihn jemals überwunden, und die von dort zurückkehrten, taten dies gebeugt und mit hängenden Köpfen wie nach einer verlorenen Schlacht. Was es jenseits des Ausgangs gab, wusste niemand, aber die Engel, die hin und wieder auf eine der Inseln herabstiegen, sei es, dass sie eine Prozession mit tränenden Ikonen zu heiligen hatten, sei es, dass sie einen leichtsinnigen Mann zurechtweisen mussten, weil er seine Frau zu der Zeit beschlafen hatte, da sie unrein war, oder sei es auch nur, um selber nicht untätig zu bleiben, sprachen von einer Tiefe wie die tiefsten Abgründe der Meere, wo die zerschellten Barkassen mit Bäuchen voller Schätze lägen, auch von den Fischen dort mit spitzen Schnäbeln und Oktopussen, den uralten Statuen mit Marmorhaut.

Jeder Seemann, so hieß es, komme wenigstens einmal im Leben auf jene Insel, denn die Diagramme des Sternkreiszeichens, unter dem er geboren wurde, lenkten ihn dorthin. Mithin wunderte ich mich nicht, als es auch mir im Alter von fünfzig Jahren, wenn der Mann mit salz- und sturmgegerbter Haut sich nach Hause zurückzieht, vergönnt war, den Fuß auf den heißen Sandstrand dieser Insel zu setzen. Weder fürchtete ich mich, noch war meine Freude übermäßig groß: Es hatte so sein sollen, wie ich mir stets angesichts eines neu beginnenden Tages, einer neuen Frau, eines neuen, aufgeschlitzten Fremden sagte. Der Mensch kann nichts anderes tun, als was ihm von oben aufgegeben wurde. In seinem letzten Augenblick schaut jeder auf sein Leben zurück und versteht, dass es so hatte sein müssen.

Ich fuhr mit einem Boot ans Ufer, ließ das Schiff hundert Armlängen von den Felsen entfernt ankern. Die Mittagssonne brannte herab, nirgends war irgendein Schatten zu sehen. Die Feigenbäume wuchsen von alleine und hingen voll violetter Früchte. In der Mitte der Insel gab es einen Ring schiefer und krummer Felsen, wie Zähne von Riesen. Schwer nur fand ich die Zahnlücke, durch die ich schlüpfen konnte. Eingefasst von den Felsen erhob sich mit gelben Mauern, über die sich eine schädelartig modellierte Kuppel wölbte, der nicht von Menschenhand errichtete Palast. Eher auf der Suche nach Schatten denn nach einem Abenteuer trat ich durch das große Tor, denn die Sonne brannte unbarmherzig herab, und meine Kleidung und mein Haar waren derart durchnässt, als hätte ich das Ufer schwimmend erreicht gehabt. In den geräumigen Sälen fand ich Schatten, dichten Schatten von allerbester Qualität.

Der Palast war riesig groß und leer. Die Wände waren voller Arabesken. In den Innenhöfen standen Wasserbecken, aus denen das Wasser schon lange verdunstet war. Auf ihrem muschelförmigen Grund hatten Spinnen ihre verstaubten Netze gespannt. Die Säle waren mit vielen Türen versehen, derer ich so viele öffnete, wie ich es vermochte. Jedes Zimmer, das von diesen Sälen abging, hatte ein Fenster, durch welches man das Meer sah. Jedes hatte in der Mitte auch einen Steinkubus, auf dem eine unbegreifliche Maschinerie surrte, ein goldglänzender Fisch zappelte, eine Kristallkugel darüber schwebte oder ein Mädchen mit herabhängenden Beinen darauf saß und mich gelangweilt anschaute, gekleidet war es wie eine seltsame Meeresfrucht in einen Panzer aus rosenfarbenem Perlmutt. Da und dort gab es auch eine Heuschrecke von der Größe eines stattlichen Hundes mit einem Wasserkorn zwischen den Kiefern, die einen in einer nächsten Stube mit blinden Augen anschaute.

Es folgten weitere und immer weitere Säle, aber bald schon verzichtete ich darauf, die geschlossenen Türen zu untersuchen, es kümmerte mich nicht mehr, welche Überraschungen mich noch in den Räumen dahinter erwarten mochten, denn ich war in Ungeduld danach erbrannt, vor die Ausgangspforte zu gelangen. Stundenlang ging ich über die feinen Bodenplatten aus glänzendem Stein. Da und dort gab es auch an den Außenmauern weite symmetrische Öffnungen, durch die man in alle Richtungen schauen konnte, auf das Meer hinaus und auf den Himmel. Die Möwen saßen auf den breiten Fensterbrettern und schauten mit einem roten Auge herein, wagten es jedoch nicht, mit ihrem Flug den Schatten zu beeinträchtigen. Als ich schon beinahe nicht mehr an die Geschichten von den Inseln glauben mochte und der Gedanke, auf das Schiff zurückzukehren, in mir zu nagen begonnen hatte, schritt ich durch einen hohen, in Porphyr gehauenen Bogen und betrat den Saal des großen Portals. Der Saal war kreisrund, und ich konnte ringsum noch elf solche Eintrittsportale zählen, die wie dieser in scharlachroten Stein gehauen worden waren. Die von der anderen Seite waren wegen der immensen Weite des Saales kaum auszumachen. Ich befand mich nun, so mein Kalkül, tatsächlich in der Mitte des Palastes und unter der wie ein menschlicher Schädel geformten Kuppel, die man schon von weit draußen auf dem Meer hatte sehen können, hier nun sah ich mit Verwunderung, dass diese Halbkugel mit den Windungen eines Hirns bemalt war — dem so lebendigen wie vergänglichen Thron der menschlichen Seele.

In der Mitte des Saales befand sich etwas, das unter der Kuppel mit einem extrem starken runden Beleuchtungskörper wie ein Blitz funkelte, eine senkrechte Säule reinsten Lichts fiel herab und zeigte an, dass sich die Sonne immerzu über jener Insel befand. Dieses ferne Funkeln war das Portal, das mich beim Vorangehen blendete, so dass ich den Arm vor die Augen hielt und Schritt für Schritt in die Tiefe des Saales eindrang. Auf die gleiche Weise war ich in meiner Jugend vom Bug der Barkasse ins ringsum funkelnde Meer gesprungen und auf ihrem Strahl aus Feuer und Wasser, die sich immerzu in neuen veränderlichen Proportionen wechselseitig durchzuckten und durchdrangen, direkt auf die Sonne zugeschwommen.

Als ich vor dem Ausgang anlangte, war ich verblüfft, das Herz stand mir still, denn im gleichen Augenblick, und als hätte er von den Uranfängen der Welt schon dort auf mich gewartet, tauchte aus dessen Tiefen der Wächter auf. Nun schauten wir uns grimmig an, entschlossen, um nichts auf der Welt beiseitezutreten, denn er hatte den Göttern geschworen, jeden Eindringling auch um den Preis seines eigenen Lebens anzuhalten, während ich wissen wollte, was sich jenseits befand, und mein Wille vertrat mir den Schwur ebenso wie den Gott. Wir standen uns von Angesicht zu Angesicht gegenüber, das Portal zwischen uns, schauten uns wild entschlossen an.

Der Wächter war ein kräftiger Mann von etwa fünfzig Jahren. Eine Narbe, ähnlich der Narbe, die meine linke Schläfe durchfurcht, zog sich auch durch seine Schläfe, jedoch die rechte. Er war ähnlich wie ich gekleidet, aber er war zweifellos Linkshänder, denn er hatte sein Schwert in der Scheide stecken, die an seiner rechten Hüfte angegurtet war. Seine Stiefel waren vielleicht von dem gleichen Schuster angefertigt worden, der auch die meinen gemacht hatte, aber dann musste er bei den beiden Buchstaben seines Namens, die in den Schaft eingestanzt waren, einen Fehler begangen haben: Die des Wächters waren auf seltsame Weise verdreht.

Ich ging einen Schritt voran, und auch er kam einen Schritt auf mich zu. Ich wollte an ihm vorbeigehen, und er verstellte mir den Weg, indem er sich in die Richtung stürzte, die ich an ihm vorbei nehmen wollte. Ich schubste ihn weg, und auch er schubste mich weg, indem er seine Hände gegen meine stemmte. Rot vor Wut, zog ich den Dolch aus dem Gurt, und im gleichen Augenblick zog auch er den seinigen heraus. Ich peilte mit meiner Dolchspitze sein Herz an, und — wer wollte solches je glauben? Wer glaubt schon an Beschwörung und Zauberei? — unsere Dolche trafen Spitze auf Spitze aufeinander, wie es noch niemals zuvor irgendwo geschehen war und auch nie wieder geschehen kann. Überzeugt, dass sie mir nun nichts mehr nützen konnte, schleuderte ich die Klinge zu Boden, und dies tat auch er, der sich vielleicht nun mehr auf die teuflische Macht seiner eigenen Reize verließ.

Stöhnend wie zwei Männer, die schon weit jenseits der Jugend waren, standen wir uns gegenüber und schauten uns ernüchtert an. Ich ermannte mich wieder, nahm den Kampf neuerlich mit all meinen Kräften auf, aber vergeblich. Es war, als hätte er tausend Arme und hunderte von Körpern gehabt. Immerzu füllte er mit seinem bärtigen Kopf, seiner breiten Brust, seinem großen Bauch und den wohlgeformten Schenkeln jeden Winkel der funkelnden Fläche aus, die den Ausgang markierte. Auf diese Weise verging Stunde um Stunde, in denen wir uns ineinander klammerten, keuchten, stöhnten und unseren Schweiß verströmten. Sie wurden von den weit auseinanderstehenden Wänden dieses Raumes zurückgeworfen und kehrten als Echo zu den Kämpfern zurück.

Ich schaute mir den Wächter an, der bisher noch jeden seiner Gegner zur Verzweiflung getrieben hatte, und suchte nach einem Weg, mich als listiger denn er zu erweisen. Also begann ich, seinen Bewegungen zu folgen. Ich neigte den Kopf zur Seite und schaute ihn mit zusammengekniffenen Augen an, und genau das Gleiche tat auch er. Doch wenn ich den Kopf nach rechts neigte, so neigte er seinen nach links, womit er mir immerzu gegenüberstand. Ich beugte meinen Körper, und er tat genau dasselbe. Ich hob den linken Arm hoch, er hob seinen rechten Arm. Ich legte meine Hand aufs Herz, er hatte das Herz auf der rechten Seite! Das Monstrum sah bloß nach einem menschlichen Wesen aus, unter der Haut war er verdreht, wie es die linke Hand der rechten gegenüber ist. Ich erhob mich vor dem Ausgang wieder auf die Beine (es sei der einzige in unserer Welt, hatten mir die allwissenden Frauen mit ihren zahnlosen Mündern auf dem Obstmarkt versichert) und stand nun wieder Brust an Brust und Auge in Auge und Lippen auf Lippen da, die Hände und die Füße an seinen Händen und Füßen, und drückte aus Leibeskräften gegen diesen festen und gefrorenen Körper. Wir stießen unsere Stirnen gegeneinander, bis sie blau waren.

Ich kam nicht an ihm vorbei. Meine Verwunderung kannte keine Grenzen. Ich hatte einen heftigen Kampf mit dem schier allmächtigen Wächter erwartet, dachte, ich würde mich zum Schluss im eigenen Blut wälzen, aber dieser erbitterte Widerstand brachte mich völlig aus der Fassung. Ich war etwa gleich groß wie er: Warum schaffte ich es nicht, ihn beiseite zu schleudern, und endlich an ihm vorbei und hinüberzugelangen? War mir etwa beschieden, niemals die Schätze aus den Bäuchen der gesunkenen Barkassen zu sehen, die fahlen Statuen, das täuschende Licht der Tiefe?

Ich blieb tagelang dort, anfangs suchte ich noch nach einer Lücke in der Verteidigung des grausamen Wächters, dann kauerte ich ergeben auf dem Fußboden, um schließlich von Wut und Zorn überwältigt mit den Fäusten und Füßen in seine Fäuste und Füße zu hauen und zu treten, der nach wie vor bereit war, mich aufzuhalten, dann lag ich wieder, aller Hoffnung beraubt, auf dem Fußboden … Endlich setzte ich mich auf die kalten Bodenplatten, und er tat genau das Gleiche. Ich legte mich mit meinem ganzen Körper flach auf den Boden, und das Kinn in die Hände gestützt dachte ich nach, bis ich spürte, dass mein Verstand zerbirst und auseinanderfliegt. Der kräftige Wächter war offenbar genau so stark wie ich. Die Rüstigkeit meines Körpers hatte sich als nutzlos erwiesen, ich konnte ihn nur durch irgendeine List beseitigen, die ich mir möglichst schnell ausdenken musste.

Durch die große azurblaue Öffnung in der Spitze der Kuppel schwirrten immerzu, in Licht gebadet und lästiger als Stechmücken, Schwärme von Engeln herein. Sie umgaben mich, gaben mir törichte Ratschläge, sprachen von Dogmen und Geheimnissen, langweilten mich mit ihren grauen Gesichtern, die weder zu lachen verstanden noch zu weinen. Andere wieder saßen, identisch und so ungerührt wie nicht da, in allen hohen und schmalen Fenstern des Saales, die in zweierlei Blau gestrichen waren, dem des Meeres darunter und dem des Himmels darüber, und ließen ihre Beine hereinhängen.

In diesem Jahr waren die Engel über den Archipel hergefallen.In anderen Jahren waren es die Furien und vor längerer Zeit weiche und durchscheinende Steine wie Medusen, die Menschen verschluckten und schon nach wenigen Augenblicken deren Knochen und Schädel wieder ausspuckten. Die Alten erinnerten sich auch an die nackten Meerfrauen, die vordem aus dem Wellenschaum hervortraten, um den Fischern ihre zitronengroßen Kaviarkörner, derer sie je eines in der Hand hielten, zu zeigen, jedes mit einem kleinen, zusammengekauerten Menschen darin. Und jedes dieser Menschlein glich dem jeweiligen Fischer und bat ihn, wobei er ihn Vater nannte, mitgenommen zu werden in die Hütte des Fischers. Die Engel waren von all den fremden Plagen, die von Zeit zu Zeit den Archipel heimsuchten, nicht die übelste, aber sie waren den Insulanern aufgrund ihres Gequassels unerträglich geworden: Man solle nicht stehlen, nicht töten, nicht begehren des Nächsten Weib … Oftmals sagten sich die einheimischen Bootsleute, die menschenfressenden Steine aus ihrer Knabenzeit seien menschlicher gewesen. Nun saßen die Engel wie die Möwen auf den Fensterbrettern, wandten den Kopf dahin und dorthin und schlossen vielleicht sogar Wetten darüber ab, wer siegreich aus einer Sache hervorgehen würde, denn ich konnte öfter mal aus den Augenwinkeln das Funkeln von Münzen sehen, die mit einem Fingerschnippen in die Luft geschleudert und geschickt mit einem Klatschen der rechten Hand auf dem Handrücken der linken wieder aufgefangen wurden. »Kopf!«, riefen die einen, »Zahl!«, die anderen, aber ich habe den Ausgang dieses Kampfes nicht geahnt, bis nicht einer von ihnen einen Schrei ausgestoßen hat — Agonie oder Triumph —, der die ganze Kuppel erschütterte. Seine Münze, die in der Luft durchscheinend wirkte wie die Löwenzahnkugel, hatte er sich selbst mit Wucht ins Fleisch der linken Hand getrieben, wo sie auf der Kante aufgetroffen war. Man konnte gerade eben noch einen Rest des geriffelten Rückens, wie der eines riesigen Fisches, aus dem blutenden Handrücken ragen sehen. Beim Schrei dieses unglücklichen Engels, er durchdrang einen wie ein überlauter Vogelruf, empfing ich von oben den guten Einfall.

Die Sterne des Himmels verleihen uns, den menschlichen Wesen, nicht bloß Stärke und Mut, sie verleihen uns auch Weisheit. Oftmals versenkt ein kleines und flinkes Boot mit gut gesetzten Segeln die schwerfälligen Galionen, die völlig sinnlos mit ihren Kanonen auf Fliegen schießen. Ich erinnerte mich an die Geschichte eines Muezzins, der von seinem Minarett auf einer der Inseln nur herabstieg, um seine Ziegen zu melken. Er hatte gehört und gab diese Worte weiter, dass in anderen Ländern, in der Wüste, ein kleines Geschöpf, dem Wiesel ähnlich, die große Kapuzennatter mittels einer erstaunlichen List bezwingt: Von Angesicht zu Angesicht dem riesigen Schlangentier gegenüber, dessen Augen von der Kapuze verschattet werden, beginnt das Gotteswesen namens Mungo zu tanzen, hoch, nieder, nach rechts, nach links, und das riesige Gewürm tut ein Gleiches, den Kopf erhoben und den Schwanz auf dem Boden eingekringelt. Vor und zurück, nach rechts, nach links, vor und zurück, nach rechts und nach links … immerzu gleich und immerzu einen Zacken schneller, bis die Schlange so weit ist zu glauben, sie wüsste schon einen Moment früher, was ihr Feind nun tun würde. Wenn dann die Geschwindigkeit so groß ist, dass man kaum noch die beiden Köpfe in ihrer gleichartigen Bewegung erkennen kann, verändert der Mungo mit einem Mal die Richtung: Anstatt sich nach rechts zu neigen, neigt er sich nach links, und die Natter, die sich in die andere Richtung neigt, entblößt einen kurzen Augenblick lang ihren Nacken. Nun springt der Mungo ihr blitzschnell in den Rücken und bringt sie mit einem Siegesschrei um.

Das Beispiel dieses Wiesels hat mich neu belebt. Im gleichen Augenblick sprang ich auf die Beine und wandte mich wieder dem großen Ausgang zu, dem einzigen aus unserer Welt. Nun durfte ich mich nicht wundern, dass auch der Wächter aus seinem Schlupfloch wieder auftauchte, entschlossen und anscheinend neuerlich ertüchtigt. Ich blieb einige Minuten reglos stehen, dachte mir, den Kopf gesenkt, die Falle für ihn aus. Ich fügte sie aus vierzig Schritten zusammen, sie gingen in die sechs Richtungen, die der menschliche Geist denken kann: voran, zurück, nach links, nach rechts, Sprung und in die Knie. Schwer zu lernen, aber dann leicht zu merken (denn die Schritte wiederholten sich in einer subtilen Folge, deren Sinn man mit der Zeit begriff), war mein Tanz symmetrisch und von einer feinen Grazie, wie ein Spinnennetz. Als ich den Blick erhob, begegnete ich dem seinen und erriet eine Art Unruhe in seinem Körper. Mit einem Schritt nach links begann ich, langsam wie im Traum, den tödlichen Tanz, den finalen Tanz, den Tanz aller Tänze.

Zehnmal nacheinander stellte ich meine Schrittfalle auf, jedes Mal ein klein wenig schneller werdend als davor, dann weitere zehnmal. Und wieder zehnmal. Das Monster kam den Schritt vor, sprang zurück, beugte seinen Körper fehlerfrei nach rechts und nach links, sprang und beugte die Knie im gleichen Augenblick, in dem ich es tat, mit der Präzision eines Astrolabiums. Ich begann von Neuem mit der gleichen Folge meiner Bewegungen, aber in einem noch schnelleren Rhythmus, bis ich spürte, dass mir die Schultern aus ihrer Halterung sprangen und meine Knie sich auskugelten. Nach der vierzigsten gleichbleibenden Wiederholung, erhitzt, als stünde ich in Flammen, vollführte ich die erste fremde Bewegung. Blitzartig und verblüffend, als wäre mir mit einem Mal eine weitere Hand gewachsen oder aus meinem Körper wäre ein anderer Körper herausgewachsen. Aber das Monstrum beging keinen Fehler. Im gleichen Augenblick, im gleichen Bruchteil eines Augenblicks wandte auch er sich ab vom vertrauten Pfad und schlug den unbekannten Weg ein. Dort begegneten wir uns wieder Brust an Brust, sahen uns wieder in die hasserfüllten Augen, schrammten uns die Haut an der Faust des anderen auf und lösten den Schrei aus am anderen Schrei.

Und ich fing neuerlich an, mit verzehnfachter Kraft. Wieder stellte ich die Falle hunderte, ja tausende Male, wechselte plötzlich auf so viele verschiedene Weisen die Bewegung und derart häufig, dass der Wechsel selbst anfing, Teil des Tanzes zu werden, ebenso leicht zu erraten wie die vierzig Tanzschritte der Falle. Vielleicht lag es daran, dass der Wächter niemals einen Fehler machte, wie schnell meine Bewegungen auch gewesen sein mochten. Tausende Male, abertausende Male, öfter, als es Sandkörner gibt oder Tränen derer, die auf der Welt weinen, begann ich den Tanz von Neuem, ohne zu begreifen, dass ich mir selbst in die Falle gegangen war, und dass ich dort einen minderwertigen und sterilen Tanz tanzte, der nicht zum Sieg führen konnte.

Als ich plötzlich wusste, dass mich die Engel hereingelegt hatten, dass der Kampf kein Kampf war, sondern ein Tanz ohne Anfang und Ende, und ohne Rand, da verzichtete ich auch auf die Falle und die List des Mungos. Ich vergaß den Wächter und tat nichts anderes mehr, als im ewigen Feuer des Tanzes zu leben, ziellos, bedürfnislos und ohne Erinnerungen. Ich tanzte aus Leibeskräften, tanzte mit zwanzig Herzen und acht Armen, tanzte mit tausenden Füßen, tanzte mit den sechs Dimensionen, die aus meinen Nieren erwachsen waren, und mit der Lanze der Zeit, die mir unter der linken Brust herausstach. Bald schon tanzte ich nicht mehr, sondern wurde getanzt, ich steckte lediglich meine Arme und Beine in die Arme und Beine des Tanzes. Ich hatte mit meinem Körper, meinen Därmen und Venen, mit meinem Blut, meiner Galle und meiner Wirbelsäule die gesamte Fläche des großen Portals ausgefüllt und dabei keine Nadelspitze unberührt gelassen von Blut, Sperma, Zähnen und Fingernägeln, tausenden Augen und tausenden Ohren, und tausenden Fingern und tausenden Lippen. Ich tanzte Archimedes’ Spirale, tanzte die goldene Zahl, tanzte die Fibonacci-Folge, tanzte die Lie-Gruppen, tanzte den heiligen Tanz der Quaternionen und Oktonionen. Tanzte die Genese des Raumes auf der Planck-Skala und die Entstehung der Zeit aus der Kausalität, und die widerwärtigen Bildschirme der Bekenstein-Gleichungen und die zehn möglichen, unmöglichen, wahrscheinlichen, unwahrscheinlichen Universen, und das Galaxienpulver von Laniakea, das Pulver vom Pulverpulver an Galaxien, das Pulver vom Pulver des Weltenpulvers … Ich tanzte das im ewigen Anzünden und Löschen nicht erloschene Feuer, das furios den logischen Raum des Denkens verglühen lässt. Tanzte die Ikone der Gottheit aus geschmolzenem Gold.

Nun tanzte ich auf der einen wie auf der anderen Seite des Ausgangs, ich war das Portal, war der Wächter, war das Engelsrund, war der Palast, war das Meer. Hirn, Herz und Geschlecht, bis dahin so oft in Zwietracht miteinander, waren nun ein einziges Organ, dessen Denken ins Fühlen floss und das Fühlen in Befriedigung, und die Befriedigung verwandelte sich wiederum in Denken, und all dies riss mir die Haut auf und ergoss sich in die Haut der Welt und brachte auch diese zum Platzen, um sich verwüstend und wolkenbruchartig und unwiderstehlich in die Ikone des Ganzen zu ergießen, diese ebenfalls zu zersprengen und einzumünden ins ewige und unausdenkliche Nichts.

Als der Tanz endete, befand ich mich wieder auf der Schwelle des großen Portals. Auf der anderen Seite war nun niemand mehr. Aber in mir selbst gab es keinen Grund mehr, einzutreten. Ich wandte mich um und durchmaß noch einmal den Saal unter den Augen der Engel an den Fenstern, ging durch den Porphyrbogen, ging wieder über die langen Flure, nunmehr ohne den Wunsch, eine der Türen zu öffnen. Ich trat hinaus in die allenthalben gleiche Mittagssonne, gelangte jenseits des Felsenrings, an den Feigenbäumen mit ihren violetten Früchten vorbei und erreichte mein an Land gezogenes Boot. Der Archipel mit seinem wie Glas aus vollster Kraft glühenden Meer und seinen bewaldeten Inseln hatte für mich eine Schönheit, die wir zu benennen nicht die Macht besitzen. Ich gelangte auf das Schiff und war sogleich wieder bereit, mich mit meiner von Salz und Stürmen gegerbten Haut den Meeren zu stellen. Und ich habe es bis auf den heutigen Tag auch getan, denn dies ist das Schicksal des Menschen auf Erden. Irgendwann werde ich mich nach Hause zurückziehen, aber so lange nicht, wie ich noch einen Rest von Rüstigkeit in mir verspüre. Und mit meinem letzten Atemzug, die Hand auf der rechten Brustseite über dem furchtlosen Herzen, hoffe ich mir versöhnt sagen zu können: So hat es sein sollen.

Melancolia

Die Stege

Mutter war eines Morgens zum Einkaufen gegangen und nie wieder zurückgekehrt. Seitdem waren Wochen oder Monate vergangen, oder Jahre, jedenfalls waren viele, viele Tage vergangen, die man keinesfalls mehr zählen konnte, alle waren sie gleich, denn vom Augenblick des Verlassens an war alles stumm und erstarrt geblieben, und das Kind hatte schon lange alles Zeitgefühl verloren. Eine Weile noch hatte es sich die Hoffnung bewahrt, dass Mutter zurückkehren würde, dass es mit einem Mal den Schlüssel wieder im Türschloss hören würde wie damals, in den Zeiten, als es alles stehen und liegen ließ, um in den Flur hinauszurennen und die sehr große Frau zu empfangen, die beladen mit Einkaufstaschen durch die Tür hereinkam. »Was hast du mir mitgebracht«, fragte es sie stets und begann, ohne eine Antwort abzuwarten, in ihrer Tasche herumzukramen, um stets in rotes oder grünes Stanniol eingewickelte Bonbons zu finden, Kekse oder ein kleines Schokolädchen mit einem Blumenbild auf der Verpackung.

Wenn ihm so war, als hörte es Schlüsselklimpern, ließ es alles stehen, rannte in den Flur und legte das Ohr an die mit Ölfarbe angestrichene Eingangstür, aber jenseits der Tür war nur ein verlöschendes Rauschen zu hören, der schwarze Luftzug, der durch das Treppenhaus des Wohnblocks wehte. Dann kehrte es enttäuscht in die Küche zurück und legte sich unter dem großen Radio in der Ecke auf den Fußboden, um leise zu weinen. Es kam aber bald wieder zu sich, denn es hatte sich schließlich an sein neues Leben gewöhnt, das eines traurigen und seltsamen Zaubers nicht entbehrte.

Es lebte schon seit endlos langer Zeit allein in dem leeren Apartment, das in seiner Rätselhaftigkeit erstarrt war, in seinen Linien, die sich lediglich aufgrund der perspektivischen Illusion veränderten, wenn das Kind durch die stets weit offenen Türen von einem Zimmer ins andere ging. Das Apartment war bescheiden, im Besitz einfacher und nicht sehr wohlhabender Leute. Die Wände waren mit naiven Mustern bemalt, die sich endlos wiederholten, in jedem Zimmer anders, wie auf der Rückseite des Spiels mit den Märchenbildern, die sich aus viereckigen Kartonstücken zu den märchenhaften Szenen aus der Schneekönigin oder des Holundermärchens zusammensetzten. Jedes einzelne Möbelstück war unter großen Opfern und getrennt vom Rest der Möblierung angeschafft worden, aber merkwürdigerweise verloren diese Stücke nach einiger Zeit jedweden Stolz eines solitären Objekts und verschmolzen mit den anderen, den Tischen und Sofas und Anrichten und Regalen und Spiegel-Garderoben und mit den Stühlen, indem sie sich genau dort niederließen, wo sie hingehörten und sie auch zu sein hatten, ja, dort erstarrten sie ein für alle Mal. Von einem bestimmten Moment an tauchte kein weiteres Möbelstück mehr auf, und der Junge meinte mitunter, das Verschwinden der Mutter habe mit der Vollendung zu tun, welche die Wohnung erreicht hatte. Da war nichts mehr, was man hereinbringen hätte können, nicht einmal die Bonbons in den bunten Stanniolverpackungen oder der metallene Bart des Schlüssels für die Wohnungstür.

Die Wohnung war komplett und die Stille vollkommen. Den ganzen Tag, vom Aufwachen und bis es sich wieder zum Schlafen niederlegte, hatte das Kind nichts anderes zu tun, als von einem Zimmer ins andere zu gehen, sich jeden einzelnen Gegenstand anzuschauen, jede noch so geringe Einzelheit, die es früher ganz und gar ignoriert hatte, und die sich jetzt als tausende Gesichter der Monotonie zu erkennen gaben. In der Küche klatschten seine nackten Fußsohlen über den Mosaikboden, in dem es stets merkwürdige Gesichter und Konstruktionen zu sehen meinte, es betrachtete die rot verkitteten Rohre unter dem Spülbecken, berührte die Wergfäden, die steif und verkleistert aus dem Kitt herausragten, schaute sich die elektrischen Verteilerdosen an den Wänden an, über die der Anstreicher etwas nachlässig mit seinem Rundpinsel hinweggestrichen hatte, und die Lüftungsgitter, die von rußig-schwarzen Spinnweben überzogen waren. Vor allem der uralte grüne Küchenschrank mit den angeschlagenen Scheiben, auf dem ein paar Porzellanvasen standen, an die man niemals hinauflangte, selbst dann nicht, wenn man den Stuhl anstellte, übte eine starke Anziehungskraft auf das Kind aus, denn er sah nicht nur so alt und seltsam aus, sondern er roch auch alt, nach Staub, Fliegengift und Ölfarbe, so dass man den Wunsch verspürte, seine klemmenden Schubfächer herauszuziehen, um einen Korken wiederzufinden, auf dem etwas Unerklärliches geschrieben stand, oder eine aufgrund von Schmutz und Rost nicht benutzbare Feile, ein Stück weggebrochenen Hartgummis: der Griff irgendeines Schraubenziehers, dessen Metallteil in einer anderen Schublade zu finden war … Dort befand sich auch die Fenstertür zum Balkon hin, die aber tagsüber abgesperrt war. Durch ihre Scheiben konnte man die Spitzen der Pappelkronen voller Flaum sehen und dahinter einen riesigen Backsteinbau mit unzähligen vergitterten Fenstern, die Kautschukfabrik Quadrat. Auf dessen Frontispiz, das die Wolken zerriss, gab es ein großes rundes Fenster. Bevor die Mutter verschwand, sah das Kind hin und wieder die Umrisse eines Menschen sich vor dem großen dunklen Kreis abzeichnen, dessen Kopf auch nur bis knapp unter die Mitte des Runds reichte: ein Arbeiter, der in dieser unfassbaren Höhe zum Rauchen hinausgegangen war. Manchmal winkte ihm das Kind vom Balkon aus, und der Arbeiter winkte mit sehr viel weiter ausgreifenden Handbewegungen zurück. Danach aber sah es dort niemanden mehr. Die Küche war hell, am Morgen beinahe durchsichtig, wurde leblos gegen Mittag und wie eine Zeichnung, während abends sich das Licht darin beinahe blutrot verfinsterte und die Wände mit dunkel bernsteinfarbenen Streifen überzog. Manchmal verharrte das Kind stundenlang, um den Einfluss dieser Lichtveränderungen auf das Muster des Wachstuchs auf dem Küchentisch zu beobachten: Stieglitze, Kanarienvögel, blaue Vögel mit unbekanntem Namen, die sich mit Maden und Hirschkäfern abwechselten. Es hatte es geschafft, den genauen Zeitpunkt zu erwischen, an dem die Zeichnung dreidimensional wurde und sich so schön über dem Tisch erhob, dass man glauben mochte, die Insekten und Vögel seien lebendig. Spätabends, wenn die Sonne hinter der Fabrik versank, blieb von dem Wachstuch nur noch ein verdämmernder Glanz im Halbschatten der Stube sowie der plötzlich wie eine aufgeblühte Magnolie in der ganzen Küche sich ausbreitende chemische Geruch.

Der Flur hinter der Eingangstür war schäbig, lang und dunkel. An der Wand hing ein Bild mit etwas Unerkennbarem unter der mit Fliegenschiss bedeckten Glasscheibe. Auch gab es ein paar eingeschwärzte Fäden, die da und dort mit einer Art Reißnägeln an die Wand gepinnt worden waren, eigentlich Nägelchen mit einem runden Kartonkopf, und ein Sicherungskasten, an dem das Kind niemals etwas zu suchen hatte, jetzt aber machte es sich doch hin und wieder daran zu schaffen, denn da war niemand mehr, der geschimpft hätte. Jetzt verbrachte es seine Zeit damit, dass es die großen Porzellanknöpfe aus ihren metallenen Fassungen schraubte, ihre rauhe und ihre emaillierte Oberfläche betrachtete, die kupfernen Plättchen und Drahtfäden, die von dem einen Pol zu seinem ferneren Gegenüber führten. Was für ein eigenartiges Knirschen dieses Herausschrauben aus dem Kasten verursachte! Es legte sie auf den Boden, ließ sie aneinanderstoßen und freute sich über das Geräusch, das diese Marmorwalzen dabei hören ließen. Vom Flur ging auch die Abstellkammer voll alter Säcke und Kleidungsstücke ab, in der das Kind oftmals in vollkommener Dunkelheit verharrte. Denn wenn man die beiden schmalen, in der gleichen weißen Ölfarbe gestrichenen Türen schloss, gab es auch nicht den allerkleinsten Lichtstrahl mehr. Dort konnte man im Geruch der alten Steppdecken und schiefgetretenen Schuhe ausharren, bis man es mit der Angst zu tun bekam, besser also, man nahm zwei runde Steine und schlug sie aneinander, um sich an den fahlen Funken zu erfreuen, die sie freisetzten und in denen man für einen Augenblick die wie aufgedunsenen Wände der Kammer sehen konnte. Aber die meiste Zeit des Tages verbrachte das Kind im Wohnzimmer.

Es war das größte Zimmer der Wohnung. Und es war immerzu gleich, immer gleich. Und wenn der Junge Unordnung machte, die Teile seines Spiels auf dem Tisch liegen ließ oder die Teppiche verrückt hatte, am nächsten Tag war alles wie zuvor. An den Wohnzimmerwänden standen Möbelstücke auf dünnen Beinen, billige Möbel, schlampig lackiert: Schränke, eine Anrichte, auf der das große Radio stand, ein Sofa mit einer Fransendecke, ein Bücherregal mit ein paar Büchern darin und mehreren hässlichen Nippfiguren, die dem Kind jedoch gefielen. Innen waren sie hohl, wenn man sie hochhob, sah man das Loch im Boden und konnte den Finger hineinstecken. Man konnte sie innen bis dahin betasten, wo man hinlangte, sie waren ebenso wie außen, nur umgekehrt. Und ihr Inneres war rauher, ohne den Glanz der äußeren Oberfläche. Der Junge hatte auch in den Büchern gelesen, aber es waren Bücher, die ihn nicht interessierten, und die meisten konnte man gar nicht lesen, sie waren voller Planskizzen, Tabellen mit Zahlen, keine Märchen oder Abenteuergeschichten. Es waren Bücher für Erwachsene. Von nun an stand ihm die Ewigkeit zur Verfügung, aber was auch immer dies bedeuten mochte, er wusste, dass er die meisten dieser Bücher auf den Regalen niemals lesen würde. Eines hatte in der Mitte ein Bündel dickerer und glänzender Blätter mit Fotos. Leute, die unverständliche Dinge taten. Ein weiteres hatte einen schwarzen Umschlag, auf dem mit grünen Buchstaben Der Narr aus Brent stand. Ein drittes hatte keine Fotos, sondern lediglich Zeichnungen in schwarzer Tusche. Es hieß Blaue Abende. Das dickste trug den Titel horizontal über dem Rücken — Der unkeusche Tod. Ihr Inhalt änderte sich nie. Man konnte ein Buch hundert Male bei der ersten Seite aufschlagen: Dort standen immerzu die gleichen Wörter, immer die gleichen, immer die gleichen Wörter. Und dies geschah auf jeder Seite. Die Bücher befanden sich hinter Glasscheiben, die man aufschieben konnte. Und unter den Scheiben gab es einen Unterbau, der sich etwa einen halben Meter vom Parkett erhob, auf den der Junge hinaufstieg und stundenlang dort sitzen blieb, denn das Bücherregal war für ihn nicht so sehr der Ort mit den Nippfiguren und den Büchern als vielmehr ein Möbelstück, auf das man hinaufklettern konnte. Er saß ganze Nachmittage auf dem Bücherregal, schaute ins Wohnzimmer und hielt die Arme vor der Brust verschränkt. Auf diese Weise hatte er ein Fenster im Blick, das ebenfalls auf die Kautschukfabrik hinausging, die man dadurch allerdings nur ganz vage erkennen konnte, denn der von einem vergilbten Holzrahmen herabhängende Vorhang war beinahe schwarz vor Staub. Von oben, vom Absatz des Bücherregals her, hatte das Kind den Anblick des gesamten, in Erstarrung versunkenen Wohnzimmers vor Augen. Jede hier vorhandene Form war schneidend und perfekt, jede Möbelecke funkelte in grenzenloser Einsamkeit. Die Luft war kalt und verschwiegen. Unbegreiflich welkte das Licht auf den Abend hin.

Wenn draußen die Abenddämmerung herabsank, wurde die Luft im Wohnzimmer kaffeebraun, delikat, und die Stille drückte das Kind mit all ihren Kräften. Satt, das große Makramee unter der Glasscheibe auf dem von den Stühlen umringten Tisch in der Mitte des Raumes zu betrachten, ging er in die Ecke und schaltete das Radio ein. Er hörte bis in die Nacht hinein alte und nostalgische, von großen Jazzorchestern gespielte und von verträumten Frauenstimmen gesungene Lieder, Melodien, die eine in die andere übergingen, ohne Unterbrechung, und die er mittlerweile auswendig wusste, denn es waren immerzu die gleichen fünfzehn oder zwanzig Lieder, die sich stets in der gleichen Abfolge wiederholten. Die Worte waren nicht zu verstehen, es war eine Fremdsprache, aber das Kind kannte sie ohnehin Wort für Wort: »hari nabil at roe vazalaa, nabil roe azul …« oder »govagna mag, zu de ne maghi …«. Dort saß es stundenlang gebeugt auf dem Fußboden, lauschte der Stimme im Radio und murmelte mit ihr, bis die Nacht hereingebrochen war und aus dem magischen Auge des Radios und vom unsichtbaren Birnchen her, das die Senderanzeige mit den Wellenlängen und den unbekannten Städtenamen beleuchtete, sich ein Licht wie aus einer anderen Welt über die Haarlocken des Kindes und über sein schmales Gesicht mit den murmelnden Lippen ergoss. Jenes Licht war für ihn nicht von der Musik zu trennen, und das alte, sehr raumgreifende Radio mit den Elfenbeinklappen und dem tiefgrünen magischen Auge war umso wertvoller, als es die einzige Störung in dem hermetischen und schier luftdicht abgeschlossenen Apartment produzierte, in dem der Junge zu leben hatte. Davor auf dem Fußboden kauernd, von den lackierten Türen der Anrichte zurückgeworfen, schien sich der Junge vor einem hypnotischen und rohen Idol zu verbeugen, der Melancholie.

Als er schlafen ging, kamen die ersten Sterne heraus. Er benutzte nicht mehr wie früher das Bett in seinem straßenseitigen Zimmer. Seit Mutter nicht mehr zurückgekehrt war, schlief er in ihrem Bett, in dem kleinen Zimmer auf der Rückseite des Wohnblocks. Ihr großes besticktes Kissen mochte er sehr, ebenso die Steppdecke aus gelbem Satin, die in einem gestärkten Überzug steckte, der mittig einen großen Rhombus wunderbar glänzenden Satins sehen ließ. Dort, die Decke über den Kopf gezogen, wiegte er sich eine Weile und spürte, wie die Müdigkeit in seinem Körper vibrierte. Bevor er einschlief, spürte er stets, dass das gesamte Apartment gemächlich wie ein Schiff auf einem berechenbaren und gemächlichen Meer schaukelte.

Morgens drang durch die breiten Fenster blendendes Sonnenlicht in die Räume und ließ jede Fläche funkeln, jedes einzelne Staubfädchen auf den Tischen und Nachtkästchen sehen, den in der Luft spiralförmig wie aufsteigender Zigarettenrauch tanzenden Staub. Dann ging die Luft rückstandslos ins vormittägliche Strahlen über. Es gab so viel Licht, dass das Kind, nachdem es noch im Bett liegend die Augen aufgeschlagen hatte, sich genötigt sah, sie gleich wieder zu schließen, um dann, aufgestanden, tollpatschig mit verklebten Augenlidern im Pyjama durch die entflammten Räume zu tapsen. Erst wenn er ins Bad gegangen war und sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser gewaschen hatte, kam er zu sich, und nun war auch sein Geist plötzlich erfüllt von jenem so zarten wie kalten Licht. Er schaute sich um, fuhr mit den Fingern über die süße Porzellanschicht der Wanne, die er nicht mehr benötigte, über die rauhen Handtücher, an denen jeder einzelne Faden hart und trocken war, und blieb mit dem Blick an der wulstigen Polsterung des Toilettenstuhls hängen, der mit großen Metallschrauben am Fußboden befestigt war: Wozu diente dieser unbegreifliche Gegenstand? Er erinnerte sich undeutlich an die Zeiten, da er sich auf den weichen Ring gesetzt hatte, und dann … folgte etwas, dessen sein Körper nicht mehr bedurfte und das sein Geist vergessen hatte. Ein leicht zitterndes Wasserauge befand sich am Grunde des weißen Gegenstands mit dem erhobenen blauen Deckel.

Das Kind hielt sich morgens lange im Bad auf, denn dort konnte es in den Spiegel schauen. Es konnte sich zwar nur in der unteren Hälfte des großen Spiegels über dem Waschbecken und dort auch bloß bis zum Schlüsselbein sehen. Aber es betrachtete sehr einlässlich sein schmales Gesicht, das nichts aufwies, was ihm hätte gefallen können, die dunkel verhangenen Augen, die gerade Nase, Lippen, die etwas zu voll waren für einen Jungen. Er schaute sich den zerbrechlichen Hals an, unter dessen Haut sich die Muskeln abzeichneten, die den Kopf in die eine und in die andere Richtung drehten. Er schaute sich in die Augen und versuchte, sich wenigstens an ein paar Dinge aus seinem früheren Leben zu erinnern, zumindest daran, wie er hieß und wie alt er war. Aber die Erinnerungen, die ihm durch den Kopf irrlichterten und ihn hin und wieder unvermittelt mit der intensiven und heftig schmerzenden Flamme der Nostalgie erfüllten, verwehten, noch bevor er sich etwas von ihnen hätte merken können, als hätte der Junge ein paar reife Früchte in den Händen gehabt, die verschwanden, bevor er sie hätte zum Mund führen und verkosten können. Seine schwarzen, gewellten Haare waren noch eine Weile gewachsen, dann blieben sie stets gleich und rahmten sein stummes ernsthaftes Gesicht ein. Unter den Augen hatte er bläuliche, delikat konturierte Ringe. Die Regenbogenhaut seiner Augen war haselnussfarben und klar. Wer war er? Seine sofort wieder aufgelösten Erinnerungen — als wären sie aus einem anderen Leben zu ihm gelangt — wirkten auf ihn wie diese Kartonstückchen, mit denen er endlos spielte und auf dem Wohnzimmertisch Bilder mit Prinzen, Schlössern und Mädchen in Glassärgen auslegte. Sein eigenes Antlitz im Spiegel sagte ihm nicht genug, obwohl es ihm anscheinend jeden Tag mehr sagte, als wäre er Tag für Tag in ein großes leeres Museum gegangen, das nur ein einziges Porträt beherbergte, zu dem man aber erst gelangte, nachdem man endlose Räume und Flure durchmessen hatte, aber dieser ganze Weg wäre einem durch die Subtilität, die Großartigkeit und Rätselhaftigkeit jenes einen Gemäldes mehr als reichlich vergütet worden, an dem man sich niemals hätte sattsehen können. Er löste sich nur schwer aus dem Blick seiner eigenen Augen, und dann auch nur, um sogleich seinem alltäglichen Ritual gemäß in das straßenseitige Zimmer zu rennen, sein früheres Zimmer, in dem sich Dinge zugetragen hatten — er erinnerte sich daran wie an einen Traum —, die er am liebsten weggedrückt hätte, etwa so, wie man sich mit ausgestreckten Händen gegen einen bedrückenden und unerträglichen Gedanken wehrt. Er hätte alles hingegeben, um möglichst viel von seinem früheren Leben zurückzugewinnen, bloß das, was er im vorderen Zimmer erlebt hatte und sich bei ihm hin und wieder in einer Art Aufwallung ohne Tatsachenhintergrund und Gesichter wieder einstellte, das sollte nicht dabei sein.

Es war an den Vormittagen das hellste Zimmer. Eigentlich brachte es rein gar nichts, es so zu nennen, die gesamte Wohnung war hell. Im vorderen Zimmer allerdings war das Licht wie ein weißglühendes Gas, das die Möbel und Wände und die Fensterbretter und die großen Fensterflächen bis auf die Knochen zernagte. Das Wort »Licht« wirkte finster und verdrossen angesichts des irrealen Leuchtens dieser blendenden Strahlen, des Nimbus, in den sich die Kanten der Dinge kleideten, die wenigen Reste, die von ihnen noch übrig geblieben waren. Bis zur Auflösung strahlten der gelbe Schrank, der gelbe Tisch, die gelben Regale, die gelben Sockelleisten unter den Regalen. Der bescheidene »mechanische« Perserteppich glühte, Mutter hatte ihn einmal so genannt, um ihn von den vornehmen handgeknüpften Teppichen zu unterscheiden. Es glühte das sich wiederholende Muster der Wandbemalung: Blumensträußchen. Vor allem aber glühte, selbstverständlich, der große Spiegel am gelben Waschbecken, vor den das Kind jeden Morgen hintrat, um sich in Gänze zu sehen. Es zog die Pyjamabluse aus und ließ sie auf den Boden fallen. Die Bluse, dünn wie Papier und ebenso durchscheinend, sank endlos lange hinab und erreichte den Teppich gar nicht mehr, denn sie fing Feuer und ging auf im Raumlicht, nur ein fahler Rauchfaden hing noch eine Weile in der Luft. Er zog auch die Hose aus und stand dann so da, klein und nackt, der Kopf etwas zu groß geraten für solch einen kleinen zerbrechlichen Körper, als wäre er viel jünger, als er es tatsächlich war. Es war nicht eben leicht, sich selbst zu sehen, so verwoben und verschmolzen mit dem flammenden Viereck des Spiegels, mit dem er sich anfangs vollends verwechselt hatte. Erst ganz allmählich lösten sich leicht orange Schatten aus dem allgemeinen Gold, und schließlich erhielten die Schultern, Arme, Rippen, der Bauch, die Hüften und die Beine Kontur, ohne jemals auch Realität zu erlangen. Nachdem es endlos dieses goldene Fenster betrachtet, nachdem es mit den Fingern die eigenen Fingerspitzen berührt hatte, mit einem Mal von Traurigkeit überwältigt die Wange an die eigene Wange gelegt hatte, riss sich das Kind aus der Faszination und zog sich an einen schattigeren Ort zurück, aber es bewahrte sich noch lange einen grünen, fluoreszierenden Punkt mit dem Umriss eines Kinderkörpers auf der Netzhaut. Als hätte es dieses fremde Kind durch die Wohnung getragen, ihm eines nach dem anderen die Zimmer gezeigt, wie einem Freund aus längst vergangenen Zeiten.

Das Licht dieser Vormittage verlosch gegen Mittag, da die Zimmer ihr Leben verloren und wie gemalt wirkten. Dann hatte das Kind ein ganz seltsames Gefühl, als lebte es in einer Illustrierten. Die Stille war total, und keine Bewegung rührte an die Wohnung. Jeder Gegenstand stand still an seinem Platz, als hätte er ein unbeugsames Gesetz vom Anfang der Welt her befolgt, und dies hätte ihm abverlangt zu sein, was er ist und immerzu war, unverändert, ohne abgeschlagene Ränder und beschädigte Kanten, ohne Schäden in der Färbung der Oberflächen. Das Wohnzimmer war nun platt, in Kaffeebraun und Olive gestrichen, und so würde es bleiben bis zum Abend.

Jetzt spielte er. Er hatte ein weißes Pferdchen aus Leinen, das mit etwas Knotigem gefüllt war, auch hatte es eine braune Mähne aus Zwirnsfäden und einen rotlackierten Sattel. Dann hatte er noch einen Clown namens Hubert. Hubert hatte sternförmige Augen und einen Mund mit sehr wulstigen geschminkten Lippen. Und er hatte noch eine hölzerne, blau angestrichene Katze mit Menschengesicht. Eine Zeit lang dachte er sich Geschichten mit den drei Spielzeugen aus, aber diese Geschichten konnten so verschieden sein, wie sie wollten, jedes Spielzeug behielt sein anfängliches Wesen: Das Pferdchen war stets gut, Hubert war böse, und die Katze sprang dem Pferdchen bei, befreite es aus dem Gefängnis, in das es der Possenreißer geworfen hatte, sprengte die Ketten, in das es gelegt worden war, und gab ihm das Augenlicht zurück, das Hubert ihm mit äußerster Grausamkeit geraubt hatte. Wenn er spielte, vergaß der Junge alles um sich herum. Er war reihum das Pferdchen, Hubert und die Katze. Oder, besser gesagt, er war ihre Bühne, ihr Theater, in dem stets die gleiche Geschichte gespielt wurde: Das Pferdchen wurde immer und immer wieder auf jede erdenkliche Weise vom Clown gequält und gemartert, einfach so, ohne jede Erklärung und völlig grundlos, einzig und allein, weil Hubert böse war. Und die blaue Katze mit Menschengesicht kämpfte mit ihm, sie vertrieb ihn und befreite das Pferdchen. Der Clown aber kehrte wieder, dem konnte man nicht entkommen. Die Lackschicht auf der Schnauze der Katze war dahin, denn im Kampf schlug das Clownsgesicht mit aller Macht auf sie ein, und dort, wo einstmals mit leuchtender Tusche die Barthaare und die rosenfarbenen Lippen gemalt waren, konnte man jetzt nur noch das blanke Holz sehen.