Der Kreis der Rabenvögel - Kate Mosse - E-Book

Der Kreis der Rabenvögel E-Book

Kate Mosse

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Beschreibung

Mit ihrem neuen Roman "Der Kreis der Rabenvögel" gelingt der international gefeierten Bestseller-Autorin Kate Mosse erneut ein großartiger Wurf: Ein historischer Spannungs-Roman mit Schauerelementen um eine faszinierende Heldin und ein dunkles Geheimnis. England, 1912: Connie, die Tochter des Tierpräparators Gifford, lebt zurückgezogen mit ihrem Vater in der Nähe des kleinen Dorfes Fishbourne. Connie kann sich seit einem Sturz vor vielen Jahren nicht mehr an ihre Kindheit erinnern; ihr Vater verweigert jegliche Auskunft. Connie spürt, dass etwas nicht stimmt, denn erste Erinnerungsfetzen kehren zurück, sie fühlt sich beobachtet und verfolgt. Als man eine Leiche in den Sümpfen findet, holt die Vergangenheit Connie, ihren Vater und eine Reihe scheinbar unbescholtener Bürger auf grausame Weise ein. "Kate Mosses bestes Buch." Daily Telegraph "Mosse entwirft eine bravouröse Szene nach der anderen. Dieses Buch steckt voller Herzblut und grandioser Twists. Die unvergessliche Heldin und das spannungsgeladene Geheimnis wird Ihre Gedanken noch lange nach dem Umblättern der letzten Seite beschäftigen." The Independent

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Seitenzahl: 455

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Kate Mosse

Im Kreis der Rabenvögel

Roman

Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

Knaur e-books

Über dieses Buch

England, 1912. Connie, die Tochter des Tierpräparators Gifford, lebt zurückgezogen mit ihrem Vater in der Nähe des kleinen Dorfes Fishbourne. Connie kann sich seit einem Sturz vor vielen Jahren nicht mehr an ihre Kindheit erinnern; ihr Vater verweigert jegliche Auskunft. Connie spürt, dass etwas nicht stimmt, denn erste Erinnerungsfetzen kehren zurück, sie fühlt sich beobachtet und verfolgt. Als man eine Leiche in den Sümpfen findet, holt die Vergangenheit Connie, ihren Vater und eine Reihe scheinbar unbescholtener Bürger auf grausame Weise ein.

»Kate Mosses bestes Buch.«Daily Telegraph

Inhaltsübersicht

WidmungMottoPrologTeil IKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Teil IIKapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Teil IIIKapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Kapitel 50Kapitel 51EpilogDanksagung
[home]

Wie immer für meine Liebsten, Greg, Martha und Felix

 

Und auch für meine wunderbaren Nichten und Neffen,

Emma, Anthony (alias Gizz), Richard, Jessica,

Lottie, Bryony, TH, Toby, EH und Zackary

[home]

Mir fällt ein Apotheker ein; er wohnt hier irgendwo …

Ein Schildpatt hing in seinem dürftgen Laden,

Ein ausgestopftes Krokodil und Häute

Von missgestalten Fischen.

William Shakespeare, Romeo und Julia, 1597

 

Die Nacht des heil’gen Markus naht

Erwidert bang die Maid,

Von alters her die Sage ward,

Sie bringe großes Leid.

Denn wenn der Glocke Ton entflieht

Zur Stund der Mitternacht,

Ein Zug verfluchter Seelen zieht

Gespenstisch durch die Nacht.

In düst’rer Prozession sie wallen

So leis und bleich und stumm,

Die bald dem Tod anheimgefallen

Noch eh das Jahr ist um.

James Montgomery, The Vigil of St Mark, 1813

 

Lass deine Erzählungen aus dem Land unter deinen Füßen erwachsen.

Willa Cather, circa 1912

[home]

Prolog

April 1912

Kirche St. Peter & St. Mary

Marschland von Fishbourne

Sussex

Mittwoch, 24. April

 

Mitternacht.

Männer versammeln sich schweigend auf dem Friedhof der Kirche St. Peter & St. Mary am Rande des überfluteten Marschlandes. Beobachtend, wartend.

Es herrscht nämlich der Glaube, dass man in der Nacht vor dem Tag des hl. Markus zur vollen Stunde sehen kann, wie die Geister derer, denen bestimmt ist, im kommenden Jahr zu sterben, in die Kirche Einzug halten. Ein alter Glaube, der in den meisten Teilen von Sussex längst verschwunden ist, aber nicht hier. Nicht hier, wo das Salzwasserästuar hinaus ins Meer führt. Nicht hier, im Schatten der alten Salzmühle und der ausgebrannten Ruine der Farhill-Mühle, deren verrottende Holzbalken bei jeder Ebbe zum Vorschein kommen. Hier hat der alte Aberglaube seine Macht noch nicht verloren.

Haut, Blut, Knochen.

Draußen auf dem Meer stoßen die Brachvögel und Möwen seltsame und unheimliche Schreie in die Nacht. Die Flut steigt rasch, höher und höher, überschwemmt Schlickwatt und Salzwiesen, bis nichts mehr zu sehen ist als das tiefe, bewegte Wasser. Regen trommelt auf schwarze Regenschirme und auf die Stoffmützen der Farmarbeiter und Milchmänner und Schmiede. Tropft zwischen Nacken und Kragen, Haut und Stoff. Niemand spricht. Die Flammen in den Laternen flackern und zucken, werfen verzerrte Schatten auf die Steinfassade der Kirche.

Dies ist kein Ort für die Lebenden.

Die Tochter des Tierpräparators steht verborgen im Schatten der Zypressen, nachdem sie ihrem Vater über die Marsch hierher gefolgt ist. Connie sieht Gifford mit einigen Männern zusammen am Portal stehen und wundert sich. Er meidet Freundschaften. Wie Einsiedler leben sie auf der anderen Seite des Flusses, in einem Haus voll mit Fellen und Federn, Glasglocken und schwarzen Knopfaugen, Draht und Baumwolle und Werg, allem, was von Giffords einst berühmtem Taxidermie-Museum übrig geblieben ist. Ein gebrochener und zügelloser Mann, vom Alkohol zerstört.

Aber diese Nacht ist anders. Connie spürt, dass er diese Männer kennt und sie ihn kennen. Dass irgendetwas sie alle miteinander verbindet.

… Denn wenn der Glocke Ton entflieht

Zur Stund der Mitternacht,

Ein Zug verfluchter Seelen zieht

Gespenstisch durch die Nacht

Die Worte des Gedichts, das sie mal in der Schule auswendig lernen musste, drängen sich ihr von ganz allein in den Sinn. Eine kurze Ahnung aus den verschwundenen Tagen. Connie versucht, die Erinnerung festzuhalten, aber wie immer verblasst sie zu Rauch, ehe sie sie fassen kann.

Der Regen ist stärker geworden, prasselt jetzt auf die grauen Grabsteine und die wasserdichten Umhänge und Mäntel. Feuchtigkeit dringt durch die Sohlen von Connies Stiefeln. Wind ist aufgekommen und lässt ihr den Rock um die Knöchel flattern. Sie versucht, nicht an die Toten zu denken, die in der kalten Erde unter ihren Füßen liegen.

Dann das Flüstern eines Mannes. Eine gebildete Stimme. Drängend, ängstlich.

»Ist sie hier?«

Connie späht durch die Zweige in den Nebel, aber sie kann nicht sagen, aus wessen Mund die Frage kam und ob sie an jemand Bestimmtes gerichtet war. Es folgt jedenfalls keine Antwort.

Sie ist erstaunt, wie viele den Weg hierher gefunden haben, noch dazu in einer solchen Nacht. Die meisten erkennt sie im Schein der Lampe, die über dem Portal hängt. Die alten Dorffamilien – die Barkers und die Josephs, die Boys und die Lintotts und die Reedmans. Nur wenige Frauen sind dabei. Außerdem, soweit sie sehen kann, drei oder vier Gentlemen, die sich durch den eleganten Schnitt ihrer Kleidung von den anderen abheben. Einer ist besonders groß und breitschultrig.

Sie kennt sie nicht, und in dieser ländlichen Umgebung wirken sie fehl am Platze. Geschäftsmänner, Ärzte oder Makler, Männer, deren Namen während der Pferderennwoche von Goodwood die Lokalzeitung schmücken.

Connie fröstelt. Ihre Schultern sind schwer vom Regen, und sie hat kein Gefühl mehr in den Füßen, aber sie wagt es nicht, sich zu bewegen. Sie hat Angst, bemerkt zu werden. Ihre Augen huschen zu ihrem Vater zurück, doch Gifford steht nicht mehr an derselben Stelle, und in der Menge kann sie ihn nirgends entdecken. Ist er vielleicht in die Kirche gegangen?

Die Minuten verstreichen.

Dann eine Bewegung im hinteren Teil des Friedhofs. Connie hält den Atem an. Die Frau kehrt ihr den Rücken zu, und das Gesicht ist unter ihrem Merry-Widow-Hut verborgen, aber vom äußeren Erscheinungsbild her kommt sie Connie irgendwie bekannt vor. Regentropfen glänzen auf den schillernden Federn an ihrem breitkrempigen Hut. Auch sie erweckt den Eindruck, als würde sie sich verstecken, so wie sie da zwischen den Bäumen steht. Connie ist fast sicher, dieselbe Frau letzte Woche auf dem Marschland gesehen zu haben. Sie erkennt den Mantel wieder, doppelt gesäumt und tailliert.

Niemand kommt je zum Blackthorn House. Sie haben nur wenige Nachbarn in der Nähe, und mit den Leuten im Dorf pflegt ihr Vater keinen Umgang. Aber letzten Mittwoch hat Connie eine Frau bemerkt, die, von den hohen Rohrkolben halb verborgen, auf dem Pfad stand und das Haus beobachtete. Ein schöner, blauer, doppelt gesäumter Wollmantel über einem grünen Kleid, dessen Saum allerdings mit Schlamm bespritzt war. Straußenfedern und ein Netzschleier, der ihr Gesicht verdeckte. Eine hohe, schlanke Silhouette. Eine Erscheinung, die man ganz und gar nicht auf den überfluteten Feldern erwartet hätte.

Sie ging davon aus, dass die Frau an die Haustür kommen und sich vorstellen würde, dass sie einen Grund hatte, hier zu sein. Jemand, der neu im Dorf war und eine Einladung überbringen, sich vorstellen wollte? Connie wartete, aber nach einigen Minuten der Unschlüssigkeit drehte die Frau sich um und verschwand in den regnerischen Nachmittag.

Jetzt wünschte Connie, sie wäre hinausgegangen und hätte ihre zögerliche Besucherin angesprochen. Sie nach dem Grund ihres Kommens gefragt.

»Ist sie hier?«

Geflüsterte Worte in der Dunkelheit holen Connie aus der vergangenen Woche zurück auf diesen kalten, nassen Friedhof. Dieselben Worte, aber eine andere Frage.

Die Glocke beginnt zu läuten, hallt weit hinaus über die wilde Landzunge. Alle Köpfe drehen sich, jedes Augenpaar ist jetzt auf die Westtür der kleinen Kirche gerichtet.

Blut, Haut, Knochen.

Auch Connie kann den Blick nicht abwenden. Ist es ihre Einbildung, dass die Menschenmenge zurückweicht, um jenen, die gekommen sind – Erscheinungen, Geister – den Weg in die Kirche zu öffnen? Sie sträubt sich gegen einen solchen Aberglauben, doch irgendetwas geschieht, eine Bewegung in Nebel und Luft. Ein Zeichen von denen, die die Hand des Todes auf ihren Schultern gespürt haben? Oder eine optische Täuschung durch das Licht der im Wind schwankenden Lampe über der Tür? Connie lässt sich eigentlich nicht leicht beeindrucken, aber diese Ahnung einer Prophezeiung geht auch ihr unter die Haut.

Dies ist kein Ort für die Toten.

Von ihrem Versteck aus versucht Connie, an den Schultern und Rücken der Männer und dem Baldachin aus Regenschirmen vorbeizuschauen. Eine Erinnerung, tief vergraben, flammt plötzlich in ihr auf. Schwarze Hosen und Schuhe. Das Herz trommelt ihr gegen die Rippen, aber der Erinnerungsblitz ist bereits wieder erloschen.

Jemand murmelt halblaut vor sich hin. Eine wütende Klage. Connie biegt mit den Händen die Zypressenzweige auseinander, um besser sehen zu können. Rempeln und Schieben, lauter werdende Männerstimmen. Das Geräusch der Kirchentür, die aufgerissen wird, in den Angeln schwingend irgendwo anschlägt, und die Männer drängen hinein.

Suchen sie jemanden? Jagen sie jemanden? Connie weiß nur, dass der Friedhof plötzlich leerer wirkt.

Die Glocke läutet jetzt lauter, holt ihr eigenes Echo ein und verlängert die Töne. Dann ein Schrei. Irgendwer flucht. Hände fuchteln in der feuchten Abendluft. Ein Huschen, etwas kommt aus der Kirche geschwirrt, wilde Bewegung. Connie macht einen Schritt nach vorne, will unbedingt sehen, was da geschieht.

Keine Geister oder Phantasmen, bloß Vögel. Ein flatternder Schwarm kleiner Vögel, die blindlings aus ihrem Gefängnis fliehen, in ihrem verzweifelten Freiheitsstreben gegen Hüte und Grabsteine und Mauern fliegen.

Noch immer läutet die Glocke. Zehn Schläge der Uhr, elf.

In dem Wirrwarr bemerkt niemand die schwarz behandschuhte Hand. Niemand sieht den Draht, der sich um den Hals legt, den brutalen Ruck. Grausam, entschlossen. Blut perlt, wie eine enge rote Halskette auf weißer Haut.

Die Uhr schlägt zwölf. Bei dem Heulen und Pfeifen des Windes und dem unerbittlichen Läuten der Glocke hört niemand den Schrei.

Der letzte laute Schlag verklingt in der Dunkelheit. Einen Moment lang bleibt nur eine gewaltige und hallende Stille. Bloß das Geräusch des anhaltenden Regens und des Windes, das rauschende Pulsieren von Connies Blut in ihren Ohren.

Die bald dem Tod anheimgefallen.

Die Zeit steht still. Niemand rührt sich, niemand spricht. Dann das Schlurfen und Schaben von Füßen. Das Klacken der inneren Kirchentür, die aufgeht oder sich schließt. Connie kann es nicht sagen.

»Das waren die Letzten«, sagt jemand. »Sie sind alle raus.«

Unruhe durchfährt die Menge, die draußen geblieben ist. Die Leute haben das Gefühl, genarrt worden zu sein. Dass man sich einen Schabernack mit ihnen erlaubt hat. Auch Connie fühlt sich, als wäre sie aus einer Art Trance erwacht.

Ein Zug verfluchter Seelen zieht

Gespenstisch durch die Nacht.

Sie erinnert sich jetzt an eine Frauenstimme, die das Gedicht vortrug, vor langer Zeit. Und dass Connie es aufschrieb, um es besser auswendig lernen zu können.

Die meisten Vögel sind verletzt oder tot. Ein Mann hebt einen sterbenden Finken von einem Grabstein und wirft ihn in die Hecke. Die Menschen unterhalten sich leise. Connie bekommt mit, dass ihnen die Sache peinlich ist. Sie wollen nicht zugeben, dass sie für einen Moment geglaubt haben, die mitternächtliche Erscheinung wäre irgendetwas anderes gewesen als die überstürzte Flucht der in der Kirche eingeschlossenen Vögel. Sie wollen jetzt möglichst schnell weg. Verabschieden sich und eilen davon. Die meisten gehen zu zweit oder zu dritt.

Keine Geister. Keine Bilder der Todgeweihten.

Connie hält Ausschau nach der Frau, die Blackthorn House beobachtet hat. Auch sie ist verschwunden.

Connie möchte selbst in die Kirche und nachschauen, was eigentlich passiert ist. Möchte mit eigenen Augen sehen, ob die Gesangbücher alle an ihrem üblichen Platz liegen, ob das gestreifte Glockenseil noch an seinem Haken befestigt ist, ob die Bänke und die polierten Tafeln und die Kanzel so aussehen wie immer. Möchte herausfinden, wie es geschehen konnte, dass so viele Vögel im Kircheninnern gefangen waren.

Sie verlässt ihr Versteck und geht, sich immer im Schatten haltend, auf die Kirche zu. Vor dem Portal liegen kleine Körper verstreut auf der Erde. Buchfinken und Zeisige, verstummt. Berg- und Grünfinken, Hänflinge. Unter anderen Umständen hätte Connie sie vielleicht aufgesammelt, aber noch ist ihr Pflichtgefühl gegenüber ihrem Vater stärker. Sie kann ihn noch immer nicht sehen und fürchtet, dass er ihr entwischt ist. Nicht selten fühlt sie sich genötigt, ihm vom Bull’s Head nach Hause zu folgen, um aufzupassen, dass er nicht in den gefährlichen Schlick der Marsch fällt und zu Schaden kommt. Das ist trotz der seltsamen Zeremonie auf dem Friedhof auch heute Nacht nicht anders.

Endlich erblickt sie ihn. Sie beobachtet, wie er sich kurz an der Kirchenwand abstützt und dann unsicher zu einem Grabmal wankt. Im Licht der letzten noch brennenden Laterne sieht sie, dass seine nackten Hände rot und wund sind, sich deutlich von dem Stein und den Flechten abheben. Und sie sind schmutzig. Seine Schultern hängen herab, als hätte er eine schlimme Tortur überstanden. Ein jämmerlicher Laut dringt aus seiner Kehle, ein animalischer Schmerzensschrei.

Dann richtet Gifford sich auf, dreht sich um und stapft mit festen Schritten den Fußpfad hinunter. Connie wird klar, dass der starke Regen und die Kälte und die Vögel seine Trunkenheit vertrieben haben. Wenigstens heute Nacht muss sie sich nicht um ihn sorgen.

Blut, Haut, Knochen. Eine einzelne schwarze Schwanzfeder.

Auf dem Pfad treibt der Wind eine schwarze Glasperle hin und her. Connie hebt sie auf und eilt dann rasch hinter ihrem Vater her, ohne die dunkle, zusammengesunkene Gestalt zu sehen, die in der nordöstlichen Ecke des Friedhofs liegt. Ohne die blutige Drahtschlinge zu bemerken.

Connie weiß nicht, dass nur einige Meter von den zerschmetterten Körpern der Singvögel entfernt eine Tote liegt.

[home]

Teil I

Eine Woche später Mittwoch

Kapitel 1

Blackthorn House

Marschland von Fishbourne

Mittwoch, 1. Mai

Connie betrachtete das Skalpell in ihrer Hand. Hauchdünne Klinge, Elfenbeingriff. Für einen Laien sah es aus wie ein Stilett. In anderen Haushalten hätte man es mit einem Schälmesser für Gemüse oder Obst verwechselt.

Nicht für Fleisch.

Connie wiegte die tote Dohle in den Händen, spürte die Erinnerung an Wärme und Leben in den leblosen Muskeln und Sehnen und Adern, in dem schlaff herabhängenden Hals. Corvus monedula. Schwarz glänzende Vögel mit aschgrauem Hals und Hinterkopf.

Helle Augen. Fast weiß.

Ihr Werkzeug war bereit. Eine Tonschüssel mit einer Mischung aus Wasser und arsenhaltiger Seife. Etliche Stoffstreifen und ein Eimer auf dem Boden zu ihren Füßen. Zeitung. Pinzette und Skalpell und Feile.

Behutsam legte Connie den Vogel auf das Papier. Mit den Fingern teilte sie das dunkle Gefieder und hielt die Klinge oben ans Brustbein. Dann, mit der Vorfreude, die sie immer empfand, wenn sie den ersten Schnitt machte, setzte sie das Skalpell an der Stelle an, die ihr am besten erschien.

Die Dohle lag reglos da, hatte ihr Schicksal angenommen. Connie atmete tief ein und sehr langsam wieder aus. Eine Art Ritual.

Als Connie die Werkstatt ihres Vaters das erste Mal hatte betreten dürfen, war ihr von dem Geruch übel geworden – Fleisch und unverdaute Nahrung und verwesendes Aas.

Blut, Haut, Knochen.

Anfangs hatte sie sich ein Taschentuch über Nase und Mund gebunden. Die Gerüche des Handwerks waren beißend – Alkohol, der muffige Duft von Flachswerg, Leinöl, die Farben für Krallen und Füße, Schnäbel und Sockel – zu stark für die empfindlichen Sinne eines Kindes. Im Laufe der Jahre hatte Connie sich an die Aromen gewöhnt und bemerkte sie kaum noch. Im Gegenteil, für sie war die Wahrnehmung des Geruchs von Dingen untrennbar mit ihrer Arbeit verbunden.

Sie sah zu den hohen Fenstern auf, die eine Wand der Werkstatt einnahmen und heute geöffnet waren, um die frische Luft hereinzulassen. Nach den wochenlangen Regenfällen zeigte sich der Himmel in einem lang ersehnten strahlenden Blau. Sie fragte sich, ob sie ihren Vater dazu überreden sollte, zum Lunch nach unten zu kommen. Vielleicht auf eine Tasse Bouillon?

Seit den Ereignissen vor einer Woche auf dem Friedhof hatte Gifford kaum sein Zimmer verlassen. Sie hatte ihn gehört, wie er bis in die frühen Morgenstunden auf und ab tigerte und vor sich hin murmelte. Es war nicht gut für ihn, sich so zurückzuziehen. Vergangene Nacht hatte sie ihn am Fenster vom Treppenabsatz stehen sehen, wie er über das dunkle Wasser starrte, so nah an der Scheibe, dass sie von seinem Atem beschlug.

Connie war an seinen verwahrlosten Zustand in den Tagen nach einem Besäufnis gewöhnt. Dennoch bereitete ihr sein körperlicher Verfall Sorgen. Blutunterlaufene Augen, das Gesicht ausgemergelt und sechs Tage alte Bartstoppeln am Kinn. Auf ihre Frage, ob sie ihm irgendetwas Gutes tun könne, starrte er sie an, als wüsste er beim besten Willen nicht, wer sie war.

Sie liebte ihren Vater, und trotz seiner Schwächen kamen sie gut miteinander aus. Die Taxidermie galt als für Frauen ungeeignetes Handwerk, doch Gifford hatte sich insgeheim über die Tradition hinweggesetzt und seine Fähigkeiten an sie weitergegeben. Nicht nur das fürs Aufschneiden und Ausstopfen erforderliche Geschick, sondern auch seine Liebe und Begeisterung für den Beruf. Den Glauben, dass es im Tod Schönheit zu entdecken gab. Den Glauben, dass der Akt der Konservierung eine neue Form des Lebens verhieß. Unsterblich, vollkommen und strahlend angesichts einer sich wandelnden und vergehenden Welt.

Connie wusste nicht mehr, wann genau sie von der passiven Zuschauerin zu Giffords Lehrling geworden war, sie wusste nur, dass sich dieser Wandel als lebenswichtig erwiesen hatte. Ihr Vater hatte keine ruhigen Hände, keine scharfen Augen mehr. Niemand erfuhr, dass Connie die wenigen Aufträge ausführte, die sie noch erhielten. Die Geschäfte wären ohnehin zurückgegangen. Der Geschmack der Zeit hatte sich verändert, und die ausgestopften Tiere und Vögel, die einst jeden Salon geziert hatten, waren mit dem neuen Jahrhundert aus der Mode gekommen.

Dennoch, Connie wusste, dass sie die Arbeit, die sie liebte, fortführen würde, selbst wenn sie nie wieder ein Stück verkaufte. Sie hatte jeden Vogel, der durch ihre Hände gegangen war, in Erinnerung behalten. Jedes der Tiere hatte sie irgendwie geprägt, ebenso wie sie ihnen ihren Stempel aufgedrückt hatte.

Durch die offenen Fenster konnte Connie das Gekrächze der neuen Kolonie von Dohlen in den Pappeln am Ende des Gartens hören. Zu Beginn des Frühlings hatten sie sich zwischen den Schornsteinen von Blackthorn House niedergelassen. Im März war ein Nest in den Kamin des Salons gestürzt, ein Wust aus Zweigen und Haaren und Rinde, der kalte Aschereste aufstieben ließ. Besonders anrührend waren die drei halb ausgebrüteten blaugrünen Eier und das winzige Küken gewesen, das zwischen den Trümmern lag, den Schnabel noch geöffnet. Das verzweifelte Keckern der Mutter hatte das Haus tagelang heimgesucht.

Connie betrachtete den Vogel auf der Werkbank.

Im Unterschied zu ihren lebenden Artgenossen würde diese Dohle niemals altern. Connies Sorgfalt und Geschick würden sie in einem blendend schönen Augenblick konservieren. Ewig, für alle Zeit bereit, sich in die Lüfte zu schwingen, als könnte sie jeden Moment zum Leben erwachen und davonfliegen.

Connie schob alle anderen Gedanken beiseite und übte Druck auf das Skalpell aus.

Zuerst nur ein weiches Nachgeben, mehr nicht. Dann durchdrang die Klinge mit der Spitze die Haut und glitt hinein. Das Fleisch schien zu seufzen, als es sich öffnete, als wäre der Vogel erleichtert, dass das Warten ein Ende hatte. Die Reise vom Tod zurück ins Leben hatte begonnen. Das Austreten von Flüssigkeit und der unverkennbare kupfrige Geruch von Fleisch. Das Gefieder roch nach Staub und alter Kleidung, wie ein Salon, der zu lange nicht gelüftet worden war.

Die trüben Augen des Vogels starrten zu ihr hoch. Wenn Connies Arbeit beendet war, würden die Augen wieder klar sein. Glas, nicht Gallert, so leuchtend wie zu Lebzeiten. Es war schwierig, eine farblich passende Entsprechung für die Augen einer Dohle zu finden. Blassblau beim Jungvogel, wie die von Eichelhähern, dann dunkler, um schließlich wieder hell zu werden.

Connie ließ die Schultern hängen und lockerte ihre Muskeln, ehe sie anfing, mit den Fingern die Haut vom Fleisch zu lösen. Schneiden, zurückziehen, wieder schneiden. Das tiefe Rot der Brust, die Farbe von Quittengelee; der silbrige Glanz der Flügel. Sie achtete darauf, dass die Innereien, Lunge, Nieren und Herz im Bauchraum unversehrt blieben, damit sie den Körper als Vorlage für die zukünftige Nachgestaltung verwenden konnte.

Sie arbeitete langsam und methodisch, wischte zwischendurch immer wieder winzige Gewebereste, Federn, Blut und Knorpel von der Skalpellspitze an der Zeitung ab. Eile, der kleinste Fehler konnten den Unterschied ausmachen zwischen einer gelungenen und einer möglicherweise verpatzten Arbeit.

Für fleischfressende Vögel – für Dohlen wie diese, für Elstern, Raben oder Krähen – rechnete Connie mit zwei Tagen Arbeit. Einmal begonnen, kam es auf Schnelligkeit an, ehe der natürliche Verwesungsprozess einsetzte. Wenn nicht alles Fett gründlich von den Knochen geschabt wurde, bestand die Gefahr, dass Maden den Vogel von innen zerstörten. Der erste Tag verging stets mit Abbalgen, Säubern und Präparieren, der zweite mit Ausstopfen und Aufstellen.

Jeder Arbeitsgang erfolgte auf beiden Seiten gleich, und sie hielt sich stets an dieselbe Abfolge. Beide Seiten des Brustbeins, erst der linke Flügel, dann der rechte, erst das linke Bein, dann das rechte. Es war ein Tanz mit Schritten, die durch praktische Erfahrung gelernt und mit der Zeit perfektioniert worden waren.

Connie nahm ihre Zange vom Haken und bemerkte, dass sie neuen Draht für das Aufstellen ordern musste. Sie machte sich daran, die Beinknochen zu lockern. Ein vorsichtiges Drehen, das Schaben der Klinge, als das Fleisch sich löste, dann das Knacken des Kniegelenks.

Sie kannten einander, Connie und dieser Vogel.

Als sie fertig war, warf sie alles, was sie nicht mehr brauchte – Gewebe, ausgefallene Federn, feuchtes Zeitungspapier – in den Eimer zu ihren Füßen. Dann drehte sie den Vogel um und nahm sich das Rückgrat vor.

Die Sonne stieg höher.

Schließlich, als ihre Muskeln zu verkrampft waren, um weiterzuarbeiten, faltete Connie die Flügel zusammen und schob den Kopf des Vogels darunter, damit die Haut nicht zu schnell austrocknete. Zufrieden mit der vormittäglichen Arbeit reckte sie die Arme, lockerte Hals und Schultern, schüttelte die Finger aus. Dann ging sie durch die Seitentür in den Garten und setzte sich in den Korbstuhl auf der Terrasse.

Vom Dach des Eishauses war noch immer das Schwatzen und Krächzen der Dohlen zu hören. Ein Requiem für ihren gefallenen Kameraden.

Kapitel 2

North Street

Chichester

Harry Doyle trat einen Schritt zurück und betrachtete das halb fertige Gemälde.

Technisch war alles richtig – die Farbe, die Kontur der Nase, die Andeutung von Unzufriedenheit um den Mund herum –, und doch war es kein gutes Porträt. In dem Gesicht steckte einfach kein Leben.

Mit einem Lappen wischte er das Öl vom Pinsel und betrachtete das Bild aus einem anderen Blickwinkel. Das Problem war, dass sein Modell auf der Leinwand eindimensional wirkte, als hätte er nach einer Fotografie gemalt und nicht eine lebendige, atmende Frau vor sich gehabt. Sie hatten bis spät in die graue, regnerische Nacht gearbeitet, dann hatte Harry sie nach Hause geschickt und allein weitergemacht, ehe er noch auf einen späten Schlummertrunk ins Rifleman gegangen war.

Er hatte das Gemälde verdorben. Oder besser gesagt, es hatte von vornherein nicht gestimmt.

Harry legte seine Palette aus der Hand. Normalerweise erfüllte ihn die Geruchsmischung von Leinöl und Farbe mit freudiger Erwartung. Heute jedoch ärgerte sie ihn. Er war versucht, die Schuld bei seinem Motiv zu suchen – dass er sich ein vielversprechenderes Modell mit einem reizvolleren Gesicht und einzigartiger Mimik hätte suchen sollen –, doch auch wenn er es lieber auf die für ihn posierende Frau geschoben hätte, wusste er, dass der Fehler bei ihm selbst lag. Es war ihm nicht gelungen, ihr Wesen zu erfassen, die Schatten und Linien und Rundungen auf die Leinwand zu bannen und für die Nachwelt zu erhalten. Stattdessen hatte er eine Liste typischer Merkmale abgearbeitet: die Nase exakt, Haar von der und der Farbe, Augen in genau diesem Ton statt in jenem.

Alles richtig. Und doch alles vollkommen falsch.

Harry stellte den Pinsel zum Einweichen in das Glas mit Terpentin und wischte sich die Hände ab. Er zog seinen blauen Arbeitskittel aus, warf ihn über die Sessellehne und streifte seine Weste über. Ein Blick auf die Reiseuhr verriet ihm, dass er spät dran war. Rasch trank er den letzten Rest kalten Kaffee, drückte seine Zigarette aus und bemerkte dann, dass er einen Klecks Farbe auf dem rechten Schuh hatte. Verärgert griff er nach einem Lappen.

»Verdammt«, sagte er, als er sich das Zinnoberrot versehentlich auch noch auf die Schnürsenkel schmierte. Er würde es erst mal so lassen müssen.

»Lewis?«, rief er und trat hinaus auf den Flur.

Der Butler tauchte aus dem hinteren Teil des Hauses auf.

»Ja, Sir?«

»Ist mein Vater zurück?«

»Nein, Sir.« Lewis stockte. »Erwarten Sie ihn, Sir?«

»Ich dachte, er wäre vielleicht zum Lunch wieder da.«

Harry hatte seinen Vater beim Frühstück gefragt, ob sie sich später unterhalten könnten. Der alte Herr hatte ausweichend geantwortet.

»Hat er gesagt, wann er heute Abend nach Hause kommt, Lewis?«

»Dr. Doyle hat keinen Anlass zu der Annahme gegeben, dass es später als sonst würde, Sir.«

»Genaueres wissen Sie nicht?«

»Seine einzige Anweisung lautete, falls Sie verhindert wären, sollte das Dinner um sieben Uhr dreißig serviert werden.«

Harry wusste – genau wie Lewis –, dass sich darin ein versteckter Vorwurf verbarg, weil Harry in letzter Zeit mehrfach nicht zum Dinner nach Hause gekommen war, und jedes Mal, ohne sich zu entschuldigen. Das Castle Inn war sehr viel verlockender als eine weitere steife, wortlose Mahlzeit allein mit seinem Vater, bei der er krampfhaft nach einem Gesprächsthema suchte, das ihnen beiden genehm war.

Harry nahm seinen Hut von der Garderobe. »Danke, Lewis.«

»Dürfen wir Sie also heute Abend zum Dinner erwarten, Sir?«

Harry sah ihn an. »Ich denke doch«, sagte er. »Ja.«

Harry ging langsam an den georgianischen Fassaden der Wohnhäuser im oberen Teil der North Street entlang und näherte sich den Geschäften rund um das steinerne Marktkreuz, das am Kreuzungspunkt von Chichesters vier Hauptstraßen stand.

Er hatte sich, Unwohlsein vorschiebend, den Morgen freigenommen, um an dem Porträt zu arbeiten – sinnloserweise, wie sich herausgestellt hatte. Jetzt graute ihm davor, ins Büro zu gehen, zumal es zur Abwechslung mal ein schöner Tag war. Keramikteller und Servierplatten und Milchkrüge, Spode- und Wedgwood-Imitationen, Listen von Fuhrunternehmen und Schifffahrtslinien, der Transport von Waren durchs ganze Land, um die Esstische der Mittelschicht zu verschönern. Harry hatte andere Vorstellungen von seinem Leben, als in einer Branche Karriere zu machen, die ihn anödete, und noch dazu für einen Mann zu arbeiten, den er verabscheute.

Es war ihm nach wie vor schleierhaft, warum sein Vater darauf bestanden hatte, dass er sich eine Stelle bei Frederick Raven suchte. Raven, der aus dem fernen Staffordshire stammte, hatte seine Firma aus dem Nichts aufgebaut und führte sie erfolgreich, aber er und Harrys Vater hatten absolut keine Gemeinsamkeiten. Dr. Doyle war der festen Überzeugung, dass jeder im Leben auf den Platz gehörte, der ihm zukam. Er verkehrte ausschließlich mit Berufskollegen und blickte auf Menschen herab, die ihr Geld im Handel verdienten.

Harry ertrug es nicht länger. Ihm war egal, ob Raven seinem Vater einen großen Gefallen getan hatte oder wie oft er ihm das vorhielt. Er würde kündigen.

Harry passierte das alte Gerichtsgebäude und näherte sich dem Marktkreuz. Auf der Straße herrschte reges Treiben. Frauen trugen Einkaufskörbe und schoben Kinderwagen, Männer luden vor einer Weinhandlung Flaschen auf einen Transportkarren, und alle genossen die Verheißung eines Sommertages ohne Schirm und Regenmantel oder ohne von einem Geschäft zum nächsten hasten zu müssen.

Vor Howards drängte sich eine kleine Menschenmenge. Im Schaufenster der Metzgerei hing die übliche Auswahl an abgezogenen Kaninchen und gerupftem Geflügel, roh und blutig, aber als Harry näher kam, sah er, dass die Scheibe der Ladentür eingeschlagen worden war.

»Was ist denn passiert?«

»Einbruch«, sagte ein Mann. »Es wurden ein paar Messer und noch andere Werkzeuge geklaut.«

»Und Geld aus der Kasse«, warf ein anderer ein. »Der Laden wurde ganz schön verwüstet.«

Harry warf einen Blick auf das Juweliergeschäft gleich nebenan. »Dass sich einer ausgerechnet eine Metzgerei aussucht.«

»Die verdächtigen den Burschen, der rausgeflogen ist«, wusste ein Dritter zu berichten. »Ist letzte Woche aus dem Gefängnis gekommen. War immer noch sauer, weil er seine Arbeit verloren hat.«

Harry bog am Marktkreuz rechts in die West Street und ging zur Praxis seines Vaters. Jetzt war der Moment gekommen. Ganz gleich, wo oder wann das Gespräch stattfand, es würde schwierig werden. Er wollte es hinter sich bringen. Zumindest würde er dann wissen, woran er war.

Harry war fest entschlossen, sich an der Königlichen Kunstakademie einzuschreiben, und hatte seine Bewerbung bereits abgeschickt. Er konnte gut ohne die Zustimmung seines Vaters leben, aber nicht ohne dessen finanzielle Unterstützung. Bis er genug Geld zusammenhätte, um das Studium aus eigener Tasche zu bezahlen, würde er noch jahrelang für Raven arbeiten müssen.

Er strich sein Jackett glatt und vergewisserte sich, dass die Krawatte korrekt saß, dann stieg er die Steintreppe hoch. Sein Blick fiel auf das blank geputzte Messingschild: DR. MED. JOHN DOYLE. Heute deprimierte ihn selbst das. Sein Vater behandelte keine Patienten mehr – er schrieb nur noch Gutachten –, aber es war alles so sichtlich seriös, so vorhersehbar.

Er atmete tief durch, stieß die Tür auf und ging hinein.

»Morgen, Pearce. Ist mein alter Herr da?«

Harry blieb wie angewurzelt stehen. Der Vorraum war menschenleer. Der Sekretär seines Vaters war aus diesen Räumen ebenso wenig wegzudenken wie die Tische und Stühle. Harry konnte sich nicht erinnern, je hier eingetreten zu sein, ohne das vogelartige Gesicht von Pearce zu sehen, der ihn über seine Lesebrille hinweg missbilligend musterte.

»Pearce?«

Von oben hörte er Geräusche, jemand ging auf und ab.

»Machen Sie, dass Sie rauskommen. Verdammt noch mal!«

Harry hatte die Hand schon auf das glänzend polierte Treppengeländer gelegt, doch jetzt erstarrte er. Noch nie hatte er seinen alten Herrn fluchen oder gar laut schreien gehört.

»Ich wollte Ihnen eine Chance geben«, sagte ein Mann. Eine leise Stimme, gebildet. »Ich bedauere, dass Sie sie nicht ergreifen wollen.«

»Raus!«

Harry hörte ein Poltern, als wäre ein Stuhl umgekippt.

»Raus, sofort!«, schrie sein Vater. »Noch mal, so einen Dreck muss ich mir nicht anhören. Das ist eine niederträchtige Verleumdung.«

Die ganze Situation war dermaßen ungewöhnlich, dass Harry nicht wusste, was er machen sollte. Falls sein Vater Hilfe brauchte, würde er selbstverständlich eingreifen. Aber andererseits hasste es der alte Herr, in Verlegenheit gebracht zu werden, und vermutlich wäre ihm Harrys Auftauchen peinlich.

Die Entscheidung wurde ihm abgenommen. Die Tür zum Arbeitszimmer seines Vaters flog mit solcher Wucht auf, dass sie gegen die Wand schlug und in den Angeln bebte. Harry drehte sich auf dem Absatz um und hastete in die Nische hinter Pearce’ Schreibtisch. Gerade noch rechtzeitig. Der Besucher kam die Treppe heruntergeeilt und verschwand hinaus auf die West Street. Harry konnte lediglich einen kurzen Blick auf seine Kleidung erhaschen – Arbeitshose und ein breitkrempiger Farmerhut, kleine, saubere schwarze Stiefel.

Er wollte ihm gerade folgen, als er erneut Schritte von oben hörte. Gleich darauf kam sein Vater die Treppe herab, so schnell es sein steifes Knie zuließ. Er nahm Hut und Mantel von dem Garderobenständer neben der Tür, streifte sich Handschuhe über und ging.

Diesmal zögerte Harry nicht. Er lief seinem Vater nach, folgte ihm durch den Kreuzgang der Kathedrale, den St Richard’s Walk entlang und auf die Canon Lane. Trotz seines steifen Beins ging der alte Mann mit forschem Schritt. Er bog rechts auf die South Street, marschierte an der Post und dem Regnum Club vorbei bis zum Bahnhof.

Harry verharrte auf der Stelle, als Dr. Doyle in eine Pferdedroschke stieg. Er hörte das Knallen der Peitsche und sah die Kutsche davonrollen. Erst dann lief er über den Bahnhofsvorplatz.

»Entschuldigen Sie, können Sie mir vielleicht sagen, wohin der Gentleman wollte, der da eben weggefahren ist?«, fragte er den Kutscher der nächsten Droschke.

Der Mann sah ihn amüsiert an. »Ich wüsste nicht, was Sie das angeht, Sir.«

Harry fischte eine Münze aus seiner Tasche und zwang sich, ruhig stehen zu bleiben, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass die Information mehr wert war als nur einen Penny.

»Zum Woolpack Inn«, sagte der Kutscher. »Soweit ich das mitbekommen hab.«

»Und wo ist das?« Harry versuchte, nicht ungeduldig zuklingen.

»Fishbourne.« Der Mann schob seine Mütze auf den Hinterkopf. »Möchten Sie vielleicht auch dahin, Sir?«

Harry zögerte. Er wollte keine teure Droschke bezahlen. Außerdem wollte er nicht, dass sein Vater ihn sah. Er hatte keine Ahnung, was der alte Herr vorhatte, und er wollte ihn weder kompromittieren noch ihn im Stich lassen, falls er in irgendwelchen Schwierigkeiten steckte. Trotz ihrer derzeitigen Unstimmigkeiten hing er an seinem Vater.

»Nein«, sagte er und eilte stattdessen zum Fahrkartenschalter.

Harry warf dem Schalterbeamten das Geld förmlich hin und hastete dann über die Brücke zum gegenüberliegenden Bahngleis. Zu spät. Der Zug Richtung Portsmouth fuhr gerade an.

»Verdammt«, sagte er. »Verdammt.«

Während er auf den nächsten Zug mit Halt in Fishbourne wartete und auf dem Bahnsteig nervös hin und her tigerte, fragte er sich wieder, wohin sein überkorrekter Vater mitten an einem normalen Arbeitstag wohl wollte. Zu spät wurde ihm klar, dass er in seiner Eile vergessen hatte, Raven Bescheid zu geben. Andererseits, falls er entlassen würde, brächte das seinen Vater in Zugzwang.

Wie auch immer. Er würde jetzt nicht mehr umkehren. Das Verhalten seines Vaters war einfach zu merkwürdig, um der Sache nicht nachzugehen.

»Komm schon«, murmelte er und starrte die Gleise entlang, obwohl der nächste Zug erst in fünfundzwanzig Minuten eintreffen würde. »Komm endlich, mach schon.«

Kapitel 3

Blackthorn House

Marschland von Fishbourne

Connie trank ihren Kaffee auf der Terrasse, weil sie die Sonne auskosten wollte, ehe sie wieder zurück in die Werkstatt ging.

Ihr Tagebuch lag vor ihr auf dem Tisch, daneben stand ein volles Fass blaue Tinte. Bislang hatte sie noch kein Wort geschrieben.

Sie holte tief Atem, füllte die Lunge mit der frischen, würzigen Seeluft. Sie war mit ihrer Arbeit an diesem Morgen zufrieden und fühlte sich zum ersten Mal seit Tagen mit sich und der Welt im Reinen.

Wer hat Cock Robin getötet?

Ich, sagte der Spatz,

Mit Pfeil und Bogen

Hab ich ihn getötet.

Die Stimme des Dienstmädchens schwebte durchs Haus und durch die offene Tür bis hinaus auf die Terrasse. Connie lächelte. Mary sang oft vor sich hin, wenn sie glaubte, niemand könnte sie hören. Sie war ein liebes Ding, und Connie schätzte sich glücklich, sie zu haben. Der Beruf ihres Vaters war seltsam genug, um heutzutage Misstrauen zu wecken, und die meisten Dorfmädchen, mit denen sie Einstellungsgespräche geführt hatte, als sie hier einzogen, waren verängstigt oder behaupteten es jedenfalls, wenn sie die Glasglocken in der Werkstatt sahen, die Flaschen mit Konservierungsflüssigkeiten, die Tabletts mit stechenden glitzernden Augen und lackierten Krallen. Das erste Mädchen, das Connie einstellte, hatte nach nur zwei Wochen wieder gekündigt.

Und … alle Vögel des Himmels

Seufzten und schluchzten

Und trauerten sehr

Um den armen Cock Robin.

Connie legte den Stift hin und lehnte sich zurück, spürte das Seufzen des Korbstuhls unter sich.

Zum ersten Mal seit Wochen war sie um kurz nach fünf von Vogelgesang geweckt worden und dann von Stille. Einer lauten, erstaunlichen Stille. Kein Wind, der ums Haus heulte, kein Regen, der gegen die Fensterscheibe ihres Zimmers klatschte.

Der Winter und der Frühjahrsanfang waren lang und hart gewesen. Schwarze Wolken und dunkler Himmel, die sich immerfort verändernde Wattenlandschaft und ein erbarmungsloser Wind, der das Haus Nacht für Nacht in seinen Grundfesten erschütterte.

Im Januar waren sowohl die Mill Lane als auch die Apuldram Lane überschwemmt worden. Geisterseen waren entstanden, wo zuvor Wiesen gewesen waren. Die Wurzeln der Bergulmen verfaulten in der Erde. Im Februar hatte das furiose Rumpeln und Ächzen der alten, mitten im Fluss stehenden Salzmühle, deren Rad sich in den tosenden Springtiden drehte, Connie den Schlaf geraubt. Im März hatte der böige Wind von der Eiche vorm Haus einen Ast abgerissen, der ihre Werkstatt nur knapp verfehlte. Der April brachte dann endlose Stürme mit waagerechtem Regen und völlig durchweichten Wegen. Die Feuchtwiesen waren jetzt noch nicht wieder trocken. Auf dem Speicher hatte Connie eine Reihe von Eimern aufgestellt, um das durchs Dach tropfende Wasser aufzufangen. Sie nahm sich vor, Mary daran zu erinnern, sie herunterzuholen, falls das Wetter sich hielt.

Heute war die Oberfläche des Mühlteichs glatt, und die Marsch war eine betörende Farbenpracht. Blaugrünes Wasser, das von einer angenehmen Brise mit weißen Schaumkronen betupft wurde, glitzerte im Sonnenlicht. Die kräftigen Rohrkolben wie die Unterseite eines Samtbandes. Schwarzdorn und früher Weißdorn mit weiß schimmernden Blüten. Roter Gänsefuß und wilder Meerfenchel, blauäugiger Ehrenpreis und goldgelber Löwenzahn in den Hecken.

Connie blickte über die Schulter zum Haus. Es wirkte oft ungastlich, so einsam und ungeschützt auf dem weiten Marschland, etwa eine Viertelmeile vom nächsten Nachbarn entfernt. Heute lag es herrlich im Sonnenschein.

Aus demselben warm roten Backstein gebaut wie einige der schönsten Häuser in Fishbourne, hatte es ein mit roten Ziegeln gedecktes Spitzdach und einen hoch aufragenden Schornstein. Im hinteren Teil des Hauses lag die Küche mit einem modernen gusseisernen Herd, einer Spülkammer und einem großen Vorratsraum. Im ersten Stock befanden sich vier Schlafzimmer und ein Kinderzimmer mit Blick auf das Wasser. Eine enge Stiege führte hinauf zum Dienstbotenzimmer, das unbewohnt war, da Marys Mutter darauf bestand, dass ihre Tochter zu Hause wohnte.

Doch der eigentliche Grund, der ihren Vater bewogen hatte, das Haus zu nehmen, war ein langer, heller Wintergarten, der die gesamte Westseite des Hauses einnahm. Dort hatte Gifford die Werkstatt eingerichtet. Und in der äußersten südwestlichen Ecke des Gartens stand ein großes, rechteckiges Eishaus, das sie als Lager nutzten.

Nach Süden und Osten hin erstreckten sich Rasenflächen. Durch ein hölzernes Gartentor in der Schwarzdornhecke in der nordöstlichen Ecke des Grundstücks, das an einen der vielen in das Ästuar führenden Priele grenzte, gelangte man vom Küchengarten direkt auf den Fußweg zum Dorf.

Der Haupteingang lag ein Stück weiter den Pfad hinunter. Ein schwarzes schmiedeeisernes Tor führte zur Vordertür von Blackthorn House, mit Blick in Richtung der alten Salzmühle im Osten. An klaren Tagen konnte man über das gesamte Ästuar bis zu den Feuchtwiesen auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses blicken. Es gab keine Strände, an denen Kinder hätten spielen können, keine dramatischen Klippen oder Felsen, bloß, so weit das Auge reichte, Watt und Salzwiesen, die bei Ebbe frei lagen.

Dort stand, bloß eine halbe Meile Luftlinie entfernt und versteckt in den grünen Falten von Weiden und Buchen und Ulmen, die kleine Kirche St. Peter & St. Mary. Und eine Meile weiter östlich beherrschte die Kathedrale von Chichester mit ihrer hoch aufragenden, restaurierten Kirchturmspitze und dem wuchtigen normannischen Glockenturm die Landschaft.

Wer gräbt ihm das Grab?

Ich, sprach die Eule,

Mit Spaten und Schaufel

Grab ich sein Grab.

Connie strich mit der Hand über den Tisch, in Gedanken noch immer bei ihrem Vater. Wenn sie ihn doch nur dazu bringen könnte, sein Zimmer zu verlassen. Es wäre gut für seine Gesundheit, und außerdem wollte sie gern von ihm wissen, warum er neulich nachts zur Kirche gegangen war. Er wurde nicht gern ausgefragt, und normalerweise ließ Connie ihn in Ruhe, weil sie ihn nicht bedrängen wollte. Aber diesmal war es anders. Sie hatte sich in Geduld geübt, weil sie wusste, dass sie genau den richtigen Moment abpassen musste, aber eine weitere Woche konnte sie nicht noch verstreichen lassen.

In den letzten Wochen hatte sich Giffords Verhalten verändert. Er schien emotional aufgewühlt. War es Furcht? Schuld? Trauer? Sie wusste es nicht, wusste nur, dass er, wenn er sich doch mal außerhalb seines Zimmers hatte blicken lassen, Fenster stets gemieden und wiederholt gefragt hatte, ob irgendwelche Briefe gekommen seien. Zweimal hatte sie ihn weinen gehört.

Sie machte sich Sorgen um ihn. Große Sorgen, stellte sie fest.

Ein jäher Lichtstrahl von der Mitte des Flusses erregte Connies Aufmerksamkeit. Ein helles Aufblitzen, wie von der Signallampe eines Schiffs. War das Licht von der alten Salzmühle gekommen? Sie schirmte die Augen ab, konnte aber nichts erkennen. Bloß die wenigen Häuschen entlang der Apuldram-Seite des Wassers.

In dem Versuch, ihre bangen Gedanken zu vertreiben, schlug Connie den Tagebucheintrag vom fünfundzwanzigsten April auf und strich die Seiten glatt. Sie hatte ihre Eindrücke unmittelbar nach dem Erlebnis an der Kirche aufgezeichnet – so, wie sie das mit all ihren persönlichen Gedanken tat –, um sie zu ordnen und besser zu verstehen. Sie hatte die Namen derer notiert, die sie erkannt hatte, und skizzenartig diejenigen beschrieben, die ihr unbekannt waren. Auch die Frau in dem blauen Mantel, obgleich Connie schnell klargeworden war, dass sie zwar genaue Angaben zu deren Kleidung und Hut machen konnte, aber keine Ahnung hatte, wie die Frau tatsächlich aussah.

Sie trank den letzten Schluck Kaffee und begann zu lesen.

Selbst wenn es in Fishbourne Tradition war, konnte Connie nach wie vor nicht glauben, dass sich in der Nacht auf den Tag des hl. Markus so viele Leute ohne vorherige Absprache zu der kleinen Kirche begeben haben sollten. Und sie war sicher, dass ihr Vater normalerweise nicht dabei gewesen wäre. Sie hatte noch nie erlebt, dass er zum Gottesdienst ging – weder an Pfingsten noch an Weihnachten, nicht mal am Ostersonntag.

Und die seltsame geflüsterte Frage, die sie gehört hatte, als das Glockenläuten einsetzte. »Ist sie hier?« Eine gebildete Stimme, kein Mann aus dem Dorf. »Ist sie hier?« Unterschiedliche Betonung, unterschiedliche Bedeutung.

Wer ist der Pfarrer?

Ich, sagte der Rabe,

Mit meinem kleinen Buch

Bin ich der Pfarrer.

Marys Lied drang noch immer aus dem Haus auf die Terrasse, ertönte hell und klar in der süßen Nachmittagsluft.

Connie hörte sie, noch ehe sie sie sah.

Sie blickte auf, als zwei Höckerschwäne tief über sie hinwegflogen. Die langen Hälse gestreckt, das Hellorange der Schnäbel, das stetige Schlagen der Flügel in der Luft. Sie wandte den Kopf und sah ihnen nach.

Ein Schwan. Weiße Federn.

Eine jähe, deutliche Erinnerung an die verschwundenen Tage durchfuhr sie. Sie selbst mit neun oder zehn Jahren, langes braunes Haar mit einem gelben Band durchflochten. Auf einem hohen Holzhocker hinter der Museumskasse.

Sie runzelte die Stirn. Nein, das Band war nicht gelb. Rot.

Das gemalte Holzschild über der Tür – GIFFORDS WELTBERÜHMTES KURIOSITÄTENMUSEUM DER VOGELWELT – und ihre Handflächen warm und klebrig von den Farthings, Halfpennys und den selteneren Sixpenny-Münzen beim Verkauf von gedruckten Eintrittskarten – Billets – aus rauer, kratziger Pappe.

Die Erinnerung verlagerte sich. Wieder der Schwan. Mit seinen von Trauer umwölkten Augen.

Von allen präparierten Ausstellungsstücken in der Sammlung war ihr nur der Schwan unheimlich gewesen. Wie er da im Eingangsbereich stand, die Schwingen ausgebreitet, als wollte er die Besucher begrüßen, machte er ihr Angst. Es lag irgendwie an seiner Größe und Breite, dem Brustgefieder, an dem man, wenn die Sonne durch die Scheibe fiel, erkennen konnte, dass der Vogel in der Mauser war. An den Motten und den Fettperlen, wie Blasen auf seiner Haut. Eine andere Erinnerung: Als man ihr sagte, dass Schwanenpaare ein Leben lang zusammenbleiben – wer mochte ihr das erzählt haben? –, hatte Connie geweint und war fast krank geworden bei der Vorstellung, wie die Gefährtin des ausgestopften Schwanenmännchens vergeblich nach ihrem verlorenen Liebsten suchte.

Sie wartete, hoffte, dass ihr noch mehr einfiel, aber die Erinnerung verblasste bereits. Sie glaubte nicht, dass der Schwan bei den wenigen Museumsstücken, die sie mit ins Blackthorn House genommen hatten, dabei gewesen war. Das Bild ihres jungen Ichs entglitt ihr, wurde wieder schattenhaft und unsichtbar.

Die verschwundenen Tage.

Ihr Leben zerfiel in zwei Teile. Vor und nach dem Unfall. Connie hatte traumähnliche Erinnerungen an lange und verschwommene Wochen in einem halb wachen Zustand, an eine sanfte Hand, die ihr die Stirn streichelte. Heiße Luft und alle Fenster geöffnet. Ihr dunkles Haar geschoren und rau auf dem Schädel. Eine Narbe an der rechten Kopfseite.

Nach ihrer Genesung war ihre Vergangenheit für sie verloren. Die ersten zwölf Jahre ihres Lebens fast ausgelöscht. Auch die Menschen. Connie hatte ihre Mutter nie gekannt – sie war bei der Geburt gestorben –, aber sie erinnerte sich daran, dass sie geliebt worden war. Eine weibliche Stimme, sanfte Hände, die ihr das Haar aus dem Gesicht strichen. Aber wer war die Frau? Eine Tante, eine Großmutter? Eine Pflegerin? Es gab keinerlei Hinweise auf irgendwelche weiteren Verwandten. Nur Gifford.

Hin und wieder meinte sie, ein anderes Mädchen zu sehen. Eine Cousine? Eine Freundin? Acht oder neun Jahre älter als Connie, aber mit einer jugendlichen, schwungvollen Ausstrahlung. Ein lebensprühendes Mädchen, nicht niedergedrückt von Traditionen oder Anstandsregeln oder Verboten.

Anfangs hatte Connie Fragen gestellt, hatte versucht, sich Dinge zusammenzureimen, hatte gehofft, dass ihre Erinnerung allmählich zurückkehren würde. So viele Fragen, die ihr Vater nicht beantworten konnte oder wollte. Gifford behauptete, die Ärzte hätten dazu geraten, nichts erzwingen zu wollen, da ihre Erinnerungen zu gegebener Zeit von allein zurückkommen würden. Und obwohl Connie körperlich wieder zu Kräften kam, litt sie unter gelegentlichen Petit-mal-Anfällen. Anspannung oder Aufregung konnten eine Attacke auslösen, die mitunter nur ein oder zwei Minuten anhielt, manchmal aber auch über eine halbe Stunde.

Daher weigerte sich ihr Vater, ihr mehr zu erzählen als nur die Umstände des Unfalls. Und selbst dabei beschränkte er sich auf die trockenen Fakten.

Frühjahr 1902. April. Gifford arbeitete noch spät im Museum. Connie war nach einem Albtraum verängstigt aufgewacht und hatte ihr Zimmer verlassen, um ihn zu suchen und sich trösten zu lassen. Im Dunkeln stolperte sie, stürzte die Holztreppe hinab und schlug mit dem Kopf auf dem Steinboden auf. Nur dank rascher ärztlicher Hilfe hatte sie überlebt.

Ab da wurde die Schilderung ihres Vaters noch vager.

Gifford verkaufte alles, und sie zogen nach Fishbourne. Er wollte nicht an den Tag erinnert werden, an dem sie beinahe gestorben wäre, und er wollte nicht, dass sie sich mit Fragen quälte. Außerdem würden ihr die Seeluft und die Ruhe und Stille des Marschlandes guttun.

Die verschwundenen Tage. Verloren, als wären sie nie gewesen.

Und jetzt?

Connie war sich nicht sicher, glaubte aber, dass ihre Erinnerungsblitze greifbarer wurden, häufiger. Und zugleich kam es ihr so vor, als würden die Augenblicke, in denen sie in ein schwarzes Nichtwissen gesogen wurde und die Zeit scheinbar stillstand, allmählich immer seltener.

War das wahr? Wollte sie, dass es wahr war?

Connie sah zu, wie die Schwäne zur Landung im Obstgarten von Old Park ansetzten, wo sich über sechzig nistende Paare niedergelassen hatten.

Und alle Vögel des Himmels

Seufzten und schluchzten,

Als die Totenglocke erklang

Für den armen Cock Robin.

Die Sonne wanderte um die Eiche herum und tauchte die Terrasse in Schatten, doch das Geisterkind war noch da, wartete am Rande von Connies Bewusstsein. Ein Mädchen.

Ein Mädchen mit einem gelben Band im Haar.

Réaumur erhielt von vielerlei Orten Vögel, die entsprechend seinen Anweisungen in Weingeist eingelegt worden waren. Er begnügte sich damit, sie aus diesem Spiritus zu nehmen und zwei Enden eines Eisendrahtes hinter den Oberschenkeln in den Körper einzuführen. Dann befestigte er den Draht an den Krallen, zog die Enden darunter hervor und montierte mit deren Hilfe die Vögel auf kleine Brettchen. Schließlich ersetzte er die Augen durch schwarze Glasperlen und bezeichnete das Ergebnis seiner Arbeit als ausgestopften Vogel.

Taxidermie oder die Kunst, naturkundliche Objekte zu sammeln, zu präparieren und zu präsentieren

Mrs. R. Lee

Longman & Co., Paternoster Row,London, 1820

Ich beobachte Dich.

Du spürst das, glaube ich. Irgendwo in den Tiefen von Verstand und Gefühl weißt Du es. Irgendwo, vergraben in den Gedanken, die Du verloren glaubst, weißt Du es und erinnerst Dich. Das Gedächtnis ist ohnehin ein unzuverlässiger, arglistiger und falscher Freund. Wir halten das fest, was uns guttut, und begraben den Rest. So schützen wir uns. So schaffen wir es, in dieser zerfallenden, verderbten Welt weiterzuleben.

Blut schreit nach Blut.

Die Zeit der Abrechnung steht bevor, mit jedem Sonnenaufgang und Sonnenuntergang rückt sie näher. Aber es sind ihre eigenen Taten, die ihren Untergang herbeiführen werden, nicht die meinen. Ich habe ihnen eine Chance geboten. Sie haben sie nicht ergriffen. Selbst wenn ich an das Leid denke, das auf diese Enthüllungen folgen wird, tröste ich mich mit dem Gedanken, dass Du diese Worte hier lesen und die Wahrheit erfahren wirst. Du wirst es verstehen.

Was ist nun über jeden Zweifel erhaben?

Dass der Frühling des Jahres neunzehnhundertzwölf der regenreichste seit Menschengedenken war. Dass die Rosskastanien spät ausschlagen. Dass das Wasser höher und höher stieg und immer noch steigt.

Und die Vögel. Die weißen Vögel und die grauen und die schwarzen. Federn in Dunkelblau und Lila und schillerndem Grün. Das Schnarren, Krächzen und Drohen von Dohle, Elster, Rabe und Krähe. In all den Jahren, die ich fort war, hörte ich sie in meinen Träumen von den Bäumen rufen.

Ich beobachte Dich.

Dies ist mein Zeugnis. Schwarze Worte auf cremeweißem Papier. Es ist keine Geschichte der Rache, obwohl die Menschen sie so sehen werden. Als solche abtun werden.

Aber nein, es geht nicht um Rache.

Es geht um Gerechtigkeit.

Kapitel 4

Die alte Salzmühle

Fishbourne Creek

Dr.  John Doyle stand in der kleinen Dachkammer der alten Salzmühle mitten im Fluss und blickte über das Wasser Richtung Blackthorn House.

»Irgendeine Spur von Gifford?«

Joseph schüttelte den Kopf. »Nein.«

Doyle zeigte ungeduldig auf das Fernglas.

»Damit können Sie doch unmöglich was sehen«, sagte er gereizt und wischte es mit seinem Taschentuch sauber. »Die Linsen sind verdreckt.«

Er legte den Umschlag, den Joseph ihm gegeben hatte, auf den Stuhl, nahm seine Brille ab und hob das Fernglas an die Augen. Er drehte am Okular, bis er Blackthorn House klar und deutlich sah. Es stand auf einem weitläufigen Grundstück und war von freien Feldern umgeben. Doyle suchte die Umgebung ab. Anscheinend war der einzige Zugang ein schmaler Fußweg, der von der Nordostseite her auf das Grundstück führte.

Er richtete sein Augenmerk wieder auf das eigentliche Haus, dessen steiles Dach die Vermutung nahelegte, dass es einen Speicher hatte. Außerdem bemerkte er ein sonderbares rechteckiges Gebäude mit einer Kuppel im nach Süden liegenden Garten. Ein Eishaus, vermutete er, obgleich das für einen Besitz so dicht am Wasser eigentlich ungewöhnlich war.

»Sitzt bloß auf der Terrasse rum.«

»Was?«, sagte er erschrocken, als er merkte, dass Joseph direkt neben ihm stand.

»Die kleine Gifford. Ist nach dem Mittagessen rausgekommen. Hat sich kaum bewegt.«

Doyle ließ das Fernglas sinken und gab es Joseph zurück.

»Und Gifford hat sich wirklich nicht blicken lassen?«

Joseph zuckte die Achseln. »Wie gesagt, hab ihn nicht gesehen.«

»Könnte er von Ihnen unbemerkt das Haus verlassen haben?«

»Jedenfalls nicht, seit es hell ist.«

Doyle starrte auf die vielen abgebrannten Streichhölzer und Zigarettenkippen auf dem Boden. Er konnte nicht wissen, ob Joseph die Wahrheit sagte und tatsächlich die ganze Zeit auf seinem Posten gewesen war. Er hatte den Mann nicht engagiert, aber nach den Ereignissen letzte Woche auf dem Friedhof von Fishbourne hatte er eingesehen, dass ihnen keine andere Wahl blieb.

»Irgendwelche Besucher?«

»Das Dienstmädchen ist um sieben gekommen«, antwortete Joseph. »Hat so gegen eins Tisch und Sessel auf die Terrasse gestellt. Ansonsten ist keiner gekommen oder gegangen.«

»Lieferungen?«

»Nutbeem liefert nicht so weit raus.«

»Hausierer?«

»Ich hab doch gesagt, da war nichts.«

Doyle blickte erneut aus dem Fenster über den Fluss und den Mühlteich zum Blackthorn House, das friedlich in der Sonne lag.

»Sind Sie … so weit?«, sagte er und bedauerte die Frage sofort.

»Bereit und –«

»Wahrscheinlich wird nichts dergleichen nötig sein«, unterbrach Doyle ihn.

»– in Warteposition«, schloss Joseph und klopfte sich auf die Tasche.

Die Haltung des Mannes gefiel Doyle nicht, aber Raven hatte ihm versichert, dass Joseph das Dorf wie seine Westentasche kannte und bestens für ihre Zwecke geeignet war. Er tat, was man ihm sagte, und stellte keine Fragen. Doyle hoffte nur, dass Ravens Vertrauen gerechtfertigt war. Er hielt es für einen Fehler, sich auf ein solches Individuum zu verlassen, aber die Entscheidung hatte nicht bei ihm gelegen.

Er schob die Hand in die Tasche und übergab ein schlichtes Baumwollsäckchen.

»Danke«, sagte Joseph und öffnete das Säckchen.

»Der Betrag stimmt«, zischte Doyle. »Genau die vereinbarte Summe.«

»Nachzählen schadet nichts, Sir. Erspart einem so manchen Ärger.«

Doyle musste zusehen, wie Joseph die Münzen sorgfältig abzählte, ehe er sie in die Tasche steckte.

»Sind vielleicht auch noch ein paar Glimmstängel drin, zum Wachbleiben? Ginge das?«

Doyle zögerte, dann drückte er Joseph mit kaum verhohlener Wut zwei Zigaretten in die Hand.

»Sie bleiben hier, verstanden?«

»Dafür werde ich ja schließlich von Ihnen und Ihren Kollegen bezahlt, oder?«

Doyle riss der Geduldsfaden, und er machte einen Schritt auf Joseph zu. »Das ist kein Spiel, also vermasseln Sie die Sache nicht. Sonst breche ich Ihnen sämtliche Knochen. Ist das klar?«

Ein langsames, verächtliches Grinsen machte sich auf Josephs Gesicht breit.

»Haben Sie nicht eine Kleinigkeit vergessen?«, sagte er und hielt Doyle den Umschlag vors Gesicht. »Sir.«

Joseph lauschte auf die wütenden Schritte des Arztes auf der schmalen Holzstiege. Er wartete, bis er den Riegel der Tür unten in der Mühle klicken hörte, dann machte er eine obszöne Geste mit der Faust.

Als ob ihn so ein Männlein wie Doyle einschüchtern könnte. Oder auch die Männer hinter ihm. Der machte sich doch vor Angst in die Hose. Von dieser Sorte hatte er schon viele kennengelernt, Männer, die sich niemals die Hände schmutzig machten. Sogenannte Stützen der Gesellschaft. Er hatte schon vor zu vielen von ihnen buckeln müssen, vor Gericht. Aber sobald sie in irgendeinem Schlamassel steckten, kamen sie zu ihm, genau wie alle anderen. Brüder im Geiste.

Er räusperte sich und spuckte lose Tabakfäden aus. Dann nahm er eine von Doyles Zigaretten, die er sich hinters Ohr geklemmt hatte, und zündete sie an. Joseph war egal, warum er dafür bezahlt wurde, ein menschliches Wrack und dessen Tochter auszuspionieren. Das ging ihn nichts an. Er spielte mit den Münzen in seiner Tasche. Gutes Geld, so viel war klar.

Er lächelte. Zuhören lohnte sich.

Er blies einen Rauchkringel in die Luft und spießte ihn mit dem Finger auf, blies dann einen zweiten. Joseph hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ein guter Beobachter zu sein. Deshalb wusste er, wann Mary Christie, das Dienstmädchen, morgens kam und wann sie wieder in das bescheidene Reihenhäuschen neben dem Pumpwerk zurückkehrte, wo sie mit ihrer verwitweten Mutter und den kleinen Geschwistern lebte. Er wusste, dass sie fromme Mitglieder der Gemeinde von St. Peter & St. Mary waren. Er wusste, dass Archie Lintott jeden Samstagnachmittag am Ende der Straße auf das Mädchen wartete.

Gifford kannte er vom Sehen aus dem Bull’s Head. Er hätte Doyle sagen können, wo der Mann an den meisten Tagen zwischen vier und zehn Uhr abends zu finden war, zusammengesunken an einem Tisch in der Ecke. Das Haus zu beobachten wäre gar nicht nötig gewesen. Aber ihn hatte ja keiner gefragt. Und warum sollte er sich selbst um leicht verdientes Geld bringen?