Der Krieg der Elemente - Matthias Oden - E-Book

Der Krieg der Elemente E-Book

Matthias Oden

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Beschreibung

Hinterrücks hat das Herzogtum Chimrien das angrenzende Kaiserreich der Salen angegriffen. Was die reichen und machtgierigen Fürsten des Reiches zunächst als unbedeutende Scharmützel abtun, weitet sich rasch zu einem Debakel aus. Eine salische Stadt nach der anderen fällt, und die Gegner kämpfen mit ungeahnter Grausamkeit. Nichts scheint die Chimren aufhalten zu können – als wären sie mit übernatürlichen Mächten im Bunde. Mächten, die selbst die Kräfte der Natur bedrohlich ins Wanken bringen. Aber noch ahnt niemand das wahre Ziel der chimrischen Heerführerin …

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Seitenzahl: 1067

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Das Buch

Hinterrücks hat das Herzogtum Chimrien das angrenzende Kaiserreich der Salen angegriffen. Was die reichen und machtgierigen Fürsten des Reiches zunächst als unbedeutende Scharmützel abtun, weitet sich rasch zu einem Debakel aus. Eine salische Stadt nach der anderen fällt, und die Gegner kämpfen mit ungeahnter Grausamkeit. Nichts scheint die Chimren aufhalten zu können – als wären sie mit übernatürlichen Mächten im Bunde. Mächten, die selbst die Kräfte der Natur bedrohlich ins Wanken bringen. Aber noch ahnt niemand das wahre Ziel der chimrischen Heerführerin …

Der Autor

Matthias Oden hat Geschichte, Politikwissenschaft und Ethnologie studiert. Er war als Chefredakteur von mehreren Wirtschaftsmedien tätig sowie als Berater für Markenkommunikation. Für seine Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet. Sein Debütroman Junktown eregte bereits Aufsehen und war für den Deutschen Science-Fiction-Preis nominiert. Mit Die Krone der Elemente und Der Krieg der Elemente hat er sein großes Fantasy-Epos vorgelegt. Matthias Oden lebt mit seiner Familie in München.

MATTHIAS ODEN

Die Chroniken der Träume

Zweiter Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Originalausgabe 05/2022

Redaktion: Catherine Beck

Copyright © 2022 by Matthias Oden

Copyright © 2022 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Karten und Illustrationen: Andreas Hancock

Umschlaggestaltung: DASILLUSTRAT, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-22816-3V001

@HeyneFantasySF

www.heyne.de

Für Tim

Ohne Dinos. Aber mit allem anderen

Inhalt

Was bisher geschah

DER KRIEG DER ELEMENTE

Verzeichnis der handelnden Personen

Verzeichnis der Länder und Völker

Karten

Die Welt von Elyrdan

Der Chimmgau

Was bisher geschah

Auch sechs Jahre nach dem Ende der Nechbetkriege kommt die Südgrenze des Herzogtums Chimrien nicht zur Ruhe: Die ständigen Überfälle des unterlegenen Wüstenvolks der Nehebet fordern permanenten Blutzoll. Tyrja Tiwhild, die Oberbefehlshaberin des chimrischen Heeres und Vormund des jungen Herzogs, schickt den Hofsiegelbewahrer Snorri Sagard zu den Nehebet, um echten Frieden auszuhandeln. Was niemand sonst weiß: Zuvor hat sie tief im Schwarztann ein verschollen geglaubtes, halb vergessenes Artefakt gefunden: die Krone der Elemente. Mit ihr im Besitz rüstet sie sich fortan für den nächsten Krieg, den gegen das Heilige Reich Salischer Völker, das den Chimren einst den Chimmgau, den östlichsten Teil ihres Herzogtums entriss.

Das Reich der Salen mag das größte der Welt sein, aber seine Edlen haben sich zunehmend in innere Machtkämpfe verstiegen, und der hochbetagte Kaiser Childeric greift kaum noch aktiv ins Reichsgeschehen ein. Seine Tochter Istrid und der Reichsherold und Wappenkönig Ranke schirmen ihn weitgehend ab. Der Grund dafür: Childeric leidet an beginnender Altersdemenz, die, würde sie publik, die Position der Krone noch weiter schwächte. Als das Herzogtum schließlich das Kaiserreich angreift, hat es den chimrischen Scharen kaum etwas entgegenzusetzen.

Die Erfolge der Chimren sind auch dem mörderischem Vorgehen Tyrjas geschuldet, die ihre in den Nechbetkriegen erprobte Vernichtungsstrategie neu aufleben lässt: Sie weist ihren Ersten Reiter Bjorn an, alle Salen im Chimmgau umzubringen, derer er habhaft werden kann. Auf diese Weise will sie Panik schüren und die Sammlung des an sich hoffnungslos überlegenen Gegners möglichst lange hinauszögern. Dabei hilft, dass sich viele der Chimren des Chimmgaus auch nach mehr als hundert Jahren eher besetzt denn als Teil eines gemeinsamen Reiches sehen. Der Einfall des Herzogtums schürt alten Hass und wird vielerorts als Befreiung begrüßt – mit entsprechend katastrophalen Folgen für die Salen des Chimmgaus.

Eine davon ist Turid, eine Hüterin des Elements der Erde, die in ihrem Heimatort zusehends angefeindet wird und schließlich beschließt, mit ihrer Tochter Asa über die Iffensteine zu ihrem Verlobten in den Teil des Chimmgaus zu fliehen, der vom Herzogtum noch nicht bedroht wird.

Auf andere, aber ähnlich folgenschwere Weise wird auch das Leben ihrer Schwägerin Atlis durch den Krieg aus den Fugen gehoben: Als reichstreue Chimre dient sie in der salischen Gauwehr; vor dem Überfall des Herzogtums ist sie aufgrund ihrer Verdienste zur Gerechten befördert worden, einem Rang, den noch nie ein Chimre innehatte. Diese in der Gauwehr durchaus umstrittene Entscheidung wird beim Angriff ihrer Landsleute jedoch zurückgenommen, und Atlis sieht ihre Loyalität zum Reich zunehmend grundlos infrage gestellt.

Im Tannhausner Tor, einem strategisch enorm wichtigen Nadelöhr in den Iffensteinen, kommt es schließlich zur ersten großen Feldschlacht des Krieges: Dort will das Kaiserreich den Siegeszug der Chimren stoppen. Doch entgegen aller Erwartungen endet die Schlacht mit einem Durchbruch der Chimren und einer vernichtenden Niederlage des kaiserlichen Heeres. Denn als plötzlich chimrische Panzerreiter von der anderen Seite des Tores angreifen, bricht die salische Schlachtordnung zusammen; Atlis selbst überlebt durch Glück das sich anschließende Massaker und flüchtet in die Iffensteine, wo sie wiederum nur knapp einem unerklärlich heftigen Unwetter entkommt. Was sie und auch sonst niemand ahnt: Die Chimren konnten nur mittels der Krone der Elemente in den Rücken der Salen gelangen. Denn Hüterseher Lyndeman Windsinger hat für Tyrja den Heiligen Juwel der Luft, die Reliquie der Chimren, mit der Krone der Elemente vereinigt. Anschließend war sie in der Lage, den Wind so zu lenken, dass er die eingeschifften Panzerreiter flussaufwärts zur anderen Seite des Tannhausners Tor trug.

In Salhall, der Hauptstadt des Reiches, kann sich Ranke angesichts dieser katastrophalen Wendung gegen Istrid durchsetzen und leitet alles in die Wege, damit der Kaiser vor die Versammlung Reichsräte tritt, um dort zur allgemeinen Heerfahrt zu rufen. Im entscheidenden Moment aber erleidet Childeric einen Umnachtungsanfall und zerbricht den rituellen Heerpfeil statt ihn den Edlen zu übergeben.

Weit entfernt von diesen Kriegswirren ist Snorri inzwischen bei den Nehebet angekommen, muss aber erkennen, dass er getäuscht wurde: Der ihn begleitende Bruder von Bjorn, Skel, wie dieser ein Erster Reiter Tyrjas, ermordet den Herrscher der Nehebet und stiehlt den Heiligen Juwel des Wassers, die Reliquie des Wüstenvolks.

Am anderen Ende der Welt erleben die Seher in ihrer Stadt Carcosa ebenfalls tiefgreifende Umwälzungen: Eines ihrer Orakel konstatiert das Ende der Zeit der toten Omen, einer Jahrhunderte währenden Epoche, in der kaum eine Prophezeiung Wirklichkeit wurde und die Zunft der Seher zunehmend an Ansehen verlor. Sie machen sich nun auf, um auf den Traumfeldern, der Welt des Unwirklichen hinter dem Schleier des Schlafs, nach den Prophezeiungen der neuen Zeit zu suchen, finden aber keine einzige. Der Grund dafür offenbart sich dem Seher-Novizen Grautwis auf denkbar ungewöhnliche Weise: In den verlassenen, traumdurchzogenen Straßen der Stadt der Seher trifft er auf eine gelb verhüllte Gestalt, die von sich behauptet, die allererste Seherin überhaupt zu sein – Carcosa, die der Stadt ihren Namen gab und vor mehr als viertausend Jahren lebte. Unter ihrer Anleitung schreibt Grautwis die Ewigen Wisper der neuen Zeit schließlich selbst. Und beschließt, die gefahrvolle Reise über die Traumfelder anzutreten, um den Kaiser des Salenreiches vor tödlichen Gefahren zu warnen, von denen seine Weissagungen künden.

DER KRIEG DER ELEMENTE

1

Amonidas

Er wachte auf. Sein Traum hatte ihn geweckt, aber er konnte sich nicht an ihn erinnern, das konnte er nie. Draußen, jenseits der offenen Kajütentür, war bereits der Morgen zu erahnen; eine feine Linie Rosa am Horizont, darüber das blasser werdende Tuch dunkelblauer Nacht. Amonidas schloss wieder die Augen. Auf dem Rücken liegend lauschte er den gleichmäßigen Ruderschlägen. Sonst war alles still. Noch war es keine Totenruhe, und doch fühlte es sich bereits so an. Er schmeckte das Salz der See auf seinen Lippen, vor allem aber die bittere Würze der Algen. So tief waren sie inzwischen in sie vorgedrungen, dass ihr Duft schwer in der Luft lag. In wenigen Stunden würden sie die Morgeninseln erreichen.

Und mit ihnen das Pesh.

Die Traurigkeit, mit der er wach geworden war, verschwand hinter Visionen aus Gold. Pesh hatte seine Familie reich gemacht, reicher als die meisten, und der Gedanke daran ließ es warm durch seinen Körper rieseln. Inzwischen füllten viele Quellen die Tiefen Kammern Pylaimons, keine aber war so wichtig und einzigartig wie die Traumalge.

Pesh ließ den Schleier zwischen den Welten durchlässig werden, ließ Seher Träume senden und finden. Die Welt brauchte Pesh, und seine Familie gehörte zu den fünf, die es ihr liefern konnten. Der Krieg im Westen, obschon nur wenige Wochen jung, hatte bereits Nachfrage und Preise erhöht. In den Häfen der Symmachie kauften Händler aus dem Salenreich und dem Herzogtum die Lager leer, und alle anderen taten es ihnen nach. Ging es um die Traumalge, wollte niemand, durfte niemand leer ausgehen. Hielt der Krieg an, würde die diesjährige Ernte seiner Familie ein Vermögen einbringen. Selbst Mutter würde zufrieden sein, vielleicht.

Amonidas lauschte in die Stille hinein. Pesh heilte auch. Schlaflosigkeit, natürlich, ebenso Krämpfe, Trübsinn und Atembeschwerden, es bekämpfte Fieber und mancherlei mehr, vor allem aber linderte es Schmerzen. Mit diesem Gedanken kam die Traurigkeit zurück. Mehr konnte die Alge nicht mehr für Horodates tun. Und endlich, nach Stunden, hatte sie es auch geschafft. Beinahe die ganze Nacht über hatte das Wimmern des alten Mannes das Schiff umhüllt.

Amonidas öffnete die Augen wieder und setzte sich auf. Gähnend streckte er sich. Er hatte nicht viel Schlaf gefunden, und wie stets nach dem Aufwachen spürte er die Verspannungen in Nacken und Schulter, heute schlimmer als sonst. Was er auch träumen mochte, Nacht für Nacht bescherte es ihm harte, steife Muskeln, die Eoniki erst wieder weich kneten musste. Singende, bezaubernde, wonnevolle Eoniki. Er sah sich nach ihr um.

Die Sklavin schlief auf der anderen Seite des Betts, nackt, wie sie es immer tat. Gleichmäßig hob ihr Atem ihre Brüste. Im Dämmerlicht der Kajüte zeichneten sich die Höfe der Brustwarzen dunkel von ihrer Haut ab. Er nahm sie oft und gern, sie war weich und liebevoll und konnte mit ihren Händen wahre Wunder vollbringen. Aber seit Horodates gestürzt war, hatte er sie weder singen lassen noch sie angerührt. Solange sein Lehrmeister im Sterben lag, mussten sein Verlangen und sein Rücken warten.

Amonidas stand auf. Er wusste nicht, wie gut sie über Nacht durch die Algen gekommen waren, aber Pinhaan konnte nicht mehr weit sein.

Vor der Kajüte nahmen die beiden Rudergänger ihre Hände von den Pinnen und legten sie aufs Herz. Ebenso wortlos erwiderte er den Gruß und ging übers Hauptdeck zum Bug, entlang der niedergeholten Segelruten, die längs der Schiffsachse am Fuß der Masten lagen. Die meisten seiner Seesoldaten schliefen noch auf den Planken; die wenigen, die bereits wach waren, grüßten ihn ebenso stumm wie die Rudergänger. Die Trotz bot Platz für fünfzig Helme und wurde von einhundertzwanzig Ruderern angetrieben; die eine Hälfte saß unter Deck, die andere hier oben im Freien. Knirschend bewegten sich die Riemen in ihren Lagern, mehr war nicht zu hören; das Trommelschlagen hatte er untersagt. Auf den Bänken saßen erfahrene Männer und Frauen, sie kamen auch so zurecht.

Er hatte sie die Nacht durchrudern lassen, weil er nicht bereit war, von aller Hoffnung Abschied zu nehmen. Vielleicht konnten sie auf Pinhaan Horodates doch noch helfen. Das war sein Herz, was sprach. Sein Verstand sagte ihm anderes.

Vor drei Tagen hatte sich sein Lehrmeister und Hausseher, weit in seinen Achtzigern, bei einem Sturz die Decktreppe hinunter beide Hüften gebrochen. Trotz Pesh war er immer noch fiebrig. Als er gestern Abend nach ihm gesehen hatte, hatte Horodates ihn nicht einmal mehr erkannt. Seine Haut war blass gewesen und klamm.

An der Bugkajüte sah er fragend ins Gesicht des Sklaven, der vor der Tür wachte. Betreten schüttelte der Mann den Kopf. »Er schläft jetzt, Herr«, sagte er leise. »Aber erst seit Kurzem.«

Reglos nahm Amonidas die Worte zur Kenntnis. Er griff zum Geländer ebenjener Unglückstreppe und bestieg das flache Deck der Bugkajüte. Nur mit Bedacht trat er auf: Zwischen ihm und dem alten Mann befanden sich lediglich dünne Holzplanken. Horodates schlief den Pesh-Schlaf, aber Amonidas wollte trotzdem nicht riskieren, ihn zu wecken. Niedergeschlagen legte er die Hände auf die Reling und blickte aufs Meer.

Der rosa Streifen war breiter geworden und kräftiger, das Blau des Himmels heller. Ganz oben standen noch ein paar Sterne am Firmament, einsam und blass, als hätte die Nacht sie vergessen. Das Licht des werdenden Tages gab den Blick frei auf das Dämmermeer, das vollkommen von Algen bedeckt war. Vor der Trotz ruderte das kleine Sucherboot. Die Taster standen mit jeweils einem Fuß auf den Bordwänden und stießen ihre langen Stangen suchend durch die Algendecke.

So kurz vor den Morgeninseln war diese Vorsichtsmaßnahme nötig: Die Algen wuchsen hier so dicht und zäh, dass sie an vielen Stellen bereits begehbar waren. Und an nicht wenigen hatte die Sonne sie so hart gebrannt, dass sie eine ernste Gefahr für jedes Schiff darstellten, das auf sie auflief. Die Algenteppiche trieben lose auf den Wellen und verschoben die Fahrrinne hierhin und dorthin oder drückten ganze Flöze in sie hinein. Es brauchte geschulte Augen, um eine lockere Algenmatte von einem dieser steinharten Ungetüme zu unterscheiden, und jahrelange Erfahrung mit der Stange.

Noch wichtiger als die Taster aber war der Wegsucher, der in ihrer Mitte saß. Die Augen verbunden, die Ohren verstopft, damit nichts ihn ablenken konnte. Er kannte den Kurs, pesh-vernebelt sah er ihn, sah die Fahrrinne inmitten der Algen, und dirigierte sein Boot und damit den ganzen Konvoi mit den Händen.

Er war der wichtigste Mann auf der Fahrt zu den Morgeninseln.

Als Amonidas ihm befohlen hatte, auch die Nacht hindurch den Weg zu suchen, hatte er geflucht wie ein Schmuggler. Amonidas wusste, wie anstrengend das Wegsuchen war. Mehrmals hatte er selbst es übernommen, mit fünfzehn das erste Mal, so wie es Familienbrauch war. Es war eine schlimme Schinderei, die einem auch mit Schlafpausen alles abverlangte. Ohne diese den Weg durch die Algen finden zu müssen … Oh, er verstand den Wegsucher, sehr gut sogar. Nachts mussten sich auch die Taster allein auf ihre Stangen verlassen, die Gefahr eines Schiffbruchs stieg enorm. Aber falls es noch Rettung für Horodates geben sollte, dann war sie auf Pinhaan zu finden, und diese Chance, mochte sie auch noch so klein sein, war jedes Risiko wert. Und wenn der gesamte Konvoi dabei draufginge.

Er hätte Horodates den Wunsch verwehren sollen, mitzukommen. Eine Dromone war kein Platz für einen alten Mann. Horodates aber hatte unbedingt noch einmal die Morgeninseln sehen wollen, wochenlang hatte er ihm damit in den Ohren gelegen. Amonidas hatte ihm einen Wunsch erfüllen wollen; hätte er geahnt, was passieren würde … Hart schluckte er gegen den Kloß an, den er im Hals hatte.

Aber wenn er ehrlich zu sich war, hatte nicht allein Horodates’ Wunsch den Ausschlag gegeben. Sein Lehrmeister war der beste Seher, den Amonidas kannte. Er war präziser in der Deutung von Omen als andere und lag öfter richtig. Er fand die Traumbotschaften, die für ihn bestimmt waren, und manchmal sogar solche, die nicht an ihn hätten gehen sollen. Als Einziger von den vielen Sehern Pylaimons hatte er kürzlich eine Veränderung auf den Traumfeldern bemerkt. Die Ewigen Wisper, darauf bestand er, seien verschwunden, und bald würde etwas geschehen, etwas Großes. Von einer neuen Zeit hatte er gesprochen …

Die anderen Seher hatten gelacht, aber Amonidas hatte keinen Moment an ihm gezweifelt. Auch er spürte es: Die Welt veränderte sich, geriet in Bewegung. Es war nicht nur der Krieg im Salenreich. Türen öffneten sich gerade, Türen voller Möglichkeiten. Amonidas musste nur entscheiden, durch welche er hindurchgehen und an welchen er vorbeilaufen sollte. Dafür hatte er seinen alten Lehrmeister an seiner Seite haben wollen. Schon jetzt war er enorme Wagnisse eingegangen, und jeden Tag wurden sie größer. Was immer Horodates ihm auch von der Zukunft zu zeigen vermochte, er würde jeden Hinweis bitter nötig haben.

An Backbord kam dunkel die Silhouette der Schaumkrone in Sicht, einer Dromone aus der Flotte seines Onkels. Das letzte von vielen, vielen Wracks, die die Fahrrinne nach Pinhaan säumten. Vor vier Jahren war das Schiff auf einen Algenflöz aufgelaufen und aufgegeben worden. Noch hielten die Algen es fest, aber Jahr für Jahr sank es tiefer in sie hinein; bald würde es ganz verschwunden sein. Schon jetzt lag das Oberdeck nur ein paar Handbreit über der Algendecke. Letztes Jahr hatte die Schaumkrone noch beide Masten besessen, jetzt ragte nur noch einer von ihnen in den Himmel. Die Winterstürme mussten sich den zweiten genommen haben. Und inzwischen war das Wrack weit von der Fahrrinne abgekommen, ein willenloses Stück Treibgut, das den ewigen Bewegungen der Algen folgte, bis es von ihnen verschluckt würde. Aber wenn Amonidas die Drift nicht vollkommen falsch einschätzte, konnte Pinhaan nicht mehr als zwei Stunden entfernt sein. Sie waren gut durchgekommen.

Langsam kam der Mast näher. Er wirkte wie ein mahnender Zeigefinger.

Als Amonidas leise Schritte auf der Decktreppe hörte, drehte er sich um. Es war Menophanes, der da hochkam, ein Frühaufsteher wie er selbst. Als der Händler seiner gewahr wurde, hielt er inne, überrascht, seinen Herrn zu sehen. Amonidas winkte ihn heran. Leise huschte er über die Planken. Auch Menophanes war alt, gerade hatte er die sechzig überschritten, aber er war immer noch drahtig und behände. Und eine Erscheinung, die man nicht so schnell vergaß: Borstiges Haar stand von seinem Eierkopf ab, sein Gesicht war sonnengegerbtes Leder, das Weiß seiner Augäpfel gelblich verfärbt, und wenn er den Mund aufmachte, sah man mehr Gold als Zähne.

Amonidas wandte sich wieder der festgefahrenen Dromone zu.

»Herr«, grüßte Menophanes flüsternd, als er ihn erreicht hatte.

Amonidas nickte nur trübsinnig.

Menophanes musterte ihn und folgte dann seinem Blick hinaus zur Schaumkrone. »Es ist nur ein Wrack, Herr, kein Symbol«, sagte er mit ungewohntem Ernst. »Nicht für dich.«

Amonidas wandte sich ihm zu. Menophanes mochte hässlich sein wie ein Krug voll Kröten, aber er war schlau. Er wusste meistens, was seinem Herrn durch den Kopf ging. Und er wusste, was auf dem Spiel stand.

»Du wirst deinen Krieg bekommen«, sagte er.

Amonidas nickte nur.

Zu Hause hatte er vierzehntausend Kämpfer unter Waffen. Sie standen vor Cyranis und warteten, dass er sie in Marsch setzte, und während sie warteten, bluteten sie die Tiefen Kammern leer. Auch er, Amonidas, wartete auf den Moment, aber inzwischen wusste er nicht mehr, wie dieser Moment aussehen würde. Oder ob er überhaupt noch käme.

Mit seinen dreiundzwanzig Jahren war er die bislang größte Wette seines Lebens eingegangen. Derzeit sah es nicht so aus, als würde er sie gewinnen.

Mit Menophanes hatte alles begonnen. Vorigen Sommer war ein Käufer an den Händler herangetreten und hatte Waffen für eine ganze Armee bestellt. An sich nichts Ungewöhnliches: Menophanes beaufsichtigte die Geschäfte seiner Familie in Narses, alle naselang kamen Gesandte aus den Streitenden Kronen herunter und kauften dort Waffen für ihre endlosen Scharmützel. Aber dieser eine Händler … Er hatte so viele Waffen gekauft, dass man mit ihnen die Karte der Kleinkönigreiche neu zeichnen konnte. Menophanes hatte die Gelegenheit erkannt, und Amonidas hatte sie beim Schopf ergriffen und eine eigene Armee aufgestellt, mit der er mitzeichnen würde. Mit ihr, das war der große Plan, würde er das erreichen, was seine Familie schon oft versucht, doch nie geschafft hatte: den Herrschaftsbereich der Toparchen von Pylaimon auf die athanaische Hochebene auszudehnen. Mutter würde stolz sein, zum ersten Mal.

Das war der Plan. Er hätte aufgehen müssen. Und da war das Wort, das bitterste von allen: hätte. »Es ist nichts passiert«, sagte er leise, beinahe zu sich selbst und so, als könne er es immer noch nicht glauben, was irgendwie auch stimmte. Nichts. Wirklich nichts. Die Waffen, die Menophanes verkauft hatte, waren nirgends aufgetaucht, geschweige denn hatten sie einen Krieg begonnen, und die Streitenden Kronen durchlebten eine Phase seltener Friedfertigkeit. Also standen seine Truppen weiter vor Cyranis und harrten aus, seit Monaten schon, ohne Auftrag und Ziel und ohne Sinn. Statt Reichtümer und Ehre häufte er Ausgaben an.

Er war der vielleicht reichste Dreiundzwanzigjährige der Welt. Und er war ein Getriebener.

Die Schaumkrone glitt an ihnen vorüber und verschwand hinter dem Heck. Vor ihnen ging die Sonne auf.

»Nichts ist verloren, Herr. Noch ist alles möglich.« In Menophanes’ Stimme lag ruhige Zuversicht.

Amonidas wusste, dass sie nicht gespielt war. Hinter seiner oft albernen Affektiertheit versteckte der Händler Nerven aus Stahl, die immer dann zutage traten, wenn es heikel wurde. Für ihn war ein Spiel erst verloren, wenn der wirklich letzte Zug getan, der wirklich letzte Würfel gefallen war, niemals früher. Natürlich hatte er jeden Grund, die Hoffnung nicht fahren zu lassen: Fiel Amonidas, fiel auch er. Der Waffenhandel und alles, was daraus gefolgt war, hatte ihn aus Narses in Amonidas’ engsten Kreis getragen; dort würde er mit ihm triumphieren oder mit ihm untergehen. Aber Amonidas wusste, dass der Händler nicht aus Verzweiflung guten Mutes war. Menophanes wollte gewinnen, immer und unbedingt. Darin unterschieden sie sich beide nicht. Im Gegensatz zu ihm dachte Menophanes nur weniger übers Scheitern nach.

»Herr?«

»Ich weiß«, antwortete Amonidas endlich. »Noch ist alles möglich. Auch für Horodates.«

Aber dieses Mal verzichtete Menophanes auf eine aufmunternde Bemerkung. Der Händler würde ihn nicht anlügen, aber sein Schweigen war schlimmer. Wenn selbst Menophanes keine Chance mehr sah … Der Gedanke traf Amonidas wie ein Tritt in den Magen. Bitter schmeckte er die Verzweiflung im Mund. Er wandte sich ab.

Wortlos sah er auf die Algen hinaus, bis Pinhaan in Sicht kam.

Die größte der Morgeninseln dampfte im Licht der aufgehenden Sonne. Dichte Schwaden stiegen von ihren grünen Vulkanhängen auf. Vogelschwärme stießen durch den Nebel, hell klangen ihre Schreie herüber. Von den tangbedeckten Stränden grüßten aufgereiht die kolossalen Basaltwürfel, in die die Faani ihre sieben heiligen Tiere gehauen hatten: Rüsselkäfer, Schlange und Schmetterling, Schildkröte, Fink, Mücke und Orang.

Als beträten sie eine andere Welt, dachte Amonidas, so wie jedes Mal.

Die Fahrrinne führte sie von Süden heran, sodass sie freien Blick hatten auf Khuld, die Hauptsiedlung Pinhaans. Die meisten Häuser Khulds standen jedoch nicht auf der Insel, sondern vor der Küste, erbaut auf einem Riff, das weit ins Dämmermeer ragte. Die flachen Einbäume der Faani glitten zwischen ihnen über die Algen. An Land hingegen stand das imposanteste Gebäude Khulds: Zu groß und massiv, um auf den Korallenbänken zu fußen, durchbrach die sechseckige Stufenpyramide das Blätterdach des Regenwalds. Vom Tempel auf ihrem Dach stieg der Qualm verbrannten Peshs auf und vermischte sich mit dem Nebel. Amonidas konnte die Priester in ihren grünen Kultgewändern sehen, wie sie ihren endlosen Kreis um die Glutschale herum beschritten, die Schläge ihrer Bauchtrommeln dröhnten dumpf in der Luft. Tagelang konnten sie das durchhalten, ohne Pause, ohne Nahrung oder Wasser.

Vor ihm im Boot nahm der Wegsucher seine Augenbinde ab und brach zusammen. Er hatte sie sicher durch Nacht und Algen geführt, jetzt konnte er nicht mehr. Amonidas nahm sich vor, dem Mann doppelten Lohn zu zahlen. Er hatte ihn sich verdient. Das Boot fiel nach hinten weg, mit kräftigen Ruderschlägen fuhren die sechs Dromone des Konvois an ihm vorbei.

Auf den Algen waren trotz der Frühe bereits etliche Faani unterwegs. Der Teppich war hier so dicht, dass sie nur etwas über die Knöchel einsanken. Die Tupfen ihrer weinroten Haare sahen vor dem Dunkelgrün aus wie Blumen in einem Beet.

So nah an den Morgeninseln gab es keine Pesh-Blüten, für die musste man weit nach Osten wandern, dorthin, wo selbst die Einbäume nicht mehr genug Wasser unter den Rumpf bekamen. Aber die Faani bauten kein Getreide an und jagten nicht, sondern ernährten sich hauptsächlich von essbarem Tang, den sie zwischen den Algen aufsammelten. Im Rahmen der Begrüßungszeremonie aß Amonidas jedes Mal das Brot, das sie daraus buken; es schmeckte abscheulich. Aus gutem Grund führte seine kleine Flotte Korn, Pökelfleisch und Hartkäse mit sich. Im feuchten Klima der Morgeninseln ließen sich Lebensmittel nur schlecht lagern, und was sie mitbrachten, reichte nie übers Jahr. Aber zumindest in den ersten Monaten nach Abholung der Ernte konnten die Mannschaften, die zurückblieben, die Speisen ihrer Heimat essen.

Wer den Konvoi bemerkte, hielt inne. Grußlos standen die grauhäutigen Faani auf den Algen und folgten ihnen mit den Blicken. In der Fahrrinne stoppte ein Katamaran seine Fahrt und ließ sie passieren. Große, grüne Augen sahen von dem niedrigen Boot zu ihnen empor, undeutbar, teilnahmslos.

Amonidas konnte nicht von sich behaupten, dass er die Faani verstand. Nicht einmal, dass er jemanden kannte, der das tat. Was in ihren Köpfen vorging, war aller Welt ein Rätsel. Wahrscheinlich lief es andersherum genauso. Seine Gedanken kreisten beinahe ausschließlich um die Frage, was er mit seiner nutzlosen Armee anstellen sollte. Die Faani aber führten keine Kriege, Gewalt lehnten sie ab. Der Herrschaft der Symmachie über ihre Inseln hatten sie sich nie widersetzt. Nur ein einziges Mal hatte es Aufruhr gegeben, kurz nach Beginn der Besatzung vor mehr als dreihundertfünfzig Jahren, nachdem eine betrunkene Soldatin eine der heiligen Tempelschildkröten tötete. Die Unruhen forderten Dutzende Opfer auf beiden Seiten. Als die aufgebrachten Faani die Pesh-Lager stürmten und beinahe die Ernte eines ganzen Jahrs in Flammen aufging, sah die Symmachie schließlich ein, dass es sie billiger käme, Abbitte zu leisten: Jeder Soldat, jeder Beamte, jeder Athanaier auf jeder Morgeninsel beging das Sühneritual der Faani. Seitdem war auf den Morgeninseln nie wieder eine Schildkröte auch nur angerührt worden. Nicht einmal das Essen der Eier war den stationierten Truppen noch erlaubt. Der Schildkröten-Aufstand galt den Symmachen bis heute als Symbol für die Verbohrtheit der Faani: die Besetzung ihrer Inseln hinzunehmen, aber wegen einer toten Schildkröte einen Aufruhr anzuzetteln … Sie waren wie Kinder. Man hatte ihnen den Pesh-Handel geradezu aus den Händen nehmen müssen, zu ihrem Wohl und dem der Welt. Dass sie auch das hatten geschehen lassen, war nur ein Beweis, den es nicht mehr gebraucht hatte.

Amonidas aber fragte sich einmal mehr, ob die Faani am Ende nicht die Klügeren waren. Manchmal, wenn er nachts darauf wartete, dass endlich der Schlaf käme, konnte er den Druck auf sich beinahe körperlich spüren. Ganze Schiffsladungen von Erwartungen schnürten ihm den Atem ab.

Und was immer die Faani auch träumen mochten, er bezweifelte, dass sie mit verspanntem Rücken aufwachten.

Unter den Geruch des Algenteppichs mischte sich der des verbrannten Peshs vom Tempeldach, während sie näherkamen. Die Trommeln wurden lauter. Die Trotz glitt durch eine Nebelbank, und kurzzeitig verschwand Khuld aus den Augen. Ein Dämmerreiher tauchte in dem Weiß auf. Mit trägen Flügelschlägen passierte das orangerot gefiederte Tier die Dromone und tauchte wieder in den Nebel ein.

Unter Trommelschlägen legten die Trotz und die anderen fünf Dromonen schließlich an der Mole der Herren an. Die Luftfeuchtigkeit war erdrückend.

Amonidas ließ die Empfangszeremonie über sich ergehen, aß das Algenbrot und nahm den Lebenssegen in Empfang, der jedem Ankömmling mit grüner Farbe auf die Stirn gemalt wurde. Danach begrüßte er Anaximande, seine Statthalterin. Ihrem erschöpften Gesicht war anzusehen, dass sie bereits das dritte Jahr auf Pinhaan residierte. Horodates wurde an Land getragen. Amonidas sah der Bahre mit seinem bewusstlosen Lehrmeister nach, aber er wusste, dass es nun nicht mehr an ihm war. Die Faani hatten begnadete Heiler, entweder sie konnten Horodates helfen oder niemand mehr. Er bat die Hausgötter seiner Familie, Gnade zu haben. Horodates und er hatten noch so viel zu besprechen; er, Amonidas, hatte noch so viel zu besprechen.

Während die Truppen und schweißnassen Ruderer an Land gingen, bestieg Amonidas einen Einbaum und ließ sich durch die Kanäle der Stadt zu den Pesh-Lagern rudern. Menophanes und die anderen Händler folgten auf eigenen Nachen.

Wie so oft auf den Dämmerinseln verschwand die Sonne nach kurzem Aufstieg hinter einer dichten Wolkendecke. Mit jedem Moment wurde es schwüler; gegen Mittag würde es regnen, das tat es immer. Amonidas aber war bereits nass, der Seidenchitton klebte ihm an der Haut wie der Tang an den Fundamenten der Häuser. Durch den dumpfen Trommelschall hindurch fuhr sein Einbaum langsam an ihnen vorbei. Aus den Bergen Pinhaans hatten die Faani Tausende mitunter gigantische Basaltprismen herbeigeschafft und sie auf die Korallenbänke geschichtet. Auf den so entstandenen Plattformen hatten sie ihre Stadt erbaut. Nur gemächlich setzte die Flut wieder ein, sodass die mannshohen Unterbauten noch feucht glänzend bloß lagen. Amonidas’ Blick glitt von einer dieser kantigen Sechsecksäulen zur nächsten, die wie Holzscheite versetzt übereinander lagen, und wieder einmal musste er den Kopf schütteln über den betriebenen Aufwand. Er konnte keinen Sinn darin entdecken, eine Stadt vor die Küste zu setzen, wenn man sie auch an Land hätte bauen können. Vor allem, wenn man dafür die Ausbeute mehrerer Steinbrüche Hunderte Stadien weit durch den Regenwald herbeischaffen musste.

Er atmete tief durch. Sinn, Unsinn, wo zog wer die Grenze? Die jahrhundertealten, kunstvoll mit Tiergesichtern verzierten Bauten der Faani erschienen ihm sinnlos, aber war sein Streben tatsächlich so anders?

Abgekämpft schüttelte Amonidas den Kopf. Jedes Mal, wenn er nach Pinhaan kam, überfielen ihn solcherlei Gedanken. Es war, als würde die Insel diese Zweifel in ihm wecken, mit ihrer fremden, traumartigen Atmosphäre, mit ihren Nebeln, Trommeln und den stummen Gesichtern, die nie ganz von dieser Welt zu sein schienen. Und jedes Mal, wenn er Pinhaan wieder verließ, nahm er mehr von diesen Gedanken mit.

Einer nach dem anderen stiegen sie aus den Einbäumen und die algenbewachsenen Stufen hoch, die zu den Lagerhäusern führten. Pesh-Blüten mussten, damit sie nicht verfaulten, nach der Ernte schnell weiterverarbeitet werden. Dazu wurden sie vorsichtig zwischen den Händen gerieben, um das Harz aus ihnen herauszupressen. Das Harz wurde gesammelt, in der Hand erwärmt und zu kleinen Kugeln geformt. Es war eine zeitraubende Arbeit, selbst erfahrene Pesh-Dreher konnten am Tag nur etwa sechs Schekel Pesh gewinnen, so viel, wie ein Ei wog. In den Lagerhäusern aber warteten Tausende und Abertausende Schekel darauf, von ihnen abgeholt und verschifft zu werden. Die Arbeit eines ganzen Jahres.

Bereits auf der Mole hatte ihm Anaximande mitgeteilt, dass die Ernte dieses Mal außerordentlich reichhaltig ausgefallen sei. Die Sammler hätten deutlich mehr Blüten als sonst gefunden, und das aus ihnen gewonnene Pesh habe sich als besonders potent erwiesen. »Wie die Tränen eines jungen Gottes«, sagte sie jetzt wieder, als sie die Tore des ersten Lagers öffnen ließ. »Überzeuge dich selbst, Herr, es ist das beste Pesh seit Jahren.«

Ein Faan brachte ihm eine der kleinen, in Palmblätter gewickelten Kugeln und schnitt ihm mit einem Messer ein Stückchen ab. Mit der Fingerspitze tippte Amonidas das Pesh von der Spitze der hingehaltenen Klinge. Es war klebrig, mehr als üblich, und als er es in den Mund nahm, überraschte ihn der intensive Geschmack. Nach der Bemerkung seiner Statthalterin hatte er hohe Erwartungen gehabt, aber die Intensität übertraf alles, was er jemals gekostet hatte.

»Siehst du?«, sagte Anaximande zufrieden, als sie seinen Gesichtsausdruck sah. »Ich habe nicht zu viel versprochen.«

»Ist die gesamte Ernte so?« Er bedeutete dem Faan, Menophanes und die anderen Händler ebenfalls probieren zu lassen.

»Ja, ist sie. Es gab kaum schwächere Proben.«

»Und die der anderen Inseln?«

»Nach allem, was wir wissen, leider ja, aber …« Sie grinste.

»Aber das spielt keine Rolle«, vollendete Amonidas den Satz und schmeckte dem Pesh nach. Inzwischen hatte es sich vollkommen aufgelöst, ein weiteres Zeichen seiner hohen Qualität. Je schneller Pesh im Mund schmolz, desto wirksamer war es. Für dieses Pesh konnten sie praktisch verlangen, was sie wollten. Dass die anderen Familien ein ähnlich gutes Produkt auf den Markt bringen würden, war ein Wermutstropfen, am Ende aber unwichtig. Die Nachfrage würde für sie alle reichen. Begeistert klatschte er in die Hände.

»Götter!«, ließ sich nun auch Menophanes hören. »Was für ein Aroma!« Er grinste über die ganze Breite seiner Goldzahnreihen. »Selbst wenn wir das strecken – man wird es uns aus den Händen reißen.« Kichernd wischte er sich mit dem Handrücken über die Lippen.

Menophanes hatte recht, sie konnten damit mühelos vertrocknete Restbestände unters Volk bringen, aber das waren Überlegungen, mit denen sich Amonidas gerade nicht beschäftigen wollte. Dieses Pesh hatte es verdient, genossen zu werden. Er ließ sich von dem Faan einen weiteren Brocken herunterschneiden.

»Vorsicht, Herr«, sagte Anaximande, »du hast noch ein paar Lagerhäuser und Stichproben vor dir. Nicht, dass du bereits träumst, bevor wir durch sind.«

Es war ein Scherz, aber einer mit ernstem Kern. Obwohl er von weiteren Doppelproben absah, fühlte sich Amonidas am Ende der Verkostung merklich benommen. Zwischen seinen Schläfen drehte sich sein Hirn wie ein langsam eiernder Kreisel.

Schließlich ließ er sich auf seinem Einbaum zum Palast von Khuld fahren. Als er dort beim Aussteigen von einem Sklaven angesprochen wurde, hatte er Schwierigkeiten zu verstehen, was der Mann ihm sagen wollte.

Erst beim dritten Versuch begriff er, dass Horodates gestorben war.

In dem Gemach, in dem man seinen Lehrmeister aufgebahrt hatte, verbrannte Myrrhe auf einem Kohlenbecken. Vasen mit frischen Orchideenblüten standen um den Leichnam herum. Zum ersten Mal, seit Amonidas auf Pinhaan angekommen war, hatte er keinen Pesh-Geruch in der Nase. Erschüttert trat er an die Bahre heran. »Kyron«, flüsterte er hart schluckend, Meister.

Im Tod waren Horodates’ Züge friedlich; er hatte gelitten, aber zumindest sein Sterben war schmerzfrei geblieben. Es gab kein Antlitz, das Amonidas länger oder besser kannte, keines, das ihm lieber war. Horodates hatte ihm Sprechen, Lesen und Rechnen, Laufen, Schwimmen und Lieben beigebracht, und so vieles mehr. Er war klug, sogar weise gewesen, vor allem aber gütig. Keine Eigenschaft, die im Palast von Pylaimon hoch angesehen war, aber Amonidas hatte den alten Mann dafür verehrt. Nie war er von ihm geschlagen worden, nie hatte er ein hartes Wort verloren, wenn Amonidas als Kind wieder einmal nicht hatte spuren wollen. Die härteste Strafe, die Horodates gekannt hatte, war der enttäuschte Ausdruck in seinem Gesicht gewesen, und dieser Ausdruck hatte Amonidas mehr erzogen als die Stockhiebe seiner Mutter. Horodates’ Ansprüchen gerecht zu werden, war seine Richtschnur gewesen, und, Götter, wie oft hatte er sie verfehlt. Horodates aber hatte nie die Geduld verloren, nie an ihm gezweifelt.

Und nun war er fort. Beinahe ein Vierteljahrhundert seines Lebens hatte Horodates für Amonidas aufgeopfert, er aber war nicht bei ihm gewesen, als er gegangen war. Nicht einmal das.

Die Wut kam plötzlich, wie sie immer kam, vertraut wie ein falscher Freund, und zusammen mit dem Schmerz war sie übermächtig. Mit einem Schrei fegte Amonidas die Vasen von der Bahre. Er schrie noch, als sie auf dem Boden platzten, und er schrie immer noch, als sich die Wasserlachen zu einer verbanden und zwischen den Scherben und Blüten ausbreiteten. Der Wut folgten die Tränen, und sie kamen mit nicht weniger Gewalt. Er vergrub das Gesicht in den Händen und weinte um den Mann, der in allem bis auf den Akt der Zeugung sein Vater gewesen war.

»Du hast ihn geliebt.«

Amonidas nahm die Hände vom Gesicht und sah auf. Im Durchgang stand eine Faan. Er nickte stumm.

»Ich will dich in deiner Trauer nicht stören«, sprach die Frau weiter. »Ich wollte dir nur sagen, dass ich an seiner Seite war, als er starb. Ich konnte nichts mehr für ihn tun. Und als er bereit war, habe ich ihn gehen lassen.«

»Du warst …« Mit einem Räuspern befreite er seine Kehle von Tränen. »Du warst bei ihm?« Er wischte sich über die Augen. Sie brannten vom Salz, und sein pesh-schwerer Kopf dröhnte im Takt der Trommeln, die von der Pyramide und durch die Stadt wummerten. »Hat er, hat er noch etwas …?« Er brach ab, er konnte nicht mehr weitersprechen.

»Nein. Er starb, ohne noch einmal das Bewusstsein zu erlangen. Es war ein sanfter Tod. Ich werde jetzt gehen.« Sie wandte sich um.

»Nein«, rief Amonidas und streckte impulsiv die Hand nach ihr aus. »Bleib. Ich bitte dich. Ich will reden.« Reden gegen das Dröhnen und die Leere und den Schmerz. Er konnte jetzt nicht mit sich allein sein.

Die Frau neigte den Kopf und trat vollends in den Raum. Sie war jung, keine zwanzig Jahre schien sie ihm. Wie alle Faani hatte sie volles, dunkelrotes Haar und sehr blasse, hellgraue Haut. Von ihren kräftigen Schultern fiel ein lockeres grünes Kleid mit roten Schmetterlingen darauf. Einen Schmetterling trug sie auch als Anhänger an einer kurzen Kette, sein Körper ein grün schimmerndes Juwel, an dem silberne Flügel befestigt waren. Dunkelgraue Sommersprossen sprenkelten ihre Wangen. Sie stellte sich nah an ihn heran und blickte zu ihm auf. Unter breit gezogenen Lidstrichen forschten grüne Augen in seinem Gesicht, die deutlich älter wirkten als ihre fast noch kindlichen Züge. Amonidas sah Neugierde in ihnen. Mitgefühl sah er nicht. »Worüber willst du reden, Herr?«, fragte sie. Ihr Athanai war beinahe akzentfrei.

»Wie … wie heißt du?«

»Raaz.«

»Und du bist eine Heilerin, Raaz?«

»Ich bin vieles. Manchmal heile ich. Wenn ich es noch kann.«

Amonidas sah auf Horodates hinunter. Wieder füllten sich seine Augen. Er zwang sich zu reden. »Wenn ihr jemanden verliert, der … euch etwas bedeutet hat – trauert ihr dann wirklich nicht?«

»Nein. Leben kommt, Leben geht. Aber immer bleibt es. Leben endet, ohne zu enden. Wieso sollten wir darüber traurig sein?«

»Ihr seid ein sonderbares Volk.« Die Faani verehrten keine Götter, nur das Leben an sich, jindaagi, eine ewige Schöpfungskraft, die alles zusammenhielt. Wie so vieles bei ihnen fand Amonidas auch das nur schwer bis gar nicht verständlich. Wenn es keine Götter gab, wer sollte einem sagen, was richtig war und was falsch?

»Wir sind ein zufriedenes Volk.«

Amonidas wusste darauf nichts zu antworten. Für einen Moment war es still im Raum, still bis auf die Trommelschläge. Das Pesh bearbeitete im selben Takt seinen Geist. Das war Khuld, waren die Morgeninseln, ging es ihm durch Kopf: Pesh und Trommeln, Pesh und Trommeln.

»Der Tote war dein Lehrer?«, fragte ihn Raaz nach einem Moment des Schweigens.

»Ja. Mehr als das. Er … er hat mich geformt.« Er musste wieder schlucken. Horodates sah so friedlich aus. »Jedenfalls die Teile, auf die ich stolz bin.«

»Ich verstehe.«

Amonidas sah sie an. »Tust du das?«, fragte er sie.

Raaz blickte zurück. »Lass uns über Krieg reden.«

Überrascht zuckte Amonidas zurück. »Krieg?«

»Krieg beschäftigt dich doch.«

»Was bist du? Eine Seherin?« Verstört versuchte er, in den grünen Augen Antworten zu erkennen. Wieder spürte er das Pesh in seinem Kopf wirbeln.

»Ich bin vieles. Wir Faani brauchen kein Carcosa. Aber auch wir können Gesichte haben. Manchmal sehe ich Dinge.«

Amonidas zögerte, immer noch irritiert. Die seltsam mäandernde Unterhaltung mit der jungen Frau, die so nah bei ihm stand, fing an, ihn zu überfordern. Er zog die Tränen hoch und schluckte sie. »Was wisst ihr Faani schon von Krieg?«, fragte er beinahe trotzig.

»Genug, um von ihm abzusehen.« Zum ersten Mal während ihres Gesprächs wandte sie den Blick ab und ließ ihn ins Unendliche gleiten. »Wir sehen Schlimmes vom Krieg im Westen.«

Der Krieg im Westen. Das große, mächtige Salenreich brannte, und was Horodates und die anderen Seher an Kunde von den Traumfeldern zurückgebracht hatten, überstieg die üblichen Grausamkeiten. Wenn die Träume nicht logen, verwandelten die Chimren die Länder, die sie eroberten, in einen Friedhof. »Wir auch«, antwortete er tonlos.

»Was wirst du dagegen tun?« Ihr Blick kehrte zu ihm zurück.

»Ich?« Verblüfft griff sich Amonidas an die Brust. »Was sollte ich dagegen tun können?«

»Du bist reich. Unser Pesh füllt deine Taschen. Du hast eine Armee.«

Er kniff die Augen zusammen. »Das weißt du?«

Sie hielt seinem Blick stand. Welche seiner Geheimnisse versteckten diese ruhigen, alten Augen noch?

»Manchmal sehe ich Dinge.«

»Und du willst, dass ich mit meiner Armee was mache? Den Krieg im Westen beende? Unmöglich.« Was für ein absurder Gedanke. Nur ein Faan konnte auf so eine Idee kommen. Aber wieso fühlte er sich plötzlich, als müsse er sich rechtfertigen? Es musste am Pesh liegen, sagte er sich, es machte empfänglich für die abstrusesten Überlegungen. »Der Krieg ist ganz woanders. Wir könnten nie … Und außerdem – du hast selbst gesagt, dass ihr Krieg ablehnt. Und jetzt soll ich einen führen?«

»Du wirst diese Armee nicht auflösen. Du wirst so oder so einen Krieg führen. Dann führe den, der am wenigsten falsch ist.«

Amonidas schüttelte den Kopf. Er war perplex. »Du bist eine seltsame Frau, Raaz.«

»Ich bin vieles. Eine Frau bin ich nicht.«

Im ersten Augenblick dachte Amonidas, sie würde ihr junges Alter meinen, dann begriff er. Seine Augen weiteten sich. Ihre Haartracht und die Andeutung von Brüsten unter dem weiten Kleid, die helle Stimme … dazu die fein gezupften Augenbrauen, der Lidstrich, das weiche Gesicht. Es war eine gute Maskerade. Aber jetzt, da er es besser wusste, fielen ihm die dünnen Lippen und der breite Kieferknochen auf. Die kräftigen Schultern. Und zeichnete sich nicht ein leichter Kehlkopf über der Schmetterlingskette ab? Raaz war ein Mann. Aber nein, auch das stimmte nicht ganz, jedenfalls, wenn man es wie die Faani hielt. Raaz war eine dohru, ein Zweigeist, der beide Geschlechter in sich vereinte und doch keines von beidem war. Als eines von beiden geboren, führten dohru das Leben des jeweils anderen.

»Ha«, sagte Amonidas. Auf den Morgeninseln waren dohru nicht einmal wirklich selten, aber er hatte – zumindest wissentlich – noch nie mit einer gesprochen. Er fühlte sich unbeholfen.

»Ha«, sagte Raaz.

Wieder war das Trommelschlagen der Tempelpyramide das einzige Geräusch im Raum.

»So«, fing sie schließlich wieder an.

»Ja, so«, erwiderte Amonidas, erleichtert, dass sie das Schweigen beendete.

»Du hast mit deinem Lehrer auch deinen Seher verloren.«

»Ja …?«

»Du brauchst einen neuen.«

Abwehrend hob er die Hände. »Götter, nein!«, rief er aus, »du wirst nicht mein Seher!«

Raaz sah ihn an, ruhig und mit ihren wissenden, grünen Augen.

In Amonidas’ Kopf wirbelte das Pesh. Er sah zu Horodates, dann wieder zurück zu ihr. Was hätte ihm der alte Mann geraten? Er wusste es nicht, nur, dass diese Begegnung am Totenbett seines Lehrmeisters etwas bedeuten musste. Es konnte anders nicht sein. Nur was sollte sie besagen? Sollte er Raaz wirklich als Seherin annehmen? Unter allen anderen Umständen hätte er den Gedanken als vollkommen aberwitzig abgetan, aber hier und jetzt … 

Trommeln und Pesh.

Er fühlte sich wirr, traurig und aufgedreht, als wäre die ganze Welt auf den Kopf gestellt. Und hatte Horodates’ Tod nicht genau das getan? Vor seinem geistigen Auge wirbelten die Waffen und seine Armee, Horodates und Raaz, die Scherben der Vasen, die Orchideen, das Pesh, die Dromonen, die Inseln. Ihm schwindelte. Raaz, Raaz, Raaz, Pesh, Pesh, Pesh.

Taumelnd griff er an die Bahre und stützte sich ab. Er spürte seine steinernen Schultern wieder, den Druck auf seinem Brustkorb. Angestrengt atmete er durch. »Du bist vieles, Raaz«, sagte er, weil er nicht anders konnte, »und ab heute auch meine Seherin.«

»Gut«, sagte Raaz.

Und Amonidas hoffte inständig, dass sie recht hatte.

2

Istrid

»Vater?«

Childeric öffnete die Augen. Langsam kehrte der Geist in seinen Blick zurück. »Istrid, mein Leben«, sagte er, als er ihrer gewahr wurde, und ein Lächeln erschien in seinen Falten. »Du kommst mich besuchen!« Er tastete nach ihrer Hand, die auf der Bettdecke lag, und tätschelte sie. »Istrid. Istrid …«

»Natürlich, Vater. Ich wollte nach dir sehen. Ich war mir nur nicht sicher, ob du schläfst …«

»Nein, nein, ich habe nur geruht.« Der Kaiser rutschte ein wenig in den Kissen nach oben, in denen er gelegen hatte. »Ich bin nur müde, und es ist Frühling.«

Er war so dünn geworden, dachte sie, und so gebrechlich. Sie saß auf der Bettkante und spürte die ausgemergelte Hand ihres Vaters auf ihrer. Die Berührung beruhigte und erschreckte sie gleichermaßen. So schwach. »Ja«, antwortete sie, »es ist Frühling. Aber es ist kein schöner Tag heute, sieh.« Mit dem Kopf lenkte Istrid den Blick ihres Vaters zu den hohen Fensterscheiben. Eingefasst in eisernes Eschenlaubwerk türmten sich hinter ihnen dunkle Wolken. Sie waren im obersten Stockwerk Noggdrarsils, hier gab es nur noch Himmel. »Es wird wohl bald regnen.«

»Ja, Regen …« Childeric blickte hinaus. Schlohweiß umrahmten Haare und Bart sein müdes Gesicht, in dem die hellen blauen Augen verloren dem Flug der Wolken folgten.

»Hast du Hunger, Vater? Oder Durst? Soll ich dir etwas kommen lassen?«

Bestimmt schüttelte er den Kopf. »Weder das eine noch das andere. Meine Blumen, die vermisse ich. Aber in Salhall gibt es keine Blumen.«

Istrid beugte sich vor und strich ihrem Vater die langen weißen Haarsträhnen glatt, auf denen er gelegen hatte. »Doch, die gibt es«, sagte sie sanft. »Ich werde dir welche bringen lassen.«

»Tu das, Istrid, bitte.«

»Ja, Vater. Aber ich werde jetzt gehen müssen.«

Unglücklich sah er sie an, plötzlich ganz wach. »Es hat mit dem Heerpfeil zu tun, nicht wahr? Weil ich ihn zerbrochen habe. Ich weiß nicht, warum … Ich weiß es nicht. Ich hätte es nicht tun dürfen, nein.«

»Es ist gut, Vater«, sagte sie und strich ihm noch einmal übers Haar. »Es wird alles in Ordnung kommen.«

»Ich weiß nicht, was gestern in mich gefahren ist. Es war alles ganz laut … und … alles ist so durcheinander.« Childeric schüttelte den Kopf. »Ich muss das wieder geradebiegen. Ich bin der Kaiser, das wird von mir erwartet. Was habe ich nur getan?«

Er wollte sich aufrichten, doch sie drückte ihn zärtlich zurück in die Kissen.

»Vater«, sagte sie, »mach dir keine Sorgen.«

Mehr sagte sie nicht, denn mehr gab es nicht zu sagen. Ihr Vater wusste offensichtlich nicht, dass sie diese Unterhaltung nicht zum ersten Mal führten, so wenig, wie er wusste, dass es nicht einen, sondern fünf Tage her war, seit er den Heerpfeil zerbrochen hatte. Die Tage verschwammen für ihn und sanken ineinander, und so sank Istrids Hoffnung. Äußerlich war sie gefasst und die Tochter, die ihr Vater kannte, aber innerlich zitterte sie. Seit fünf Tagen zitterte sie, und die Angst schnitt ihr fast die Luft ab.

»Ich muss jetzt gehen«, sagte sie, die Tränen zurückhaltend. »Aber ich komme wieder.«

»Ja, Istrid, tu das. Ich freue mich so sehr, dich zu sehen.«

»Natürlich, Vater. Ich freue mich auch.« Das tat sie, aber es zerriss ihr auch das Herz.

Sie stand auf und drückte ihrem Vater einen Kuss auf die Stirn. »Ruh dich aus. Komm zu Kräften. Das Reich braucht dich.«

»Es ist Frühling, Istrid«, rief er ihr hinterher, »bring mir bitte Blumen mit! Sie fehlen mir so sehr.«

»Das tue ich, versprochen«, antwortete sie, und dann schossen ihr doch noch die Tränen in die Augen.

Sie tat es jeden Tag.

An den Vasen vorbeigehend, verließ sie den Raum.

In ihren Gemächern ein Stockwerk darunter wartete Helgid. Wie immer wusste Helgid schon, wie es ihr ging und was sie brauchte, und nahm sie in den Arm. Istrid schloss die Augen, sog den Duft ihrer Frau ein und genoss die Berührung. Dann wischte sie sich die Tränen ab. »Danke.«

Und Helgid, klug und klein und hübsch und der beste Mensch der Welt, sagte nur: »Immer.«

»Es ist schrecklich, ihn so zu sehen.«

»Ich weiß.«

»Und ich kann mich kaum um ihn kümmern. Nicht einmal eine Stunde war ich jetzt bei ihm …«

»Du tust bereits mehr, als du solltest, Süße, das weißt du.« Wenn sie allein waren, nannten Helgid sie immer so. Istrid mochte es. Es war kindisch, aber sie fühlte sich in diesem Wort geborgen. Und noch so vieles mehr, nur nicht wie eine Prinzessin, und das war wichtig. »Du tust, was du kannst, du bist da für ihn. Aber du kannst dich nicht nur um ihn kümmern. Nicht jetzt. Du musst vor allem auch an dich denken. Wenn du nämlich schlappmachst, hilfst du keinem.«

Helgid hatte recht, wie so oft. Verzagt nickte Istrid, dann versuchte sie sich an einem Lächeln. Sie scheiterte.

»He«, sagte Helgid und nahm Istrids Kopf zwischen die Hände. Sanft zog sie sie zu sich herunter und küsste sie. »Ich will dich nicht so traurig sehen.«

Wieder kamen Istrid die Tränen, aber sie hielt ihren Blick weiter auf Helgid gerichtet. Helgid hatte braune Augen, für eine Salin edler Geburt ein Makel, aber für Istrid waren sie perfekt. Beinahe nicht von dieser Welt. »Ich wünschte«, sagte sie, »wir könnten für immer so bleiben. Und ich könnte für immer in deine Augen sehen.«

Helgid lachte. »Ich würde einen steifen Nacken bekommen. Außerdem …«, sie gab Istrids Wangen frei, »man hat dir das Schwert gebracht.«

Das Schwert.

»Ja? Wo ist es?«, fragte sie freudlos.

»Auf dem Tisch im Speisesaal. Komm.« Helgid nahm sie an der Hand. Widerstrebend folgte sie ihr.

Das Schwert lag eingehüllt in die schwarz-gold-schwarzen Reichsfarben am unteren Ende der Tafel. Istrid schlug das Tuch zurück und besah sich die Waffe. Sie war die wertvollste ihrer Art, ein Khanwa, ein Schwert aus Vandran. Sein Name war Baqqlabang, Dunkelstern. Früher hatten die Könige von Vandran Baqqlabang geführt als Zeichen ihrer Macht, heute gehörte es zum Kronschatz des Reiches. Die breite Klinge wurde der Heilsgarde übergeben, wenn die Leibwache des Kaisers in den Krieg zog, und deswegen lag sie nun auf Istrids Tisch. Die Scheide, in der sie steckte, war schwarz; schwarz war auch die ovale Scheibe, die sie statt Parierstangen besaß, schwarz der Griff und ebenso der schmale Fingerschutz, der sich vom Heft hinunter bis zum dornenbewehrten Knauf bog. Schwarz schimmerten selbst die Opale, mit denen Scheide und Griff verziert waren. Nur das Gold der dünnen Einlegearbeiten zwischen den Steinen glänzte hell. Schwarz, so hieß es, sollte auch die Klinge selbst sein, geschmiedet aus dem seltenen Nachtstahl des Inselreichs. Istrid machte sich nichts aus Waffen, aber diese hier war schön, sehr schön sogar, und sie hatte noch nie Nachtstahl gesehen. Kurzerhand griff sie mit der Linken nach ihr, mit der anderen nahm sie das Heft.

»Nicht.« Helgid hielt ihre Hand fest. »Es wäre nicht richtig.«

Istrid zögerte, dann legte sie die Waffe wieder zurück und schlug das Tuch darüber. Für die Vandraar waren Schwerter heilig, dieses ganz besonders. Sie durften nur in ernsthafter Absicht gezogen und mussten dann auch mit Blut benetzt werden. Baqqlabang zu ziehen, nur um ihre Neugier zu befriedigen, wäre respektlos. »Du hast recht. Danke.« Sie würde die Klinge ohnehin zu Gesicht bekommen.

»Ich habe dir schon eine Eskorte bereitstellen lassen«, sagte Helgid. »Und die Heilsgarde wartet auf dich.«

Istrid seufzte. »Ich nehme an, dann habe ich keinen Grund mehr, noch länger zu warten.«

Helgid gürtete ihr Baqqlabang um und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. »Nein. Aber einen, wieder zurückzukommen.«

Widerwillig verabschiedete sich Istrid von ihrer Frau, fuhr mit den drei Aufzügen Noggdrarsils nach unten und verließ den Kaiserpalast, umringt von ihrer Eskorte.

Unter einem stählernen Himmel wartete die Reichshauptstadt auf sie.

Es dauerte nicht lange, da hob sich ihre Laune ein wenig. Istrid liebte Salhall. Laut und quirlig, uralt und immer wieder neu, in Stein gehauen, aber stets in Wandlung. Und sie liebte es, in diesem pulsenden Leben unterwegs zu sein. Nie nahm sie eine Sänfte, wie andere es taten, um sich von der Stadt, ihren Geräuschen und Gerüchen abzuschirmen. Vom Sattel aus einzutauchen in das Treiben der Gassen war ein Genuss, der sie jedes Mal neu überraschte. Salhall hatte viele Beinamen – die Ewige, die Holde Stadt, Herz des Reiches, Nabel der Welt, doch keinen fand sie passender als: Stadt der Städte. Er drückte alles aus, was Salhall für sie war und bedeutete.

Manchmal zog sie sogar verkleidet durch die Viertel und dann zu Fuß und mit nur zwei Leibwachen im Hintergrund; die Anonymität erlaubte ihr eine Teilhabe an der Menge, die sie anders nicht erfahren konnte. Für Istrid waren dies die glücklichsten Ausflüge in die Stadt. Straßen voller Leben und Lärm. Und sie eins mit ihnen. Frei.

Heute allerdings verbot sich eine solche Maskierung: Der Besuch bei der Heilsgarde konnte nur im Rahmen eines offiziellen Auftritts stattfinden. Fünfzig schwarz gekleidete Vandraar begleiteten sie, den goldenen Eschenlaubkranz auf der Brust. Wo ihr Trupp auftauchte, blieben die Leute stehen, winkten und beugten die Köpfe. Wer sie nicht erkannte, erfuhr durch die »Prinzessin!«-Rufe der anderen, welches Mitglied des Kaiserhofs da an ihnen vorbeizog. Es gab auch dunklere Töne. In den Chor glücklich-aufgeregter Stimmen mischten sich solche, die nach Rache für den Chimmgau verlangten oder »Tod den Falken!« skandierten. Der ferne Krieg im Westen war längst auch in die Köpfe und Herzen der Salhaller eingezogen.

Istrid ritt durch eine Stadt, die wie immer erfüllt war von Selbstvertrauen und Stolz, aber auch zum ersten Mal seit Langem von leiser Sorge und banger Ungewissheit.

Auch weil niemand sicher sagen konnte, was mit dem Kaiser war. Keiner der Salhaller wusste zwar, was im Reichsrat genau passiert war, aber inzwischen wusste jeder, dass etwas passiert war. Gerüchte sprangen durch die Gassen, und jeder bekam mit, dass sich viele Edle in ihren Sippentürmen verbarrikadiert hatten, auch sie unsicher. Oder mit dunkleren Absichten. Die Feinfühligeren spürten, dass Aufruhr in der Luft lag. Mehr als einmal fühlte sich Istrid lauernd gemustert, während sie an grau verwitterten Mauern mit hohen Schießscharten vorbeiritt. Sie blickte nicht nach oben.

Stattdessen gab sie sich alle Mühe, Zuversicht zu verbreiten, winkte lächelnd in die Menge und ließ sich von den Vandraar kleine Kinder reichen, um sie zu segnen. Als Tochter des Kaisers wohnte auch ihr etwas von dem Heil inne, das von ihm ausging, und es wurde von ihr erwartet, dass sie es teilte. Sie tat es ausgiebig, sie wusste, dass es unter diesen Umständen wichtiger war als sonst. Für die kurze Strecke zu ihrem Ziel brauchte sie zwei Stunden, in denen der Himmel zunehmend düsterer wurde. Sie schmeckte Sturm auf den Lippen.

Die Heilsgarde bemannte die drei Zwingfesten der Stadt. In der westlichsten, in Jöllnir, waren die vier Tausendschaften zusammengezogen worden, die in den Krieg aufbrachen. Die Torflügel der alten Festungsanlage standen weit offen, über ihnen hing der goldene Kranz auf Schwarz neben dem schwarz-gold-schwarzen Eschenbanner des Reiches herab. Ungeduldig riss der Wind an den Stoffbahnen.

Darunter wartete die Paagh auf sie.

Die Kommandantin der Heilsgarde war eine Frau, breit wie ein Bär und untersetzt, mit Oberarmen, die kräftiger waren als Istrids Waden. Sie musste die Fünfzig überschritten haben; ihr kupferrotes Haar wurde bereits pfeffrig-grau. Wie alle Soldaten der Heilsgarde hatte sie ihren Schädel bis auf einen faustdicken Streifen in der Mitte kahl geschoren, er lief in einem grob geflochtenen Pferdeschwanz aus. Unter dem linken Auge trug sie die Tätowierung, die ihr vor vielen Jahren, noch als Kind, beim Eintritt in die Leibwache des Kaisers gestochen worden war: vier kleine Krallen, die ihr die Wildheit und Kraft der Raubkatze ihrer Heimat schenken sollten. Paagh, die Ehrenbezeichnung für den Obersten der Heilsgarde, war Vishran für Tiger. Die derzeitige Trägerin dieses Titels hieß Marshana und hatte ihr Amt seit siebzehn Jahren inne. Ihr Vorgänger war während der Rebellion der Westframen gefallen, sie selbst mit einer strichdünnen Narbe davongekommen, die schräg über Mund und rechte Wange lief. Die gefurchten Lippen hielten eine kurze, geradstielige Pfeife.

»Heil dir, Prinzessin«, grüßte sie Istrid nach einer Verbeugung und ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen. Ihre Stimme hörte sich an, als käme sie aus einem Keller. »Willkommen in diesen Mauern.« Marshana sprach Vishran – den Vandraar war es verboten, Aard zu reden oder auch nur zu lernen.

»Heil auch dir, Paagh«, antwortete Istrid in derselben Sprache. »Es ist mir eine hohe Freude, die Heilsgarde zu besuchen, mögen die Zeiten auch dunkel sein.« Sie wählte ihre Worte mit Bedacht und sprach langsam. Allen Mitgliedern der Kaiserfamilie wurde Vishran schon im Kindesalter beigebracht, aber Istrid war mit der Sprache nie warm geworden. Sie fühlte sich gehemmt, wann immer sie sie sprechen musste. Hätte sie die Wahl gehabt, hätte sie Arnim den Truppenbesuch überlassen. Ihr Neffe sprach Vishran wie eine zweite Muttersprache, aber als Kronprinz und Drost von Salhall war es seine Aufgabe, sich um das Aufgebot der Reichshauptstadt zu kümmern, das gerade ausgehoben wurde. Er hatte genug mit widerstrebenden Edlen zu tun, die ihre Haustruppen nicht hergeben wollten.

Sie suchte den Blick der Paagh. Blassgrüne Augen fanden ihre.

»Ich – «, fing Istrid an, als eine Bö über den Vorhof peitschte und ihr das Schultertuch herunterriss. Bevor der Wind es forttragen konnte, sprang die Paagh vor und hielt es fest.

»Dunkel und stürmisch, hervorragend«, antwortete Marshana, lachte keckernd und gab Istrid das Tuch zurück. »Wir werden weniger schwitzen, wenn wir kämpfen.« Sie nahm die Zügel. »Prinzessin, komm, alle sind bereits angetreten. Es ist ein großer Moment für uns.«

Istrid nickte. Die Vandraar waren eine Kriegerkultur, die in der Vollendung der Kampfkunst den höchsten Lebenszweck sah. Nach der Unterwerfung des Inselreichs hatten sich die salischen Kaiser dies zunutze gemacht und mit der Heilsgarde eine Haustruppe geschaffen, die keinen Anteil an den inneren Machtkämpfen des Reiches besaß. Schnell waren die rothaarigen Soldaten bei Freund und Feind gleichermaßen gefürchtet gewesen. Spätestens aber mit dem Ende der Ewigen Einigung war mehr und mehr das ausgeblieben, was den Kern des Selbstverständnisses der Vandraar ausmachte: der Kampf auf dem Schlachtfeld. Die Rebellion der Westframen war ihre letzte Möglichkeit gewesen, sich zu beweisen. Für sie bedeutete der Einfall des Herzogtums, dass siebzehn Jahre des Wartens vorbei waren.

Istrid ließ die Paagh ihr Pferd durch den Tunnel des dicken Torturms führen. Sie verstand Marshana, konnte ihr Hochgefühl jedoch nicht teilen. Sie ging davon aus, dass ein Großteil der Männer und Frauen, die sie heute verabschiedete, nicht mehr zurückkommen würde. Die Vandraar mochten an Wiedergeburt glauben und daran, dass das Leben ein Ring war ohne Anfang oder Ende; für Istrid aber hatte der Gedanke an den sicheren Tod Tausender etwas zutiefst Bedrückendes. Der Ritt durch das Dunkel des Torturms zog sich, hohl hallte das Klappern der Hufe von den Wänden, und so hart kam die Ahnung unausweichlicher Düsternis auf sie nieder, dass ihr ein zittriger Seufzer über die Lippen schlüpfte. Die Paagh wandte den Kopf und sah sie kurz an, sagte aber nichts. Dann entkamen sie dem Tunnel und ritten in den äußeren Hof der Festungsanlage.

Dumpf begrüßte sie ein Paukenschlag, dann noch einer und noch einer.

Neunmal schlug die Pauke.

Der Himmel war noch dunkler geworden, und das Tageslicht beinahe ganz vertrieben, doch schwärzer noch als die Wolken standen die Vandraar in ihren Waffenröcken. Dreireihig und dicht geschlossen waren sie entlang der Außenwand des ringförmigen Hofs angetreten. Hunderte, Tausende. Marshana führte Istrids Pferd linksherum, vorbei an ihren regungslosen Untergebenen. Jeder von ihnen hielt mit beiden Händen den Val, den überlangen Speer mit breiter, lindenblattförmiger Spitze. Bogen und Pfeile hingen über den Rücken, an der Seite führten sie Stoßdolch und Khanwa. Unter ihrem Waffenrock trugen die Vandraar Lamellenpanzer aus Eisenblech und Leder und dazu einen mützenartigen Helm mit Nackenschutz. So fremd wie vertraut, dachte Istrid, während sie die Reihen abritt. Waffen und Rüstungen der Vandraar glichen ihren salischen Gegenstücken nur wenig, und doch war sie den Anblick tagtäglich gewohnt. Ihr Leibwächter Pranradhar folgte ihr auf Schritt und Tritt, und überall im Kaiserpalast standen dieselben stummen, schwarzen Gestalten wie hier im Hof.

Als sie einmal herum und wieder am Torturm angekommen waren, stieg Istrid ab. Die Paagh hielt ihr den Steigbügel. Istrid suchte wieder ihren Blick, die Paagh nickte, und nun zog sie Baqqlabang. Geräuschlos fuhr die nachtstählerne Klinge aus der gefütterten Scheide. Sie war tatsächlich schwarz. Dünne goldene Linien flossen über die breiter werdende Schneide bis zur stumpfen Spitze. Sie kamen Istrid überraschend verspielt vor.

Was der Klinge jetzt noch fehlte, war Blut.

Istrid wechselte das Schwert in die Linke, dann fuhr sie mit dem Daumen der Rechten über die Klinge. Sie übte nur sanften Druck aus, aber er reichte, um die Haut ihrer Fingerkuppe aufspringen zu lassen. Ohne eine Miene zu verziehen, hob sie die Hand und zeichnete der vor ihr stehenden Paagh einen Kreis mit ihrem Blut auf die Stirn.

»Khav nan djeree, lav nan devee.« Laut und deutlich sprach sie dabei den Wahlspruch der Kriegerkaste aus, die nun seit mehr als einem halben Jahrtausend der Holden Krone diente: Stirb heute, lebe morgen.

Das ganze Wesen der Vandraar kam in diesen Worten zusammen, ihr Sinn und Streben geschmiedet in eine Formel, die Istrid nicht einmal annähernd verstand, die aber trotzdem nicht ohne Wirkung auf sie blieb. Sie spürte, wie sie zitterte, und zog schnell die Hand zurück. Mit beiden Händen übergab sie der Paagh die Klinge, auf der ihr Blut kaum zu sehen war, und stieg aufs Pferd. Schwertgurt und Scheide behielt sie, als Zeichen dafür, dass die Waffe nur geliehen war. Sie würde sie erst wieder zurücknehmen, wenn die Heilsgarde in den Frieden zurückkehrte.

Die Paagh nahm nun erstmals die Pfeife aus dem Mund. Sie hob die Schwerthand und reckte Baqqlabang in die Höhe. »Khav nan djeree, lav nan devee!«, rief sie lauthals in die Stille des Hofs.

Tausendfach wurde ihr geantwortet. Mit einem Ruck setzten sich die Vandraar in Bewegung. Reihe um Reihe, Glied um Glied marschierte die Heilsgarde an Istrid und der Paagh vorbei, unter dem erhobenen Schwert hindurch.

Es dauerte lange, aber irgendwann waren auch die Letzten an ihnen vorüber und im Tunnel des Torturms verschwunden. Istrid saß im Sattel und blickte ihnen hinterher. Wieder war ihr nach weinen zumute. Der Schnitt in ihrem Daumen begann, dumpf zu pochen.

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie die Paagh Baqqlabang herunternahm und in ihre eigene, leere Schwertscheide steckte. In all der Zeit, die der Auszug der Heilsgarde gebraucht hatte, hatte ihr Arm nicht einmal gezittert. »Prinzessin«, hörte Istrid sie nun um die Pfeife herum sagen, die sie sich wieder in den Mund gesteckt hatte, »ich ahne, was du denkst.«