Die Krone der Elemente - Matthias Oden - E-Book
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Die Krone der Elemente E-Book

Matthias Oden

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Beschreibung

Der Kaiser des ausgedehnten Salenreiches ist alt und wurde schon seit Wochen nicht mehr gesehen. Das Gerücht, er läge im Sterben, verbreitet sich unter den Landesfürsten, die nach mehr Einfluss am Hof streben. Gleichzeitig schürt eine junge Heerführerin den Grenzkonflikt im Westen zwischen Kaiserreich und benachbartem Herzogtum. Niemand ahnt, dass sie in Besitz eines sagenumwobenen Artefakts gelangt ist, mit dessen magischen Kräften sie Natur und Menschen gleichermaßen zu unterwerfen vermag: der Krone der Elemente. Schon bald setzt sie die Macht der Krone rücksichtslos ein, und ein gewaltiger Krieg entbrennt. Ein Krieg, der das Schicksal aller Menschen und das Antlitz der Welt für immer verändern wird …

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Seitenzahl: 934

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Das Buch

Viele Jahrhunderte wuchs das Heilige Reich Salischer Völker, bis es beinahe ganz Elyrdan umschloss. Nun ist der Vormarsch seiner Armeen zum Erliegen gekommen. Sein Herrscher, der alte Kaiser, ist gebrechlich, die Fürsten streiten sich um ihre Pfründe, und die Seher kehren immer öfter ohne Antworten von den Traumfeldern zurück. Doch die eigentliche Gefahr ahnt noch niemand. Denn unbemerkt hat die ehrgeizige Oberbefehlshaberin des Nachbarlandes Chimrien ein Artefakt erlangt, das ihr unbegrenzte Macht zu verheißen scheint – eine seltsam schimmernde Krone. Als sie mit ihrem Heer über den Grenzfluss Tern zieht und das Kaiserreich überfällt, ist niemand dort auf diesen Überfall vorbereitet, erst recht nicht auf die gewaltigen Kräfte, die sie mithilfe der Krone entfesselt. Eine Stadt nach der anderen fällt, und schon bald brennt der Chimmgau, die Westgrenze des Salenreiches. Und während die Fürsten eilends Truppen mobilisieren, droht von einer ganz anderen Seite neue Gefahr – denn auf den Traumfeldern, wo die Seher nach den Ewigen Wispern der Prophezeiung suchen, breitet sich ein namenloses Grauen aus. Das Ende eines Zeitalters dämmert herauf …

Der Autor

Matthias Oden studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Ethnologie. Nach einem Volontariat bei der Financial Times Deutschland arbeitete er als Redakteur in verschiedenen Zeitschriften und wurde mit dem Hans-Strothoff- und dem Deutschen Journalistenpreis ausgezeichnet. Sein Debütroman »Junktown« erregte bereits Aufsehen, und nun legt er mit »Die Krone der Elemente« sein großes Fantasy-Epos vor. Matthias Oden lebt mit seiner Familie in München.

MATTHIASODEN

Die Chroniken der Träume

Erster Roman

WILHELMHEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Redaktion: Catherine BeckCopyright © 2019 by Matthias OdenCopyright © 2019 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenKarten und Illustrationen: Andreas HancockUmschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, MünchenSatz: Leingärtner, Nabburg
ISBN: 978-3-641-22815-6V002
@HeyneFantasySFwww.heyne.de

Meiner Frau

Inhalt

PROLOG

DIE KRONE DER ELEMENTE

Verzeichnis der handelnden Personen

Verzeichnis der Länder und Völker

Danksagung

Karten

Die Welt von Elyrdan

Der Chimmgau

PROLOG

Winter

Seit er wusste, dass sie ihn töten würden, träumte er vom Sommer. Es war immer derselbe Traum. Marwult durchlebte noch einmal die Reise, zu der er und sein Erster Reiter Einarc vor fünf Monaten aufgebrochen waren. Von Streitheim aus ging es nach Norden, immer den Tern entlang und dann hinein in den Schwarztann. Schon einmal hatten sie dorthin ihre Pferde gelenkt, vor sieben oder acht Jahren, aber sie waren nur durch die Randgebiete des Walds gereist. Dieses Mal ging es tief hinein. Der Traum folgte ihrer Reise, setzte seine Erinnerungen an jene Wochen fließend aneinander und arrangierte sie neu. Er baute aus den Bildern etwas, das noch immer vertraut war, aber eine zusätzliche, märchenhaftere Dimension bekam. Der Schwarztann war die abgeschiedenste Gegend seiner gesamten Mark, ein Gebiet, das einen großen Teil von ihr bedeckte, aber nur spärlich besiedelt war. Die wenigen verschlungenen Wege, die es in ihm gab, führten zu entlegenen Ortschaften, die ein eigenbrötlerischer Schlag Menschen bewohnte, wortkarg und misstrauisch gegenüber Fremden und vor allem daran gewöhnt, von der Welt da draußen in Ruhe gelassen zu werden. Nicht wenige der Pfade endeten im Nichts, verliefen sich und zwangen sie zur Umkehr, wenn der Wald zu dicht wurde, um sich einen eigenen Weg zu suchen. Oft mussten sie absitzen und die Pferde hinter sich führen. Auf ihrer Reise kamen sie an einsamen Gehöften und Meilern vorbei, die plötzlich unter den Tannen auftauchten und ebenso schnell wieder verschwanden, an kleinen Erdschreinen, auf denen frische Votivgaben lagen, obwohl niemand in der Nähe zu sein schien, und an halb wieder zugewucherten Lichtungen, die einmal Siedlungen gewesen, aber aus wer weiß welchen Gründen aufgegeben worden waren. Einmal im Jahr unternahm er eine Reise durch seine Mark, um Land und Leute auf eine Art kennenzulernen, die vom Grafenthron aus nicht möglich war. Viel hatte er so gelernt in den vergangenen drei Jahrzehnten, doch keine seiner Fahrten war von solch fremdartiger Schönheit gewesen wie diese letzte.

Der Traum machte aus ihr ein Kaleidoskop aus Grün und Braun und Schwarz und Licht, in dem eine Szene auftauchte, um langsam in eine andere hinüberzugleiten, manchmal mehr Stimmung als Bild. Immer weiter drangen sie in den Schwarztann vor, bis sie schließlich auch die letzten Zeugnisse menschlicher Anwesenheit hinter sich ließen und Gebiete des Walds betraten, in denen seit Jahrhunderten niemand mehr gewesen war. Weiß leuchtende Schmetterlinge tanzten flatternd zwischen den Stämmen; Wildkatzen sonnten sich auf umgestürzten Baumriesen und blinzelten ihnen träge hinterher, Rotwild sah bei ihrem Anblick zwar verwundert, aber ohne Scheu vom Äsen auf. Der Schwarztann war ein wundersamer Ort, und je tiefer sie in ihn eintauchten, desto mehr verloren sie sich in seinem von der Zeit vergessenen Zauber. Galt das schon für den echten, so zog ihn der Schwarztann seines Traums noch in einen ungleich stärkeren Bann. Er wusste, dass er träumte, aber das änderte nichts daran, dass er voll Ehrfurcht die Wunder bestaunte, die ihm der Wald offenbarte. Er wusste auch, wie der Traum enden würde, aber es spielte keine Rolle, weil Zeit bedeutungslos war. Hier gab es nur einen ewigen Spätsommernachmittag, an dem der Blütenstaub reglos und golden in der Luft hing. Und still war es. Ab und an hörten sie einen Specht hämmern oder einen Kauz rufen, raschelte das Unterholz, wenn ein Dachs ihren Weg kreuzte oder ein Fuchs. Aber von diesen wenigen Momenten abgesehen blieb der Wald erfüllt von andächtiger Lautlosigkeit, die nach Moos duftete und nach Tannenharz und alten, längst vergessenen Geheimnissen.

Natürlich rankten sich Sagen und Märchen um den Schwarztann, von verwunschenen Türmen, Kobolden und Ewigen Jägern, von Quellen, die Wünsche erfüllten, und Übergängen auf die Traumfelder, durch die das Dunkelvolk herüberkam. Natürlich fanden sie nichts dergleichen, nicht einmal in seinem Traum. Was sie fanden, war durch und durch von dieser Welt; es sollte Einarc das Leben kosten und ihn selbst schier verzweifeln lassen über der Suche nach einem Sinn.

Sie fanden ein Loch.

Jede Nacht war es dasselbe: Die Atmosphäre des friedlich schlummernden Walds änderte sich abrupt mit den Hammerschlägen, die durch sein Unterholz drangen. Sie wurde gleißend und scharf, und die Aufregung pulste durch seinen Körper. Die schrille Kadenz der Schläge von Metall auf Metall trieb sie nach vorne, und zusammen mit Einarc stolperte er auf die große, kreisrunde Lichtung, auf der Holzhütten und Zelte standen, Werkstätten und ein Sägewerk, und auf der Ochsenkarren Aushub aus einem Loch karrten, das den Durchmesser eines Dorfplatzes hatte.

Der Traum türmte diese Eindrücke schnell aufeinander, hart wie die Schläge, die aus der holzverschalten Grube hallten: die Rampe für die Karren, die Erdmassen am anderen Ende der Lichtung, die Arbeiter mit ihren Schaufeln, Spitzhacken und Setzhämmern und die Waffenröcke mit dem feindseligen Wappen des Herzogtums.

Er hatte sein Leben lang ein wachsames Auge auf die andere Seite des Terns gehabt; es war sein heiliger Auftrag, das Reich vor dem Land im Westen zu schützen. Über den Fluss hatte es sich nie gewagt, aber es hatte auch nie seinen Frieden damit gemacht, dass die Macht des Kaisers bis an seine Ufer reichte. Der Chimmgau war sein, war Marwults Lehen, seine Mark, aber für das Herzogtum Chimrien war es ein Land, das ihm entrissen worden war. Und die Wacht am Tern war alles, was es daran hinderte, sich dieses Land zurückzuholen. Es war ein Schock für ihn, jede Nacht aufs Neue, die Männer und Frauen mit dem schwarzen Falken auf der weißen Brust zu sehen. Dort auf der Lichtung, auf ihrer Seite des Terns, auf Boden, der dem Reich gehörte.

Jede Nacht war dies der Moment, in dem er sich aufzuwachen wünschte. Aber nie ließ ihn der Traum gehen.

Er musste erst noch einmal den Schrecken durchleben, der ihn an jenem Sommertag übermannt hatte. Noch einmal den Ruf hören und das Deuten sehen, mit dem eine der Wachen die anderen auf sie aufmerksam machte. Noch einmal in wilder Panik zurück in den Wald stürzen, durchs Unterholz hindurch zu den Pferden, die sie zurückgelassen hatten, als sie den Schlägen entgegengestürmt waren.

Noch einmal musste der Schwarztann um sie herum plötzlich in Bewegung geraten, als die Verfolger von allen Seiten zu kommen schienen, sie einholten und umzingelten. Und noch einmal musste Einarc zum Schwert greifen, um sich den Weg freizukämpfen, und einen Speer durch die Brust bekommen.

Dann erst, mit dem brechenden Blick seines Gefährten vor Augen, wachte er auf.

Wie in jeder der Nächte zuvor war er auch dieses Mal durchnässt von Schweiß.

Er lag im Dunkeln, regungslos, und wartete darauf, dass sich sein Atem wieder beruhigte. Wie immer blieben die Gedanken bei diesem Tag im Sommer, der Einarc das Leben und ihm die Freiheit genommen hatte. Er versuchte, sich einen Reim auf das Gesehene zu machen, aber das war inzwischen nur noch eine Gewohnheit: Er hatte längst die Hoffnung aufgegeben, einen zu finden.

Das Herzogtum grub im Chimmgau, in der tiefsten Tiefe des Schwarztanns, ein Loch. Es tat dies heimlich, ohne jedes Recht, und es tötete, um dieses Geheimnis zu wahren. Auch er wäre zweifellos noch an Ort und Stelle umgebracht worden, hätte nicht einer ihrer Häscher den Siegelring erkannt, den er an der Hand trug. Namenlose, zufällig des Wegs kommende Fremde zu töten war eine Sache, aber eine andere, dasselbe mit einem der höchsten Edlen des Reiches zu machen. Nur änderte das nichts an der Rätselhaftigkeit des Ganzen.

Das Herzogtum suchte etwas, so viel stand für ihn fest. Aber was dieses Etwas sein mochte, entzog sich seiner Vorstellungskraft. Nichts, was er sich ausdenken konnte, gab diesem gewaltigen Loch auf der Lichtung einen Sinn. Wofür riskierte das Herzogtum so viel, was war es wert, dass man ihn, einen Markgrafen des Reiches, gefangen nahm?

Natürlich hatte er diese Fragen gestellt, erst Einarcs Mördern, dann jenem jungen Mann im Hütergewand, dem er auf der Lichtung vorgeführt worden war und der die Ausgrabung zu leiten schien. Schließlich, als man ihn fort und über den Tern gebracht hatte, seiner Kerkermeisterin, der Edelfreien Dagrun, einer Frau, die er mehrmals bei sich in Streitheim zu Gast gehabt hatte. Schweigen war stets die einzige Antwort gewesen. Und so war bis jetzt nur eines klar: Was immer auch das Herzogtum suchte, es gehörte dem Kaiser, nicht dem Kind auf dem Hohen Thron in Arikskilde. Dort draußen im Schwarztann ging ein Diebstahl vonstatten oder war inzwischen bereits beendet, und er war der Einzige, der dem Reich davon Kunde bringen konnte.

Wie immer, wenn seine Grübeleien ihn an diesen Punkt gebracht hatten, beschleunigte sich sein Puls abermals. Zorn und Hilflosigkeit ließen ihn endgültig wach werden.

Was hatte er getobt, als sie ihn auf die Skjorborg zu Dagrun brachten! Die ersten Tage waren die schlimmsten gewesen. Er raste und schrie und fluchte, er wünschte Dagrun und ihre Leute in einem Moment nach Dunkelwelten, im nächsten an die höchsten Galgen des Reiches. Er malte die düstersten Szenarien für das Herzogtum an die Wand, das sich erdreistete, ihn gegen seinen Willen festzuhalten, seinen Ersten Reiter ermordet hatte und sich widerrechtlich auf kaiserlichem Boden aufhielt. Krieg beschwor er herauf, denn nichts anderes bedeuteten diese Frevel, und die gnadenlose Vergeltung seiner Familie. Nichts von alldem half. Schließlich hatte er sich müde gerast und wurde stiller. Seine Unruhe aber war geblieben.

Zeit verstrich, Wochen gingen ins Land und brachten den Herbst mit sich, dann Monate, und der Winter kam. Er ließ sich Bücher aus Dagruns Bibliothek in das Turmzimmer bringen, in das sie ihn gesperrt hatten, und verbrachte seine Tage mit Lesen. Oft betete er. Dass es auf der Skjorborg nur einen Luftschrein gab, betrübte ihn. Er opferte den Elementen wie jeder andere auch, aber Geborgenheit und Kraft fand er nur im Schoß der Heiligen Familie. Und so blieb ihm nichts übrig, als auf seinem Stuhl zu sitzen, mit gefalteten Händen, und die Gebete im Stillen aufzusagen. Sie halfen ihm über die dunkelsten Stunden hinweg, und davon hatte er viele. Manchmal ging er auch an das schmale Turmfenster in der Ostseite seines Gefängnisses und blickte hinaus. Viel konnte er nicht sehen, dafür war es zu tief, und die Skjorborg stand hoch oben auf einer Klippe über dem Tern. Aber wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, war da ein bisschen Horizont, der Heimat bedeutete. Stets lenkte der Anblick die Gedanken auf seine Frau Swenja und seine Söhne, Golo und Volkwin. Das Herz quoll ihm dann über vor Kummer, weil er wusste, dass sie sich seinetwegen Sorgen machten und er nichts dagegen tun konnte.

Er würde sie nie wiedersehen. Lange bevor ihm Dagrun mitteilte, dass man seinen Tod beschlossen hatte, war ihm das klar gewesen. Seine Kenntnis von der Ausgrabung im Schwarztann hatte das Herzogtum in eine unmögliche Position gebracht. Würde er jemals wieder freikommen, wäre die Konsequenz ein Waffengang, den es verlieren würde. Das Herzogtum war hochgerüstet und hatte über die letzten Jahrzehnte unablässig Krieg an seiner Südgrenze geführt, aber gegen die geballte Macht des Reiches konnte es nicht bestehen. Und solange er am Leben war, bestand das Risiko, dass es genau dazu kommen würde. Den Markgrafen des Chimmgaus verschwinden zu lassen war ein Schritt, den niemand leichtfertig gehen würde, der im Herzogtum etwas zu sagen hatte, doch am Ende aller Abwägungen war es der einzig sinnvolle. Nur sein Tod garantierte, dass das Herzogtum mit seinem Verbrechen davonkam. Als ihm Dagrun vor zwei Wochen nervös und betreten sein Schicksal verkündet hatte, war er daher alles andere als überrascht gewesen. Er hatte ihr Gestammel mit kaltem Gleichmut ertragen und sich lediglich erbeten, durch das Schwert zu sterben. Die Chimren richteten am Schindpfahl hin, an den sie die Verurteilten annagelten, oder mit dem Würgeeisen – beides Todesarten, die den Opfern die Luft nahmen und sie erstickten. Eines Salen waren sie nicht würdig, eines Edlen schon gar nicht. Dagrun hatte ihm zugesichert, dass es so geschehen würde, dankbar für seine gefasste Reaktion.

Er stand auf. Es war kalt im Zimmer, aber im Bett hielt es ihn nicht mehr. Unruhig trat er ans Fenster. Sie ließen ihm kein Licht über Nacht, und so musste er den Riegel im Dunkeln ertasten. Er schob ihn zurück und öffnete die Läden. Eisige Luft strömte ins Zimmer, sie schmeckte nach Schnee und ließ ihn frösteln. Er achtete nicht auf die Kälte und blickte hinaus. Ganz tief im Osten war ein heller Streif zu erahnen, aber so kurz nach der Wintersonnenwende würde der Morgen nur zögerlich kommen.

»Swenja«, sagte er leise. Er schloss die Augen und genoss den Klang ihres Namens.

Hinter ihm wurde der Schlüssel im Türschloss gedreht. Er wusste sofort, was das bedeutete.

Es gab keine andere Möglichkeit, sie kamen sonst nie vor Sonnenaufgang. Noch einen Augenblick hielt er die Augen geschlossen, atmete tief ein und öffnete sie wieder. Es machte ihm keine Angst. Der Schein einer Laterne fiel ins Zimmer und über seine Schultern. Er drehte sich um.

»Markgraf.« Es war Grimna, die Waffenmagd, mit der er sich so oft über Rezepte unterhalten hatte. Ein paar Mal hatte sie ihm sogar etwas gekocht und mit ihm gegessen. Bis zuletzt hatten sie sich nicht einig werden können, ob Schnittlauch für eine Kartoffelsuppe eine zwingend notwendige Zutat sei oder nicht. Er mochte sie, ein aschbraunes, freundliches Wesen mit leise gurrendem Lachen und Gliedern, die irgendwie zu lang für ihren Körper wirkten. Zwar hatte sie ihm gegenüber nie ihre schüchterne Ehrerbietung abgelegt, aber sie war die einzige seiner Bewacher, zu der er eine Verbindung hatte herstellen können. Im Schein ihrer Lampe sah er, wie blass sie war. Wahrscheinlich hatte sie nicht kommen sehen, wie es enden musste. Armes Ding, dachte er und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.

»Es … es ist so weit.« Sie schluckte. »Es tut mir leid.«

»Ich weiß. Aber es ist alles gut. Ich bin schon viel zu lange hier oben eingesperrt.«

Sie nickte stumm, das Kinn angespannt.

Er ging hinüber zum Stuhl, auf dem seine Kleider lagen, und streifte sie sich über sein Nachthemd. Er hatte keinen Spiegel, weil er ihn zerschlagen und als Waffe hätte benutzen können, und so sah er Grimna fragend an. Sie nickte wieder.

»Gut«, sagte er. »Dann wollen wir mal.«

»Dagrun hat einen Priester kommen lassen. Einen der Heiligen Familie.«

Er war überrascht. Damit hatte er nicht gerechnet. »Das … ist sehr gütig von ihr.«

»Es war nicht leicht, einen zu finden. Er ist aus Dramnen gekommen.«

Dramnen war ein kleines Städtchen etwa vier Tagesreisen von hier. Er verstand. Der Glaube der Heiligen Familie war im Herzogtum kaum verbreitet. Deshalb waren also zwei Wochen verstrichen seit Dagruns Ankündigung: Sie hatte ihm einen Betvater beschaffen wollen. Das war tatsächlich ein feiner Zug von ihr.

Noch einmal sah er sich im Zimmer um. Es stimmte, was er zu Grimna gesagt hatte: Vier Monate waren genug. Es war gut, dass es zu Ende ging, er würde sich nicht mehr quälen müssen. »Komm«, sagte er zu ihr. Er ging an ihr vorbei und die Treppen hinunter. Unten wartete Dagrun mit zwei weiteren Wachen. In der Düsternis des Burggangs wirkte ihr Gesicht noch grauer als sonst.

»Markgraf Marwult.«

»Edelfreie Dagrun. Ich danke dir für die Gelegenheit, einen Priester zu sehen.«

»Ich gehe davon aus, dass du dasselbe für mich getan hättest.«

»Du irrst. Ich hätte dich nie widerrechtlich und gegen jede Sitte gefangen gehalten.«

Sie zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen, verzichtete aber auf eine Rechtfertigung. »Es gibt nur eine Bedingung: Er darf nicht erfahren, wer du bist.«

»Natürlich. Damit das Geheimnis gewahrt bleibt, richtig? Damit niemand erfährt, wen ihr hier umbringt.« Er war selbst überrascht von der Schärfe, die in seinen Worten lag.

Gequält sah sie ihn an. »Habe ich dein Ehrenwort?«

Kalt erwiderte er ihren Blick. »Das hast du.«

»Also dann.«

Sie geleiteten ihn durch die Skjorborg, ein altes, trutziges Gemäuer, klein, aber massig, wie es die meisten Ternburgen waren, diesseits wie jenseits des Flusses. Vor der Kapelle mit dem Luftschrein blieben sie stehen. Grimna öffnete ihm die Tür und schloss sie wieder hinter ihm.

Der Andachtsraum dahinter war nur spärlich erleuchtet. Er hatte große Fenster, wie es für einen Ort üblich war, der einen Schrein der Luft beherbergte, weiß gestrichene Wände und eine hohe Decke, die ein blauer Himmel mit Wolken schmückte. Von ihr hing an dünnen Ketten der Schrein herab. Helle, feine Schleier verhüllten ihn. Zwischen den Betbänken der Kapelle stand der Priester.

Er ging auf ihn zu. »Vater.«

Der Priester war alt, graues Haar hing ihm in losen Strähnen vom Kopf herab. In einem Gesicht voller Falten suchten wässrige, aber herzliche Augen seinen Blick. »Mein Sohn«, sagte er, »ich bin Vater Rolleif. Man hat nach mir geschickt. Ich hörte, ein Mitglied unseres Glaubens wolle sich auf seinen letzten Weg vorbereiten.«

»Es ist, wie du sagst. Ich werde sterben und will vorher beten. Lange musste ich auf den Beistand eines Betvaters oder einer Betmutter verzichten. Meine Seele dürstet nach Trost.«

»Trost sollst du bekommen. Ich weiß nicht, welche Umstände dich dem Tode weihen, mein Sohn, und mir wurde gesagt, dass ich nicht nach deinem Namen fragen darf. Mag es ein Verbrechen sein, das du sühnen musst, oder eines, das an dir begangen wird, für die Heilige Familie spielt es keine Rolle. Ein gläubiger Mensch macht sich auf den Weg zu ihr, das ist alles, was zählt.« Vater Rolleif deutete auf eine der Betbänke. »Du kennst den Segen der Letzten Stunde?«

»Ja«, sagte er und kniete hinter der vordersten Bank nieder, »ich kenne ihn.« Aus den Kleidern nestelte er sein Symbol der Heiligen Familie hervor, das er um den Hals hängen hatte: ein vierblättriges Kleeblatt, eingefasst in einen münzgroßen goldenen Ring. Er nahm es in die gefalteten Hände. Der Priester breitete die Arme aus.

»Mutter, Vater, Sohn und Tochter«, fing er an zu sprechen, »Heil sei euch Ewigen. Heil sei auch der Menschenseele, die sich aufmacht, euch zu sehen. Heute noch sei ihr in Frieden die Stätte bereitet.« Nach den Einleitungsworten trat er an Marwult heran und legte ihm die Hände zum eigentlichen Segen auf den Kopf. Marwult schloss die Augen. »Lass ab von Angst und Sorgen, sie gehören dir nicht mehr. Lass ab von Weh und Klagen, sie vermögen dir nichts mehr. Was dich umgetrieben, lass zurück und wirf es ab. Nichts kann dir noch Leid zufügen. Aufs Jenseits wende deinen Blick, dorthin, wo kein Leid bestehen kann. Du bist Mitglied der Familie, die dort herrscht in Ewigkeit. Deine Brüder und Schwestern frohlocken, deine Eltern warten. Du bist willkommen, jetzt und immerdar. Zeit ist es aufzubrechen.« Der Priester küsste ihn auf die Stirn. »Gehe auf im Heil.«

»Möge es auch dir vergönnt sein«, beendete Marwult die rituelle Abschlussformel. Er spürte, wie ihm die Tränen kamen. Nicht aus Angst vor dem Kommenden, er war ein gläubiger Mensch, der Tod schreckte ihn nicht. Es waren Tränen der Rührung und Erleichterung, für die er sich nicht schämte. Er blickte auf. »Ich danke dir, Vater«, mühte er sich zu sagen.

»Es gibt nichts zu danken, mein Sohn.«

Er stand auf, atmete durch und wischte sich übers Gesicht. »Ich werde jetzt gehen.«

»Ja, geh. Du hast nur die Ewigkeit zu gewinnen.« Vater Rolleif schritt an ihm vorüber und öffnete die Tür. »Ich werde dich begleiten.«

Draußen dämmerte es. Über Nacht war wieder Schnee gefallen, alles war von einem zarten Weiß bedeckt. In der Mitte des Hofs der Skjorborg stand ein Block auf einem Kreis aus Stroh. Daneben wartete seine Scharfrichterin, das blanke Schwert in der Hand. Ein paar Schritte davon stand Dagrun, die bereits vorausgegangen war, mit ihrem Ersten Reiter und dem Rest ihrer Gefolgsleute.

Er blieb kurz stehen und betrachtete die Szene. »So also endet es«, sagte er leise. Er sah hinunter auf seine Hände. Die Ringe hatten sie ihm gelassen. Seinen Siegel- und seinen Ehering würde er mit ins Grab nehmen, aber den dritten, einen goldenen Ring mit violettem Beryll, zog er ab. Er drehte sich um und drückte ihn Grimna in die Hand. »Hier«, sagte er.

»Markgraf!«, stieß sie erstaunt hervor.

»Schon gut. Für den Schnittlauch. Danke.«

Grimna wollte etwas antworten, brachte aber keinen Ton hervor. Ihre Nasenflügel bebten. Er lächelte sie noch einmal an, verabschiedete sich mit einem Blick von Vater Rolleif und ging zu Dagrun hinüber.

»Ich bin bereit«, sagt er zu der Edelfreien, die sich sichtlich unwohl fühlte. »Ich nehme an, es wird keine Urteilsverkündung geben?«

»Markgraf Marwult«, sagte ein Mann hinter Dagrun, der sich jetzt nach vorne schob, »das Herzogtum hat bestimmt, dass du sterben sollst. Das ist Urteil genug.«

Überrascht blickte er den Sprechenden an. Es war der junge Mann, dem er auf der Lichtung vorgeführt worden war. Auch jetzt trug er Haartracht und Kleidung eines Hüters der Luft, und wieder war sie von dunkelgrauer statt weißer Farbe. »Du hier«, sagte er. Vielleicht hatte Dagrun seine Hinrichtung doch nicht nur wegen der Suche nach einem Betvater aufgeschoben. Vielleicht hatte man auf diesen Hüter gewartet. Es spielte keine Rolle, aber jetzt, da ihm der Mann gegenüberstand, der wissen musste, weshalb er sterben sollte, war er es sich schuldig, einen letzten Versuch zu unternehmen. »Was ist in dem Loch?«, fragte er.

Der Hüter sah ihn lange an. Schließlich verzog sich sein Mund zu einem spöttischen Lächeln. »Nur das Ende der Welt.«

Marwult legte alle Verachtung, die er aufbieten konnte, in seinen Blick und wandte sich ab. Keinen Moment länger würde er diesen Menschen mit Beachtung würdigen. »Habe ich noch einen Wunsch?«, fragte er Dagrun.

»Wenn wir ihn erfüllen können.«

Er deutete zu der Mauer, hinter der der Morgen heraufkam. »Ich möchte noch einmal meine Heimat sehen.«

Dagrun überlegte kurz, dann nickte sie. Sie bedeutete zweien ihrer Leute, ihn auf die Mauer zu begleiten. Zu dritt stiegen sie die Treppe zum Wehrgang empor.

Oben angekommen, trat er zwischen zwei Zinnen an die Brüstung heran, um nach Osten zu blicken. Es brach ihm fast das Herz. Am Horizont ging die Sonne auf, blass und farblos im Winterhimmel. Von dort bis hier zu ihnen erstreckten sich die schneebedeckten Wipfel des Schwarztanns, dicht an dicht standen sie, ein endloses Meer schweigender Bäume. Und tief unter ihm: das breite graue Band des Terns, das sich durch den Wald schlängelte. Jene ewige Landesmark, die seine Familie zu verteidigen geschworen hatte.

Er versank in diesem Anblick.

Wie lange er dort gestanden hatte, wusste er nicht, doch musste es lange gewesen sein. »Markgraf Marwult«, rief Dagrun von unten herauf, Ungeduld in der Stimme. »Es ist Zeit!«

»Ja, das ist es«, sagte er. Dann schwang er sich auf die Brüstung und sprang.

Frühling

Sie sah der Mulde nach, wie sie langsam bis ganz nach oben entschwebte, wo sie mit Hakenstangen auf einen Steg gezogen wurde, um sie zu leeren. Es gab nur noch die drei Kräne; Anfang des Herbsts hatten sie die Rampe zurückgebaut. Die Grube war zu tief und damit zu eng geworden, um mit ihr noch den Boden zu erreichen. Jetzt hatten sie eine Tiefe von rund siebzig Fuß erreicht, und wenn es stimmte, was der Hüterseher sagte, würde es nicht mehr viel tiefer gehen. Wenn es stimmte, würden sie bald finden, was sie suchten – was auch immer das sein mochte. Es gab keinen Grund für sie, an Lyndeman Windsingers Worten zu zweifeln. Bislang hatten sich seine Vorhersagen immer als erstaunlich präzise erwiesen, viel präziser als alles, was sie jemals von seinesgleichen gehört hatte. Läge er auch dieses Mal richtig, würde sie dem Himmel danken, dass das alles hier nun endlich zu einem Ende käme.

Sie ließ den Blick vom Rand der Grube nach unten gleiten und drehte sich dabei langsam um sich selbst. Das hier war ihr Meisterwerk. Die Kräne, die Holzverschalung, das Zusammenspiel der Mannschaften, die Berechnungen, die hinter der Betriebsamkeit steckten, ja sie erst ermöglichten – all das hätte sie nicht besser bewältigen können. Im ganzen Herzogtum kannte sie niemanden, der dazu in der Lage gewesen wäre. Und doch empfand sie weder Freude noch Stolz. Sie wusste nicht, welchem Zweck ihr Schaffen diente, und ohne Ziel vor Augen war ihr die Befriedigung einer sich ihrem Abschluss nähernden Arbeit verwehrt. Vor allem aber war zu viel schiefgegangen.

Als der Hüterseher sie an diese merkwürdig kreisrunde Lichtung im Schwarztann geführt hatte, wusste sie, dass dies kein normaler Ort war. Und die Zwischenfälle bestätigten sie in dieser Überzeugung.

Ausgrabungen waren immer gefährlich. Unfälle konnten reduziert, aber nie ganz vermieden werden. Nur war das, was sie im letzten Jahr alles gesehen hatte, etwas anderes. Im Gegensatz zu vielen ihrer Mannschaften glaubte sie nicht an Flüche oder Verwünschungen; auch Pech war etwas, das es in ihrer Vorstellung immer nur in begrenzter Menge gab. Und so ließ dieser Ort sie ohne eine Erklärungsmöglichkeit für die Dinge, die hier geschahen. Es war eine Erfahrung, die sie zutiefst verstörte.

Beinahe von Anfang an hatte es Unglücksfälle gegeben. Leute waren zu Tode gekommen, weil die Verschalung nachgegeben hatte und die niederstürzenden Erdmassen und Steine sie erschlugen. Giftige Dämpfe, die plötzlich aus Erdspalten wichen, hatten ihre Männer und Frauen vergast, sie waren vom Rand der Grube und in ihre Werkzeuge gestürzt. Asta, ihre Sägemeisterin, hatte sie zusammen mit drei ihrer Gesellen verloren, als sie auf eine Wasserader stießen, die die Grube unterspülte, und zwei ihrer besten Vorarbeiter waren in einem Feuer umgekommen, das in der Grube ausbrach. Bis heute wusste sie nicht, wie es dazu hatte kommen können. Am unheimlichsten aber waren ihr jene Todesfälle, bei denen die Arbeiter einfach zusammengebrochen waren. Ohne erkennbare Fremdeinwirkung, ohne Vorzeichen. Nicht ausgezehrte Strafgefangene, deren Tod man auf Entkräftung hätte schieben können, waren so gestorben, sondern kräftige, wohlgenährte Soldaten. Als hätte man Marionetten die Fäden durchgeschnitten. Sechs solcher Fälle hatte es gegeben. Sie schauderte bei dem Gedanken. Alles in allem hatte die Grube binnen eines Jahres siebenundzwanzig Leben gefordert. Dazu kamen noch etwa sechs Dutzend Verletzte. Und das, obwohl sie nicht hatten arbeiten können, solange der Boden gefroren war. Nicht einmal in den schlimmsten Minen, die sie kannte, gab es einen ähnlich hohen Blutzoll.

Und dann war da der Boden selbst. Er widersprach allem, was sie jemals gelernt hatte. Der Tern war nicht weit von hier, viel früher also hätten sie auf Grundwasser stoßen müssen, als sie es tatsächlich taten. Es erleichterte ihre Arbeiten: Das Kalfatern und Pechen der Verschalung stellte eine zusätzliche Herausforderung dar und konnte das Eindringen von Wasser in die Grube trotzdem nicht ganz verhindern. Aber es gab dafür keine Erklärung, ebenso wenig wie für die Gesteinsschicht, auf die sie im Sommer gestoßen waren. Auf der anderen Seite des Terns erhob sich Kjelds Bogen unter dem Schwarztann, aber sein Gesteinssockel reichte nicht bis ans östliche Ufer. Der Fels hätte also gar nicht existieren dürfen, aber da war er nichtsdestotrotz. Wie ein Deckel versperrte er ihnen den Weg. Es hatte sie Monate gekostet, sich durch ihn hindurchzuarbeiten. Zu dieser Zeit hatte sie auch der Markgraf entdeckt. Der Markgraf. Sie schüttelte den Kopf. Es hatte unbedingt der Herr des Chimmgaus sein müssen, der plötzlich auf die Lichtung platzte. Von all den merkwürdigen Zufällen, die es während ihrer Ausgrabung gegeben hatte, war das vielleicht der unglaublichste gewesen. Der Schwarztann war riesig, weitgehend unbewohnt und in dieser Region dermaßen dicht, dass nach allen Regeln der Vernunft und Wahrscheinlichkeit niemand auf sie hätte stoßen dürfen. Und doch war es geschehen.

Was aus dem Grafen geworden war, wusste sie nicht, es war ihr auch gleichgültig. Lyndeman hatte ihn über den Tern gebracht, und damit war das Problem für sie erledigt. Es hatte Dringlicheres gegeben. Die Moral der Grabmannschaften etwa. All ihre Männer und Frauen waren Soldaten, abkommandiert von der Fünften Schar, die am nördlichen Ende des Schwarztanns am Tern stationiert war. Die ihnen eigene Disziplin half dabei, die Wirkung der Zwischenfälle gering zu halten. Aber natürlich hatte es Desertionen gegeben, und im Sommer war die Stimmung auf einen Tiefpunkt gesunken: Bis zum Herbst hatten sie knapp zwei Dutzend Schindpfähle errichten müssen. Von den Unglücklichen hingen nur noch die Arme und Füße an den Nägeln; als das Tauwetter einsetzte, hatte es ihre verrotteten Körper heruntergerissen, und die Tiere des Waldes hatten sie sich geholt. Sie verzog das Gesicht. Es war Zeit, dass sie fanden, was sie suchten, und von hier verschwänden. In zwei Wochen war Baumblütenfest in Skyrvik, ihrer Heimat. Wenn sie sich beeilte, konnte sie es noch schaffen.

»So nachdenklich, Minenmeisterin?«

Sie zuckte zusammen. Es war ihr nicht klar gewesen, dass der Hüterseher bereits hier unten war. Er musste mit der letzten leeren Mulde runtergekommen sein, was bedeutete, dass er sich bereits eine ganze Weile in der Grube aufhielt. Wider besseres Wissen fühlte sie sich ertappt. Der Mann war ihr unheimlich. Die wenigen Seher, denen sie in ihrem Leben begegnet war, waren dumpf brütende Algenfresser gewesen oder aufgekratzte Wahrsager, die mindestens genauso häufig danebenlagen, wie sie recht hatten, und diese Unzulänglichkeit durch wirres Orakeln zu verstecken suchten. Nicht so Lyndeman Windsinger. Er war weder das eine noch das andere. Klar sowohl im Wesen wie auch in seinen Äußerungen. Und er war der einzige Seher, von dem sie wusste, der sich dem Dienst in der Elementaren Gemeinschaft verschrieben hatte.

Weil ihr auffiel, dass sie noch nichts geantwortet hatte und Lyndeman sie abwartend ansah, beeilte sie sich, etwas zu sagen. »Es ist nichts, Herr. Wir sind nur einen weiten Weg gekommen. Das war es, was mir durch den Kopf ging.«

Lyndeman war hochgewachsen und schlank, und wie immer sah er aus, als würden der Schmutz und der Staub der Baustelle ihn fliehen. Das lange Haar war nach hinten geflochten, der Bart sauber konturiert und beinahe bis auf den Kiefer ausrasiert. Lyndeman war ein Hüter der Luft, aber seine Augen glichen Steinen. Er sah sie an, als wüsste er, dass sie ihm nur die halbe Wahrheit erzählte, wandte sich dann aber den Grabungen zu. »Das sind wir in der Tat«, sagte er. »Und heute geht es zu Ende.«

»Wenn du es sagst.«

»Ich sage das nicht nur. Es wird so kommen. Ich sah es in meinen Träumen.«

»Ja, Herr.«

Sie schwiegen beide und beobachteten die Erdarbeiten. »Du kannst stolz sein auf das, was du hier vollbracht hast«, sagte der Hüterseher schließlich und beschrieb einen Bogen mit dem Arm.

»Danke, Herr.«

»Es waren wirklich außerordentliche Umstände, unter denen du diese Grabung geleitet hast.«

»Das waren sie.«

Er warf ihr einen Blick zu. »Du bist froh, diesen Ort verlassen zu können.«

Es war keine Frage gewesen, und sie traute sich nicht, ihn anzulügen. Sie nickte.

»Das ist die Tragik mit uns Menschen: Großes wollen wir erleben, aber den Preis nicht dafür zahlen.«

Sie runzelte die Stirn. Ihr war nicht ganz klar, was er damit meinte, doch sie schwieg.

»Die Toten«, fing er wieder an, »sie sind nicht durch einen Fluch gestorben.«

Nun war es an ihr, dem Hüterseher einen Blick zuzuwerfen. »Ich weiß«, sagte sie, »Flüche gibt es nicht.«

»Nein. Flüche gibt es nicht. Auch wenn die da das nicht wahrhaben wollen.« Er machte mit dem Kopf eine Bewegung in Richtung der Grabenden. »Willst du wissen, was sie getötet hat?«

»Weißt du es denn?«, fragte sie erstaunt.

»Natürlich.«

Mit den Augen folgte er den Arbeitern, die auf ihren Rücken Weidenkörbe voller Erde zum Rand der Grube trugen. Dort angekommen, schütteten sie den Inhalt in die mit Metallbändern verstärkte Mulde und gingen wieder zurück zur Mitte der Grube. Dort tauschten sie ihre Körbe gegen andere, die von dem Dutzend Männern und Frauen gefüllt wurden, das sich an dieser Stelle mit Spaten und Picken tiefer in den Boden hineinarbeitete. Dann ging das Ganze von vorne los. So konzentriert beobachtete der Hüterseher die Korbträger, dass sie beinahe glaubte, er hätte seine eigene Frage vergessen.

»Die Elemente.«

Sie verstand nicht. »Was meinst du?«

»Die Elemente – sie haben sie getötet.« Während Lyndeman sprach, fixierte er weiter die Reihe der Träger.

»Die Elemente?« Sie versuchte, die Skepsis aus ihrer Stimme herauszuhalten, weil sie den Hüterseher nicht provozieren wollte, aber es gelang ihr nicht.

»Ich wusste, dass du mir nicht glauben würdest.« Er schien nicht erbost zu sein.

»Herr …«, begann sie, nach Worten suchend. Sie war keine besonders religiöse Frau. Natürlich ehrte sie die Elemente, vor allem Stein und Metall, weil es die zwei waren, die ihren Alltag bestimmten. Und Luft, weil es das Element ihrer Heimat war. Sie opferte ihnen regelmäßig und achtete sie. So war es Sitte, und so war es ihr auch Bedürfnis. Aber die Elemente waren, was sie waren: Bausteine der Welt. Sie waren keine Götter, denen man ein Eingreifen in den Lauf der Dinge unterstellte oder von denen man sich das zumindest erhoffte. Dass sie für all die Toten verantwortlich sein sollten, empfand sie geradezu als absurd. Selbst für einen Hüter der Elemente war das eine reichlich abenteuerliche Vorstellung. Vielleicht war Lyndeman doch mehr Seher, als sie geglaubt hatte. Nur konnte sie ihm das natürlich nicht sagen. »Ich habe noch nie von etwas Ähnlichem gehört«, antwortete sie stattdessen.

»Was nichts bedeutet.«

»Natürlich nicht, Herr. Ich …«

Mit einer Bewegung der Hand schnitt ihr der Hüterseher das Wort ab. »Da!«, rief er aus und deutete auf einen det Träger, der unter seinem Korb zusammengebrochen war. Auch sie hatte ihn stürzen sehen, und sie wusste, was dieses urplötzliche Erschlaffen der Glieder bedeutete. Ein weiterer dieser gespenstischen Todesfälle. Erschrockene Rufe ertönten, während in der ganzen Grube Männer und Frauen ihre Arbeiten liegen ließen und zur Unglücksstelle eilten.

»Bleib!«, forderte der Hüterseher sie auf, als auch sie loswollte. »Du kannst nichts mehr für ihn tun.« Aufmerksam sah er zu, wie ihre Leute bestürzt den Toten untersuchten. Unruhe brach aus. Rufe vom Rand der Grube erschollen.

Es kostete sie alle Mühe, Lyndeman zu gehorchen und ruhig neben ihm stehen zu bleiben, aber sie wusste, dass er in dieser Sache keinen Widerspruch dulden würde. Der Hüterseher konnte äußerst unangenehm werden, und sie wollte seinen Zorn nicht herausfordern.

»Er ist der Letzte«, sagte er.

»Was meinst du?«, fragte sie, dann begriff sie. »Du wusstest, was passieren würde.«

Er nickte. »Ich habe es gesehen, ja. Aber ich wusste nicht, wer von den Trägern es sein würde. Meine Gesichte zeigen mir nicht alles.«

Es war warm in der Grube; die Sonne stand hoch und brannte auf sie herab, aber trotzdem merkte sie, wie sie Gänsehaut bekam.

»Die Toten, Minenmeisterin, letztlich sind sie gute Zeichen.«

Fassungslos sah sie ihn an.

»Sie sind Zeichen dafür, dass wir an der richtigen Stelle graben. Daran bestand zwar kein Zweifel, aber auch der Sicherste schätzt es, wenn er ab und an einen Fingerzeig bekommt, dass er nicht irregeht.«

»Herr, du sprichst von meinen Leuten …«, wagte sie sich an einen Einwand.

»Deine Leute?« Spöttisch erwiderte er ihren Blick. »Soldaten des Herzogtums, das sind sie. Sie erfüllen ihren Eid, wenn sie sterben. Aber ich verstehe deine Sentimentalitäten und versichere dir: Niemand wird mehr verunglücken. Wir werden gleich finden, weshalb wir hier sind.« Er sah zu, wie die Leiche in grobes Tuch gewickelt und zur Mulde getragen wurde. Verunsichert blickten die Leute zu ihnen hinüber; die Minenmeisterin nickte. Zögerlich begaben sich alle wieder zurück an ihre Plätze. Die Arbeiten gingen weiter.

»Willst du wissen, wonach wir suchen?«

Langsam schüttelte sie den Kopf. »Ehrlich gesagt, nein, Herr.« Sie war müde, und sie wollte von diesem Menschen weg. Gerade eben noch hatte sie ihn nicht erzürnen wollen, jetzt war es ihr egal.

Wider Erwarten lächelte er. »Ich glaube, ich verstehe. Aber von diesem Moment wirst du deinen beiden Töchtern erzählen. Merk dir meine Worte. Du wirst dabei gewesen sein, als alles begann.«

Ihr ging gerade auf, dass sie ihm nie von ihren Kindern erzählt hatte, als Vragi, einer ihrer Vorarbeiter, herübergelaufen kam. »Hüterseher, Reidun!«, rief er ihnen entgegen. »Wir haben etwas gefunden! Kommt schnell!«

Sie sah den Hüterseher an, der ihren Blick erwiderte. Zum ersten Mal sah sie so etwas wie Aufregung in seinen Augen blitzen. Schnellen Schrittes gingen sie los.

Das Loch, das sie am Fuße der Grube gegraben hatten, war etwa hüfttief. In ihm drängten sich aufgeregt die Arbeiter und bildeten einen dichten Kreis.

»Raus!«, rief der Hüterseher, »alle raus!«

Sie gehorchten augenblicklich. Lyndeman sprang hinein. Am Rand stehend konnte sie sehen, dass etwas im Boden steckte. Aus dieser Entfernung aus hätte sie es für einen Knochen halten können.

»Asvald ist mit dem Spaten drauf gestoßen«, hörte sie neben sich einen der Arbeiter sagen, »aber es ist nicht kaputt gegangen.«

»Was ist es?«, rief ein anderer.

»Zeig es uns!«, forderte jemand von der gegenüberliegenden Seite des Lochs.

Lyndeman machte eine abwehrende Geste, und das Gerede erstarb. Er kniete sich in den Lehm und fing an, das Objekt mit den Händen freizulegen.

»Minenmeisterin, komm«, forderte er sie auf.

Sie ließ sich ins Loch hinab und hockte sich neben ihm nieder.

»Knie«, gab er ihr zu verstehen. »Du bist auf heiligem Boden.«

Sie tat wie geheißen. Zu ihrer eigenen Überraschung stellte sie fest, dass ihr das Herz bis zum Hals schlug. Lyndemans Hände verwehrten ihr einen klaren Blick auf das, was im Erdreich steckte, aber sie sah, dass es leicht schimmerte. Als er es herauszog, konnte sie es endlich sehen.

»Ist es das?«, fragte sie.

Der Hüter gab ihr keine Antwort, zu versunken war er in den Anblick des Reifs in seinen Händen, aber sie kannte die Antwort auch so.

Sommer

»Da kommt ja unser Freund – und was für eine winterliche Miene er hat!« Von seinem Platz an der Brüstungsmauer des Lagerhausdachs aus beobachtete der Schreiber den Mann, der sich unten am Kai einen Weg durch das Getümmel bahnte. Nicht helle, nicht dunkle braune Haare und Bart, grimmiges Gesicht, Kleidung nach Art der nördlichen Völker, Leinen und Wolle und Umhang in gedeckten Farben, Schwert und Dolch, schwere Stiefel. Zwei Begleiter folgten ihm, ähnlich gekleidet und ähnlich finster dreinblickend. Der Schreiber sah ihn zum ersten Mal, er war gestern nicht da gewesen, als der Mann schon einmal hier aufgetaucht war und um ein Treffen gebeten hatte. Aber es war die Tageszeit, zu der er wiederkommen wollte, und die Beschreibung, die er von den dreien bekommen hatte, passte auch: humorlose, kurz angebundene Nordler, die sich anzogen, als wäre ihnen die Hitze egal. Der Schreiber schüttelte feixend den Kopf. Das würde ein Spaß werden.

»Winterlich, Menophanes?«, fragte Demedane. »Was meinst du denn damit?«

Der Schreiber blickte auf das Sklavenmädchen hinab, das neben seinem Tisch auf dem Boden saß und mit einem Kreisel spielte. »Ach, Demedane, du Dummerchen, dass er unwirsch aussieht und mürrisch, das meine ich. Unser Freund ist eben nicht so ein Sonnenschein, wie ich einer bin.«

»Aber wieso sagst du das dann nicht?«

»Weil ich mich nun einmal wie ein schlauer Mann ausdrücke.«

»Ich bin nicht schlau, Menophanes.«

Der Schreiber kicherte. »Ja, ich weiß. Deshalb drehst du ja deinen Kreisel, und ich mache die wichtigen Dinge.«

»Ja, genau.«

»Aber, Demedane, Dummerchen, unser Freund wird gleich hier sein. Sei so gut und bringe uns Brot mit Öl heraus, ein paar Seeigel und etwas von dem Pistaziengebäck. Und Wein. Er wird vielleicht durstig sein, und wir wollen doch nicht, dass er uns für unhöflich hält, oder?«

Demedane schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre schwarzbraunen Locken in alle Richtungen flogen, und sprang auf. Sie lief zur Tür des Treppenaufgangs und rannte hinunter ins Haus; ihre nackten Füße klatschten auf den Stufen. »Wein! Seeigel! Pistaziengebäck!«, rief sie jauchzend.

Menophanes warf Arbaxes, der neben der Tür stand und mit den Schultern zuckte, einen Blick zu. »So stürmisch wie einfältig, unser kleiner Flattergeist«, sagte Menophanes und schmunzelte.

Der Haussklave nickte. »Dafür war sie billig.«

»O ja, mein Guter, glaube mir, Demedane war jeden der Oboloi wert, die ich für sie gezahlt habe, ganz sicher. Ohne sie würden wir uns doch an manchen Tagen glatt zu Tode langweilen.« Er kicherte erneut. »Zieh das Sonnensegel weiter auf, ich glaube kaum, dass die Nordler in der Sonne sitzen wollen.«

Inzwischen hatten die drei Männer die Hälfte ihres Wegs hinter sich gebracht und waren gezwungen, an einem Stapel Amphoren einen Zug Eselkarren passieren zu lassen, die mit Bronzerohlingen beladen den Kai entlangrumpelten. Menophanes legte seinen Griffel weg, knackte mit den Gelenken seiner altersfleckigen Finger und blickte hinaus auf die Bucht von Pentene.

Zwei Mauern in Form eines halben Rings schirmten Narses von der See ab, auf der die Nachmittagssonne weißgoldene Splitter aufglitzern ließ. Zwischen ihnen lag der Kriegshafen, der gewaltige Halbkreis hinter der inneren Mauer barg den Hafen für den Handel. Von den Dromonen im äußeren Ring waren nur die Mastspitzen zu sehen. Bug neben Bug lagen die schweren Schiffe vertäut, vier Dutzend mindestens, sodass es aussah, als wäre die Mauerkrone mit Stacheln versehen. Das Banner der Symmachie, die geflügelte Goldmünze auf türkisem Grund, wehte abwechselnd mit dem simplen rot-blauen Mäander Narses’ auf den Wehrtürmen und an der Festung, die über die Hafeneinfahrt wachte. Gerade kam ein dicker Kauffahrer aus Kelenais herein, tief im Wasser liegend, und hielt auf die künstliche Insel in der Mitte des Hafens zu, um von den dort wartenden Schleppbooten zu seiner Position an einen der Piere gerudert zu werden.

Narses war groß. Als wichtigste Metropole der Symmachie im Westen lief beinahe der gesamte Fernhandel in diesem Teil der Welt über die Hafenstadt. Holz und Sklaven aus den Streitenden Kronen, Papyrus, Gold und Flusspferdleder aus dem Nehebdelta, Pech und Myrrhe von der Küste der Sabarer, Erze aus Anwar, Granit, Tuff und Edelsteine aus Hardal, Tabak aus Vandran, Zuckerrohr und Perlen von den Inseln am Ende der See und Pesh von den Inseln des Morgens, Korn aus dem Salenreich, Wolle aus Chimrien, all das und mehr fand sich hier auf den Kais und in den Lagerhäusern. Die Güter wurden umgeschlagen, weiterverkauft und wieder auf die Reise geschickt, bis sie irgendwann, irgendwo ihren Bestimmungsort erreichten. Dazu kamen die Waren, die aus den anderen Stadtstaaten der Phrygäis nach Narses hinein- und wieder hinausgingen, Wein und Oliven und Ziegenleder, Basalt und Keramiken, gepökelter Fisch, Teppiche, Seide. Alles konnte man in Narses kaufen, wenn man über das entsprechende Geld verfügte, und selbstverständlich auch jenes Gut, an dem der Mann unten auf dem Kai sein Interesse bekundet hatte: Waffen.

Menophanes ließ den Blick zu ihm zurückwandern. Die Karren hatten ihn passiert, er war schon wieder in Bewegung. Zusammen mit seinen Begleitern verschwand er gerade hinter einer Kolonne halb nackter, schweißglänzender Träger, die mit Netzen voller Muscheln auf den Rücken von einem der Piere auf den Kai einbogen. Er konnte nicht sagen, ob es ein Sale war oder ein Chimre, mit diesen Haaren war beides gleich wahrscheinlich, er tippte aber auf Letzteres. Nicht wenige Veteranen der Nechbetkriege verdingten sich in den endlosen Auseinandersetzungen der Streitenden Kronen, seit das Herzogtum Frieden mit dem Wüstenvolk geschlossen hatte. Die Kleinkönigreiche hatten ständig Bedarf an erfahrenen Soldaten, von denen sie sich beim nächsten Waffengang einen entscheidenden Vorteil erhofften. Und ein Chimre in Narses, der Waffen kaufen wollte, konnte nur bedeuten, dass ein solcher wieder einmal bevorstand. Menophanes war es recht. Wenn die Byriden, Nakemonier und wie sie alle heißen mochten, wieder einmal übereinander herfallen wollten, bedeutete das für die Symmachie vor allem gute Geschäfte. In diesem Fall für seinen Herrn, und wenn sein Herr gute Geschäfte machte, zahlte sich das am Ende auch für ihn aus. Alle gewannen. Irgendjemand, wenn auch nicht unbedingt der Waffenkäufer, einen bedeutungslosen Krieg und sie weiteren Wohlstand. Er grinste in sich hinein. Der Mann würde bekommen, was er wollte.

Voll freudiger Erwartung beugte er sich über die Brüstung, als die drei vor dem Lagerhaus angekommen waren und stehen blieben. »Heda«, rief der Mann ihm zu, »ich suche den Händler Menophanes.«

»Der bin ich, edler Herr«, antwortete er, »der bin ich. Ich lasse öffnen.«

Menophanes wandte sich um. »Arbaxes, mein Guter, sei so nett und lasse die drei Herren ein. Führe sie hoch und schau dann, wo Demedane so lange bleibt. Nicht dass sie wieder vergessen hat, dass sie etwas tun soll.«

Der Haussklave nickte und eilte die Treppe hinunter. Einen Augenblick später hörte Menophanes die Tür. Er knackte noch ein paar Mal mit den Knöcheln und wartete.

Demedane erschien mit einem Tablett im Treppenaufgang und kam langsam auf ihn zu, die Zungenspitze zwischen den Lippen und vor Konzentration schnaufend. Sie stellte das Tablett auf den Tisch und atmete schwer durch. »Das habe ich gut gemacht, oder, Menophanes?«

»Sehr gut sogar, mein kleines Dummerchen«, lobte er und tätschelte ihr den Kopf. »Sehr gut. Aber sag«, er deutete auf die strohummantelte Flasche, »warum hast du denn den guten Wein geholt?«

»Du hast doch gesagt, dass der Mann unser Freund ist. Und wir können Freunden doch nicht den billigen Wein geben.«

Menophanes seufzte, dann kicherte er. »Da hast du natürlich völlig recht, das können wir nicht machen. Wenn ich dich nicht hätte, Demedane.«

»Aber du hast mich doch, Menophanes.«

»Das stimmt, das stimmt.« Wieder kicherte er. »Aber jetzt husch schnell in die Ecke und bleib da, unser Freund wird jeden Moment hier sein.«

Demedane tat, wie ihr geheißen, und nahm ihren Kreisel mit, dann erschien auch schon Arbaxes mit den drei Männern auf dem Dach. »Herr«, sagte er, »dein Besuch.«

Menophanes stand auf und ging ihnen entgegen. Die beiden Begleiter gesellten sich zu Arbaxes und stellten sich zu beiden Seiten des Treppenaufgangs auf. Menophanes verbeugte sich. »Edler Herr«, setzte er in Aard, der Sprache des Nordens, an. »Ich bin Menophanes, Händler und Schreiber im Dienste des Toparchen von Pylaimon, für den ich die Niederlassung hier in Narses leiten darf. Nimm bitte Platz.« Er deutete auf den Stuhl vor seinem Tisch. Zusammen mit seinem Gast ging er wieder zurück; beide setzten sich.

»Darf ich dir Speisen und Trank anbieten? Die Seeigel sind fangfrisch, und der Wein aus Kodeos ist hervorragend. Lass mich dir einschenken.«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Wasser, wenn du welches hast.«

»Natürlich. Demedane, lauf und hol unserem Gast einen Krug Wasser, schnell!«, rief er und wandte sich dann wieder seinem Gast zu. »Es wird gleich da sein. Das Wetter hier im Süden ist heiß. Ich hätte das bedenken sollen, du wirst andere Temperaturen gewohnt sein. Verzeih.«

»Die Hitze macht mir nichts aus.« Der Mann beugte sich vor und nahm sich eines der Pistazienküchlein.

Verstohlen betrachtete Menophanes seinen Gast. Er war ein Chimre, schon nach den ersten Worten war ihm klar gewesen, dass er richtig gelegen hatte: Sein Gegenüber sprach ein weiches Aard, dessen Worte hauchend ineinander überflossen, nicht den eher knorrigen, harten Dialekt der Salen. Die Bewegungen waren selbstbewusst, seine Statur und Haltung die eines Kämpfers, der eher auf Geschwindigkeit denn auf Kraft setzte. Menophanes schätzte ihn auf Mitte dreißig, nicht älter. Am linken Handgelenk lugte der Ansatz einer Tätowierung unter dem Ärmel hervor, ein verschlungenes Tierornament, er tippte auf eine Harpyie, einen Donnervogel oder ein anderes gefiedertes Fabelwesen, von denen die Chimren so viele hatten. Der Bart war kurz und von etwas hellerer Farbe als sein Haar, Zopf trug er keinen. Sein Mund war ernst wie bei den meisten seinesgleichen, mit denen Menophanes zu tun gehabt hatte, aber es waren die Augen des Mannes, die ihn überraschten. Grün waren sie und warm, und leise Wehmut glomm in ihnen. Seinen harten Zügen verliehen sie etwas, das beinahe an Milde erinnerte.

»Umso besser, edler Herr. Denn wir können zwar vieles möglich machen, das Wetter ändern aber können wir nicht. Doch sprich: Was führt dich zu mir?«

Der Mann hatte die Hand mit dem Gebäck schon zum Mund gehoben, ließ sie jetzt aber wieder sinken. »Spare dir das ›edler Herr‹ für deine andere Kunden, ich bin keiner.«

»Sehr wohl. Mit welchem Namen darf ich dich ansprechen?« Menophanes ließ sich von der unverblümten Art nicht irritieren. Sein Gegenüber war nicht der erste Chimre, der für einen der Despoten jenseits der Tzarmerkas-Gipfel Waffen kaufen wollte. Keiner von ihnen war über die Maßen höflich gewesen.

»Wideger.«

Menophanes glaubte nicht einen Moment lang, dass der Mann wirklich so hieß. Wer in den Streitenden Kronen einen Feldzug vorbereitete, ging weder mit seinem echten Namen hausieren noch mit dem des Herrn, für den er es tat. Für die Handelshäuser der Symmachie machte das gleichwohl keinen Unterschied: Einer war so gut wie der andere.

»Ein chimrischer Name, nicht wahr?«, antwortete er. »Was führt einen Sohn des Herzogtums so weit hinab ans andere Ende der Welt?«

Der Mann, der sich Wideger nannte, biss vom Pistaziengebäck ab, kaute und schluckte. Er räusperte sich. »Ich will Waffen kaufen. Schwerter und Wurfspeere, dazu Helme und Schilde. Ich habe mich hier nach einem fähigen Kaufmann umgehört, der in der Lage ist, auch größere Mengen davon zu beschaffen. Dein Name fiel am häufigsten.«

Demedane kam mit dem Krug Wasser zurück. Mit einem Wink bedeutete ihr Menophanes, ihnen beiden einzuschenken. »Das freut mich zu hören, deine Worte sind sehr schmeichelhaft. Aber es stimmt: Das Haus meines Herrn ist in der ganzen Phrygäis für Rüstzeug besonderer Qualität bekannt. Die Schmieden in Medes wie auch die hier in Narses arbeiten beinahe ausschließlich für ihn.« Beides stimmte zwar nur bedingt, ließ sich aber von einem Fremden auch kaum überprüfen. Die ungeschminkte Wahrheit war etwas, das Menophanes in Verhandlungen nur selten hilfreich fand. Worauf es vielmehr ankam, war, dem Gast ein gutes Gefühl zu geben und ihm zu bestätigen, dass ihn seine Erkundigungen an die beste Adresse geführt hatten. Ein erstes Erfolgserlebnis für den Kunden konnte die Sache nur angenehmer machen. »Wie viele Waffen willst du denn kaufen?«

»Alle.«

Menophanes hob eine Braue. »Alle? Ich habe ungefähr achthundert Schwerter auf Lager und ebenso viele Helme und Schilde. Dazu sicherlich an die zweitausend Speere. Willst du die wirklich alle?« Die wenigsten Gesandten der Streitenden Kronen kauften mehr Waffen, als für vier, fünf Hundertschaften nötig waren. Phrygäische Waffen waren teuer und die Kleinkönigreiche zu arm und zu ausgeblutet, um sich mehr leisten zu können.

»Du hast mich falsch verstanden. Ich will alle Waffen kaufen. Alle in Narses.«

Es gelang Menophanes nicht ganz, sein ausdrucksloses Verhandlungsgesicht zu bewahren. »Alle meinst du? In Narses?«

»Ja. Und dazu alle, die du binnen einer Woche herschaffen kannst. Ist das ein Problem?«

»Nein«, sagte er langsam. »Allerdings bin ich nicht sicher, ob du dir der Dimensionen bewusst bist, von denen du gerade sprichst.«

»Ich brauche achttausend Schwerter, Helme und Schilde und zwanzigtausend Wurfspeere. Eher mehr als weniger. Kommt das in etwa hin?«

Im Kopf überschlug Menophanes die Zahlen. Er nickte. Etwa dreitausend Schwerter würde er in Narses zusammenbekommen können, wenn er die Bestände der anderen Handelsfamilien aufkaufte, die restlichen ließen sich aus Medes, Sylai und Epotides herbeischaffen. Mit den Speeren und Rüstungen verhielt es sich ähnlich. Die Wochenfrist war knapp, aber haltbar, wenn auch nur mit größten Anstrengungen. Was jedoch seine Gedanken rasen ließ, war das, was dieses Geschäft bedeutete: Hier ging es nicht mehr um das Rüsten für einen weiteren, letztlich fruchtlosen Waffengang, der mal der einen, mal der anderen Seite ein paar Dörfer zuschlug, eine Mine oder Festung. Hier ging es um eine Auseinandersetzung, die tatsächlich etwas verändern würde. Der Mann, der sich Wideger nannte, kaufte die Ausrüstung für eine Armee zusammen, mit der sich die Landkarte der Streitenden Kronen neu zeichnen ließ.

Menophanes griff zu seinem Zinnbecher und nahm einen Schluck Wasser, um seine Aufregung zu verbergen. »Das kommt in etwa hin«, sagte er, nachdem er den Becher wieder abgestellt hatte.

»Gut. Dann wiederhole ich meine Frage: Ist das ein Problem?«

Menophanes suchte den Blick seines Gegenübers. Wenn er jetzt zögerte, war der Handel vorbei, bevor er richtig angefangen hatte, und ein anderer würde das Geschäft machen. »Und ich wiederhole meine Antwort«, sagte er mit einer Ruhe, die sein inneres Zittern Lügen strafte. »Nein, ist es nicht.«

Mit seinen schwermütigen Augen sah ihn der Mann an. Schließlich nickte er. »Eine Woche. Nicht länger.«

»Du wirst die Waffen pünktlich bekommen, sei versichert«, erwiderte Menophanes. »Möchtest du dich von ihrer Qualität überzeugen? Ich habe welche hier, du kannst sie in Augenschein nehmen.«

Kurz schien sein Gast zu überlegen. »In Ordnung. Bring mir ein Schwert, den Rest muss ich nicht sehen.«

»Arbaxes«, rief Menophanes, »du hast den Herrn gehört. Hole uns ein Schwert.«

Der Haussklave nickte und verschwand im Treppenaufgang. Menophanes lächelte aufmunternd. »Er wird gleich wieder da sein.«

Das Lächeln blieb unerwidert. »Ja.«

»Wir können die Zwischenzeit nutzen, um über Preis und Bezahlung zu sprechen …«

Anstelle einer Antwort schlug der Mann seinen Umhang zurück, und Menophanes sah einen Lederbeutel, den er unter der Achsel trug. Er griff hinein und legte einen knapp unterarmlangen Goldbarren auf den Tisch. »Vierhundert Unzen Gold. Ist das Anzahlung genug?«

Menophanes sah den Barren an, dann seinen Gast. Bis zuletzt hatte ein kleiner Teil von ihm nicht glauben wollen, dass das wirklich geschah, aber der Anblick des Barrens vertrieb alle Zweifel. Das war mehr Gold, als die meisten Herrscher der Streitenden Kronen in einem Jahr an Steuern einnahmen. »Ja«, sagte er und schluckte, »das sollte reichen.«

»Den Rest der Summe zahle ich nach Lieferung der Ware auf mein Schiff. Ich werde mich nicht um die letzte Unze streiten, aber ich erwarte einen ehrlichen Preis und einen Mengenrabatt, der der Größe meines Kaufs angemessen ist. Ist das zu viel verlangt?«

Menophanes schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es nicht.«

»Gut.«

Das Schweigen zwischen ihnen währte, bis Arbaxes mit dem Schwert zurückkam. Er legte es über seinen Unterarm und bot dem Mann die Waffe an. Der stand auf und nahm sie in die Hand. Prüfend wog er ihr Gewicht und strich mit den Fingern über den Mittelgrat, der vom Heft bis zur Spitze der blattförmigen Klinge reichte. Er wirkte nicht beeindruckt.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Menophanes.

»Es ist keine Reiterwaffe.«

»Das stimmt. Das ist ein Xyphos, ein Schwert für den Kampf zu Fuß.« Menophanes spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Wenn sein Gast Reiterwaffen wünschte, wäre das in der Tat ein Problem. In der ganzen Phrygäis gab es nicht so viele, wie er kaufen wollte. »Ich bin nicht davon ausgegangen, dass du Reiter ausrüsten willst«, beeilte er sich zu sagen, »aber ich bin sicher, wir können …«

»Nein«, schnitt ihm der Mann das Wort ab. Ein paar Mal hieb er mit dem Schwert durch die Luft, dann gab er es dem Haussklaven zurück. »Die Waffe ist in Ordnung. Achttausend Stück in dieser Ausführung.«

Eilfertig nickte Menophanes. »Sehr wohl. In einer Woche hast du sie auf deinem Schiff.«

»Dann sind wir uns einig.«

Menophanes wollte aufstehen, aber der Mann winkte ab. »Wir sind hier fertig. Auf bald.« Er drehte sich um, ging zur Treppe und die Stufen hinunter. Seine Begleiter und Arbaxes folgten ihm.

»Auf bald«, sagte Menophanes in die Stille hinein.

Als er unten die Tür hörte, beugte er sich von seinem Platz aus über die Brüstung und sah dem Mann, der sich Wideger nannte, nach, bis er im Getümmel des Kais verschwunden war.

»Alle Götter«, sagte er. Dann begann er seinen Nasenrücken zu massieren und dachte nach.

Eine ganze Weile saß Menophanes so da und ließ sich nicht davon stören, dass Arbaxes zurückkam und seinen Platz am Treppenaufgang wieder einnahm und Demedane auf einen Zuruf des Haussklaven das Tablett abräumte. Er hatte die Augen geschlossen und schob in Gedanken Zahlen, Eventualitäten und Risiken hin und her. Als er damit fertig war, öffnete er die Augen und knackte mit den Fingern. Er fing an zu kichern.

»Warum kicherst du, Menophanes?«, fragte Demedane und blickte von ihrem Kreiselspiel am Boden auf.

»Weil es Krieg geben wird.«

»Und Krieg ist lustig?«

»Lukrativ ist er.«

»Und deshalb kicherst du?«

»Ja. Denn ich weiß jetzt, was wir machen werden.«

»Was machen wir denn?«

»Wir kaufen Schwerter und Rüstungen, sehr, sehr viele.«

»Achttausend, oder? Für unseren Freund.«

»Das ist richtig, achttausend für unseren Freund. Nur kaufen wir keine achttausend. Wir kaufen sechzehntausend.«

»Ist das mehr?«

»Ja, mein Dummerchen, das ist mehr. Das Doppelte.«

»Aber warum denn? Das ist doch teuer, Menophanes!«

»Weil wir die zweite Hälfte für uns selbst behalten. Und mit unserer Hälfte werden wir dort mitspielen, wo die erste Hälfte eingesetzt wird. Unser Herr bekommt endlich die Gelegenheit, auf die er schon so lange wartet.«

»Das verstehe ich nicht, Menophanes.«

»Das musst du auch nicht.« Er kicherte wieder. »Alles, was du wissen musst, Dummerchen, ist, dass wir das Geschäft unseres Lebens machen werden.«

Herbst

Die Traumfelder erstreckten sich ins Endlose. Silbrig-rotes Gras wogte sacht in einer frühlingshaften Brise, die nicht existierte. Dunkel wallte das metallische Orange des Himmels. Sie ließ ihre Hand durch das Gras gleiten, das ihr beinahe bis zur Hüfte reichte. Es klingelte leise in ihrem Kopf. Genau ein halbes Jahr war es her, dass sie das letzte Mal hier gewesen war. So wenig sie ihre müden, dünnen Knochen auf den Traumfeldern spürte und die Schmerzen, die sie ihr bereiteten, so beschwerlich war doch der Weg, den sie gehen musste, um hierher zu gelangen. Nur zwei Mal im Jahr nahm sie ihn noch auf sich, zu den Tagundnachtgleichen, wenn sie es musste, und mit jedem Mal brauchte sie länger. Sie war alt; oft würde sie nicht mehr herkommen.

In ihrem Rücken konnte sie das Tor spüren. Von dieser Seite war es ein freistehender Bogen auf einem Hügel, und der Riss im Schleier zwischen den Welten, den es umrahmte, eine Fläche milchigen Rauchs. Früher, in den Jahren kurz nach der Übernahme ihres Amts, hatte sie es oft durchschritten. Es war nie ein Heimkommen gewesen – zu fremd waren die Traumfelder, um selbst den Mitgliedern ihrer Zunft vertraut zu sein. Aber es war immer ein Moment der Freude und Aufregung gewesen. Nicht mehr. Jetzt war es nur noch Bürde. Nicht weil ihr Körper den Weg scheute, sondern weil sie einen Ort besuchte, der ihr Leben zu einer Enttäuschung hatte werden lassen. Eine, auf die sie sich wider besseres Wissen eingelassen hatte.

– Großprophetin. –

Aristaion war ihr vorausgegangen und wartete nun auf sie. Zwischen den Fehlfarben der Traumfelder leuchtete er wie eine Fackel in der Nacht. Sie merkte erst jetzt, dass sie stehen geblieben war, und sie sah den besorgten Ausdruck in der Miene des Münzträgers.

– Schon gut. Ich komme. –

Erst wenige Momente waren sie hier, und doch spürte sie bereits die Kräfte des Unwirklichen an sich zerren. Sie könnte einfach loslassen, und es wäre vorbei – ein verlockender Gedanke, aber sie durfte ihm nicht folgen. Aristaion war zu Recht wachsam: Die Traumfelder verziehen keine Nachlässigkeit, und sie war ausgelaugt von zu vielen Jahren bitteren Dienens.

Sie nahm die Hand aus dem Gras und schloss zu ihm auf. Als sie ihn erreicht hatte, lächelte sie ihm zu. – Es ist alles in Ordnung. –

– Gut. –