Der Krieg der Trolle (4) - Christoph Hardebusch - E-Book

Der Krieg der Trolle (4) E-Book

Christoph Hardebusch

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Beschreibung

Spürt ihr das Beben der Erde? Die Trolle sind zurück!

Im Land zwischen den Bergen ist die Zeit des Friedens vorbei. Krieg liegt in der Luft, und dann taucht auch noch ein tödlich verwundeter Zwerg im südlichen Hochland von Wlachkis auf – Ereignisse, die wie ein dunkler Schatten auf dem Land liegen. Doch die eigentliche Gefahr nähert sich aus dem Dunkel in den Tiefen der Berge: blutrünstige Wesen, die Jagd auf Trolle machen und neue Zwietracht zwischen den Stämmen säen. Der Feind, der nun erwacht ist, bedroht alles Leben unter und über der Erde. Werden Trolle und Menschen sich zur letzten großen Schlacht vereinen können?

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Seitenzahl: 688

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WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Originalausgabe 12/2012

Redaktion: Uta Dahnke

Copyright ©2012 by Christoph Hardebusch

Copyright ©2012 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlagillustration: Volkan Baga

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-09514-7

www.heyne-magische-bestseller.de

Für mein Herz

Dramati# Personae

Trolle

Die Stämme

Barr Anführer eines Stammes

Borag Troll aus Rasks Stamm

Dinka Trollin aus Rasks Stamm

Emren Anführer eines Stammes

Fresk Troll aus Res’ Stamm

Kerr Berater der Anführer

Kro Troll aus Rasks Stamm

Mdag Troll aus Rasks Stamm

Ndaga Anführerin eines Stammes

Prem Troll aus Res’ Stamm

Raga Trollin aus Rasks Stamm

Rask Anführer eines Stamms

Res Anführer eines Stamms

Tarka Trollin aus Rasks Stamm, Pards Tochter

Vreka Trollin aus Rasks Stamm

Zetem Troll aus Rasks Stamm

Verstorbene und andere

Anda Jägerin, die erste Tiefentrollin

Azot Tiefentroll

Druan Einstiger Anführer der Trolle an der Oberfläche

Pard Legendärer Stammesführer und Krieger

Roch An der Oberfläche von einem Zraikas getötet

Wrag Tiefentroll

Zdam Von Marczeg Zorpad erschlagen

Wlachaken

Adan Geistseher aus Teremi

Avra Soldatin

Camila Geistseherin aus Teremi

Cerail Soldatin in Désa

Ciprios Veteran aus Teremi

Denile Geistseher

Elia Schülerin Adans

Ferai Stallbursche in Désa

Gera Geistseherin

Ionnis cal Sares Bojar des Mardews

Irinya Ratsmitglied aus Teremi

Kreoghu Soldat in Barsaî

Larkes Fischer aus Teremi

Maniu Geistseher aus Doleorman

Mendrik Ratsmitglied aus Teremi

Natiole cal Sares Voivode von Wlachkis

Neria Tochter eines Schmieds aus Teremi

Nicras Soldat

Octrean Berater von Ionnis

Parvu Soldat

Radu cal Pascali Junger Adeliger in Natioles Diensten

Savel Heiler in Désa

Simean Anführer von Ionnis’ Leibwache

Taras Adeliger, Varas Vater

Vara cal Zalsani Adelige aus dem Mardew

Vocarica Bäuerin aus Balati

Historische Personen und andere

Anéa Historische Königin und Befreierin von Wlachkis

Cornel Sonnenpriester am Hof des Voivoden

Eregiu Amânas Ionnas Berater

Flores cal Dabrân Söldneranführerin, Mutter von Ana

Ionna cal Sares Frühere Herrscherin über die Freien Wlachaken, auch genannt die Löwin von Désa

Léan Historische Königin

Natiole Târgusi Rebell aus dem Mardew

Radu Historischer erster König, auch genannt der Heilige

Sten cal Dabrân Früherer Voivode von Wlachkis, Vater von Natiole und Ionnis

Tirea Historischer letzter König

Viçinia cal Sares Schwester von Ionna cal Sares, Gemahlin von Sten, Mutter von Natiole und Ionnis

Ma#riden und Szarken

Arkas Sonnenpriester und Lángor im Kloster Erszeg

Ana Békésar Marczeg von Ardoly, Tochter von Flores und Tamár

Andor Ehemaliger Sonnenpriester

Arós Bauernsohn

Eleana Hezcar Tochter aus gutem Hause

Sciloi Kaszón Szarkische Beraterin Anas

Historische Personen und andere

Arkas Dîmminu Historischer König und Eroberer

Tamár Békésar Marczeg von Ardoly, Vater von Ana

Zorpad Dîmminu Historischer Marczeg

Dyrier

Artaynis Vulpon Tochter von Sargan, Gemahlin von Ionnis

Phryges Natioles Kammerherr

Sargan Vulpon Hochrangiger Beamter im Ruhestand

Elfen, Zwerge und andere

Asai Elfe

Rugarr,

Sohn des Rotald Zwerg aus Teshveig

Ruvon Elf

Prolog

An einem Ort, der schon immer seine Heimat gewesen zu sein schien, schlief der Dunkelgeist. Er träumte von einem anderen Leben, von Erinnerungen, die nun keinen Sinn mehr ergaben. Die weite Wanderung, die große Stadt, das alles war fern und unverständlich geworden.

Hier unten gab es keine Sonne, die ihn verbrannte, keinen Wind, der ihn erzittern ließ. Die Zeit verging, ohne dass er sie spüren konnte. Weit über ihm legte sich Schnee auf das Land, dann blühten die Blumen, und kaltes, klares Wasser ergoss sich von den Bergen, die jetzt die Grenzen seiner Wahrnehmung bildeten, in die Täler. Er spürte den Verlauf der Flüsse, spürte das Land, wie er seinen eigenen Leib spürte. Doch ob es Traum oder Wirklichkeit war, ob er schlief oder wachte, wusste er nicht.

Weit entfernt war eine andere Präsenz, stets gerade eben an der Grenze seines Bewusstseins. Ihr Gesang beruhigte den Dunkelgeist, und obwohl sie in seinen Träumen leuchtete, so hell wie die grausame Sonne, linderte ihre Anwesenheit den Schmerz, der jede Faser seines Seins erfüllte.

Doch der andere blieb oben, über Fels und Stein, wo die Welt der Natur ausgesetzt war, dem Wasser, dem Wind, der Sonne, wo sie sich stets veränderte, unbeständig sein musste. Seine Kinder lebten dort, in falschen Höhlen und im tiefsten Wald, und er wachte über sie.

Jeder Schlag seines Herzens erleuchtete die Welt um ihn herum, ließ sie ihn spüren. Tunnel und Gänge, so vertraut. Durch sie zogen seine Kinder auf ewigen Pfaden, jene, die von seinem Blut gekostet hatten und seinen Schmerz nun in sich trugen, und jene, die den alten Wegen folgten.

Aber da war noch mehr. Der Dunkelgeist regte sich in seinen Träumen. Das Land mochte ruhig sein, von Feuer und Blut verschont, doch er konnte es spüren, roch die Veränderung, wusste, dass bald alles zwischen den Bergen und unter ihnen erbeben würde.

1

Es war eine Bewegung am Rande seines Gesichtsfelds, die Kerr herumfahren ließ. Obwohl er zu langsam war, erwischte der Angriff ihn dank dieser Bewegung nur an der Schulter statt an der Kehle. Harte Krallen gruben sich in seine dicke Haut, rissen Furchen in sein Fleisch, und er brüllte vor Schmerz und Wut auf. Instinktiv warf er sich nach vorn und griff an. Das Trollblut in seinen Adern kochte, und der Drang, seinen Feind zu packen, seine Knochen zu zerschmettern und ihn zu zerfetzen, wurde übermächtig.

Der erste Hieb traf den Gegner, wirbelte ihn herum, aber schon der zweite ging ins Leere, da die Kreatur geschmeidig auswich. Erst jetzt konnte Kerr einen Blick auf seinen Feind erhaschen. Er sah dicke Schuppen über mächtigen Muskeln, einen breiten Kopf mit einer langen Schnauze voller dolchscharfer Reißzähne.

Schon griff das Wesen wieder an.

Die Kreatur lief auf allen vieren auf ihn zu, dann sprang sie ihn an. Die Krallen an ihren Vorderpranken kamen auf Kerr zu, der sich dem Angreifer brüllend entgegenwarf. Sie kratzten über seine Haut, rissen sie auf, aber der Schmerz und der Geruch seines eigenen Blutes machten ihn nur noch rasender.

Er erwischte eine der kräftigen Gliedmaßen, hielt sie mit seiner Pranke fest, während er seine Klauen in die Flanke des Wesens grub. Die harten Schuppen boten ihnen Widerstand, aber Kerrs Kraft war groß, und er spürte, wie sie ihm nachgaben, wie er seinen Feind verletzte, roch den metallischen, seltsam scharfen Geruch des Blutes und heulte triumphierend auf.

Der Laut wurde zu einem Schmerzensschrei, als das Wesen seine Hinterläufe hochriss und mit tödlicher Wucht Kerrs Leib aufschlitze. Kerr schlug zu, blind vor Zorn, traf den Kopf, hörte Knochen knacken, dann schleuderte er seinen Gegner von sich.

Blut troff auf den Höhlenboden. Kerr atmete schwer. Seine Schulter war von langen Wunden gezeichnet, seine Unterarme sahen nicht besser aus, und von seiner Brust liefen vier lange Schnitte bis zu seiner Lende. Die Wunden pulsierten mit jedem Herzschlag, der sein Blut aus ihnen pumpte.

Das Wesen umkreiste den Troll, hielt vorsichtig Abstand. Seine Augen schienen in der Dunkelheit zu glühen. Jetzt konnte Kerr es besser erkennen. Es hatte einen langen, geschmeidigen Leib und einen Schwanz, der fast ebenso lang war wie der Körper. Dicke Hornauswüchse, wie Stachel, ragten zwischen seinen Schulterblättern empor. Die großen Nüstern sogen gierig die Luft ein, in der schwer der Geruch des vergossenen Blutes hing. Die Kreatur war vom Kopf bis zum Rumpf sicherlich so groß wie er, wirkte durch den Schwanz und seine muskulöse Form aber noch riesiger.

»Komm her, du Miststück«, murmelte Kerr. Der Herzschlag des Landes brandete über ihn hinweg. Er konnte spüren, wie sich seine Wunden bereits wieder schlossen, sich dicke Hornschichten über den Verletzungen bildeten. Sein Gegner hatte diesen Vorteil nicht, die Wunde in seiner rechten Flanke war tief und blutete ungehemmt weiter, wie Kerr mit grimmiger Befriedigung feststellte.

Doch die dunkle Freude wich rasch, als sich die Kreatur ihm wieder entgegenwarf. Der Angriff kam schnell, zu schnell für Kerr, und die Klauen rissen seinen Oberschenkel auf. Brüllend vor Zorn und Schmerz sank er auf ein Knie, hob schützend die Hände– und spürte den heißen Atem seines Feindes im Nacken.

Der Troll wirbelte herum. Die scharfen Fänge kratzten über seine dicke Haut, schnitten sie auf, aber der mächtige Kiefer schloss sich nicht um seinen Hals, sondern verbiss sich in seine Schulter. Kerr heulte auf, schlug der Kreatur mit der Faust auf die Schnauze, trieb sich dabei jedoch die Fänge nur tiefer ins Fleisch. Rasend vor Zorn griff er hinter sich, bekam einen der mächtigen Stachel zu packen und riss an ihm, während er sich über die Schulter abrollte. Endlich lösten sich die Fänge aus seiner Wunde, aber er ließ den Feind nicht los, sondern wirbelte ihn herum und verpasste ihm wieder einen gewaltigen Hieb gegen den Schädel.

Es gelang dem Wesen, sich mit einem Ruck aus Kerrs Griff zu befreien und Abstand zu gewinnen. Aber es schüttelte benommen den Kopf und zischte leise. Dies wäre der Moment gewesen, um nachzusetzen, es anzugreifen, aber Kerr schaffte es kaum, wieder auf die Beine zu kommen. Sein Blut bedeckte den Boden, war gegen die Höhlenwand gespritzt, rann seine Haut hinab; überall schimmerte die dunkelrote Flüssigkeit.

Der Schmerz war wie flüssiges Feuer in seinem Leib, als habe man ihm kochendes Wasser in seine Wunden gegossen. Kerr schloss die Lider, versuchte sich auf den Feind zu konzentrieren, aber es fiel ihm schwer, auch nur die Augen erneut zu öffnen. Dunkelheit umgab ihn mit einem Mal, wartete an den Rändern seiner Wahrnehmung darauf, ihn zu übermannen, lockte ihn in ihre seltsam tröstende Umarmung, und er ahnte mehr, als dass er es wusste, dass er sich ihr einfach nur ergeben musste, um den Schmerz für immer zu vergessen.

Aus den Tiefen der Welt brandete der Schlag des Herzens zu ihm hoch, fuhr durch ihn hindurch, hallte in ihm nach. Kerr öffnete die Augen, und die Schwärze wich von ihm zurück. Er war noch nicht bereit.

Er kehrte keinen Augenblick zu früh in die Welt der Lebenden zurück, denn sein Feind hatte sich wieder gefangen und näherte sich, das massive Haupt gesenkt, die Zähne gefletscht, die Stacheln auf dem Rücken aufgestellt. Aber da war auch eine Vorsicht in seiner Haltung, die Kerr ein blutiges Grinsen entlockte.

»Du willst mehr?«, fragte er mit belegter Stimme. »Ich werde dich zerfetzen. Ich werde dich in Stücke reißen und dein Fleisch essen. Ich bin ein Troll.«

Als würde es ihn verstehen, zögerte das Wesen einen Moment. Und dann schrie Kerr erneut: »Ich bin ein Troll!«

Diesmal stürzte er sich auf den Gegner. Die Kreatur wich aus, aber Kerr hatte damit gerechnet und erwischte sie am Vorderlauf. Er sprang über die zuschnappenden Fänge hinweg, riss das Wesen herum und landete halb auf seinem Rücken. Etwas brach, ob Knochen oder Stachel war dem Troll nun egal. Er wollte seine Worte wahr machen, wollte seinen Gegner zerreißen und vernichten; er wollte das Blut seines Feindes trinken und seinen Sieg mit einem Brüllen der Welt verkünden. Das war die Art der Trolle, war, wozu der Herzschlag der Erde und der Weiße Bär sie bestimmt hatten.

Wieder und wieder schlug Kerr zu, traf Kopf und Schultern, Flanken und Hals seines Gegners. Der Schwanz des Wesens zuckte hin und her, peitsche über Kerrs Rücken, aber der Schmerz fachte den Zorn des Trolls nur weiter an, gab ihm Kraft und Ziel.

Sein Feind drehte das Haupt, bis es fast auf dem Rücken lag, und biss nach Kerr. Die gewaltigen Kiefer bekamen seinen Unterarm zu fassen, die Fänge durchtrennten Haut, Sehnen und Fleisch, schabten über den Knochen. Kerr riss den Arm nach hinten, befreite ihn gewaltsam. Die Wunde war so tief, dass seine Knochen hell zwischen dunklem Blut und Muskelsträngen hervorschimmerten. Ohne auf die Wunde zu achten, nur geleitet von seinem übermächtigen Zorn, packte der Troll den Kopf der Kreatur. Seine Klauen suchten nach Halt, fanden ihn an der Schnauze, den Nüstern. Er riss ihn herum, aber der Hals des Wesens war zu beweglich.

Und dann zwang Kerr die Kiefer auseinander. Die Muskeln in seinen Armen arbeiteten, seine Schulter verkrampfte sich. Der Schmerz in seinem Unterarm drang zu ihm durch, wuchs ins Unermessliche. Aber dann brachen mit einem hohlen Krachen die Knochen seines Feindes. Ein Gurgeln drang aus der Kehle des Wesens, seine Gliedmaßen schlugen wild um sich, und die Krallen fanden kein Ziel mehr, sondern zuckten nur noch im Todeskampf.

Kerr hielt das Haupt in seinen Händen, bis auch die letzte Bewegung erstarb und das Leben aus seinem Feind gewichen war. Dann sank er mühsam atmend von dem Kadaver. Seine Arme waren zu schwer für ihn geworden, seine Beine zu weich, vor seinen Augen tanzten Lichtpunkte, und das Einzige, was er noch riechen konnte, war sein eigenes Blut. Der Schlag seines Herzens brandete in seinen Ohren, übertönte alle Geräusche.

Kerr lag lange auf dem Felsboden. Um ihn herum trocknete das Blut, erkaltete der Leib der Kreatur, die er getötet hatte. Mit jedem Herzschlag des Landes schlossen sich seine Wunden ein wenig, aber sein Feind hatte ihn schwer verletzt. Zunächst war er nicht sicher, ob er den Kampf überhaupt lange überleben würde. Er war sogar zu schwach, um seine Hände auf die schlimmsten Wunden zu pressen, um zu verhindern, dass noch mehr kostbarer Lebenssaft auf den Boden troff und sich mit dem seines Feindes vermengte.

Langsam beruhigte sich sein Körper jedoch. Während er sich mit jedem Herzschlag erholte, schwand die Wut des Kampfes aus ihm, und ruhigere Gedanken kehrten zurück.

Die Gänge und Höhlen, in denen er sich befand, waren tief unter der Erde, eigentlich Tiefentroll-Gebiet, aber die Tiefentrolle kamen nur selten so nah an die Grenzen des Landes heran, denn sie bevorzugten es, nahe des Herzschlags zu sein. Dennoch hatten sie die neuen Tunnel bemerkt, und auf den verschlungenen Wegen der Unterwelt war dieses Wissen zu Kerr gelangt. Und jetzt liege ich hier, halb totgebissen von dem, was diese Tunnel ausgespien haben. Was ist das bloß?

Mit einiger Mühe richtete Kerr sich auf und musterte die Kreatur, die er besiegt hatte.

»Ein Tiefentroll hätte dich zerfetzt und wäre längst dabei, seinen Hunger an dir zu stillen«, stellte er schließlich laut und mit rauer Stimme fest. Es war seine Art, den toten Feind für sein Können im Kampf zu ehren. Als Kadaver mochte das Wesen nicht mehr so gefährlich aussehen, aber Kerr wusste, dass es ein todbringender Feind gewesen war. Was er nicht wusste, war, woher es stammte.

Unvermittelt war diese Frage unwichtig. Viel wichtiger war, woher das zweite Monstrum gekommen war, das sich nun vorsichtig näherte und Kerr dabei nicht aus den Augen ließ.

»Menschendreck!«, entfuhr es dem Troll, und er richtete sich langsam an der Höhlenwand auf. Noch immer zitterten seine Beine, und die Wunden an seinem Leib waren noch nicht ganz geschlossen. Die Kreatur zischte und zeigte ihre Fänge. Kerr wollte ihr seine Verachtung und seinen Zorn entgegenschleudern, aber allein schon das Aufstehen ließ die Welt um ihn herum tanzen. Und er wusste, dass er diesem Feind nichts mehr entgegenzusetzen hatte.

Das Wesen kam langsam näher. Kerr vermeinte, Respekt in seinen Bewegungen zu erkennen, und wäre er nicht sicher gewesen, dass dies einer der letzten Anblicke seines Lebens sein würde, hätte ihn das vermutlich erfreut. Aber für Freude war kein Platz mehr in ihm. Nur noch für einen grimmigen Vorsatz. Ich werde meine Haut teuer verkaufen. Wie ein Troll es tun sollte. Der Rausch des Kampfes, der ihn zuvor beherrscht hatte, war verflogen, sein Zorn verraucht, und Ruhe überkam ihn. Ich habe Schlachten geschlagen, den weiten Himmel gesehen und mehr erlebt, als die meisten anderen Trolle je erleben werden. Mein Stamm wird um mich trauern, und mein Name wird an der Oberfläche noch lange Jahre genannt werden, denn die Menschen haben ihn mit ihren Zeichen aufgeschrieben.

Geräuschvoll sog die Kreatur Luft in ihre Nüstern, warf einen schnellen Blick auf den Kadaver und schüttelte sich dann zornig. Das Wesen duckte sich noch tiefer, spannte die Muskeln an. Kerr fletschte die Zähne und hob die bleischweren Arme.

Die Krallen des Wesens kratzten über den steinernen Boden, als es Kerr ansprang. Es raste auf den Troll zu, die Pranken ausgestreckt, das Maul geöffnet. Alles schien sich zu verlangsamen. Kerr nahm jedes Detail wahr, die langen Fänge, die mächtigen Muskeln unter den Schuppen, die Mordlust in den Augen. Und noch mehr schien in diesem Blick zu liegen, denn hinter dem Zorn der Kreatur verbarg sich etwas– ein Verstand, der weit mehr war als Instinkt und Jagdlust. Doch der Troll wusste, dass diese Entdeckung ihm nichts mehr nutzen würde.

Nur noch eine Handbreit trennte das Monstrum von ihm, als es plötzlich zur Seite gerissen wurde. Kerr taumelte überrascht, als ihn der Schwanz der Kreatur an der Brust traf, schaffte es aber, sich an der Wand abzustützen.

Eine große Gestalt war scheinbar aus dem Nichts gekommen und nun in einen tödlichen Kampf mit dem Wesen verstrickt. Die beiden Gegner rollten über den Boden, fauchend, brüllend, hieben aufeinander ein, verbissen sich ins Fleisch des Gegners.

Es dauerte einige Momente, bis Kerr begriff, dass es ein Troll war, der dort gegen die Kreatur kämpfte. Erst diese Erkenntnis befreite ihn aus seiner Starre. Er lief zu den Gegnern, die immer noch in einer tödlichen Umarmung am Boden miteinander rangen. Ihm war es kaum möglich, zu erkennen, wo einer der Kämpfenden endete und der andere begann. Aber als er die Stacheln des Wesens erblickte, packte Kerr zu und riss an ihnen. Es gelang ihm, es ein Stück von dem Troll wegzuziehen. Das schaffte genug Freiraum für diesen, um dem Wesen in die nun ungeschützte Kehle zu beißen. Blut schoss aus der Wunde, Kerr zerrte erneut an den Stacheln, und der andere Troll ließ nicht los, bis das Wesen schließlich unter ihrer gemeinsamen Attacke erschlaffte.

Kerr wich einen Schritt zurück und ließ den toten Feind zu Boden sinken. Der andere Troll rollte den Kadaver von sich und richtete sich auf. Quer über seine Brust liefen Kratzer, Bisswunden waren an Schulter und Arm zu sehen, und der ganze Leib war mit Blut verschmiert. Seine fingerdicken Haare waren kurz geschoren, was den Neuankömmling als Jäger kennzeichnete.

»Danke.«

Das Wort klang falsch in Kerrs Ohren, war er es doch, der sein Leben dem anderen verdankte, also erwiderte er: »Ich danke dir.«

Sie standen einander gegenüber, schätzen einander ein. Der Neuankömmling war gut einen Kopf größer als Kerr und deutlich massiver, aber kein Tiefentroll. Da er weder in der Stimmung für Streit noch zu einem weiteren Kampf in der Lage war, senkte Kerr leicht das Haupt und sagte: »Ich bin Kerr.«

»Tarka«, antwortete sein Gegenüber. Für einen Moment fragte sich Kerr, woher er den Namen kannte, dann fiel es ihm ein.

»Du bist Tarka, aus Rasks Stamm?«

Sie nickte. Kerr hatte natürlich von ihr gehört. Sie mochte von Rasks Stamm sein, aber einst war dieser Stamm eine Zeit lang von Pard geführt worden, in den chaotischen Tagen der großen Schlachten und des Kriegs gegen Andas Kinder, und es hieß, dass die Trollin von seinem Blut war. Er besah sich Tarka genauer und glaubte tatsächlich, etwas von dem legendären Jäger in ihr zu erkennen. Die gleiche Kraft, aber vor allem den gleichen Blick, der ihn herauszufordern schien, etwas zu sagen, was sie wütend machen könnte. Da er nicht wusste, ob sie auch die Weisheit besaß, die Pard sich schließlich trotz allem angeeignet hatte, schwieg er lieber.

»Warum bist du hier?« Ihre Stimme war tief, und ihr Klang ließ Kerrs Hörner vibrieren.

»Ich habe von neuen Tunneln gehört und wollte sie mir ansehen.«

»Ich meine, warum bist du allein hier? Du bist nicht der Hellste, oder?« Ihre Stimme klang feindselig, als habe er sie beleidigt, obwohl es gerade andersherum war.

Definitiv ein Sprössling Pards, entschied Kerr.Der gewaltige Troll hatte oft genug genau dasselbe Geschick im Umgang mit anderen bewiesen.

»Ich wandere oft allein. Die Tiefentrolle und ich… wir haben ein Abkommen.«

»Dennoch ist es gefährlich so tief unten.« Sie spuckte auf den Kadaver. »Auch ohne die da.«

»Ich bin ein Troll«, erklärte Kerr langsam. »Ich kann auf mich selbst aufpassen.«

Die Ironie seiner Aussage war ihm sofort bewusst, aber Tarka brummte nur, als würde sie verstehen, was er meinte.

»Wir sollten aufbrechen«, befand Kerr. »Wer weiß, wie viele von denen noch hier sind. Wir müssen die Stämme warnen. Und auch die Tiefentrolle.«

»Die können für sich selbst sorgen.« Tarka kniete sich neben das von ihr getötete Wesen und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wir können gleich von hier verschwinden, aber vorher hilfst du mir.«

»Wobei?«

»Wobei schon?« Sie sah Kerr an und grinste. Ihre Hauer glitzerten gefährlich. »Ich will wissen, wie ihr Fleisch schmeckt.«

2

Um Natiole herum herrschte geschäftige Betriebsamkeit. Stimmen brandeten auf, redeten durcheinander, lachten und verstummten wieder. Teller klapperten, Becher wurden aneinandergestoßen, und unter den Tischen versuchten die Hunde, ihren Teil des Mahls zu bekommen.

An die Tische mochten nur knapp vier Dutzend Menschen passen, aber sie machten so viel Lärm wie eine ganze Schlachtreihe mitten im Gefecht. Und zwischen den Gästen lief noch eine fast ebenso große Anzahl von Bediensteten umher, emsig bemüht, die Krüge nie leer werden zu lassen, leere Platten in die Küche und volle wieder heraus zu bringen. Andere sorgten dafür, dass in den hohen offenen Kaminen Feuer brannten, denn das Wetter war trotz des Sommers frisch und die alte Halle der Feste zugig und kühl.

All diese Menschen waren auf die eine oder andere Art seinetwegen hier, das war Natiole nur zu deutlich bewusst. Manche, weil sie zum Hof von Teremi gehörten. Andere waren von weither gekommen, weil sie hofften, bei ihm Gehör zu finden, durch ihn einen Vorteil, einen Titel oder in einem Streit recht zu erhalten. Nominell waren all diese Menschen seine Untertanen, so wie alle Wlachaken, seit der große Krieg beendet war, der schließlich auch Natioles Vater, Sten cal Dabrân,das Leben gekostet hatte.

Natiole bedauerte oft, dass er zu Lebzeiten seines Vaters kein engeres Verhältnis zu diesem gehabt hatte. Er wünschte sich manchmal, er könnte ihm Fragen darüber stellen, wie es für ihn gewesen war, Herrscher über Wlachkis zu sein. Wie man es gut machte. Seinen Vater hatten die Menschen geliebt, daran konnte Natiole sich noch lebhaft erinnern. Warst du ebenso allein wie ich? Hast du das Amt auch mehr als Bürde denn als Auszeichnung empfunden?

Obwohl er nun schon seit einigen Jahren auf dem Thron in Teremi saß, erschien ihm die Vorstellung, dass er über all diese Menschen herrschte, noch immer seltsam. Allerdings gelang es ihm meist, diese Gedanken zu verbergen, und das war auch notwendig, denn sobald das Mahl beendet war, würden die Gespräche beginnen, und man würde von ihm erwarten, dass er Entscheidungen traf.

Zu seiner Linken saß ein Händler, der sich Vergünstigungen beim Wegzoll erbitten würde. Hinter diesem saß ein beleibter Handwerker mit seinen Söhnen, die darauf hofften, den Auftrag zum Wiederaufbau der alten Ställe zu bekommen, die im vergangenen Winter teilweise eingestürzt waren. Am nächsten Tisch befanden sich Gesandte aus Dyrien, die ein neues Handelsabkommen schließen wollten. Kaffee aus dem Imperium wurde immer beliebter in Wlachkis, und sie hofften auf ein Monopol. Auch hatte es wieder Streitigkeiten an der Grenze zu Ana Békésars Ländereien gegeben, und ein Bauer hatte seine halbe Schafherde verloren. Jetzt saßen er und seine beiden Töchter schweigsam in der hintersten Ecke des großen Saals, während sich ihre Widersacher bereits näher an Natiole herangearbeitet hatten. Es kam dem jungen Fürsten so vor, als habe er sich erst letzte Woche um genau dieselben Angelegenheiten gekümmert, aber Probleme dieser Art waren wie die berühmten phanirischen Echsen– wenn man ihnen den Schwanz abschlug und glaubte, vorerst mit ihnen fertig zu sein, wuchsen ihnen gleich zwei neue nach.

Unvermittelt sah Natiole eine Vision vor sich, wie er immer noch in diesem Saal auf seinem Thron saß, alt, grau und gebeugt, und dieselben Menschen, ebenso wie er vom Alter gezeichnet, genau dieselben Anliegen vortrugen, die er sich an diesem Abend anhören musste.

»Herr? Geht es Euch gut?«

Die Anrede riss Natiole aus seinen Gedanken. Die junge Geistseherin Camila hatte sich neben ihn gesetzt. Mit einem Mal musste Natiole fast auflachen. Jung, fuhr es ihm durch den Kopf. Weil ich mich selbst so alt fühle? Er sah Camila an und erinnerte sich daran, dass sie nur ein Jahr jünger als er selbst war. War es so für dich, Vater? So lange Jahre diese Last zu tragen.

Laut sagte er: »Verzeiht mir, ich war in Gedanken.«

»Ich wollte Euch nicht stören und kann später wiederkommen, wenn Euch das lieber ist.«

»Nein, bleibt. Bitte.« Er bemühte sich um ein Lächeln, das sie sofort erwiderte.

Die Geistseherin hatte kastanienbraune Haare, was darauf schließen ließ, dass es unter ihren Vorfahren masridisches Blut gab. Ihre Haut war selbst jetzt im Sommer sehr hell, und ihre Miene wirkte durch die großen, hellen Augen immer ein wenig überrascht, obgleich Natiole wusste, dass sie einen kühlen Kopf besaß und die Dinge oftmals in der richtigen Perspektive sah.

In Teremi hieß es über sie, dass sie eine besondere Verbindung zum Land habe, doch Natiole war vorsichtig damit geworden, solchen Gerüchten Glauben zu schenken. Seit sie vor einem halben Jahr an den Hof gekommen war, hatte sie sich einige Male als gute Gesprächspartnerin erwiesen, aber der junge Fürst war sich unsicher, was er von ihr zu halten hatte.

»Danke. Ihr habt von den Grenzproblemen gehört?«

Innerlich seufzte Natiole, dass die vom Essen gesetzte Gnadenfrist nun abgelaufen war. »Mein Haushofmeister hat es angesprochen, ja. Wir werden uns in den nächsten Tagen darum kümmern.«

Natiole forschte in ihrem Gesicht nach ihren Absichten, konnte aber keine Hinweise finden. Zwischen den Geistsehern, die dem uralten wlachkischen Glauben anhingen, und den Masriden mit ihrem Albus Sunas gab es immer noch böses Blut. Unter Anas Herrschaft waren die Geistseher im östlichen Wlachkis nicht mehr der Verfolgung ausgesetzt, aber noch herrschten Masriden und Szarken, und ihr Glaube an das Göttliche Licht verbot es ihnen, andere Glaubensrichtungen zu akzeptieren. Wohl gab es vorsichtige Annäherungen; einige Sonnenpriester predigten, dass der Glaube an die Geister des Landes nichts Böses sei, sondern dass die Geister auch Wesen der Ewigen Sonne waren, aber sie befanden sich in der Minderzahl. Die meisten Priester hatten für den alten Glauben der Wlachaken nichts als Ablehnung übrig, und die Geistseher empfanden ihnen gegenüber Furcht und Verachtung, beides geboren aus Jahrhunderten des Hasses.

»Eure Untertanen werden behaupten, dass sie den Sadat nicht verlassen haben, aber die Geister sagen mir, dass dies nicht die Wahrheit ist.«

Natiole blickte sie erstaunt an, als sie fortfuhr: »Sie haben mit ihren Herden den Iames überquert und ließen sie im Cireva weiden. So sehr es mir auch leidtut, meine Landsleute der Lüge zu bezichtigen, aber in diesem Fall haben die Masriden recht.«

Natiole schwieg einen Moment, während er seine Gedanken sortierte. Dann nickte er ihr anerkennend zu. »Ich danke Euch für Eure Aufrichtigkeit. Ich werde Eure Worte bedenken, wenn wir im Rat über den Vorfall sprechen.«

Camila nickte ebenfalls, erhob sich und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Als sie merkte, dass Natioles Blick noch auf ihr ruhte, ließ sie die Hand abrupt sinken und entfernte sich.

Natiole sah ihr nach, während sie sich unter die Gäste mischte. Jemand anders nahm neben ihm Platz, aber er beachtete denjenigen erst einmal nicht, sondern versuchte stattdessen, sich eine Meinung zu dem zu bilden, was er eben gehört hatte.

Das Ergebnis seiner Überlegungen war unangenehm. Egal, wie er handelte oder was er sagte, irgendjemand würde ihm immer Vorwürfe machen. Entweder würde man sagen, er sei ein Erfüllungsgehilfe der Masriden, verriete sein eigenes Volk, besudelte den Namen seines Vaters. Oder er entschied zugunsten der Wlachaken, was unweigerlich zur Folge haben würde, dass man ihm vorwarf, das Recht zu brechen, den Seinen Übergriffe zu erlauben, parteiisch zu sein und allgemein ein Kriegstreiber.

Mit Wehmut erinnerte er sich an die Regentschaft seines Vaters, der es irgendwie geschafft hatte, in seiner Zeit als Herrscher einen zwar brüchigen, doch recht dauerhaften Frieden zu halten. Damals war Natiole dieser Zustand kaum als Errungenschaft erschienen, doch nun wusste er, wie mühselig es gewesen sein musste, all die Jahre einen neuen Krieg zwischen Wlachaken und Masriden zu vermeiden. Er hatte seinen Vater für schwach gehalten; erst jetzt wusste er, welche Kräfte von allen Seiten auf ihn eingewirkt haben mussten, und wie viel Stärke, Mut und Standhaftigkeit es erforderte, sich ihnen zu widersetzen.

Er schüttelte sacht den Kopf. Er hatte keine Zeit, sich in Gedanken an die Vergangenheit zu verlieren. Das nächste Problem war schon da, saß gewissermaßen direkt vor ihm. Natiole wandte sich ihm zu und fand sich bald in einem ausführlichen Gespräch über den Sinn oder Unsinn von Zöllen für bestimmte Holzarten wieder, mit besonderem Augenmerk auf dem Preis dieser Hölzer im Imperium und dem wirtschaftlichen Schaden, den Wlachkis hinnehmen müsste, sollte es Dyriern erlaubt werden, in diesen Handel einzusteigen.

Zwar war Natioles Wissen über Handelsabkommen und Holzarten seit Beginn seiner Herrschaft bereits weitaus umfassender geworden, als er es früher je erwartet hätte, aber sein Interesse konnte damit nicht mithalten. Er setzte also ein ernstes Gesicht auf, brummte an den passenden Stellen zustimmend und nahm sich vor, dieses Problem an seinen Rat weiterzugeben. Zum engsten Kreis seiner Berater gehörten einige Männer und Frauen, denen es nachgerade Freude zu bereiten schien, solche Fragen zu klären.

Aber sein Gegenüber wollte keine Entscheidung des Rates in unbestimmter Zeit, er wollte das Ohr seines Fürsten. Um seine Fürsorge für seine Untergebenen zu zeigen, hörte Natiole also weiterhin zu, bis sich schließlich eine Gestalt lautlos hinter ihm aufbaute und ihm ins Ohr flüsterte: »Etwas Hilfe, Herr?«

Natiole nickte, woraufhin sein Sambar, sein Kammerherr, laut sagte: »Es liegt mir fern, Euch zu stören, Herr, aber ich habe Neuigkeiten für Euch.«

Natiole wandte sich entschuldigend an seinen Gesprächspartner, einen Holzhändler aus dem Mardew, als habe er keine Wahl. Und natürlich konnte niemand etwas dagegen sagen, als er aufstand und Phryges einige Schritte zur Seite folgte.

»Danke«, murmelte der junge Fürst und strich sich eine dunkle Strähne aus der Stirn. »Noch ein Wort über Edelhölzer, und ich hätte mich vergessen.«

»In meiner Heimat ist es die Pflicht eines Dieners, seinem Herrn in jedweder Bedrängnis zur Seite zu stehen. Und jeder Diener weiß, dass ein Bankett ebenso anstrengend und tödlich wie eine Schlacht sein kann.«

Natiole musste grinsen. Phryges war kein großer Mann, und mit seinem runden Gesicht, dem offenen Blick und den dunklen Locken mochte er freundlich und vertrauenerweckend wirken, aber Natiole wusste, dass Sargan Vulpon ihn mit Bedacht für seine Aufgabe ausgewählt hatte. Es wäre dumm gewesen, nicht davon auszugehen, dass Phryges seinem– vorgeblich– ehemaligen Herrn nicht immer noch diente, und dennoch waren Natiole in Situationen wie diesen der geschulte Blick und die geschliffene, höfische Art des Dyriers mehr als willkommen.

»Wann beginnt der Reigen?«, wechselte er das Thema.

»Sicherlich bald.« Phryges wies auf eine Tafel am hinteren Ende des Saals, an der hauptsächlich junge Frauen saßen. Schon auf den ersten Blick war zu erkennen, dass den meisten nicht wohl in ihrer Haut war, und Natiole sah bei mehr als einer, wie sie einen mehr oder weniger verstohlenen Blick auf ihn zu werfen suchte– prüfend, abschätzend, fragend. Wer kann es ihnen verdenken, wenn sie wenigstens sehen wollen, an wen man sie verheiraten möchte?

Trotzdem war ihm mulmig zumute. Schließlich geht es hier nicht um eine verdammte Pferdezucht. Doch wenn er ehrlich war, sahen die meisten Adeligen in Wlachkis die Wahl seiner künftigen Ehefrau wohl unter ähnlichen Gesichtspunkten.

»Ich werde Euch selbstverständlich behilflich sein, Herr«, fuhr Phryges fort. »Als Fürst dieses Landes habt Ihr nicht die Aufgabe, Euch jeden Namen zu merken…«

Fast hätte Natiole widersprochen, aber er schwieg dann doch. Das Gedächtnis des Dyriers für Namen und Gesichter war schon beinahe unheimlich, und Natiole wollte nicht darauf verzichten. Er war sich bewusst, dass Sargans Mann sich im Laufe der Zeit unentbehrlich gemacht hatte, doch er vertraute darauf, dass die Familie Vulpon der seinen immer noch wohlgesonnen war.

»Wer sind denn heute die aussichtsreichsten Kandidatinnen?«

»Eine glückliche Wahl wäre sicherlich eine, die Eure Ländereien fester mit jenen der Masriden im Osten verbindet. Die reizende Eleana Hezcar vielleicht? Deren Vater Euch ein gewaltiges Darlehen für den Wiederaufbau der Handelsstraßen gegeben hat, was ihren Liebreiz zweifelsohne noch unterstreicht?«

Natiole stöhnte leise auf. »Du weißt, dass ich es ziemlich schwer hätte, wenn ich eine Masridin heiratete, oder?«

»Kurzfristig wäre das sicherlich politisch schwierig, aber der langfristige Gewinn wäre groß, falls Euer Ziel die friedliche Koexistenz ist. Und es ist möglich; immerhin hat Euer Bruder sogar eine Dyrierin zur Frau nehmen können.«

Für einen kurzen Moment presste Natiole die Lippen zusammen, als Phryges Ionnis und Artaynis erwähnte, aber dann versuchte er, den Gedanken zu verdrängen. »Koexistenz? Wie du immer redest, Phryges. Selbstverständlich wollen wir Frieden. Mit den Masriden, mit Ana, mit Dyrien, Frieden mit allen. Mein Volk und ich haben genug vom Krieg und vom Blutvergießen.«

Einige Momente lang schwieg Phryges, dann lächelte er. »Ein schöner Gedanke…«

»Ich weiß, dass es noch genug gibt, die wieder die Klingen ziehen wollen, um die Masriden endgültig aus Wlachkis zu vertreiben«, erwiderte Natiole gereizt. »Aber auch das wird früher oder später nachlassen und dann ganz verschwinden. Wenn wir nur lange genug zusammenleben können, ohne uns die Köpfe einzuschlagen, werden sie schon sehen, welche Vorteile das mit sich bringt. Der Handel wird blühen, es wird ihnen besser denn je gehen. Ihre Söhne werden Masridinnen heiraten und…«

Natiole erkannte, dass er sich in eine Ecke manövriert hatte, und verstummte. Phryges sagte nichts, aber der junge Fürst konnte die Zufriedenheit in seinem Blick erkennen.

»Gut, ich werde über deinen Vorschlag nachdenken«, gab er schließlich nach. »Du hast Recht. Auch wenn ich gar nicht wissen will, was ich mir dafür alles werde anhören müssen.«

»In meiner Heimat würde ein Herrscher Untergebene, die derart mit ihm sprechen, enthaupten lassen«, gab Phryges zu bedenken, und ganz kurz wünschte sich Natiole, dass er ein dyrischer Fürst wäre. Aber dann dachte er an die zugegebenermaßen prächtigen, aber auch äußert unpraktischen Roben, die Dyrier gern trugen, und an all die Riten und egeln, denen ihr Tagesablauf folgte, und er stellte sich vor, er müsste so leben, wie er es im Imperium beobachtet hatte, und der Wunsch verging.

»Aber hier regieren die Wlachaken sich selbst. Ich brauche die Unterstützung der Bojaren. Ohne sie könnte ich mich niemals auf diesem Thron halten. Selbst mein Vater und meine Mutter, beliebt und verehrt wie sie waren, mussten dies immer bedenken. Die Wlachaken haben gekämpft und geblutet, um frei sein zu können, und sie akzeptieren keine Tyrannei. Nicht einmal von einem Fürsten aus den Linien von Viçinia cal Sares und Sten cal Dabrân, in dessen Adern das Blut von Ionna, der Löwin von Désa, fließt!«

Ob sein kleiner Seitenhieb bezüglich Phryges’ Herkunft getroffen hatte, konnte Natiole nicht sagen, da sein Untergebener lächelte, wie er es immer tat. Die unerschütterliche Ruhe des Kammerherrn konnte nervenaufreibend sein, aber Natiole hatte vieles von ihm gelernt und verdrängte seine Gefühle, bis er zumindest äußerlich ruhig war.

»Also die Masridinnen«, sagte er zustimmend. »Stell mir diese Eleana vor. Und keine Enthauptungen, egal, wie man über mich spricht.«

Phryges verneigte sich und zog sich zurück, das Lächeln immer noch auf den Lippen.

Für einige Atemzüge blieb Natiole stehen, bevor er zu seinem Stuhl zurückging und sich setzte, um sich in das nächste Gespräch verwickeln zu lassen. Er blickte zu der Tafel der jungen Frauen, aber das Gesicht, nach dem er suchte, konnte er nicht finden. Sie war nicht in Teremi, und egal, wie sehr er sich auch nach ihr sehnte, sie würde nie die Seine werden.

3

Obwohl die Sonne schien, sorgte der raue Wind aus den Südlichen Sorkaten dafür, dass Artaynis ein kalter Schauer über den Rücken lief. Sie zog den Mantel fester um ihre Schultern und ließ ihr Pferd weiterlaufen, während sie sich nach ihrem Begleiter umsah. Ionnis war ein wenig zurückgefallen, holte aber nun auf. Sie zog die Zügel ihrer Stute leicht an und wartete, bis er direkt neben ihr ritt.

»Du solltest vorsichtiger sein«, ermahnte er sie mit einem Vergnügen in der Stimme, das seine Worte Lügen strafte. »Der Weg ist nicht ungefährlich. Abgesehen von den Felsen und den Kaninchenbauen, die dich zu Fall bringen könnten, von den Räubern und Wegelagerern, gibt es hier auch Vranolác, und manchmal kommen Braunfäulen aus den Bergen.«

Artaynis musste schmunzeln, als er das halb ernst vortrug. Von den Vranolác hatte sie bereits gehört; es waren angeblich blutsaufende Monster, vor denen die Wlachaken sich fürchteten. »Braunfäule? Was soll das sein? Eine Pilzsorte?«

»Spinnen«, erwiderte Ionnis. »So groß wie Hunde oder sogar größer. Sie leben hauptsächlich in der Dunkelheit unter der Erde, in Höhlen und Tunneln, aber manchmal kommen sie auch aus ihren Verstecken gekrochen und jagen. Für sie ist alles Beute, was kleiner ist als ein Troll. Ihr Gift ist tödlich, angeblich fault einem das Fleisch bei lebendigem Leib von den Knochen.«

»Bah, das ist ja ekelhaft.« Artaynis tätschelte den Hals ihres Pferdes. »Aber keine Spinne könnte uns einholen, nicht wahr, Hazra?«

»Nimm es nicht auf die leichte Schulter«, bat Ionnis, unvermittelt ernst. »Sie sind gefährlich und ein Grund, warum man sich von Höhlen fernhalten sollte.«

»Ich verspreche dir, dass ich mich nicht von einer Riesenspinne verspeisen lasse.« Artaynis hob die Hand und legte sie auf ihr Herz, wobei sie den Kopf neigte. »Aber die größte Gefahr hast du gar nicht erwähnt.«

»Und die wäre?«

»In der Jahreszeit, die ihr Wlachaken für Sommer haltet, zu erfrieren.«

Sie trieb ihre Stute an und ritt lachend davon, während Ionnis ihr protestierend folgte. Um diese Jahreszeit war es sonst sogar in Wlachkis einigermaßen warm, aber dieser Sommer hatte bereits regnerisch und kühl begonnen, und das Wetter hatte sich über die letzten Wochen kaum verändert. Deshalb war Artaynis auch froh, als an diesem Morgen die Sonne schien und sie Ionnis zu einem ausgedehnten Ausritt hatte überreden können.

Sie galoppierten ein Stück über Hügel und Wiesen, bis Artaynis spürte, dass Hazra ermüdete. Als sie einen Bach entdeckte, ließ sie die Stute noch ein wenig auslaufen, dann sprang sie aus dem Sattel und wartete auf Ionnis, der sich bald zu ihr gesellte.

»Du musst mir nichts über Braunfäulen erzählen«, sagte Artaynis, während sie ihre Pferde lose an zwei Weiden banden. »Mein Vater hat mich als Kind oft genug mit Geschichten darüber geängstigt.«

»Der ehrwürdige Sargan hat Schauermärchen über Riesenspinnen erzählt? Ich kann es kaum glauben…« Ionnis setzte sich ans Ufer und entledigte sich seiner Stiefel.

Tatsächlich war es eine seltsame Vorstellung, wenn man sich ihren rundlichen Vater vorstellte, aber Artaynis wusste, dass er nicht immer ein so gemütlicher Mensch gewesen war. Die Geschichten, die er über Kämpfe mit furchtbaren Achtbeinern tief in den Höhlen unter Wlachkis erzählt hatte, waren auch deshalb so Furcht einflößend gewesen, weil sie wahr klangen. Und weil Artaynis selbst als Kind die Angst in den Augen ihres Vaters hatte sehen können, eine Angst, die von Erinnerungen herrührte.

Über die Sorkaten zogen nun helle Wolken, und der kühle Wind versprach bereits vor dem Abend Regen. Aber noch war der Himmel über ihnen größtenteils blau, und die Sonne schien. Auch Artaynis schlüpfte aus ihren Schuhen und kühlte ihre Füße. Sie legten sich auf die Wiese, die von dunklen Nadelbäumen eingerahmt wurde und über der Insekten eifrig summten, und für eine Weile vergaßen sie alles um sich herum. Artaynis war froh, ausnahmsweise nicht über all die Probleme sprechen zu müssen, die die Verwaltung des Mardews mit sich brachte, und Ionnis schien es ebenso zu gehen.

Erst als sich die Wolkendecke über ihnen schloss und die Sonne und damit auch die Wärme verschwand, erhoben sie sich wieder. Ionnis nahm Artaynis in den Arm und küsste sie sanft.

»Wir sollten zurück nach Désa«, murmelte er. »Es wird schlechtes Wetter geben.«

Hier, im wlachkischen Hochland, waren Wetterumschwünge keine Seltenheit. Artaynis hatte früher geglaubt, das Klima in Teremi sei unangenehm und kalt, aber da hatte sie noch nicht das Mardew gekannt. Die raue Landschaft mochte einen ganz eigenen Reiz haben, und inzwischen konnte die junge Dyrierin sogar eine gewisse Schönheit in ihr sehen, wo sie vorher nur das Gefühl gehabt hatte, von der Natur selbst abgewiesen zu werden. Aber an das Wetter konnte sie sich nicht gewöhnen, und sie tolerierte es nur Ionnis’ wegen. Solange es Natioles Wunsch war, dass Ionnis als sein Statthalter in Désa regierte, mussten sie hierbleiben, doch Artaynis freute sich schon auf den Tag, da der Bruder ihres Mannes diese Aufgabe beenden würde.

Sie machten ihre Pferde los und begaben sich langsam auf den Rückweg. Das erste Stück des Weges führten sie die Tiere an den Zügeln. Der weiteste Teil des Mardews bestand aus grasbewachsenen Hochebenen; nur an den Flanken der Berge gab es die sonst in Wlachkis so dichten Wälder. Das Land war karg und felsig und kaum zu bestellen.

»Wann, denkst du, wird Natiole uns wieder nach Teremi rufen?«

»Wenn er es für richtig hält«, erwiderte Ionnis ausweichend. Er mochte es nicht, wenn sie darüber sprachen, denn er wusste von ihrem Heimweh, und er teilte es sogar, fühlte sich aber seinem Bruder verpflichtet.

»Er hat doch genug fähige und loyale Untergebene, denen er das Zepter von Désa in die Hand drücken könnte. Es ist ja nicht gerade so, als ob das Mardew der Nabel der Welt wäre– oder auch nur von Wlachkis. Wäre es nicht viel wichtiger, vertrauenswürdige Gesandte in Dyria zu haben? Immerhin sichert der Handel mit dem Imperium den Reichtum und auch den Frieden im Land zwischen den Bergen.«

Ionnis antwortete nicht, sondern lächelte sie nur an, aber Artaynis spürte, dass er ihr insgeheim zustimmte. Er liebte die dyrische Lebensart und hatte viel Zeit im Imperium verbracht. Als dem jüngeren Sohn war es ihm nie bestimmt gewesen, in Wlachkis zu herrschen, und seine Eltern hatten ihn früh in Sargans Obhut gegeben, um die Verbindung zwischen den Wlachaken und dem Dyrischen Imperium zu stärken. Nun war er hin und her gerissen zwischen seinen eigenen Wünschen und denen seines Bruders.

Einige Raben erhoben sich laut krächzend in die Lüfte, und Artaynis folgte dem Flug der Vögel mit ihrem Blick.

Unvermittelt ertönte ein lautes Donnern.

Für einen Herzschlag dachte die junge Dyrierin, ein Gewitter würde über sie hereinbrechen, aber dann spürte sie ein Zittern im Boden, das ihre Beine hinaufwanderte und sich schließlich in ihrer Magengrube festsetzte. Ein Zittern, das sie schwindlig werden ließ und ihr Übelkeit verursachte.

»Was, bei den Geistern…«, rief Ionnis, als die Erde unter ihnen plötzlich bebte. Nur mit Mühe gelang es Artaynis, auf den Beinen zu bleiben. Hazra riss sich los und galoppierte mit wehender Mähne davon, und auch Ionnis’ Hengst tänzelte mit vor Angst geweiteten Augen und geblähten Nüstern zur Seite.

»Ein Erdbeben«, entfuhr es Artaynis. Die Bäume in ihrer Nähe wurden von den Stößen durchgeschüttelt, bis der erste laut knackend und krachend umstürzte. Staub wallte auf. »Wir müssen hier weg!«

Ionnis folgte ihr den Weg hinab, fort von den Bäumen, die sich schüttelten, als hätten sie Fieber. Aufgescheuchte Vogelschwärme kreisten am Himmel. Der Moment war so unwirklich, dass Artaynis das Gefühl hatte, sie würde träumen. Dass sie dem Boden unter ihren Füßen nicht mehr trauen konnte, raubte ihr schier die Sinne. Immer neue Stöße fuhren durch die Erde, als ob irgendwo ein Riese mit einem gewaltigen Hammer auf sie einschlagen würde.

Endlich gelangten sie an eine freie Stelle, an der sie innehielten. Das Beben ließ bereits nach, aber es gab immer wieder einzelne Stöße von unglaublicher Kraft. Ionnis ergriff ihre Hand und hielt sie fest, bis auch das Zittern erstarb und die Welt wieder so wurde, wie Artaynis sie kannte.

Verwundert blickte sie sich um. »Was war das? Ist das… Geschieht das oft?«

»Nein«, erwiderte Ionnis, dessen Gesicht ebenso fahl war, wie auch ihres sein musste. »Das habe ich so noch nicht erlebt.«

Artaynis nahm eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahr. Etwa hundert Schritt über ihnen ragten ein paar mächtige Felsen in die Höhe. Zwischen ihnen bewegte sich etwas, und Artaynis glaubte, Metall erkennen zu können. Bevor sie Ionnis jedoch darauf hinweisen konnte, rutschte einer der riesigen Felsen ab, als sei er nicht mehr als ein Spielzeug, und sandte gewaltige Brocken den Hang hinab.

Ionnis’ Warnschrei wurde vom Donnern der Felsmassen übertönt, die auf sie zurasten. Felsbrocken, so groß wie Kutschen, rollten scheinbar spielend leicht den Hang hinab, und fast hätte man bei diesem Anblick vergessen können, mit welch tödlicher Gewalt sie sich bewegten.

Artaynis sprang zur Seite, als ein kopfgroßer Stein auf sie zuflog. Er schlug dort, wo sie gerade noch gestanden hatte, tief in den weichen Erdboden ein. Doch sie konnte nicht darüber nachdenken, was geschehen wäre, wenn er sie getroffen hätte, denn nun war die Luft um sie herum erfüllt von Steinen und Felsbrocken, von Splittern, die ihr die Haut aufrissen. Sie drehte sich zu Ionnis um, versuchte, ihr Gesicht mit den Armen zu schützen und schrie auf, als eine scharfe Kante ihr den Unterarm aufschlitzte. Sie glitt aus, wurde mit schmerzhafter Wucht an der Hüfte getroffen und fiel zu Boden. Sie konnte nicht mehr tun, als sich zusammenzurollen, während um sie herum das Ende der Welt eingeläutet worden zu sein schien. Nur schemenhaft nahm sie neben sich die Gestalt ihres Mannes wahr.

Endlich verebbte das Getöse. Noch immer prasselten Trümmer den Hang hinab, doch es waren keine großen Felsen mehr, sondern nur noch ein Strom kieselgroßer Steine, der mehr und mehr an Geschwindigkeit verlor und um sie herum zu liegen kam.

»Artaynis!«

Es tat gut, Ionnis’ Stimme zu hören, und sie sah vorsichtig auf. Er rappelte sich gerade hoch, stand unsicher auf den Beinen und sah sich mit ungläubig geweiteten Augen um.

»Mir geht es gut«, erklärte sie und blickte auf ihren Arm. Der Schnitt reichte vom Handgelenk bis zum Ellenbogen, und Blut lief ihr über die Haut. Es war ein scharfer Schmerz, aber nichts, was sie nicht aushalten konnte. Die Freude, noch am Leben und nicht unter den Gesteinsmassen begraben zu sein, überwog bei Weitem.

Als sie aufstehen wollte, spürte sie, wie eine Welle des Schmerzes von ihrer Hüfte durch ihren Leib ging, doch nach einem Moment des Schreckens erkannte sie, dass ihre Beine sie noch trugen. Der Stoff ihrer Reithose war gerissen und zeigte gequetschte und aufgerissene Haut, aber Schlimmeres schien ihr nicht widerfahren zu sein.

Ionnis fuhr sich mit der Hand durch die Haare und sah seine blutigen Finger verwundert an. »Etwas hat mich am Kopf getroffen«, sagte er unsicher und rieb sich die Augen.

Artaynis streckte die linke Hand aus und berührte sein Gesicht, wie um sich selbst zu versichern, dass er noch da war. Dann musste sie plötzlich lachen. »Das fehlte vorhin in deiner Aufzählung der Schrecken dieses Landes.«

»Was?«, entgegnete er verdutzt.

»Erdbeben und Erdrutsche.«

Ionnis erwiderte ihr Lächeln, wohl ebenso froh wie sie auch, noch am Leben zu sein. Gemeinsam sahen sie sich um. Der ganze Berghang hatte sich verändert. Bäume waren umgestürzt, Felsen von ihrem Platz gerissen worden. Wo gerade noch eine Wiese gewesen war, gab es nun nichts als Trümmer, Schmutz und Geröll.

»Wir müssen zurück. Wer weiß, was in Désa geschehen ist? Und ich muss Natiole einen Boten schicken. Wenn das Beben ganz Wlachkis erfasst hat…«

Ionnis wollte nach den Pferden suchen, aber Artaynis hielt ihn am Arm fest. »Warte. Ich habe da oben etwas gesehen. Kurz bevor es passierte. Es war… eine Person, glaube ich.«

»Ein Mensch? Da oben?« Zweifelnd blickte Ionnis den zerstörten Hang hinauf. »Wer sollte dort oben überlebt haben?«

»Ich weiß nicht, aber wir können nicht einfach gehen. Da könnte jemand liegen, könnte verletzt sein und unsere Hilfe benötigen.«

Ionnis atmete tief ein, dann nickte er. »Du hast Recht. Komm.«

Der Aufstieg war beschwerlich, denn der Boden war trügerisch. Immer wieder gab ein vermeintlich sicherer Halt nach und löste kleine Steinlawinen aus. Schließlich suchten sie beide nach kräftigen Ästen, mit denen sie den Weg vor sich erproben konnten, und mehr als einmal mussten sie sich gegenseitig stützen, um nicht viele Schritt hinabzurutschen.

Schon bald bluteten auch Artaynis’ Hände, da sie sich an scharfkantigen Felsen und Steinen Schnitte zuzog. Aber sie ließen nicht locker und halfen einander, bis sie die Stelle erreichten, wo die großen Felsen gestanden hatten.

»Schau«, sagte Artaynis. »Es scheint, als ob der halbe Berg abgerutscht wäre.«

»Vielleicht war hier ein Eingang in die Unterwelt, der eingestürzt ist.«

Sie suchten nach irgendwelchen Zeichen von Leben, fanden aber nichts. Staub lag in der Luft, erschwerte das Atmen und wirbelte auf, sobald sie einen der kleineren Felsen beiseite räumten. Doch trotz der schweren Arbeit stießen sie auf nichts, was auch nur auf ein Lebewesen hingedeutet hätte, das größer als ein Fuchs war.

»Wir sollten aufbrechen«, stellte Ionnis schließlich mit einem Blick zum Himmel fest. »Wir können uns nicht darauf verlassen, die Pferde wiederzufinden, und dann sind wir zu Fuß unterwegs, bis es Nacht wird. Und der Regen wird kommen.«

»Ich hoffe, die Pferde haben sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht«

»Sie warten bestimmt schon im Stall auf uns, wenn wir ankommen«, beteuerte Ionnis.

»Ja. Aber ich bin sicher…« Artaynis verstummte. Sie versuchte, sich genau an das zu erinnern, was sie gesehen hatte.

»Ich glaube dir, dass du etwas gesehen hast«, sagte Ionnis. »Doch wer oder was auch immer hier oben war, wurde gewiss verschüttet. Vielleicht den Hang hinabgerissen und unter dieser Gerölllawine begraben. Ich schicke gleich morgen früh Leute, die sich hier umsehen. Aber jetzt können wir nichts weiter tun.«

Obwohl es ihr widerstrebte, nickte Artaynis. »Ja, du hast wohl Recht. Wir sollten gehen. Hier können wir nichts ausrichten.«

»Vorsichtig. Hier ist alles brüchig, und der Boden ist trügerisch.«

Sie begannen den Abstieg, der ebenso gefährlich und mühsam war wie der Aufstieg. Noch bevor sie auch nur zehn Schritte getan hatten, glitt unter Artaynis’ Sohle ein Stein weg, und sie rutschte aus. Andere Felsbrocken lösten sich, Staub stieg auf, und die junge Dyriern landete wenig geschickt auf dem Hosenboden und rutschte auf der kleinen Lawine ein ganzes Stück talwärts.

Ionnis folgte ihr, so rasch er es auf dem unsicheren Boden konnte. »Ist dir etwas passiert?«, rief er zu ihr hinunter.

»Nein. Es ist…«, antwortete sie, doch als sie weitersprechen wollte, fiel ihr Blick auf einen Felsen, unter dem ein Stück Rinde hervorzuschauen schien. »Sieh mal, dort.«

Vorsichtig kletterte sie hinüber und besah sich ihre Entdeckung genauer. Was zunächst wie braune Rinde gewirkt hatte, entpuppte sich als ein Stück gegerbtes Leder, das mit großer Kunstfertigkeit verziert worden war. Kleine Muster aus Rauten und geometrische Bänder waren hineingeprägt worden.

»Ich habe hier etwas«, rief sie Ionnis zu, der sich mittlerweile quer zum Hang auf sie zubewegte und dabei fluchte, als er umknickte.

»Was?«

»Ich weiß nicht.«

Sie stemmte ihre Schulter gegen den Felsbrocken und drückte mit aller Kraft dagegen. Erst glaubte sie, dass eher sie den Halt verlieren und den Hang hinabrollen würde, aber dann bewegte der Fels sich, erst kaum spürbar, nur um dann mit einem Ruck wegzubrechen. Er rollte ein Stück, dann sprang er und hüpfte in weiten Sätzen bis ins Tal.

Doch Artaynis hatte keine Augen für den Felsen, sondern nur für das, was sie freigelegt hatte.

Ionnis kam keuchend und außer Atem bei ihr an. »So ein dreimal verfluchter… Bei den Geistern, was hast du gefunden? Ist das…«

Artaynis blickte auf die Gestalt hinab, die zu ihren Füßen lag und ein leises Stöhnen hören ließ.

»Ein Zwerg«, beendete sie den Satz ihres Mannes. »Da liegt ein schwer verletzter Zwerg.«

4

Die vollständige Dunkelheit, die um ihn herum herrschte, behinderte Kerr nicht. Hier, im Inneren der Erde, umgeben von ursprünglichem Fels und uraltem Gestein, war er zu Hause, weit fort von der unbarmherzigen Weite des Himmels und des offenen Landes an der Oberfläche. Er konnte die Gebeine der Welt um sich herum spüren, vernahm den Nachhall des Herzschlags des Landes in ihnen und wusste so klar, wo er sich befand, als wären die Tunnel, durch die sie rannten, hell erleuchtet.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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