Die Stadt der Seher - Christoph Hardebusch - E-Book + Hörbuch

Die Stadt der Seher Hörbuch

Christoph Hardebusch

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Beschreibung

"Christoph Hardebusch schreibt Fantasy-Spektakel!" Bild am Sonntag Eine gewaltige Armee steht vor den Toren der Stadtrepublik Vastona. Während sich die Einwohner zum Krieg rüsten, entdeckt der Straßenjunge Marco ein furchtbares Geheimnis um den geheimen Orden der Seher. Er und seine Gefährten müssen die Stadt vor dem sicheren Untergang retten. In der blühenden Stadtrepublik Vastona wird der Waisenjunge Marco in den Orden der Seher aufgenommen, der ihm eine Zukunft jenseits der Straßen verspricht. Er freundet sich mit Elena an, einem Mädchen aus ärmsten Verhältnissen, die in den Manufakturen arbeitet, um ihre Familie zu ernähren. Als ein gewaltiger Krieg droht, die Stadt zu erfassen und alles zu zerstören, was sie kennen, müssen sich Marco und Elena ungewöhnliche Verbündete suchen, um das Schlimmste zu verhindern. Denn die wahre Gefahr ist viel größer, als sie ahnen – und sie lauert direkt im Herzen der Stadt.

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Zeit:11 Std. 19 min

Sprecher:Oliver Dupont

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Christoph Hardebusch

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe

Hobbit Presse

www.hobbitpresse.de

© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Birgit Gitschier, Augsburg

unter Verwendung einer Illustration von © Max Meinzold, München

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-93918-7

E-Book ISBN 978-3-608-12133-9

Inhalt

Erster Teil: Erdgebunden

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

Zweiter Teil: Blutsbande

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

Epilog

Autoreninfo

Erster Teil: Erdgebunden

»Wehret den Törichten, die ihrem eigenen Geist nachgehen und nicht dem, was sie gesehen haben.«

Prolog

Tausend Augenpaare starrten gebannt auf das feurige Rund der Sonne, das sich langsam über den Horizont erhob. Noch war es zu zwei Dritteln hinter den Hügeln Padoliens verborgen, doch lange würde es nicht mehr dauern, bis der Morgen in all seiner Pracht heraufziehen würde.

Einigen der Zuschauer konnte es nicht schnell genug gehen, während andere wohl darauf hofften, dass die Sonne zum ersten Mal seit Menschengedenken in ihrem Lauf innehielt. Herzog Solare Biocca gehörte zu keiner der beiden Gruppen. Er hatte seinen Frieden mit diesem Tag gemacht, soweit das möglich war.

Es war überraschend ruhig an diesem frischen, kühlen Frühlingsmorgen. Nebel hing noch kniehoch über den saftigen Wiesen vor der Stadt, doch langsam kam ein Wind auf, der nicht nur den Nebel vertrieb, sondern auch die Banner und Wimpel flattern ließ. Dass zweitausend Männer und Frauen derartig still sein konnten, erstaunte Solare immer wieder. Aber er wusste warum: Sie alle hingen ihren eigenen Gedanken nach.

»Die scheißen sich gleich in die Beinkleider«, rief Ezzo, was hier und da ein Gelächter entlockte, aber als der Herzog seinen Blick schweifen ließ, verstummten sie sofort wieder.

Ein Drittel noch. Die Stadt lag nun fast im vollen Morgenlicht, das ihre Mauern in ein helles, freundliches Orange tauchte. Es hätte ein erhabener Anblick sein können, Hunderte von glitzernden Helmen, wehende Banner, die Spitzen von Speeren im Sonnenlicht, geordnete Reihen hintereinander. Doch für Schönheit hatte gerade niemand Augen. Stattdessen war alle Aufmerksamkeit auf das Tor gerichtet.

Nur noch ein schmaler Streifen Sonne lag verborgen. Die Torflügel bewegten sich nicht. Die uralten Abmachungen besagten, dass Emissären, die unter dem blutigen Banner ausritten, sicheres Geleit zustand. Aber wer musste sich schon an Regeln halten, wenn so viel auf dem Spiel stand? Solare hob die Hand an die Stirn und sah zum Horizont. Nur noch wenige Augenblicke verblieben. Er stählte sich gegen die zweifelnden Gedanken, gegen die Fragen, die an ihm nagten, die Bilder aus zwanzig Jahren Krieg.

»Seht!«

Der Ruf wehte von dem kleinen Hügel im Südwesten herüber. Zuerst dachte Solare, dass die Sonne nun vollständig aufgegangen sei, doch stattdessen öffnete sich das Stadttor von Peluno – nur einen Spalt weit! – und zwei Reiter preschten mit wehenden Mänteln hervor.

Neugierig winkte Solare seinen Pagen herbei und ließ sein eigenes Ross bringen. Reiten musste er nicht, doch er wollte den Neuankömmlingen auf Augenhöhe gegenübertreten.

Die Reihen vor ihnen öffneten sich und schlossen sich hinter ihnen wieder. An der Spitze ritt Selena, das Antlitz bleich, mit dunklen Ringen unter den Augen. Sie musste nicht einmal den Kopf schütteln, um Solare wissen zu lassen, dass sein Angebot nicht angenommen worden war. Überraschender war jedoch ihr Begleiter, ein Bursche von fünfzehn Jahren vielleicht, gekleidet in teuersten Brokat, das Wappen mit den beiden Wildschweinen der Grafen von Peluno auf der Brust. Es war fast ein Jahrzehnt her, dass Solare ihn gesehen hatte, aber es gab keinen Zweifel, dass dies Arnos war, der jüngste Sohn des alten Grafen.

Der Junge zügelte sein Pferd und richtete sich im Sattel auf. Er mochte denken, dass dieser Anblick, gesehen auf so vielen Prunkgemälden, beeindruckend war, doch sein Pferd tänzelte nervös und zerstörte das Bild. Solare verkniff sich ein Lächeln; es gab einen Grund, warum man auf einem Holzblock posierte, wenn man Modell saß.

»Ihro Gnaden«, rief der Junge so laut, dass es alle Soldaten hören mussten. »Das stolze Peluno lehnt Euer Friedensangebot ab!«

Die Worte wogen schwer. Sie würden einen hohen Blutzoll fordern. Solare nickte und winkte ihn näher heran. Einen Moment zögerte der Junge, dann überwog Stolz die Furcht.

»Du musst nicht so laut brüllen«, erklärte Solare freundlich. »Dein Vater sendet dich?«

Mit zusammengekniffenen Lippen nickte Arnos.

»Eine Schande«, erklärte Solare und stieg wieder ab. »Wein?«

Jetzt war der Junge verwirrt. Seine Züge lösten sich ein wenig. Er war so jung. Aber Solare musste daran denken, dass er kaum älter gewesen war, als er seine erste Dreihundertschaft im Morgengrauen durch die eiskalten Entwässerungskanäle geführt hatte. Dreihundert, von denen nur noch eine Handvoll in seinen Diensten standen, darunter Ezzo, ausgerechnet Ezzo, der Söldner mit dem losesten Mundwerk, dem größten Wagemut und der ungeheuerlichsten Verachtung für jede Gefahr. Dass nun er, Erster in so vielen Gefechten, noch lebte, zeigte, dass auch das Schicksal manchmal Humor besaß.

»Steig ab«, bat Solare nicht unfreundlich. Als Arnos dem jedoch nicht nachkam, hob er die Hand. Sofort sprangen Soldaten heran, packten den Jungen, bevor er überhaupt wusste, wie ihm geschah, und zerrten ihn vom Pferd.

Er schrie wütend auf:

»Habt Ihr keine Ehre?«

»Dein Vater hat dich gesandt, weil er hoffte, dass du hier sicher sein wirst«, erläuterte Solare gelassen und ließ sich zwei Becher Wein bringen.

»Lüge! Unsere Mauern sind dick und stark! Nie werdet Ihr auch nur einen Fuß in die Stadt setzen!«

Solare trank einen Schluck und ließ den zweiten Becher zu Arnos bringen. Der Junge hatte nicht unrecht. Die Stadtmauern von Peluno waren weithin gerühmt. Ihre Fundamente stammten aus uralten Zeiten, aber neueste Ideen und Techniken hatte sie erst vor wenigen Jahren verstärkt. Deshalb hatte Solare den halben Winter lang über den Plänen gebrütet und mehr als ein Dutzend Spione nach Peluno geschickt.

»Und wir haben die Verlorenen Gesellen! Noch keine Stadt ist gefallen, die von ihnen verteidigt wurde!«

Eine der angesehensten Söldnerkompanien, ohne Frage. Und Graf Peluno wusste, dass man Söldnern nur so weit trauen konnte, wie man sie werfen konnte, weshalb er ihre Taschen schön schwer mit Gold gemacht hatte. Zumindest waren alle Offerten Solares abschlägig beschieden worden. Natürlich, niemand hatte tiefere Taschen als er, aber unglücklicherweise konnte er sich nicht die Freiheit erlauben, nur an Peluno zu denken.

»Die Stadt wird noch heute fallen«, stellte er fest. »Mein Banner wird von Eurem Palast wehen.«

Er deutete auf das große Kriegsbanner: die goldene Sonne in weißem Kreis vor Schwarz.

»Und für alles, was geschieht, trägt dein Vater die Verantwortung.«

Seine Soldaten mochten diszipliniert sein und ihm gehorchen, aber er war an sein Wort gebunden. Öffnet mir die Tore, und es soll euch nichts geschehen. Zwingt mich zur Schlacht, und Peluno wird gebrandschatzt werden. Es verlangte ihn nicht danach, die stolze und schöne Stadt brennen zu sehen, aber es musste wohl sein.

»Ich bin Unterhändler«, protestierte Arnos und schlug dem livrierten Diener den Weinbecher aus der Hand. Solare seufzte und winkte, woraufhin die Soldaten den Jungen davonzerrten.

»Nein, bist du nicht«, erwiderte er, wohl wissend, dass er nicht mehr gehört wurde. »Kein blutiges Banner, kein Schutz. Dein Vater wusste das.«

Sein Blick wanderte zu den hohen Mauern der Stadt. Regelmäßige Türme und Ausbuchtungen schützten sie. Gut zu verteidigen, schwer einzunehmen. Blieb nur zu hoffen, dass seine Artilleriemeister sich geirrt hatten, als sie behaupteten, dass die Mauern jedem Beschuss über Monate standhalten würden.

Er sah zu Ezzo, der den Becher vom Boden aufhob und die letzten Tropfen Wein daraus trank.

»Wenn du so weit bist …«

Der Söldner grinste breit und rieb sich die Hände. Es war nicht die Aussicht auf die Schlacht, die ihn derart erfreute, sondern die Vorfreude auf das, was danach kam. An die Gefahr verschwendete er keinen Gedanken.

Einst war Solare auch so gewesen, fest von der eigenen Unverwundbarkeit überzeugt. Zwanzig Jahre hatten ihn eines Besseren gelehrt. Man musste Risiken eingehen, im Krieg wie im Frieden, aber es galt, sie zu minimieren.

»Entfesselt sie«, murmelte Solare, als Ezzo Befehle brüllte, die von Kehlen in der Ferne aufgenommen wurden. Flaggen schossen empor, und von den Einheiten an den Flanken kamen Antworten.

Ein lauter Schlag, dann segelte ein gewaltiger Stein täuschend langsam durch die Luft. Bald würde man sehen, ob Solares Berechnungen präzise waren. Eine neue Mauer, aber alte Fundamente.

So oder so, es hatte begonnen.

1. Kapitel

Noch eine weitere Nacht überleben.

Wie jeden Abend war Marcos Bitte an die unsichtbaren Mächte kurz, aber dafür voller Inbrunst. Tief in sich hoffte er, dass jemand – oder etwas – über ihn wachte, doch die Jahre der Entbehrungen hatten dafür gesorgt, dass er sich zu allererst auf sich selbst verließ, statt sein Vertrauen in andere zu setzen.

Manchmal beneidete er diejenigen, die das konnten. So schlimm ihr Leben auch sein mochte, im festen Glauben an etwas Größeres fanden sie Kraft und Halt. Aber es schützte sie nicht.

Sein Schlafplatz war besser als die meisten, die er für gewöhnlich gefunden hatte. Ein alter Erker über ihm schützte vor dem gröbsten Regen, und wenn er sich in das Kellerfenster an die Gitterstäbe legte, entging er dem Wind, der nachts oft durch die Straßen von Vastona wehte.

Die Gasse, in die er sich nachts verkroch, lag abseits der großen Straßen und die nächste Kaschemme war weit entfernt, so dass sich in der Dunkelheit selten jemand hierher verirrte. Und diejenigen, die es doch taten, ignorierten das reglose Bündel, das sich dort verbarg.

Jetzt, in der heißen Jahreszeit war es weitaus angenehmer als im Winter. Die Nächte blieben mild und es regnete selten. Die Bauern jenseits der großen Mauern mochten über die dürre Hitze stöhnen, für einen Straßenjungen wie Marco war sie ein Segen.

Wie jede Nacht rollte er sich um seine spärliche Habe zusammen, die eingeschlagen in ein löchriges, altes Tuch kaum größer als ein Kürbis war. Für viele Bürger der Stadt mochte die magere Sammlung von Tau, einer kleinen verbeulten Metalldose und allerlei sonstigen Fundstücken Abfall sein, aber Marco wusste, dass es genug andere gab, die ihm seinen mageren Besitz stehlen oder ihm dafür einfach den Schädel einschlagen würden.

Die Dächer der Häuser über ihm ließen kaum einen Spalt hellen Himmels erkennen. Als wären sie alt, lehnten sie sich über die Gasse. So lag alles selbst in dieser mondhellen Nacht in tiefe Schatten gehüllt.

Weshalb Marco die Gestalten erst bemerkte, als es schon zu spät war. Halb war er bereits in den Schlaf gedriftet, doch als er die Neuankömmlinge wahrnahm, war er sofort wieder hellwach.

Vorsichtig spähte er aus seinem Versteck, das Gesicht in der Beuge seines Arms verborgen, ein Auge gerade so weit darüber, dass er die Gasse entlang sehen konnte. Es waren drei, ob Männer oder Frauen, konnte er nicht erkennen. Sie huschten zwischen den Gebäuden hin und her, und schon an ihren Bewegungen erkannte Marco, dass sie Ärger mit sich brachten.

Am liebsten wäre er fortgelaufen, doch die drei waren bereits zu nah. So hoffte er darauf, dass die Dunkelheit ihn gut genug verbergen würde.

Eine Gestalt ging von links nach rechts, bückte sich, stocherte mit einem Stock im Abfall herum, der am Rand der Gasse vor sich hin faulte. Zehn Meter waren sie noch entfernt und ihr Gang verlangsamte sich, als ob sie etwas suchten. Marco schlug das Herz bis zum Hals und ihm war kalt.

Fünf Meter, dann zwei. Er schloss die Augen, hielt den Atem an. In der nächtlichen Stille waren ihre Schritte zu hören, unregelmäßig, suchend.

Eine Berührung, ein unsanfter Stoß mit etwas Spitzem in seinen Rücken. Marco wagte nicht, sich zu bewegen, biss sich in den Unterarm.

»Ist da was?«

Es war eine leise Stimme, rau, die Worte mehr gespuckt als gesprochen.

»Mehr Dreck«, antwortete eine Frau etwas lauter. »Oder, warte mal …«

Wieder traf Marco der Stock, diesmal in die Rippen. Unwillkürlich zuckte er zusammen.

Ein Lachen wehte von der Mündung der Gasse herüber.

»Leise«, zischte die Frau. Schritte entfernten sich ein Stück von Marco. Stille senkte sich herab.

Trotz seiner Angst öffnete Marco die Augen. Der Teil der Gasse, den er einsehen konnte, war leer. Noch immer lauschte er in die Dunkelheit, doch jetzt war nichts mehr zu hören. Dankbar entließ er die Luft aus seiner Brust.

Überraschend traf ihn ein harter Schlag auf den Rücken. Marco schrie vor Überraschung und Schmerz auf.

»Du kleine Ratte.« Eine Hand packte sein fleckiges Hemd. »He! Hier haben wir einen!«

Marco wich zurück, seine nackten Füße kratzten über den Schmutz der Gasse. Er warf sich herum und es gelang ihm, den Griff zu brechen. Sofort machte er sich auf allen vieren davon.

Jemand sprang ihm in den Weg, die Arme ausgebreitet und den Mund aufgerissen. Marco drehte sich um, aber da waren die anderen beiden, blockierten jede Fluchtmöglichkeit. Rückwärts kroch er von ihnen fort, bis er die Mauer des Hauses in seinem Rücken spürte.

»Eine Ratte«, erklärte die Frau mit dem Stock und stieß nach ihm. Marco wich aus, so gut er konnte, doch alle drei kamen langsam näher, kreisten ihn ein, trieben ihn in die Enge.

Im fahlen Licht des Mondes konnte er kaum Details ausmachen, doch er sah ihre dunkle, einfache Kleidung, die schmutzigen Gesichter. Keine Wachen, die gekommen waren, um ihn zu verhaften, keine jungen Tunichtgute, die darauf aus waren, mit den Ärmsten der Stadt ihren Spaß zu haben.

»Ich hab’ nix«, rief er ihnen zu, so laut er es wagte. Einer der drei, ein kleiner Mann mit einer flachen Mütze auf dem dunklen Haar, sah sich um, aber er hätte sich keine Sorgen machen müssen. Niemand hier würde des Nachts Fenster oder gar eine Tür öffnen, nur weil auf den Straßen geschrien wurde. Die Bürger Vastonas wussten es besser.

»Oh doch«, antwortete die Frau und lachte finster. »Für dich bekommen wir zwölf Silberne, du Ratte.«

Verwirrt runzelte Marco die Stirn. Wer sollte so viel Geld für einen wie ihn bezahlen? Dann kamen ihm die Gerüchte in den Kopf. Doktoren der Universität, denen die Leichen aus den Armenhäusern nicht genug für ihre Sezierübungen waren. Oder – Marco schluckte – reiche Männer, die Schreckliches im Sinn hatten. Wofür auch immer, niemand bezahlte eine solche Summe, ohne dass es für Marco schlimm endete.

»Lasst mich«, rief er. Er ließ den Blick schweifen, suchte nach einem Ausweg. Doch die drei Häscher verstanden ihr Handwerk. Gebückt, mit den Armen jede Lücke zwischen ihnen verschließend, kamen sie näher und näher. Sie wirkten riesig auf Marco, schienen die ganze Gasse auszufüllen.

Hände packten ihn, zerrten ihn hoch. Er wehrte sich. Ein Hieb traf ihn am Kopf. Sein Atem ging schnell, sein Herz raste. Er bemerkte kaum, wie sein Besitz auf den Boden fiel.

Zwei Arme schlangen sich um ihn, pressten seine Arme an seine Seiten, hielten ihn gnadenlos fest.

»Los, mach schon«, drängte die Frau. Der dritte Mann trat an Marco heran, in seinen Händen ein schäbiger Sack, dessen schwarze Öffnung immer größer vor Marcos Augen wurde.

In seiner Verzweiflung schlug Marco den Kopf nach hinten. Der Mann, der ihn hielt, keuchte auf. Dann grub Marco seine Zähne in dessen Arm. Damit entlockte er ihm ein Heulen.

Der Griff lockerte sich, als Marco Blut schmeckte. Das Fleisch seines Angreifers war Übelkeit erregend weich, aber Marco biss so fest zu, wie er konnte.

Um ihn drehte sich die Welt, als der Mann zurücktaumelte. Die andere Hand ließ ihn los, schlug hart gegen seine Schulter.

»Weg! Weg!«

Sofort kam Marco dem Befehl nach, ließ von dem Mann ab, rutschte aus dessen Griff und fiel auf den harten Boden. Der Stock traf ihn erneut am Rücken.

Doch Marco rannte bereits, erst auf allen vieren, dann kam er auf die Füße. Die Häuser flogen vorbei.

»Hol’ ihn dir«, folgte ihm der Schrei der Frau, während der Gebissene laut fluchte.

»Du kleiner Bastard! Verdammte Scheiße! Ich zieh dir die Haut ab, du Ratte! Wir erwischen dich! Wir kriegen dich!«

Marco rannte so schnell wie noch nie zuvor in seinem Leben. Er erreichte die Mündung der Gasse und warf sich nach links, ohne groß nachzudenken. Dort lag das Viertel der Tagelöhner und Dockarbeiter, ein endloses Gewirr aus Hinterhöfen und engen Gassen. Sein Revier.

Doch seine Verfolger waren ihm auf den Fersen. Er konnte ihre Stimmen hören, ja sogar ihre Schritte. Stiefel auf dem Boden, harte, schnelle Tritte. Jäger auf den Fersen ihrer Beute.

Renn, war alles, was er denken konnte. Jeder Atemzug brannte in seiner Brust, die bloßen Sohlen klatschten auf Dreck und Pflastersteine.

Ein Sprung über einen dunklen Klumpen in seinem Weg, rechts-links durch zwei Gassen, über einen Hof, sich dann durch einen niedrigen Holzzaun quetschen. Gänse, die empört schnatterten. Ein bellender Hund hinter dunklen Fenstern.

Die drei Verfolger mochten größer sein, aber Marco kannte dieses Viertel, hatte hier an hundertundeinem Ort Unterschlupf gesucht.

Es roch nach brackigem Wasser. Einer der Kanäle, ein Seitenarm nur, überspannt von zwei hölzernen Brücken, und einer aus Stein. Dorthin rannte Marco.

Niedrige Boote lagen im Wasser, vertäut und mit Stoffplanen bedeckt.

Eine Hand ergriff ihn an der Schulter. Marco schrie, wurde zurückgezogen. Wie durch ein Wunder konnte er sich auf den Beinen halten, riss sich los. Die Brücke auf die andere Seite des Kanals vor seinen Augen, die Verfolger direkt hinter sich.

»Du … kleine … Ratte …«

Auch sie hatten keinen Atem mehr, doch Marco wusste, dass er ihnen nicht ewig entkommen konnte.

Die Brücke mit den vier Löwenstatuen, zwei an jedem Ende. Auf der anderen Seite die Lagerhäuser und Geschäfte reicher Händler. Dort würde es Wachen geben. Doch von ihnen erwischt zu werden, wäre fast genauso schlimm wie den Häschern in die Hände zu fallen.

Näher und näher kam die Löwenbrücke. Marco legte alles in einen letzten Spurt, flog geradezu auf sie zu.

Dann sprang er.

Das kühle Wasser des Kanals schlug über seinem Kopf zusammen. Alles wurde dunkel. Einen panischen Moment lang wusste er nicht, wo oben und unten war. Dann sah er den Mond silbrig über sich. Und paddelte los.

Schwimmen konnte man es nicht nennen, doch an diesen Kanälen waren er und die anderen Straßenkinder groß geworden.

Daher kannte er auch sein Ziel. Im Schatten der Löwenbrücke lag, halb unter der Wasseroberfläche, halb darüber, eine Öffnung.

Gerade als er glaubte ertrinken zu müssen, stießen seine Finger schmerzhaft an den Stein, und er zog sich in das dunkle Loch vor sich.

Obwohl es in seiner Brust wie tausend Feuer brannte, zwang er sich, leise zu atmen, als sein Gesicht endlich knapp aus dem Wasser ragte.

Die Luft stank. Nicht nur modrig, sondern nach Exkrementen und fauligen Essensresten. Dazu gesellte sich ein weiterer scharfer Geruch. Als Kinder hatten sie gelernt, sich von der Löwenbrücke fern zu halten, denn die Wasser, die aus dem Rohr darunter flossen, waren schaumig und manchmal brannten sie sogar auf der Haut. Doch jetzt war Marco all dies egal. Hier war es dunkel, und er konnte sich bis zu dem verrosteten Gitter in die Öffnung zwängen, in den Schatten verborgen. Die Wände waren mit glitschigen Algen bedeckt

»Wo ist er? Los, such, du Dummkopf!«

Sehen konnte er die drei nicht, wohl aber ihre Flüche hören. Er zitterte bei der detaillierten Beschreibung, was der Gebissene mit ihm anstellen würde.

»Sieh dir das an! Wie ein Tier. Wie ein verdammtes Tier!«

Jetzt waren sie auf der Brücke genau über ihm.

»Es ist deine Schuld«, entgegnete die Frau kalt. »Du hast ihn abhauen lassen!«

»Meine Schuld? Meine Schuld! Der hat ein Stück aus meinem Arm gebissen!«

»Ist er tot? Ich sehe ihn nicht«, sagte der dritte Mann.

»Wenn er tot ist, dann bekommen wir nicht mal zehn für ihn«, keifte die Frau.

»So ein verdammter Scheiß!«

Wieder langes, ausgiebiges Fluchen. Zitternd drückte sich Marco so tief er konnte in das Rohr. Es war ihm egal, was dort herausfließen mochte. Es konnte nicht so schlimm wie die drei über ihm sein.

»Was haben wir denn da?«

Eine neue Stimme. Ein junger Mann. Zu Marcos grenzenlosem Erstaunen lag ein spöttischer Ton darin.

»Verpiss dich«, fauchte die Frau. »Sonst schlitz ich dich auf, Schnösel.«

Als ihr ein Lachen antwortete, riss Marco die Augen auf. Wie konnte jemand diesen dreien so wagemutig gegenübertreten?

»Das ist aber nicht sehr höflich. Seht Ihr, ich und meine Freunde«, der junge Mann betonte diesen Teil, »wollten nur ein wenig Spaß haben, und jetzt werden wir von drei abgerissenen Halunken beleidigt.«

Über ihm herrschte Stille. Marco wagte nicht zu atmen.

»Entschuldigt, junger Herr«, erklärte die Frau dann demütig. »Wir …«

»Ihr wolltet gerade gehen und dieses schöne Bauwerk unserer wundervollen Heimatstadt nicht weiter mit eurer Anwesenheit beschmutzen.«

Wieder eine kurze Pause.

»Natürlich, natürlich.«

Schritte entfernten sich. Marco stiegen Tränen in die Augen.

»Was waren denn das für Gestalten?«

»Wir hätten ihnen eine Lektion verpassen sollen!«

»Du hast so viel gesoffen, du kannst doch kaum noch ein Rapier halten, geschweige denn jemanden etwas damit lehren!«

Mehrere Stimmen lachten auf. Junge Frauen und Männer, eine ganze Gruppe. Ihre Worte klangen fein und gebildet, nicht nach dem Dialekt der Gosse.

»Wir sind nicht wegen solchem Gesocks hier«, erklärte der junge Mann, der zu Anfang gesprochen hatte. »Lasst uns lieber die Bastarde von den Pazardis suchen.«

Ein lautes Johlen antwortete ihm, dann rannte auch diese Gruppe rufend und lachend davon. Marco wusste nicht, von welchem Händel sie sprachen, auch wenn er natürlich die Familie Pazardi kannte, eines der großen Häuser der Stadt.

Marco schluchzte auf. Er blieb zurück in seinem Loch, halb im Wasser liegend, frierend, der Rücken noch vom Stockhieb schmerzend.

Und doch unendlich dankbar, entkommen zu sein.

2. Kapitel

Zu sagen, es sei ruhig, wäre eine Lüge gewesen. Es gab keine ruhigen Flecken mehr auf der uralten Mauer. Selbst die Bereiche, an denen der Mörtel bröckelte und die Steine einfach herausgebrochen und für neue Häuser genutzt worden waren, jene Abschnitte, auf denen seit Menschengedenken keine Soldaten mehr Wache schoben, waren nun kein Rückzugsort mehr. Im Gegenteil, gerade dort war nun die größte Geschäftigkeit, stolzierten Beamte herum, vermaßen Steinmetze jeden noch so kleinen Riss und kratzten alten Mörtel aus den Ritzen. An manchen Stellen waren bereits Gruppen von Arbeitern beschäftigt, schwitzten in der heißen Sommersonne, während sie Gerüste bauten und schweres Gerät heranschleppten.

Aber Marco kannte noch die eine oder andere Ecke. Ausgerechnet hier, über dem Tor der drei Dämonen, gab es unterhalb eines der beiden imposanten Tortürme einen schmalen Gang, der nur selten von den Wachen benutzt wurde. Dort konnte er in relativem Frieden liegen, die Sonnenstrahlen genießend und den Geräuschen des geschäftigen Betriebes unter ihm lauschend.

Sein Leib schmerzte noch immer hier und da. Abschürfungen, der lange Striemen auf seinem Rücken, doch das verblasste langsam, ebenso wie die Erinnerungen an die Nacht. Derlei geschah immer wieder, und es gab nichts, was er tun konnte, außer sich noch besser zu verstecken und noch vorsichtiger zu sein. Bei Nacht zumindest. Jetzt sah er hinab auf das Treiben unter ihm.

Unzählige Menschen kamen und gingen den ganzen Tag, einige aus der direkten Umgebung von Vastona, andere von weit her. Manchmal lehnte Marco an der hohen Brüstung und sah auf sie hinab, auf die Leute in ihrer fremdartigen Kleidung, er hörte unverständliche Worte fremder Sprachen und stellte sich vor, wie es wohl dort aussah, wo sie herkamen, und durch welche exotischen Länder sie gereist waren, nur um in seiner eigenen Heimat anzukommen.

Sie alle mussten durch eines der fünf Tore in der mächtigen Stadtmauer. Zwar war die Stadt über ihr steinernes Korsett hinausgewachsen und von einer Reihe kleinerer Dörfer umgeben, die sich wie Küken in den Schutz versprechenden Schatten der Henne duckten, doch wer die Reise nach Vastona auf sich nahm, würde sich nicht mit diesen ärmlichen, von Baracken und Hütten geprägten Auswüchsen der Stadt begnügen.

Selbst für Marco, der sein ganzes Leben in Vastona verbracht hatte, waren die Dörfer wie ein fremdes Land. Mit seinen sechzehn Jahren hatte er sie nur eine Handvoll Male besucht; zu schwierig war es, an den Torwachen vorbeizukommen, zu groß die Gefahr, dass sie ihn nicht wieder hineinlassen würden.

So war die uralte Mauer die Grenze seiner Welt geblieben. Vor tausend Jahren hatte irgendein Herrscher eine Linie um die Stadt gezogen und hatte so viele Generationen später damit Marcos Leben bestimmt. Nein, nicht irgendein Herrscher – Fürst Rezzario, der Erste, ein so großer Herrscher, dass selbst eine Straßenratte wie Marco von ihm gehört hatte, ja sogar wusste, wie er aussah. Denn seine Statue stand auf dem Platz der Stille, so groß wie vier Männer, das bärtige Gesicht ernst, die Brauen zusammengezogen, den Blick in eine Ferne gerichtet, von der Marco nicht einmal ahnen konnte, wo sie lag.

Einmal in der Woche, wenn der Große Gong geschlagen wurde, durfte jeder Bürger der Stadt auf den Platz und jene, die großes Glück hatten, kamen bis in die Heiligen Hallen des Ordens der Seher. Die anderen blieben außen vor und konnten nur hoffen, dass die Segnungen durch die dicken Bronzetüren drangen und auch ihre Leben erreichten.

Für Marco und seine Standesgenossen, wenn man die niedrigsten der Niedrigen so nennen konnte, war es ein guter Tag. Die Menge drängelte sich auf dem Platz, Verkäufer zogen umher und boten alles feil, von Essen bis hin zu Reliquien, und ein Paar schnelle Hände konnte genug Geld für ein warmes Mahl und vielleicht einen verdünnten Gewürzwein ergattern. Es nagte zwar an Marcos Gewissen, dass er den gesegneten Augenblick mit seinen Taten verschandelte, aber er hatte früh gelernt, dass ein knurrender Magen weitaus schmerzhafter als ein knurrendes Gewissen war.

Doch heute war das alles fern. Unten am Tor hatte ein störrischer Esel entschieden, dass er für heute genug gelaufen war, und weder lockende Brotbrocken noch harte Schläge konnten seine Meinung ändern. Die Reihe der Wartenden wuchs, einige lachten über die verzweifelten Versuche von Eseltreiber und Soldaten, doch die meisten blickten grimmig und einige riefen Verwünschungen. Als einer der wenigen, die einfach nur zuschauten, musste Marco lächeln.

Bis der Hauptmann der Wache vortrat und sein kurzes Schwert zog. Schlagartig senkte sich erwartungsvolle Stille über den kleinen Platz vor dem Tor.

»Nein, bitte nicht. Er wird gleich gehen, ich kenne ihn …«

Doch der Hauptmann beachtete das Flehen des Eseltreibers nicht. Als dieser ihn am Ärmel packte, den Leib gekrümmt, das Haupt demütig gesenkt, bellte er nur einen kurzen Befehl und Soldaten stürmten heran, um den Mann wegzuschleifen.

Auf Marcos Lippen gefror das Lächeln. Zu oft hatte er den Stiefel einer Wache im Rücken gespürt, zu oft hatte sein Gesicht von den Schlägen gebrannt, sein Leib von ihnen geschmerzt.

Mit schnellen Schnitten befreite der Hauptmann den Esel aus dem Geschirr des Karrens. Die großen Ohren des Tieres kreisten, seine Augen wanderten nach hinten, versuchten, den Mann mit dem scharfen Stahl im Blick zu behalten.

»Schafft den Karren hier weg«, rief er und die Soldaten kamen seiner Order sofort nach. Das Tor der drei Dämonen – sicherlich trug es noch einen offiziellen, imposanteren Namen, aber in der Stadt war es nur nach den drei Statuen benannt, die von Wind und Wetter zu fast formlosen Gestalten geschliffen worden waren – war bei Händlern beliebt, denn es hieß, dass die Wachen hier weniger korrupt und gierig als anderswo seien. Doch das hatte seinen Preis.

Die Klinge fuhr dem Esel in den Hals. Als sie zurückglitt, schoss ein Schwall Blut hervor. Die Beine des Tieres zitterten, seine Augen waren nur noch weiß, dann brach es ohne einen Laut zu geben zusammen.

»Schafft den Unrat weg.«

Der Eseltreiber stand mit entsetztem Gesichtsausdruck am Rande, während seine Habe davongeschleift wurde. Ein Eselgespann mochte eine Familie ernähren können, ein Karren allein konnte das nicht.

Der Strom der Reisenden floss um ihn herum. Marcos Herz schlug heftig. Er hatte in seinem Leben Schlimmeres gesehen, viel Schlimmeres, aber er wusste, wie der Mann sich fühlte. Gerade noch hatte die Welt einen Sinn gehabt, nun war der verschwunden. Aus einer sicherlich harten, aber erträglichen Zukunft war etwas anderes geworden, ein dunkles Loch von Ungewissheit und Angst.

»Willkommen in Vastona«, murmelte er, als er sich wieder hinter die Brüstung zurückzog und die Augen schloss. Doch so sehr er sich auch bemühte, er konnte die Welt nicht mehr ausschließen; sie kroch in seinen Geist, drängte sich zwischen seine Gedanken und ließ ihm keine Ruhe mehr.

Es war an der Zeit zurückzukehren.

Unauffällig lief er die Mauer entlang, bis er zu der schmalen, bröckelnden Treppe kam, die ihn, immer zwei, drei Stufen auf einmal, hinab in das Gassengewirr brachte. Hier waren die Häuser schon vor langer Zeit bis an die Mauer gewachsen, wild durcheinander wuchernd, wie ein Garten, den niemand mehr pflegt. Da den Gebäuden der Platz am Boden fehlte, schossen sie in die Höhe. Neue Stockwerke wurden an die Stelle von Dächern gesetzt; stürzte ein Haus ein, nahm ein höheres seinen Platz ein. Man konnte das Alter der Häuser an der Farbe ihres Gemäuers erkennen. Der helle Stein aus dem Umland wich nach und nach dunkleren Farben, vor allem Grau und rostigem Rot, denn die Steinbrüche in der Nähe waren längst erschöpft und Baumaterial musste von weither über den Fluss gebracht werden. Aber selbst die neuesten Häuser hatten helle Flecken, dort, wo alter Stein aus der Stadt oder gar der Stadtmauer genutzt worden war.

Obwohl es nicht seine Gegend war, kannte Marco die Gassen und Straßen hier gut. Es war ein ärmliches Viertel. Vor allem wohnten hier Tagelöhner und sonstiges Volk, das Tag für Tag von der Hand in den Mund lebte, kaum die horrenden Mieten zahlen konnte und dennoch die Stadt nicht verließ, denn, so hieß es, auf dem Land war alles noch schlimmer. Aber jeder Vastoni glaubte ohnehin fest daran, dass sich das Glück bald wenden werde, wie die Wetterdrachen oben auf den Dächern.

Für Marco war der Gedanke, dass sich sein Leben zum Besseren verändern könne, ebenso mythisch wie Drachen selbst. Möglich war, dass dies geschehen konnte, aber gesehen hatte es noch niemand.

In den engen Gassen stank es nach Unrat und Fäkalien, und er achtete darauf, nicht in die vielen Pfützen zu treten. Selbst hier war jeder Pfad, jede noch so schmale Gasse gepflastert. Etwas, auf das selbst jene Vastoni unendlich stolz waren, die auf den Pflastersteinen lagen und verhungerten.

Finstere Blicke folgten Marco. Nicht nur, dass er nicht hierher gehörte, außerdem war er eine Straßenratte. Die Bewohner der schiefen, überfüllten Häuser mit ihren winzigen Wohnungen voller Menschen mochten nicht viel haben, aber das war immer noch mehr, als er besaß, und natürlich blickten sie auf ihn herab. Vielleicht glaubten sie, dass es aus Sorge davor war, dass er ihren kärglichen Besitz stibitzte, aber Marco kannte die Angst in ihren Blicken nur zu gut – sie fürchteten, so zu werden wie er. Er war wie ein Vorbote, ein schlechtes Omen, und dementsprechend waren alle froh, als er die Straße der Roten Füße erreichte.

Schon lange saßen die Färber und Gerber nicht mehr hier, waren vor vielen Jahren vom Großen Rat gezwungen worden, ihre stinkenden Werkstätten und Läden näher an den Fluss zu verlegen, aber die Straße hatte ihren Namen behalten. Einige behaupteten zwar, dass er von den Tagen der Irravo-Revolte stammte, in denen das Blut der Erschlagenen vom Hügel der Paläste bis hier hinab geflossen sein sollte, aber das war nur ein Schauermärchen. Immerhin hatte man Irravo und seine Anhänger verbrannt und nicht enthauptet oder sonst wie ihres Blutes beraubt.

All die Geschichten kursierten selbst unter den Ärmsten der Armen. Marco kannte sie auch, jene von Verrat, von Liebe, von großen Helden und finsteren Schurken. Er wusste von den drei Malen, als Vastona erobert worden war, und den fünfen, als sie ihre Tore den Feinden geöffnet hatte. Er hatte von dem Umsturz durch die Familie Radoni gehört, von der nur noch der Name des Platzes blieb, auf dem sie alle, vom Patriarchen bis zum letzten Säugling, hingerichtet worden waren.

Jeder Vastoni kannte die Geschichten. Die größte Stadt des Weltenrundes, Heimat von unzähligen Künstlern und Philosophinnen, Gelehrten, Generalinnen, Entdeckern, Handelsfürstinnen und sonstigen Männern und Frauen, die der Welt ihren Stempel aufgedrückt hatten.

Von überall starrte einen die Geschichte an, jeder Platz hatte seine Statuen, an jedem Stadtpalast gab es Büsten, Fresken, Mosaike.

Zu einem Bauern, der mit staunend geöffnetem Mund durch die Straßen irrte, konnte selbst Marco sagen: »Du magst Vieh besitzen und niemals Hunger leiden, aber ich, mein Freund, ich bin Vastoni!«

Vor Marco öffnete sich die Straße auf den Platz des Triumphs. Andere Städte mochten an so einem Ort einen Sieg feiern; Vastona feierte ein Dutzend oder mehr. Hohe Säulen, gestiftet von siegreichen Generälen oder dankbaren Bürgern, gekrönt von Statuen oder Sinnbildern, mit Plaketten, auf denen gewiss eindringliche Worte standen, hätte Marco sie nur lesen können. In Kriegszeiten versammelten sich hier die Verteidiger der Stadt. Jetzt standen zwischen den Säulen allerlei Buden und Marktstände. Anstelle von Jubelrufen erklangen Anpreisungen von Waren aller Art, eine lauter und schriller als die andere.

Es war kein Markttag, sondern einfach nur das normale Gewimmel. Fliegende Händler trugen Stoffe über den Armen oder zogen Karren voller Ramsch hinter sich her, die Marktschreier in Buden und an Ständen winkten mit der einen Hand potenzielle Kunden heran, nur um mit der anderen Konkurrenten, mögliche Diebe und sonstige Störenfriede abzuwehren.

Die Augen waren wachsam, aber Marco war erfahrener als viele und verzweifelter als die meisten. Nicht länger als einen Herzschlag dauerte es, eine kurze Unachtsamkeit, die Frage eines Kunden, und er war heran und wieder davon, abgetaucht in der drängelnden Menge, den Lohn in der Rechten unter sein Hemd geschoben.

Die ledrige Haut der Bursa-Frucht war noch zäh; eigentlich hätte sie noch einige Tage in der Sonne vertragen können, aber Marco war nicht wählerisch. Er würde sie mit Zähnen und Fingernägeln aufreißen und das süßlich-bittere, weiche Fruchtfleisch aus ihr kratzen. Und dann …

»Hab ich dich!«

Eine Hand schloss sich um seinen Arm. Instinktiv warf er sich nach vorne, versuchte, sich aus dem Griff loszureißen, doch stattdessen wurde er mit einem Ruck zurückgezogen, so dass sich seine Schulter schmerzhaft verdrehte. Die Bursa entglitt seinen Fingern und fiel auf die Straße.

Er öffnete den Mund, um zu protestieren, sah dann aber den hohen Helm aus polierter Bronze. Eine Bürgerwache. Marco wurde bleich.

3. Kapitel

Alten, ursprünglichen Wald gab es nirgends in den sanften Hügeln dieses Teils der Welt mehr. Die Städter, immer hungrig nach Holz und Stein, hatten alles gerodet, jeden Baum, aus dem man Balken oder Planken machen konnte, für ihre Schiffe und Festungen nutzend. Aber findige Menschen hatten neue Haine gepflanzt, und in einem solchen jungen Forst befand sich Ombro.

Auch wenn die Bäume weiter auseinander standen und es weniger Unterholz als in einem der alten Wälder des Nordens gab, schmiegten sich die Schatten des frühen Abends an ihn. Es war Ombro im Lauf langer Jahre zur zweiten Natur geworden, das helle Licht zu meiden.

Sein Gegenüber war auch in dieser Kunst geschult, aber entweder war sie weniger gut darin als er oder in diesem Moment unvorsichtig. Beides verhieß nichts Gutes, aber nun war es zu spät um umzukehren. So trat Ombro aus den Schatten, sorgfältig darauf bedacht, die Hände hochzuhalten und harmlos und offen zu wirken.

Dennoch zuckte die Frau. Lerne daraus, dachte Ombro. Seine Blicke suchten nach ihren Waffen, wägten ab, wie schnell und sicher er sie im Zweifelsfall töten könnte, während er freundlich lächelte.

Sie war nicht groß, und ihre Hand lag auf dem Knauf einer kurzen Klinge an ihrem Gürtel. Das braune Haar war kurz geschnitten und die wenigen Locken mit einem Tuch gebändigt. Ihr Gewand ähnelte Ombros: braune Stoffe und Leder, praktisch, unauffällig, wie es viele Reisende trugen. Mindestens eine weitere Klinge steckte in ihrem Stiefel, und Ombro nahm an, dass noch mehr verborgen waren.

»Du bist der Vastoni?«, fragte sie ohne Umschweife. Ombro, der eine weniger direkte Anrede gewöhnt war, ließ sein Lächeln von den Lippen verschwinden.

»Korrekt.«

Sie sah ihn auffordernd an, aber ihr plumpes Auftreten regte seinen Widerspruchsgeist an. Dafür, dass seine Aufgabe so wichtig war, gab sich Vastona wenig Mühe, und das ärgerte ihn.

Als er sie weiter schweigend ansah, wurde die Frau sichtlich nervös. Ihre Blicke wanderten über die kleine Lichtung, suchten das Halbdunkel zwischen den Bäumen ab.

»Du bist auch eine Vastoni?«, entgegnete Ombro schließlich, jedes Wort sorgsam im melodischen Dialekt ihrer Heimat aussprechend. Sie nickte.

Langsam griff er in sein Wams. Ihre ganze Aufmerksamkeit war jetzt auf seine Hand gerichtet. Noch ein Anfängerfehler. Entweder war sie sehr unerfahren oder aber, und diese Möglichkeit galt es stets zu bedenken, so gut, dass sie selbst ihn täuschen konnte. In seinem Geschäft waren die Dinge selten so, wie sie zunächst schienen, und auch er hatte schon vorgegeben, ein übereifriger Dilettant zu sein.

Seine Finger zogen die schmale Ledermappe hervor und hielten sie hoch. Sie sah nicht nach viel aus, aber er wusste, dass ihr Inhalt größere Wirkung als die Nachricht vom Fall der Burgen an den Grenzen der vastonischen Herzlande hatte.

»Das ist, wonach Eure Herren verlangen. Und mehr. Jetzt Ihr.«

Sie löste einen Beutel vom Gürtel, ohne die andere Hand von der Waffe zu nehmen. Dadurch dauerte es länger, was Ombro innerlich mit einem Seufzen begleitete.

Nun kam der gefährlichste Part – der Austausch. Sie beide waren angespannt, erwarteten jeden Moment Verrat. Ombro lebte für diesen Moment, sein Herzschlag beschleunigte sich, die Welt wurde klarer, heller, jeder Anblick wie ein phantastisches Gemälde, jeder Laut eine Symphonie, alle Sinne geschärft.

Sie kamen aufeinander zu, ihr jeweiliges Tauschobjekt in der ausgestreckten Hand. Fast berührten sie sich schon. Eine unbedachte Bewegung, ein Zucken, und Blut würde fließen. Die Frau nahm die Hand von ihrer Klinge und griff nach der Mappe. Ihr Blick war nur auf ihr Ziel gerichtet. Jetzt hätte er den verborgenen Dolch ziehen können und sie wäre tot, bevor sie auch nur reagieren könnte. Stattdessen nahm er den Beutel und gab die Dokumentenmappe aus seinem Griff frei.

So traten sie mit ihrer Beute nach hinten. Die Frau war die Erste, die sich halb abwandte, ihm noch einmal zunickte und dann zwischen den Bäumen verschwand.

Ombro blieb noch einen Augenblick lang stehen, ging sicher, dass sie sich wirklich entfernte. Mit einer geschickten Bewegung ließ er den Beutel in einer der vielen verborgenen Taschen seiner Kleidung verschwinden und machte sich auf den Rückweg.

Anders als die Frau hatte er wenig zu befürchten. Weder die Agenten Vastonas noch des Schwarzen Herzogs würden ihm auflauern.

Der Lärm des Lagers empfing ihn lange bevor er es sah. Am Waldrand standen Wachen zwischen den Bäumen. Er hätte sich ihnen zu erkennen geben können, doch stattdessen schlich er sich zwischen den Linien hindurch. Es war keine große Herausforderung, aber es genügte, um ihm ein kleines Gefühl von Überlegenheit zu geben.

Er ging durch das Lager, als würde er wie selbstverständlich dazugehören. Niemand schenkte ihm sonderlich viel Beachtung. Die Wachsoldaten vor den Zelten der hochrangigen Adligen und Offiziere waren aufmerksamere Beobachter als die einfachen Soldaten, und dennoch gelang es Ombro, sie in einem unaufmerksamen Augenblick zu überraschen und in den innersten Bereich des Lagers zu schlüpfen.

Doch als er auf das Zelt des Kommandanten zuschritt, beschloss Ombro, sein Glück nicht allzu sehr zu strapazieren. Stattdessen ging er ganz offen auf die Wachen in ihren prunkvollen Rüstungen zu. Ihre Waffen glänzten, und ihre Brustpanzer und Helme wirkten makellos. Er war sicher, dass sie die besten Soldaten im ganzen Heerzug waren.

»Ich bin Ombro. Euer Herr erwartet mich.«

Tatsächlich zögerten sie keinen Augenblick, ihn hineinzulassen. Im Inneren des Zeltes war es warm, obwohl einige Planen geöffnet waren, um frische Luft einzulassen. Bloß ein einziger Mann stand dort. Herzog Solare Biocca, von Freund und Feind der Schwarze Herzog genannt, saß entspannt in einem hochlehnigen Stuhl und hielt einen gläsernen Pokal mit dunklem Wein in der Linken.

»Ah, mein treuer Ombro, zurückgekehrt von deiner Mission. Ist das Ergebnis zufriedenstellend?«

Der Herzog mochte ruhig wirken, doch in seinem Blick lag derselbe lauernde Hunger, den Ombro sonst nur von Raubtieren kannte. Ein konspiratives Treffen mit Agenten Vastonas im Wald war eine Angelegenheit, aber ein Gespräch mit Solare immer eine ganz andere. Ombro kannte niemanden, der einen so scharfen Verstand hatte wie der Herzog. Seine Finger kribbelten.

»Die Übergabe hat wie geplant stattgefunden.«

Solare erhob sich. Er war groß und trug, seinem Namen entsprechend, schwarze Kleidung. Seine Bewegungen waren fließend, grazil, und verbargen seine Gefährlichkeit, wie die eines Tänzers, der eine verborgene Klinge führt.

»Wein?«

Ombro schüttelte den Kopf.

»Es ist der beste von meinen Hängen in der Carroza. Vom vorletzten Jahr, das ganz hervorragend war. Einen besseren wirst du selten angeboten bekommen.«

»Ich bin sicher, dass er ganz vorzüglich ist, aber ich habe keinen Durst.«

Es war ein Spiel zwischen ihnen, seit Solare ihn das erste Mal angeheuert hatte.

»Wer redet von Durst, Ombro? Es geht darum, deinem Gaumen eine Freude zu bereiten.«

Es gab nichts, was das konnte. Alles schmeckte in seinem Mund wie Asche, aber Ombro nickte nur höflich, hob dabei aber ablehnend die Hand.

Der Herzog zuckte mit den Schultern und goss sich selbst nach.

»Wurdest du angemessen entlohnt?«

Ombro zog den Beutel aus der Tasche, wog ihn prüfend in der Hand.

»Ich denke schon. Ich habe es noch nicht gezählt.«

Eine Augenbraue des Herzogs schnellte nach oben.

»Ist das nicht ungewöhnlich? In deinem Geschäft ein solches Vertrauen zu zeigen?«

Sein Gesicht eine Maske, schüttelte Ombro erneut den Kopf.

»Die Übergabe ist ein zu gefährlicher Moment, um ein paar Goldmünzen zu zählen. Außerdem wollen sie etwas von mir und wollen mehr davon. Sie würden mich nur dann um meinen Lohn betrügen, wenn sie meine Dienste nicht mehr benötigten. Und dann würden sie vielleicht Gold sparen und direkt mit Stahl zahlen.«

Der Herzog nickte versonnen.

»Wir sind uns nicht unähnlich, du und ich, Ombro. Wir beide haben uns ein Feld ausgesucht, in dem der Preis für Versagen der Tod ist. Und wir beide spielen dabei mit einem Einsatz, der höher ist als unser eigenes Leben.«

Ombro hätte nicht sagen können, ob er sich seinen Weg tatsächlich ausgesucht hatte oder ob dieser ihn aufgrund seiner Talente und Neigungen gefunden hatte.

Er wusste nur, dass es ein gefährlicher, schmaler Pfad war, den er beschritten hatte, und dass jeder Fehltritt, genau wie Solare es sagte, ein jähes Ende nach sich ziehen konnte. Doch damit endeten die Gemeinsamkeiten. Der Schwarze Herzog mochte sich viele Feinde geschaffen haben, aber eine Niederlage oder zwei würden nicht unbedingt zu seinem Tod führen. Menschen wie er, reiche Adlige mit mächtigen Familien im Rücken, hatten stets mehr Optionen als jemand wie Ombro.

Tatsächlich waren Ombros Möglichkeiten so begrenzt wie selten zuvor. Der Herzog hatte ihn beauftragt, Vastona gezielt Informationen zuzuspielen. Ein weiterer Schachzug in seinem großen Spiel, der mächtigsten Stadt der Welt ihre Krone zu entreißen.

Doch von dem zweiten Dokument in der Mappe wusste auch Solare nichts. Niemand ahnte, dass Ombro nicht nur Spielfigur auf dem Brett, sondern auch selbst Spieler war.

4. Kapitel

Der erste Schlag schleuderte seinen Kopf herum und raubte ihm die Sicht. Der zweite traf seinen Bauch und trieb ihm alle Luft aus den Lungen. Seine Knie gaben nach und Marco wäre zu Boden gesackt, hätte ihn nicht eine Faust unbarmherzig am Kragen gehalten. Der Schmerz rollte in Wellen durch seinen ganzen Leib, sein Schädel dröhnte und er schnappte nach Luft. Vor seinen Augen tanzte die Welt, nur helle und dunkle Flecken, als er brutal geschüttelt wurde.

»Du kleine Straßenratte! Schäbiger Dieb!«

Die Worte gingen im Schmerz unter, wurden von ihm verschluckt und verzerrt, waren weit weg und ohne Sinn. Übelkeit ergriff von Marco Besitz und er würgte.

»Oh nein, nicht auf meine Stiefel!«

Er wurde zu Boden gestoßen, landete instinktiv auf allen vieren. Zu lange hatte er nichts gegessen, und so troff nur saurer Schleim über seine Lippen, bis das Würgen trocken wurde, eine kratzende Pein in seinem Hals, die langsam abebbte.

Unter seinen Händen spürte er die Härte der großen Steinplatten, mit denen der Platz gepflastert war. Heller Stein, abgewetzt von unzähligen Füßen, Hufen und Rädern. Vertrautes Gelände. Die Bursa-Frucht lag gerade außerhalb seiner Reichweite, aber ihr Anblick löste keinen Hunger mehr bei ihm aus.

»Hoch mit dir.«

Marco fühlte sich auf die Füße gehoben. Die Bürgerwache hielt ihn im unnachgiebigen Griff. Eine weitere schlenderte heran, offenbar angelockt von dem Spektakel. Der bronzene Helm glänzte in der Sonne, darunter ein freudloses, kaltes Lächeln. In das lederne Wams war das Wappen der Stadt geprägt, ging jedoch in den vielen Schweißflecken unter, die das helle Leder dunkel verfärbten. Bürgerwachen zahlten ihre Ausrüstung selbst für das Privileg, auf den Straßen für Recht und Ordnung zu sorgen. Lediglich die hohen Helme trugen alle gleich, Zeichen ihrer Zugehörigkeit zu Vastonas gefürchtetstem Bund. Niemand blickte zu der Dreiergruppe herüber, niemand wollte die Aufmerksamkeit der beiden Wachen auf sich ziehen.

»Was haben wir denn da?«

Der zweite Wachmann griff Marco in den dicken Haarschopf und zog seinen Kopf in den Nacken. Die Stimme war freundlich, ja neugierig, aber die Hand grausam. Marco biss die Zähne zusammen, stöhnte aber vor Schmerz, als ihm ein Büschel Haare ausgerissen wurde.

»Ein Dieb. Hat da vorne einen ehrbaren Händler beklaut.«

Die Wache ließ ihn los und Marcos Kopf sackte wieder herab.

»Bitte, ich hatte nur Hunger.«

Die Antwort war ein schneller, harter Schlag mit dem Handrücken.

»Du Straßenabschaum hältst deine lügnerische Zunge!«

Marco tat wie ihm geheißen. Seine Wange brannte, sein ganzer Leib war von Qual erfüllt. Doch sie war nichts gegen die Angst, die über ihn brandete.

»Bringen wir ihn in die Luzia.«

Aus Angst wurde Panik. Unbewusst stemmte sich Marco gegen den Griff, gegen die beiden Männer, die ihn über den Platz zerrten.

»Nein, bitte, ich werde …«

Seine weiteren Worte gingen in einen Schmerzensschrei über, als ihm die Arme so auf den Rücken gedreht wurden, dass er dachte, sie müssten jeden Moment brechen.

»Kein Wort mehr!«

Als der Griff nachließ, verstummte er und ließ willfährig geschehen, dass sie ihn quer über den Platz des Triumphs zerrten, in die breite Straße, vorbei an herrschaftlichen Palästen und Bürgervillen, bis hin zur Luzia.

Es war ein schönes Haus, groß, aus beigem Stein errichtet, mit Säulen, die seine Fassaden stützten. Drei Stockwerke erhob es sich, umgeben von höheren Gebäuden, in deren Schatten es nun lag. Im Erdgeschoss waren die Fenster schmal und hoch, darüber wurden sie größer, doch alle waren mit dicken Eisengittern versehen. Aus einem dieser Fenster hatte sich vor Jahrhunderten Luzia gestürzt, die entehrte, unschuldige Ehefrau des Fürsten, und ihr Sturz hatte zu jenem der Herrscherfamilie geführt, die der Stadt einst ihren Namen gegeben hatte. Heute gab es keine Vastona mehr, und an Luzia erinnerte nur noch der Name dieses Hauses, in dem seit Jahrzehnten die Bürgerwache ihr Lager hatte. Und ihre berüchtigten Keller.

Durch Marcos Geist zuckten Träume und Visionen, eine schrecklicher als die andere. Dann stellte er sich vor, wie er sich losreißen würde, entkommen, durch die Gassen rennen und seine Häscher von den Dächern verspotten. Stattdessen wurde er über die Schwelle geschleppt und verschwand im düsteren Inneren der Luzia.

Durch die schmalen Fenster fiel nur wenig Licht. Überall an den Wänden brannten Öllampen. Bei vielen war das Glas so rußig, dass sie kaum mehr als ein müdes Funzeln hervorbrachten, welches das Zwielicht eher unterstrich denn vertrieb.

»Ich bringe ihn runter«, erklärte der Mann, der Marco erwischt hatte.

»Dann hole ich ein wenig Wein. Hast du schon gegessen? Es müsste noch Käse von heute Morgen geben, dazu Brot und vielleicht sogar noch Schinken.«

»Ja, etwas Essen wäre gut. Bring mir was mit. Danke!«

Als das Gespräch der Wachen vorbei war, rammte der Mann Marco sein Knie in den Rücken und schob ihn vor sich her zu einer schmalen Treppe, die ins Dunkel hinab führte.

»Bitte«, flehte Marco inständig. »Ich werde es nie wieder tun.«

»Da hast du recht«, erwiderte die Bürgerwache mit einem gehässigen Lachen und versetzte ihm einen Stoß, der ihn Hals über Kopf in die Finsternis stürzen ließ. Marco taumelte die Treppe hinab, die Hände an den verputzten Wänden.

»Lesti! Kundschaft!«

In der Dunkelheit erschien ein schmaler Streifen flackernden Lichtes, der breiter und breiter wurde, bis er sich als Tür entpuppte, die langsam aufgezogen wurde. Dahinter lag ein kleiner Raum, aus dem ein langer Gang führte. Marcos Aufmerksamkeit war jedoch auf die Frau gerichtet, die ihn grimmig anstarrte. Graues, fettiges Haar, mit einem Band gebändigt, und ein fleckiges Gewand in Grau. Sie war alt, das Gesicht runzelig, die Augen aber hell und klar. Und kalt.

»Wen haben wir hier?«

Ihre Stimme klang nicht alt, sondern schneidend, hatte etwas Zeitloses an sich.

»Dieb. Straßenratte.«

Ihr Blick wanderte an ihm herab. Es war offensichtlich, dass ihr nicht gefiel, was sie sah.

»Name?«

»Marco«, brachte er schnell hervor. Eine unsinnige Hoffnung keimte in ihm auf. Wenn er nur tat, was sie von ihm wollten, würde er vielleicht … ein Schlag auf den Hinterkopf unterbrach seine Gedanken.

»Und?«

Marco versuchte, über die Schulter zu spähen, um zu verstehen, was die Bürgerwache von ihm wollte. Lesti lachte freudlos auf.

»Nur Marco also. Keine Familie, kein Name.« Sie trat zur Seite. »Bring ihn rein. In der Drei ist noch Platz.«

Jeder Schritt vorwärts, jeder Meter weiter in das Dämmerlicht des Kerkers war eine Ewigkeit. Wie ein Ertrinkender glitt Marco ins Nichts, der Geist nur noch von Panik erfüllt. Er wollte weglaufen, aber die Angst hielt ihn im Griff, ließ ihn handeln wie eine Puppe, beherrscht von fremden Fäden.

Eine dicke, alte Holztür öffnete sich vor ihm, dahinter Dunkelheit. Ein letzter Stoß und die Finsternis verschlang ihn. Mit einem lauten Krachen fiel die Tür hinter ihm zu.

Regungslos stand er in dem dunklen Raum. Die Luft war feucht, es roch nach Moder und Verfall, nach Exkrementen und Urin. Die Dunkelheit war undurchdringbar und Marco glaubte zu spüren, wie sie sich enger und enger um ihn zog. Sein Atem wurde schneller, dennoch schien er keine Luft zu bekommen. Er sank auf die Knie hinab, schlang die Arme um den Leib, der sich unwillkürlich schüttelte.

Dann ein Licht, nur ein schwacher Schein, als seine Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten. Unter der Tür hindurch, kaum wahrnehmbar, doch genug, um Konturen und Umrisse erkennen zu lassen.

Die Zelle war nicht groß, dafür hoch, drei Meter oder mehr. In einer Ecke ein Haufen modriges Stroh, nahe der Tür ein schiefer Holzeimer.

Das war alles. Er war allein. Auf Händen und Füßen kroch er in die Ecke und ließ sich auf das Stroh sinken. Er zog die Beine an, hielt sich selbst im Arm, machte sich unbewusst so klein wie möglich.

Irgendwo im Gemäuer gab es ein Lachen, rau und hart. Jemand schrie, es klang weit, weit entfernt. Es waren die Erinnerungen, dass es jenseits der Tür Menschen gab. Aber sie brachten keine Erleichterung für Marco. Stattdessen kamen all die Geschichten wieder hoch, die düsteren Gerüchte über die Luzia – und über jene, die auf Nimmerwiedersehen in ihr verschwanden.

5. Kapitel

Die Zeit verging. Wie lange Marco in dem Dämmerlicht ausharren musste, hätte er schon bald nicht mehr sagen können. Mal driftete er durch Traumwelten, halb wachend, halb schlafend, dann grübelte er, bis er sich in den Labyrinthen seines Geistes verlief. Zwischendurch erleichterte er sich in den Eimer. Und lauschte auf den Hunger in seinem Leib.

Die große, alles beherrschende Panik wich etwas. Er versuchte, seine Gedanken in andere Richtungen zu lenken, stellte sich selbst auf der Mauer vor, die warme Sonne auf dem Pelz.

Die Geräusche von jenseits seiner Zellentür versuchte er so gut es ging auszublenden. Sie kündeten von nichts Gutem. Sie erzählten von seiner eigenen Zukunft.

An Entkommen war nicht zu denken. Die Mauern waren alt und dick.

Die Dunkelheit fraß sich in seinen Geist, legte sich über seine Gedanken. Marco wusste nicht, was mit ihm geschehen würde. Ein Arbeitslager vielleicht, ein Steinbruch oder eine der Minen, auf die Vastona einen Teil seines Reichtums baute? Oder Galeerendienst? Strafen, bei denen das restliche Leben auf wenige Monate oder gar Wochen zusammenschrumpfte. Oder vielleicht verschwand er auch einfach, tauchte in die Finsternis hier ein und kehrte nie wieder zurück.

Er sank in eine geistige Betäubung. Wie ein Stein lag er da, vergessen von der Welt.

Bis die Tür knarzte. Ein Lichtschein fiel flackernd auf Marcos Lager. Obwohl es nur eine einfache Öllampe war, deren Schein eine Gestalt hinter sich verbarg, musste Marco die Augen zusammenkneifen.

»Du, steh auf, komm mit!«

Es war Lesti. Ihre Stimme war voller Abneigung, Kälte und Hass.

»Wohin?«, brachte Marco hervor.

»Aufstehen!«

Ein Knüppel erschien neben der Lampe, wies auf ihn. Marco rappelte sich hastig auf, strich sich Stroh von den Lumpen. So langsam er es wagte, schritt Marco zu der Tür. Hinter ihr lag die Freiheit, aber auch unaussprechliche Angst.

Lesti trat zurück, den Knüppel erhoben, als erwarte sie einen Angriff. Sie stieß ihn vor sich her.

»Marsch, marsch, du kleine Ratte.«

Marco schlurfte den Gang entlang, zurück zu der Treppe. Dort wartete schon eine Bürgerwache, ein kleiner, breiter Kerl mit schiefer Nase, der sich den dichten schwarzen Bart rieb.

»Der hier?«, erkundigte er sich skeptisch.

»Sonst haben wir keinen, auf den es passt«, erwiderte Lesti. »Aber du kannst auch gerne hochsteigen und sagen, dass du keinen gefunden hast …«

»Bah, schon gut.« Der Wächter winkte ab und schnippte Marco ins Gesicht. »Kannst du sehen, Junge?«

»Äh …«

Die Frage überraschte ihn. Mehr als ein Stammeln und ein Nicken brachte er nicht hervor.

»Und reden?«

»Ja«, gelang es Marco schließlich.

»Gut«, erklärte der Bärtige, auch wenn seine Stimme so klang, als sei es das keinesfalls. »Komm her.«

Er winkte Marco heran, der zögerlich folgte. Der Wächter packte ihn an der Schulter, überraschend sanft, und schob ihn vor sich her.

»Komm, Junge, dir kann man ja beim Laufen die Schuhe besohlen.«

Marco verbiss sich, darauf hinzuweisen, dass er keine Schuhe trug und noch niemals welche besessen hatte. Stattdessen beschleunigte er seinen Schritt und ließ sich die Treppe empor führen. Es war ein gutes Gefühl, der Dunkelheit, den Schatten und Schreien entronnen zu sein, auch wenn Marco sich immer noch furchtsam fragte, was nun auf ihn wartete.

»Da rein.«

Der feste, aber nicht unfreundliche Druck führte ihn durch eine weitere Tür in einen breiten Raum, in dem ein Tisch, einige Stühle und eine Kommode standen. Das Mobiliar war alt, aber gepflegt.

Viel wichtiger war jedoch das helle Sonnenlicht, das durch zwei schmale, hohe Fenster fiel und alles in einen freundlichen Schein hüllte.

»Setz dich. Hast du Hunger? Durst?«

Marco glitt vorsichtig auf einen der Stühle und sah den Bärtigen verwirrt an. Ihm erschien es wie eine Falle. Doch da er das Schlimmste fürchtete, wenn er nicht antwortete, sagte er ein leises »Ja?«, mehr eine Frage als Antwort.

Der Bärtige brummte, dann rief er über die Schulter aus der Tür: »Lannis, hol Wasser und Brot.«

Mit vor der Brust verschränkten Armen blieb er an der Tür stehen und musterte Marco, der unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her rutschte.

»Du bist ein ganz schönes Hemd, Junge.«

Marco senkte den Blick. Ein Seufzen erklang von der Tür, dann Schritte, und plötzlich standen ein Becher mit klarem Wasser und ein Teller mit duftendem Brot und einem Stück Käse vor ihm.

Unsicher warf Marco einen Blick auf die Wache, die ihm zunickte.

»Iss.«

Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Welchem Glück er es auch zu verdanken hatte, eines hatte ihn sein bisheriges Leben gelehrt: Man ließ keine Gelegenheit aus, sich den Bauch vollzuschlagen.

So beschäftigt war er mit essen, dass er erst bemerkte, dass jemand ihm gegenüber Platz genommen hatte, als er ein leises Lachen hörte. Verwundert blickte er auf. Sein Kauen stockte und ihm klappte das Kinn herunter.

Das Alter des Mannes vor ihm war schwer zu schätzen, da sein Schädel rasiert und sein Gesicht im Schatten einer Gugel lag. Doch es war vor allem die Kutte, die Marco innehalten ließ. Sie war von makellosem Weiß, fiel in weiten Falten und wurde nur von einer roten Kordel um den Leib gehalten. Jeder Vastoni kannte diese Kutte: Der Mann war ein Seher.

»Lass dich nicht stören«, sagte er Mann sanft. »Du bist sicher hungrig, wie ich höre.«

Er hob die Hände und schob die Gugel von seinem Kopf. Sein Gesicht war markant, konturiert von hohen Wangenknochen und einem scharfen, schmalen Kinn. Aber es waren die Augen, die Marco in ihren Bann nahmen, so weiß wie die Kutte selbst, mit einem dünnen, blutroten Rand um die Iris, blind und doch sehend. Man sagte, dass sie nichts wahrnehmen konnten, außer das Schicksal der Sterblichen, dass diese Welt ihnen verborgen und dafür die jenseitige geöffnet war.

Noch nie war Marco einem von ihnen so nahe gewesen. Noch nie hatte er diesen Blick, der keiner war, auf sich gespürt. Mit einem Mal war er sich seines Aussehens bewusst. Die wirren, schmutzigen Haare, das ausgemergelte Gesicht, wohl von dem Dreck der Zelle entstellt, die Kleidung, die er trug, mehr Löcher als Stoff. Neben der weißen Kutte musste er wie ein Stück Unrat aus der Gosse wirken.

Vor diesen Augen wurde er kleiner und kleiner.

»Hast du nicht gehört? Du sollst essen!«, blaffte die Bürgerwache von der Tür und riss Marco aus seiner Starre. Langsam begann er wieder zu kauen, spülte Brot mit einem Schluck Wasser runter. Obwohl er noch nicht fertig war und auf dem Teller noch ein großes Stück Brot lag, schob er ihn von sich weg.

»Du bist noch nicht satt«, erklang die ruhige Stimme. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. »Du bist hungrig, Junge. Da ist Brot. Also iss.«

Unsicher sah Marco zu dem Bärtigen, in dessen Miene er jedoch nichts lesen konnte. Sein Blick wurde vom Brot angezogen. Frisches Brot, noch warm, ganz weich innen. Seine Hand wanderte vor, packte den Rest Brot. Er sah wieder zum Seher, zur Bürgerwache, dann nahm er es schnell an sich und biss ein großes Stück ab.

Die Aufmerksamkeit des Sehers glitt von ihm, wandte sich der Wache zu.

»Was ist sein Verbrechen?«

»Diebstahl, Degnato.«

»Ah. Essen, nicht wahr?«

Die Bürgerwache zuckte mit den Schultern, aber der Seher nickte, als würde er verstehen.

»Ja, Essen. Du hattest Hunger, Junge, so sehr, dass deine Eingeweide brannten. Ein Loch, das dich aufzufressen schien.«

Marco hielt wieder inne, nickte vorsichtig. Woher wusste dieser angesehene Mann, wie sich wahrer Hunger anfühlte? Nicht das einfache Verlangen nach Essen, sondern das beständige, grausame Nagen, das alles andere überlagerte.

»Und was wäre seine Strafe?«

Der Wachmann rieb erneut seinen Bart, verzog das Gesicht, während er überlegte.