Der kühle Hauch des Coronavirus - Ulrich Spangenberger - E-Book

Der kühle Hauch des Coronavirus E-Book

Ulrich Spangenberger

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Beschreibung

In dem vorliegenden Werk geht der Autor auf verschiedene gesellschaftliche und politische Ereignisse der letzten Jahrzehnte ein. Dezidiert greift er die Corona-Krise auf. Das Buch beschreibt das mangelnde Interesse von weiten Teilen der Gesellschaft an der Mitgestaltung unserer Lebensbedingungen und wendet sich gegen Schnelllebigkeit und Kompliziertheit. Der Autor beklagt die nur oberflächliche Zufriedenheit vieler Menschen mit ihrem Dasein. Mit der fiktiven Gestalt des Chübisch zeigt er, wie demgegenüber der Weg zum Ziel gefunden werden kann. Ulrich Spangenberger ermuntert letztendlich, in Corona eine Chance zu sehen.

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Seitenzahl: 276

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Gewidmet meiner Mutter

Sie ist am 21. Februar 2020

im Alter von 102 Jahren

zu ihren Eltern gegangen.

Inhalt

Vorwort

14. Mai 1976

Frankfurt am Main, Deutschland

14. Mai 1976

Xanctschö, Mondöngschu

26. April 1986

Frankfurt am Main, Deutschland

26. April 1986

Sulun See, Chengsia

5. November 1999

Frankfurt am Main, Deutschland

5. November 1999

Xanctschö, Mondöngschu

14. März 2003

Frankfurt am Main, Deutschland

14. März 2003

Xanctschö, Mondöngschu

15. September 2008

Frankfurt am Main, Deutschland

15. September 2008

Saikhan Agaar, Chengsia

7. August 2018

Stuttgart, Deutschland

7. August 2018

Der Weg

Dezember 2019

Corona – Der Ausbruch

Januar 2020

Corona – Weit weg

Februar 2020

Corona – Alles bestens? Oder Pandemie? Oder was?

März 2020

Corona – Panik

April 2020

Ein Hauch von Corona treibt seltsame Blüten

Mai – Juni – Juli 2020

Corona – Begriffe, Dokumente, Themen

Afrika

Corona – Aus Sicht afrikanischer Intellektueller

Noam Chomsky

Die Corona-Krise – Mit den Augen eines 92-Jährigen

August 2020

Corona – Die Frage: Was wollen wir?

Update 29. August 2020

Corona – Ein weiteres Fragezeichen

September 2020

Corona – Spaltung der Gesellschaft? Eine Frage der Angst?

Oktober 2020

Bankrott der Staaten? Oder doch Verschwörungstheorie?

Nachdenkwort

Dankeschön

Lesenswertes

Zitate

Hinweise

Vorwort

Ich bin kein Mediziner. Deshalb kann ich auch nicht beurteilen, wie gefährlich tatsächlich das neue Corona-virus, SARS-CoV-2 ist. So weiß ich auch nicht, welche Auswirkungen die Krankheit Covid-19 haben kann.

Die Erziehung durch meine Eltern und die Erfahrung im Leben hat mich jedoch gelehrt, kritisch zu sein und viele Dinge genauer zu betrachten. Ich habe erkannt, dass es wichtig für jeden einzelnen, aber auch für eine Gesellschaft ist, Vorgänge zu hinterfragen, wenn sie nicht klar erscheinen. Um diese Aufforderung, um diesen Anspruch geht es in diesem Buch.

Ich möchte ermuntern, sich selbstbewusst zu präsentieren und den Mund aufzumachen, wenn man etwas nicht versteht.

Schon seit Jahren beobachte ich, dass viele Menschen in unserer Gesellschaft resigniert haben und gedankenlos, ohne sich einzubringen, weiter den Dingen ihren Lauf lassen. Sie scheinen von einer Betäubung umhüllt zu sein, die sie daran hindert, aktiv zu werden. Ein Gespür, wie wir selbst Einfluss auf die Parameter unseres Alltags nehmen können, gibt es kaum. Stattdessen lassen wir uns treiben – wie ein Stück Holz im Ozean.

Ich beziehe das sowohl auf politische Aktivitäten als auch auf das persönliche Verhalten und was Menschen unter Wohlergehen verstehen. An zwei Dingen mache ich es fest. Auf der politischen Ebene vermisse ich Engagierte, die aufstehen und sagen: „Nicht weiter so!“ Erst in den letzten beiden Jahren ist mit Fridays for Future eine Bewegung entstanden, die solchem Anspruch gerecht wird. Diese Menschen sind allerdings fast ausschließlich aktiv, um gegen den Klimawandel zu protestieren. Das ist gut und auch notwendig. Ich bin zusätzlich der Meinung, dass wir Ähnliches zur Kontrolle und Korrektur des Handelns der politisch Verantwortlichen und der Machteliten dringend benötigen.

Was den individuellen Ansatz meiner Überlegungen betrifft, sehe ich eine immer größer werdende Abhängigkeit von Konsum, also eine zunehmende Fixierung des Einzelnen durch und auf die Angebote des Marktes. Es sind materielle Dinge, die uns wertvoll erscheinen, weil ihnen durch geschickte Werbung ein Wohlfühlfaktor beigemischt wird. Die Ursache für die Bereitwilligkeit, Materielles über Ideelles zu stellen, scheint sich auf unsere Erziehung und Prägungen im Leben zurückführen zu lassen.

Es wurde uns fast an jeder Station unseres Lebensweges beigebracht, dass ‚folgsam‘ zu sein ‚lukrativer‘ ist, als Fragen zu stellen. Uns ist auf diese Weise auch die Erinnerung verloren gegangen, was ein zufriedenstellendes Leben ausmachen kann. Wir haben vergessen oder verdrängt, unsere eigentlichen Interessen zu verspüren. Wobei wir uns jetzt wieder der politischen Dimension dieses Aspektes annähern. Die Cremes, die in der Werbung angepriesen werden, tragen ebenso zu unserem Zustand bei wie das Vorzeigen der richtigen Marke bei unserer Kleidung. Wir glauben nur, dass diese Dinge für unser Wohl wichtig sind.

… und dann kam in den letzten Wochen Corona mit all seiner Panik und Angst, die die Menschen dadurch erfahren haben. Einerseits wurde die Bevölkerung mit angeblicher Fürsorglichkeit überhäuft, andererseits erfolgten Eingriffe in Grundrechte wie niemals zuvor in der Republik. Viel zu viele haben ohne nachzufragen sofort die Ansagen akzeptiert, dass uns ein todbringendes Virus überfallen habe. Nur durch Disziplin und Folgsamkeit bei den Anordnungen können wir einer Tragödie entgehen, so der gemeinsame Tenor von Politik und Mainstream. Ich habe dadurch einmal mehr gespürt, wie schwankend das Boot ist, in dem wir alle sitzen oder wie einsturzgefährdet ein Haus ist, wenn es auf Sand gebaut wurde. Das hängt eben auch damit zusammen – um bei dem Boot zu bleiben – dass die größeren Teile unserer Gesellschaft rudern müssen, während der kleine Rest seine Zeit mit Schunkeln verbringen darf. Ein gemeinsames Miteinander kann sich dann wohl kaum einstellen.

Zu Beginn des Jahres 2020 hat folgende Einschätzung zu der Gefährlichkeit des neuartigen Coronavirus überwogen: Die Viren sind weit weg. Macht Euch keine Sorgen. Vielleicht kommen Einzelfälle auf uns zu, aber wir sind bestens vorbereitet. Als dann, Anfang März, viele der in politischer Verantwortung Stehenden endlich begriffen haben, dass bei dem heutigen Reiseverkehr Corona auch gerne mit an Bord sein möchte, wurde hektisch reagiert. Auf einmal hieß es an jeder Ecke, man kann nicht vorsichtig genug sein. Gesetze wurden im Eilverfahren – fast ohne Diskussion in den Parlamenten – verabschiedet. Einschneidende Beschränkungen der Grundrechte und des öffentlichen Lebens wurden verkündet und sind umgesetzt worden.

Unsere Regierung scheint von den erschreckenden Todeszahlen in anderen Ländern beeinflusst worden zu sein. War das so? Oder ist die Corona-Krise gerade recht(zeitig) gekommen, um etwas anderes vertuschen zu können? Wenn man die hartnäckige Einseitigkeit in der Argumentation führender Politiker im weiteren Verlauf der Krise verfolgt, dann muss dieser Gedanke nicht ganz abwegig sein. Vor allen Dingen kam die Bevölkerung in Panik.

Für Wochen konzentrierten sich die behördlichen Anordnungen und Empfehlungen überwiegend auf körperliche Unversehrtheiten. Es wäre aber klüger gewesen und darüber hinaus sinnvoller, alle wissenschaftlichen Fachrichtungen, die relevant in einer Gesellschaft für das Zusammenleben sind, an einen Tisch zusammenzubringen, um für die zu beschließenden Maßnahmen ein breites Spektrum an Wissen zu bündeln.

So hätte auch eine Spaltung der Gesellschaft verhindert werden können, weil gar nicht erst der Eindruck entstanden wäre, dass sich die Regierung nur von einer Handvoll auserwählter Virologen beraten lässt, die schon bei der Prognose rund um die Schweinegrippe keine gute Vorstellung abgegeben haben. Nicht nur die Einschätzung war damals falsch. Nachdem das Verfalldatum des Impfmaterials erreicht war und es außerdem in der Folge zu Schäden bei den Impfpersonen gekommen war, wurde das nicht benötigte Material Ende November 2011 tonnenweise in dem Heizkraftwerk Rothensee bei Magdeburg verbrannt. Die Kosten dafür beziffern sich auf mehrere hundert Millionen Euro. (Siehe Anhang Hinweise 1) 2))

Eine verantwortungsvolle Regierung hat bei der Verkündung solch weit reichender Maßnahmen wie Lockdown, Kontaktsperren und anderes mehr, die allesamt in Grundrechte eingreifen, die Verpflichtung, auch die Folgen der beschlossenen Anordnungen zu prüfen. Es war zu erwarten und hat sich im weiteren Verlauf immer mehr bestätigt, dass das Resultat der staatlichen Anordnungen beängstigende Ausmaße angenommen hat, und dies weiter zunimmt. Eine fürsorgliche Regierung hat zusätzlich die Risikogruppen – im Besonderen ältere Menschen – zu befragen, ob sie diese Einschränkungen wirklich mittragen wollen. Sie hat also sicherzustellen, dass auch diese Gruppe solche Kontaktbeschränkungen wirklich wünscht, und unter Umständen bereit ist, monatelang auf den Besuch von liebgewonnenen Verwandten – Kindern und Enkeln – aber auch von nahen Freunden zu verzichten.

Nicht akzeptabel sind auch Aufforderungen, die Bevölkerung solle gegenseitig aufeinander aufpassen. Meldungen der Ordnungsämter bestätigen bereits die Wirkung. Durch Kontrollgänge der Polizei in den Einkaufspassagen und Parkanlagen fühlt sich ein Teil der Bürger beobachtet und in der Freiheit eingeschränkt, der andere Teil der Bevölkerung klatscht Beifall, weil der Staat jetzt Stärke zeigt und deutlich macht, wo es lang gehen soll. Mit jeder App, die unsere Bewegungen kontrolliert, wächst jedoch bewusst oder unbewusst das Gefühl von Beklemmung und manche werden sich an Orwells 1984 erinnern. ‚Big brother is watching you.‘

Ein Gespenst taucht auf: Wann sind Herrschende in der Lage, die Gedanken und Gefühle von anderen Menschen aufzuspüren und, wenn sie ihnen nicht gefallen, zu sanktionieren? Jetzt spätestens habe ich angefangen, meinen Zorn über diese staatliche Unvernunft und die sich anschließende Bevormundung aufzuschreiben. Ein Zitat, das – je nach Quelle – Papst Gregor dem Großen oder Thomas von Aquin zugeordnet wird und von Georg Schramm im Juni 2013 im Deutschen Theater in Berlin vorgetragen wurde, kommt mir mit seiner Philosophie in diesen Tagen doch sehr nahe: „Vernunft kann mit größerer Wucht dem Bösen entgegentreten, wenn Zorn ihr dienstbar zur Hand geht.“ (Siehe Anhang Zitate I)

Es ist auffallend, dass in alten Schriften der Begriff Zorn häufiger verwendet wird als der Ausdruck Wut. Zorn wird anscheinend mit Geradlinigkeit und Ernsthaftigkeit und auf Erfahrung aufbauend verbunden und vermittelt eine gewisse Berechtigung. Wut dagegen beschreibt eher die spontane Reaktion, vielleicht auf etwas, über das nicht intensiv nachgedacht wurde. Wut scheint sich mit Oberflächlichkeit zu verbinden. So wird auch immer wieder vom Zorn Gottes im Alten Testament gesprochen, von Wut ist kaum die Rede. Auch die heute oft gebrauchte Bezeichnung Wutbürger wird eher unreflektiert geäußert.

Auf einen Aspekt des Buches möchte ich besonders hinweisen: die Fiktion des Protagonisten Chübisch.

Während die gesellschaftspolitischen Kapitel auf verschiedene zeitgeschichtliche Ereignisse und speziell auf die Corona-Krise eingehen, sind die begleitenden Kapitel um den Protagonisten als Parabel zu sehen.

Dieser Figur sind die vorangestellten Gedanken nicht bewusst. Wohl aber erkennt der Protagonist auf seinem Weg die Bedeutung des Einfachen und Klaren. Gleichzeitig erfährt er die Zielführung von langsamer Gründlichkeit. Chübisch, seine Familie und Freunde, sie alle ertragen ihr Schicksal mit der größten Geduld, zu der Menschen fähig sind. Aber auch der Protagonist erlebt die Grenzen seiner Demut. Damit beginnt sein Weg und das Leben küsst ihn gewaltig und brutal. Parallel zu seinen eigenen Erkenntnissen weist uns Chübisch auf die Einfachheit hin, wenn er tut, was er versteht.

Auch das könnte für die heute vom Rausch der Geschwindigkeit und des Komplizierten Geblendeten ein Hinweis sein, der zeigt, dass Tyrannei nicht bei skrupellosen Regimen aufhört. Wir begreifen, wenn wir uns mit all diesen Zusammenhängen, die unsere sogenannte Komfortzone bilden, auseinandersetzen, dass wir Marionetten von Vielem und von Vielen sind. Mechanik können wir verstehen. Die Funktionsweise einer Dampfmaschine ist für uns heutzutage einleuchtend. Aber wer kann erklären, wieso eine kleine Scheibe, die sich in einem Gerät dreht, auf einmal im Fernsehapparat einen Film erzeugt?

Es gibt in unserem Leben inzwischen unzählige von solchen komplexen Phänomenen, die für uns unverständlich sind, aber wie selbstverständlich zu einem Teil des Lebens gehören. Wir genießen scheinbar, doch begreifen nicht, dass wir nur dann frei sind, wenn das, was unser Leben formt, von uns verstanden wird. Das gilt selbstverständlich nicht nur für Apparate.

Erst dann, wenn wir unsere Umgebungsbedingungen besser einordnen und begreifen können, haben wir die Chance, mit Überzeugung ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ zu sagen. So wage ich die These, dass Kompliziertheit und Schnelllebigkeit Lösungen nicht anbieten, sondern ein Problem sind. Auf Dauer werden nur klare, überschaubare Strukturen, verbunden mit ausreichend Zeit zur Reflexion, aus diesem Irrweg herausfinden.

Ostfildern/Esslingen, im Dezember 2020

14. Mai 1976

Frankfurt am Main, Deutschland

Pflastersteine flogen an jenem Freitag im Mai 1976 in Frankfurt durch die Luft. Demonstrierende Studentengruppen brachten ihre Wut in der Berliner Straße über Schah Reza Pahlavi zum Überlaufen. Der Schah war Herrscher in Persien, dem heutigen Iran. Die Studenten machten Pahlavi für die katastrophalen Zustände verantwortlich, in denen er seine Bevölkerung darben ließ. Gleichzeitig genehmigten sich der Schah und sein Clan allen denkbaren Luxus.

Die Studenten waren auch zusammengekommen, um wegen der Umstände des Todes von Ulrike Meinhof zu protestieren. Die meisten waren sich einig, dass Meinhof nicht freiwillig aus dem Leben geschieden war. Bis heute konnte das nicht eindeutig geklärt werden.

Es war regnerisch an diesem Tag in Frankfurt und für den Mai eigentlich zu kühl. Ich war mittendrin in der Demo, wie wir die Proteste nannten, und war doch nur am Rande dabei, wie so viele, die die Zusammenhänge nicht wirklich durchblickten. Dennoch, ein unbestimmtes Gefühl schien mir mitzuteilen, dass es richtig war, auf die Straße zu gehen.

Solche Widerstände gingen schon seit den frühen 70er Jahren einher mit Hausbesetzungen, die sich gegen die Zerstörung von Wohnraum richteten. In Frankfurt gab es damals eine Gruppierung, die man in anderem Kontext als Gang bezeichnen würde: Grundstücksspekulanten. Sie wollten Wohnbezirke vor allem im Westend der Stadt zerschlagen, um dort Hochhäuser für Banken und andere Großinvestoren anzusiedeln.

Demonstrationen, deren Teilnehmerschaft überwiegend aus Studenten bestand, zögerten dieses Vorhaben zwar hinaus, verhindern konnten sie es auf Dauer nicht. Zum einen fehlte es an Unterstützung durch die Bevölkerung. Zum anderen tat die Politik ihr Übriges. Sie machte auf diese Zerstörung von Wohngegenden nicht besonders aufmerksam oder klärte gar darüber auf. Mit Verständnis für das Ansinnen der Demonstrierenden konnte also von dieser Seite nicht gerechnet werden.

Die Demonstranten wurden damals überwiegend noch als Randalierer angesehen. Eine zu sehr der Obrigkeit vertrauende Bevölkerung, kaum an eigenständiges Denken gewohnt, begriff das Grundrecht der Demonstrationsfreiheit noch nicht als Bürgerrecht, welches man, wenn es erforderlich wird, in Anspruch nehmen sollte. Das Gegenteil war in der öffentlichen Meinung eher vertreten. Auch deshalb wurden Günther Grass, Rolf Hochhuth und andere Intellektuelle für ihre Solidarisierung mit den studentischen Protesten von dem ehemaligen Kanzler Ludwig Erhard als „Pinscher“ bezeichnet, während sie Franz-Josef Strauß für „Schmeißfliegen“ hielt. II)

Solche Aussagen prägen eine Gesellschaft nachhaltig, tun aber gleichzeitig der verwundeten Seele vermeintlich ‚braver‘ Bürger gut. Ganz besonders traf das auf jene deutsche Generation zu, die noch sehr mit den Nachwehen des Nationalsozialismus zu kämpfen hatte und nur langsam verstand, neue Vorstellungen zu akzeptieren und damit umzugehen.

An dem gesellschaftlichen Umschwung hatte Fritz Bauer großen Anteil. Der ehemalige hessische Generalstaatsanwalt war durch sein Wirken hauptverantwortlich für die Ergreifung Adolf Eichmanns in Argentinien. Sein darüber hinaus bleibender Verdienst ist die Einleitung der Auschwitz-Prozesse in den frühen 60er Jahren, die er nur gegen große innerdeutsche Widerstände – auch gegen die Meinung von Adenauer – hat durchsetzen können.

Erst langsam machten sich Gedanken in den Köpfen der Deutschen breit, dass die verkrusteten Strukturen der Vor-Brandt-Zeit aufgebrochen werden müssen. Zum ersten Mal wurde in der Bundesrepublik durch die Studenten nennenswerte Kritik an kommunalem und auch staatlichem Vorgehen öffentlich gemacht, und die Medien griffen die Themen mehr und mehr auf. Das Besondere an den 68er Demonstrationen war nicht etwa eine enorme Zahl der Protestierenden – die war eher überschaubar. Es war die sich anschließende Politisierung dieser Kreise.

In Frankfurt wurde bereits zu dieser Zeit darauf hingewiesen, dass weitere Hochhäuser die Taunuswinde stoppen könnten und die Innenstadt nicht mehr mit frischer Luft versorgt werden würde. Vorsichtige Ansätze für eine Erhaltung natürlicher Ressourcen waren erkennbar. Aber dieses zarte Blümchen musste und muss immer wieder tapfer weiter gegossen werden.

1976 war noch nicht das Jahr, in dem der Bau von Bürotürmen bestimmend war für die kommunale Politik der Rhein-Main-Metropole. Bislang gab es nur Vorahnungen. Ab 1977 veränderte der neue Oberbürgermeister Walter Wallmann die bisherige Frankfurter Kommunalpolitik. Er sorgte dafür, dass immer mehr solcher Wolkenkratzer die Frankfurter City verdichteten und dabei Wohnraum zerstörten.

Es ist zwar durchaus spektakulär anzusehen, wenn man heute, auf der A5 von Bad Homburg kommend, sich Frankfurt nähert. Man kann eine kurze Pause auf einem Parkplatz einlegen und imposante Fotos schießen. Ein Spaziergang aber in den Schluchten zwischen diesen Türmen, die die Skyline bilden, zeigt die reale Welt besser. Die Luft ist schlecht. Menschen hetzen wie Getriebene von einem Geschäft zum nächsten. Banker und Büroleute versuchen mit einem schnellen Gang zum nächsten Imbiss für ein paar Minuten den Stress ihrer Arbeit zu vergessen. Es gibt dort fast keine Wohnungen mehr, die sich ein Normalverdiener noch leisten kann. Auch deshalb wirkt die Frankfurter Zeil abends inzwischen wie ausgestorben. Ein Ort für Mutige. 3)

Es ist der gleiche Effekt, den der Tourist bei einer Busfahrt durch den Isaan – eine Provinz im Nordosten Thailands – hat, wenn er aus sicherer Entfernung die Häuser bewundert, die dort oft auf Stelzen thronen. Wie romantisch, wie schön, denkt der Interessierte auch beim Durchblättern der Urlaubskataloge. Kommt der Reisende aber diesen Hütten zu nahe und versteht, in welchen Zuständen die Menschen dort hausen, wird aus Romantik traurige Realität.

Wir sind immer noch bei den protestierenden Studenten der 70er Jahre und ihren Zielen. Es gab außer dem Tod von Ulrike Meinhof oder den persischen Zuständen viele, sehr viele, wichtige weitere Themen – der Vietnamkrieg war eines davon – gegen die man protestieren und damit die Welt zu verändern gedachte. Leider war der unmittelbare Einfluss der Studenten und ihrer Proteste – wie schon beim Häuserkampf geschildert – für die Zukunft nicht besonders erfolgreich. Es half auch nichts, dass in vielen anderen Ländern ähnliche Bewegungen entstanden waren, und die Gruppen miteinander Kontakt hatten. Allerdings entwickelte sich aus der Bewegung eine Politisierung von Teilen der Bevölkerung, wie an anderer Stelle bereits erwähnt wurde.

Mit dem Rücktritt von Willy Brandt änderte sich das politische Binnenklima. Brandt hatte noch vorsichtig von „Mehr Demokratie wagen“ gesprochen. III)

Helmut Schmidt vernachlässigte eher solch ‚banale‘ innenpolitische Themen. Genau das war es aber, was Studenten und andere mit den Forderungen nach mehr Mündigkeit und mehr Demokratie erreichen wollten. Wegen der Vernachlässigung der Innenpolitik wendeten sich viele linke Gruppierungen von der Regierung Schmidt ab. Die Gruppen radikalisierten sich teilweise.

In diesen Jahren gab es von den Gewerkschaften, die damals ein deutlich stärkeres Gewicht hatten als heute, viele immaterielle Forderungen und Ansätze. Es scheint aber, dass die Kraft der Arbeitnehmervertretungen hauptsächlich auf das monetäre Element bei den Verhandlungen mit den Arbeitgebern gerichtet war.

Die Durchsetzung von Mitbestimmung und ähnlichen Zielen hat offenbar nicht so sehr im Fokus gestanden wie Prozentpunkte bei Lohnverhandlungen. Der Wunsch nach mehr Geld im Portemonnaie scheint der Magie eines Dämons entsprungen zu sein, mit der andere Bedürfnisse rasch verwässert werden können.

Es sei auch an die Ostermärsche erinnert, die sich gegen das Wettrüsten der Supermächte richteten oder gegen die Stationierung der Pershing-II-Raketen und Zulauf von Zehntausenden hatten. Obwohl nicht jeder verstand, warum diese Art des Wettrüstens stattfand. Ich erinnere mich an einen Brief an die Frankfurter Rundschau Ende der 50er Jahre, in dem angesprochen wurde, dass dem Leser nicht klar sei, warum die Großmächte so viel Geld für Atombomben ausgeben. Mit ein bisschen Zyankali in die Wasserversorgung erreiche man doch dasselbe. Allerdings hatten auch schon damals Wirtschaftsunternehmen und Waffenschmieden in aller Welt ein gutes Gespür dafür, wie und wo sie den größten Profit einstreichen können. Mit Zyankali sahen sie das eher nicht.

Heute sind die Zahlen der Ostermarschierer wie ein Blick in eine Vergangenheit, die zeigt, was möglich sein könnte, wenn der Mensch sich auf sich selbst und auf die Wirkung gemeinsamer, solidarischer Proteste besinnen würde.

Unter Helmut Schmidt erlebten die Menschen in Deutschland einen deutlich stärkeren Einfluss der Wirtschaft und der Instrumente der Wirtschaftspolitik auf die Lebensbedingungen. Wurde zum Beispiel von der Volkswirtschaft in der Zeit vor Schmidt Vollbeschäftigung definiert, wenn höchstens zwei Prozent der Erwerbstätigen arbeitslos waren, so änderte sich das durch seinen Einfluss. Ab sofort lag die Messlatte bei fünf Prozent. 4)

Dieser Unterschied von drei Prozent auf die damalige Einwohnerzahl der Republik hochgerechnet, betrifft fast zwei Millionen Menschen. Fünf Prozent sind in absoluten Zahlen etwa drei Millionen. Rechnet man Familienmitglieder hinzu, dann kann man von mehr als zehn Millionen Betroffenen sprechen. Ein Zustand, den Wirtschaftswissenschaftler aus ihrer sicheren Betrachtungsweise in der Regel noch als normal – weil Vollbeschäftigung – betrachteten. Diese Einschätzung teilen die Betroffenen sicher nicht. Doch mit der Wirkung solcher Zahlenspiele wird deutlich, wie schon vor einem halben Jahrhundert in Deutschland dem Neoliberalismus die Bahn frei gemacht wurde.

Habe ich noch während meiner Schulzeit gelernt, dass in einem Markt die Nachfrage das Angebot bestimmt, so musste ich erleben, wie mir ein Volkswirtschaftsprofessor Ende der 70er Jahre erklärte, dass man diesen Ansatz ändern solle. Die Wirtschaft müsse Instrumente einsetzen, durch die die Offerten der Unternehmen zum Katalysator für die Nachfrage werden. Damals habe ich diese Aussage nicht verstanden. Für mich war klar, dass die Bedürfnisse der Menschen die Faktoren sind, nach denen sich die Angebote richten müssen.

Erst viele Jahre später verstand ich, was der Ansatz des Professors wirklich bedeutet: Durch Werbung unter dem Einsatz von Agenturen soll erreicht werden, dass die Konsumenten den Lockrufen der Angebote folgen. Der tatsächliche Bedarf der Bevölkerung kann somit unberücksichtigt bleiben. So etwas lässt sich auch als Manipulation bezeichnen. Für Unternehmen ist diese Strategie angenehm. Sie produzieren das für sie optimale Produkt. Dem Käufer wird es dann so schmackhaft gemacht, dass er sich danach sehnt.

Auch schon vor der Regierung Schmidt geschahen Vorgänge, bei denen die Meinung der Bevölkerung in ähnlicher Weise, jedoch in einem ganz anderen Zusammenhang, beeinflusst wurde. So erzählte man der Öffentlichkeit, der Rücktritt von Willy Brandt als Bundeskanzler sei aufgrund seiner Nähe zu Günther Guillaume, dem DDR-Spion, erfolgt. Tatsächlich war ein erheblicher Grund auch der Einfluss von Herbert Wehner, dem Brandts häufige Techtelmechtel mit dem weiblichen Geschlecht ein Dorn im Auge waren. Dem Familienmensch Wehner, damals Vorsitzender der Bundestagsfraktion der SPD, gefiel diese ‚Lockerheit‘ des Kanzlers überhaupt nicht. Solch Benehmen schien ihm nicht solide genug für diese Position. So hatte er, Wehner, großes Interesse an einem Rücktritt von Brandt. In der offiziellen Darstellung konnte Willy Brandt Ehrenmann bleiben, weil er durch die Aufgabe des Amtes glaubhaft machte, dass er die Nähe zu Guillaume als großen Fehler sah und nun die Konsequenzen zog. 5)

Pikante Anmerkung am Rande: Auch Helmut Schmidt hatte seine Techtelmechtel. Allerdings wird von ihm behauptet, er habe damit Schluss gemacht, nachdem er zum Kanzler gewählt worden ist. Persönliches scheint Helmut Schmidt im Gegensatz zu Willy Brandt eher seinen Karrierewünschen untergeordnet zu haben.

Die Tatsache, dass für Brandt und Wehners Zusammenhalt ausschließlich die Partei der wesentliche Katalysator war, ist damals kaum bekannt gewesen. Willy Brandt und Herbert Wehner kamen sich selten wirklich nahe. Doch von ihren Wählern wurden sie zusammen mit Helmut Schmidt als Troika sehr geschätzt.

Wenn für eine Gesellschaft Vorgänge nur einseitig dargestellt werden und die Bevölkerung im Unklaren gehalten wird und deshalb Zusammenhänge nur mühsam nachvollziehen kann, ist es einfach, eine Einflussnahme mit den eigenen Interessen zu vermischen. Helmut Kohl und seine Nachfolger haben diese Vorgänge mit der immer deutlicheren Implementierung von neoliberalistischen Instrumenten lediglich verfeinert. Es gelang ihnen deshalb so problemlos, weil die Saat dafür bereits unter Kanzler Schmidt gestreut wurde.

Schmidt ist es weniger um die Aufklärung von Vorgängen gegangen, denn er war ausgeprägter Machtmensch, der unter anderem – wie auch viele seiner Politiker-Kollegen – mehrfach die gerne geheim gehaltenen Bilderberg-Konferenzen besucht hat. Die Teilnehmer dieser Versammlungen waren immer hochrangige Politiker, Vertreter aus Wirtschaft und Banken. Überwiegend kamen sie aus Industrieländern. Es wird gemunkelt, dass bei diesen Zusammenkünften sogar Staatsoberhäupter ‚gekürt‘ worden sind.

Im Gegensatz zu Brandt stand bei Schmidt die demokratische Weiterentwicklung der Bundesrepublik Deutschland nicht auf der Pole-Position. Schmidt war es wichtig, seinen wirtschaftspolitischen Vorstellungen freie Fahrt zu geben. Teilweise war er jedoch gerade in ökonomischen Fragen eher zögerlich und verkannte so auch die Tragweite der Entscheidungen, die in Großbritannien und den USA durch die Weichenstellung zum Finanzkapitalismus bereits gestellt waren. Trotzdem kam es zur Entfesselung der Geldpolitik unter Helmut Schmidt. Der Aufstieg des Neoliberalismus im Denken deutscher Politiker war die logische Folge. Dies wurde auch durch Helmut Kohls Motto bei seiner Vereidigung zum Bundeskanzler 1982 deutlich: „Weniger Staat – mehr Markt!“ IV)

Wir können am Ende des Kapitels festhalten:

Aus der Schilderung von verschiedenen Episoden der Ären der Kanzler Brandt und Schmidt lässt sich erkennen, dass es insbesondere Helmut Schmidt sehr um die Durchsetzung seiner eigenen Interessen ging. Sein Steckenpferd war die Wirtschaftspolitik. Innenpolitische Entscheidungen hat er eher schleifen lassen. Die Belange der Bevölkerung wurden zwar wahrgenommen, aber ein wesentliches Element der politischen Arbeit bestand darin, die Wähler glauben zu machen, dass man sich um sie sorgt. Gleichzeitig jedoch wurden zunehmend viele Entscheidungen unter dem Einfluss der Machterhaltung getroffen.

Seit den beschriebenen Vorgängen sind bald fünfzig Jahre vergangen. Wie die Schilderungen der nachfolgenden Kapitel zeigen, hat sich das Interesse der Bevölkerung an gesellschaftlichen Ereignissen bestenfalls marginal verändert. Zu viele Menschen halten nach wie vor, das, was ihnen von ‚Respektpersonen‘ erzählt wird für bare Münze. Auch deshalb fühlt sich die große Masse nur ihrem persönlichen ökonomischen Wohlergehen verpflichtet. Dieses Verhalten kann auch etwas mit Bildung zu tun zu haben.

Zu wenige haben bis heute gelernt nachzufragen, wenn etwas suspekt erscheint. Sie tun es selbst dann nicht, wenn Skandale durch die Medien gehen und es deutlich wird, dass gerade Menschen, die in politischer Verantwortung stehen, ihre ureigenen Interessen verfolgen und nicht die Interessen der Menschen, durch die sie überhaupt erst in ‚Amt und Würden‘ gekommen sind. Die Bedürfnisse ihrer Wähler erscheinen für sie nur als Nebenkriegsschauplatz.

Eine regelmäßige und durchsetzungsfähige Kontrolle der Legislative durch die Bevölkerung erscheint daher als wichtiger Ansatz zum Schutz einer jeden Demokratie, um sie zu erhalten und weiter auszubauen.

Es sollte immer Bestandteil im öffentlichen Diskurs sein, zu hinterfragen ob der demokratische Parlamentarismus generell und/oder seine aktuelle Form für eine Gesellschaft die besten Möglichkeiten der Mitgestaltung an den Lebensverhältnissen anbietet.

14. Mai 1976

Xanctschö, Mondöngschu

Der Wagen zieht seine Spur, verflogen sind die Gedanken mit dem Wind, Land und Zeit, sie scheinen friedvoll zu sein.

An jenem 14. Mai muss Hakan, 5.000 Meilen entfernt von den demonstrierenden Studenten, immer wieder von seinem Kutschbock steigen und in das Zaumzeug der beiden Yaks greifen, damit sie den Wagen weiterziehen. Es sind junge, kräftige Tiere. Hakan hat sie vor zwei Jahren von seinem Onkel bekommen. Er mag sie und behandelt sie gut. Aber manchmal können die beiden stur sein und bleiben einfach stehen. Besonders, wenn sie meinen, sie brauchen eine Pause. Der Kutscher lässt sie dann für einen Moment ausruhen, gibt ihnen Wasser aus dem Behälter, der an der Rückseite des Wagens hängt und beim Fahren dieses eintönig scheppernde Geräusch macht. Aber heute hat er keine Zeit dafür. Er will weiter.

Derweil dösen seine Frau Ceylan und ihr kleiner Sohn Chübisch unter der großen Plane des Wagens. Es ist zwar unbequem so zu liegen, aber das gleichmäßige Schaukeln während der Fahrt macht sie schwummrig. So verschlafen Mutter und Sohn viele Stunden auf der Ladefläche, während das Gefährt über das Gelände holpert. Hakan ärgert sich, dass er heute seine Tiere immer wieder antreiben muss. Jetzt ist es Abend und er möchte die aufkommende Kühle nutzen, um besser voranzukommen. Er hofft, dass nicht mehr so viele Morastbereiche auf sie warten, denn an solchen Stellen muss er oft sein ganzes Können aufbringen. Es kann gefährlich sein, wenn es bergab geht. Dann haben die Yaks mit sich selbst genug zu tun, doch der Wagen schiebt trotzdem von hinten. Die Kurbelbremse hilft auch nicht viel, wenn die Räder einfach wegrutschen. Geht es dagegen einen Hügel hinauf, ist es auch mühselig vorwärtszukommen. Nur mit einschmeichelndem Zureden gelingt es manchmal, dass die Tiere den Karren wieder aus dem Dreck ziehen.

Einmal musste Hakan sogar seine Frau und Chübisch von der Pritsche holen, um den Wagen wieder flottzubekommen. Während Ceylan ihren kleinen Sohn dabei an die Hand nahm und gleichzeitig die Yaks führte, schob und drückte der Kutscher von hinten. Der Mondöngschure ist zwar schon älter, doch immer noch ein kräftiger Mann. Gemeinsam gelang es ihnen, das Gespann freizubekommen, und sie konnten weiterziehen.

Hakan kommt ins Grübeln, er spürt nicht, dass die Tage wärmer sind als früher. Gerade deshalb wundert er sich, weshalb die Böden nicht mehr so hart sind wie zu der Zeit, als er mit seinen Eltern gefahren ist. „Es kann doch noch gar nicht so viel geregnet haben, der Regen kommt doch erst später im Jahr“, überlegt er. Aber letztlich ist ihm das egal. Jetzt will er nur zusehen, dass er schnell den nächsten Übernachtungsplatz erreicht.

Eine Stunde, vielleicht auch zwei, würde er noch zu fahren haben. Aber dann kann er den Suutei Tsai, den grünen Tee genießen, den er so gerne trinkt und dem nach dem Aufbrühen noch Ziegenmilch beigegeben wird. Hakan mag diesen herben Geschmack. „Trink das, es ist gesund“, hat ihm die Mutter immer wieder erzählt. Meistens würzt er das Getränk mit etwas Salz nach. Zum Schluss, so denkt er verträumt, möchte er sich noch eine Zigarette gönnen. Er hofft, dass er für den Tabak nicht lange betteln muss.

Hakan ist mit seiner Familie auf dem Weg von Xanctschö, das im Nordosten von Mondöngschu liegt, zum Sulun See in Chengsia. Dort will er mit Frau und Kind die Sommerzeit verbringen. Er macht diese Fahrt jedes Jahr, immer im Mai oder Juni. So wie er haben es Vater und Mutter getan und deren Vorfahren auch. Das hat er von seinen Eltern gehört, wenn sie abends zusammengesessen haben und er zuhören durfte.

Als Kind war auch er im Wagen bei der Mutter auf der Ladefläche, genau wie jetzt sein Sohn. Seine drei Geschwister beschäftigten sich auf der Pritsche neben ihm. Zwei waren Mädchen, der jüngste ein Bub. Manchmal ist Hakan nach vorne zum Vater geklettert und hat sich neben ihn gesetzt. Aber schnell war ihm der Wind zu kühl, so wie es jetzt Chübisch geht. Hakan muss schmunzeln bei diesem Gedanken. Später, nachdem er seine eigene Familie gegründet hatte und seine Eltern gestorben waren, fuhr er mit seiner Frau und den Nachbarn aus Xanctschö oder mit Freunden zusammen. Er weiß die Richtung und orientiert sich an den eingefahrenen Spuren. In dieser Gegend gibt es selten Schilder, die ihm den Weg zeigen. Die wenigen, die da oder dort vereinzelt stehen, sind zerkratzt oder verschmiert oder zerbrochen. Es ist kaum zu erkennen, was einmal darauf gestanden haben soll. Hakan verlässt sich auf das, was andere erzählen, oder er kramt in der Erinnerung vergangener Fahrten. Es helfen auch bestimmte Formationen der Bergketten, die vor ihm liegen und den Weg weisen.

Hakan ist Nomade und seine Familie lebt so seit Jahrhunderten. Dieses Jahr hat er beschlossen, eine Woche vor den anderen loszufahren. Er hatte mit seiner Frau darüber gesprochen. Ceylan war es egal, sie überließ die Entscheidung dem Mann. Der kennt sich da besser aus. So dachte sie, so war sie erzogen.

Derart sinnierend erahnt Hakan am Horizont, da wo sich die Endlosigkeit des Weges mit den Schatten der Nacht paart, schwach leuchtende Lichter. Jetzt ahnt er, dass sie wohl bald das Tagesziel erreichen werden. Auch er ist nun müde, und seinen Tieren wird die Pause guttun. Er wird seine Yaks noch viele Jahre brauchen. Nicht nur für diese Fahrt.

Wenn seine Nachbarn zu Hause größere Lasten transportieren wollen, dann fragen sie ihn oft. Die Leute geben ihm gerne Aufträge und haben dafür immer etwas als Tausch anzubieten. Hakan ist stolz, wenn er wahrnimmt, wie die Leute sich auf ihn verlassen. Manchmal bekommt er für seine Dienste sogar ein paar Degröh-Scheine, die er für die nächste Fahrt in die Hauptstadt aufspart. Dort benutzt man dieses Geld.

Endlich hat er den Platz für das Nachtlager erreicht. Kreisförmig sind die Jurten aufgestellt. Ein paar Wagen stehen neben den Zelten. Die Tiere sind abseits davon angepflockt und ruhen unter einer Überdachung. Eine feste Baracke gibt es auch. Dort treffen sich die Männer nach der Fahrt. Hakan springt vom Bock, macht die Yaks vom Fuhrwerk los und bringt sie unter das Dach zu den anderen Tieren. An einer trockenen Stelle bindet er sie an.

Er geht noch einmal zum Wagen zurück, schaut nach seiner Frau und seinem Sohn. Ceylan schlägt schläfrig die Augen auf, als er flüstert, dass er gerne noch einen Tee trinken möchte. „Es wird nicht lange dauern, dann lege ich mich zu Dir.“ Chübisch schläft ruhig in den Armen seiner Mutter. Hakan streichelt zärtlich über die Stirn seines Sohnes, bevor er die Baracke aufsucht. Man hört von dort, leise Unterhaltung herüberschallen.

Hier ist es warm. Hier bekommt er seinen geliebten Tee. Das weiß er, als er, die Hände aneinanderreibend, den Raum betritt. Er hat für solche Gelegenheiten immer ein paar Kerzen zum Tausch dabei. Acht Gäste finden in der kleinen Stube Platz. Hakan freut sich auf das warme Getränk. Er muss nicht lange warten. Er gibt noch ein bisschen Salz in den Becher, dann lehnt er sich zurück und genießt in langsamen Schlucken.

Der Kutscher redet kaum mit den anderen. Er ist müde. Bald geht er die paar Schritte zurück zum Wagen, zu Frau und Kind. Nach ein bisschen Tabak für eine Zigarette hatte er noch gefragt, und man gab es ihm. Die Menschen wissen ohne großes Gerede, was nötig ist und guttut.

Jetzt aber liegt er neben seiner Frau und seinem Söhnchen und weiß, dass sie morgen wieder früh aufbrechen. Noch sind es bis zu ihrem Ziel sicherlich 700 oder 800 Meilen. Wer weiß das schon? Mit diesen Gedanken schläft er ein. Eine exakte Vorstellung von der Zeit, die es noch dauern wird, bis sie am Ziel sind, hat er nicht, als er am nächsten Morgen wieder auf seinen Sitz steigt, die Zügel in die Hand nimmt und den Yaks das Zeichen gibt, anzuziehen.