Der Küstenpfad - Eric Berg - E-Book

Der Küstenpfad E-Book

Eric Berg

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Beschreibung

Das Wandern ist des Möders Lust – Doro Kagels neuester und persönlichster Fall!

Vier Frauen und drei Männer, die sich über ein Online-Portal kennengelernt haben, wollen gemeinsam über den Küstenpfad von Wolgast nach Wismar wandern. Dünenwege, Steilküsten, die blaue Ostsee – was idyllisch beginnt, verwandelt sich in einen Albtraum, denn immer mehr erhärtet sich der Verdacht, dass sie verfolgt werden. Als einer der Wanderer ermordet aufgefunden wird, überschlagen sich die Ereignisse.
Zwei Wochen später: Im Zuge der Ermittlungen begibt sich die Journalistin Doro Kagel auf dieselbe Route, im Schlepptau ihren Sohn Jonas. Gemeinsam befragen sie Kellner, Wirte, Polizisten – und einige Mitglieder der Wandergruppe erscheinen dabei in einem ganz neuen Licht ...

Noch mehr packende Küstenspannung? Dann empfehlen wir Ihnen auch die anderen Krimis um Doro Kagel oder Eric Bergs Stand Alones »Schattenbucht« und »Totendamm«.

Darf's etwas mehr Sonne sein? Dann lesen Sie »Roter Sand«, den ersten Band der spannenden Gran-Canaria-Reihe um Kommissar Fabio Lozano.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 552

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Vier Frauen und drei Männer, die sich über ein Online-Portal kennengelernt haben, wollen gemeinsam über den Küstenpfad von Wolgast nach Wismar wandern. Dünenwege, Steilküsten, die blaue Ostsee – was idyllisch beginnt, verwandelt sich in einen Albtraum, denn immer mehr erhärtet sich der Verdacht, dass sie verfolgt werden. Als einer der Wanderer ermordet aufgefunden wird, überschlagen sich die Ereignisse.

Zwei Wochen später: Im Zuge der Ermittlungen begibt sich die Journalistin Doro Kagel auf dieselbe Route, im Schlepptau ihren Sohn Jonas. Gemeinsam befragen sie Kellner, Wirte, Polizisten – und einige Mitglieder der Wandergruppe erscheinen dabei in einem ganz neuen Licht …

Autor

Eric Berg zählt seit vielen Jahren zu den erfolgreichsten deutschen Autoren. Seit seinem spektakulären Debüt »Das Nebelhaus«, das es auf Anhieb auf die SPIEGEL-Bestsellerliste geschafft hat und fürs Fernsehen verfilmt wurde, hat der Erfolgsautor über eine Million Kriminalromane im deutschsprachigen Raum verkauft und seine Leser*innen und Kritiker*innen immer aufs Neue begeistert. Neben seinen Ostsee-Krimis hat er mit »Roter Sand« den Startschuss gegeben für seine neue Gran-Canaria-Reihe.

Von Eric Berg bereits erschienen:

Doro Kagel ermittelt in:

Das Nebelhaus

Die Mörderinsel

Die Toten von Fehmarn

Weitere Ostseekrimis von Eric Berg bei Blanvalet:

Das Küstengrab

Die Schattenbucht

Totendamm

Fabio Lozano ermittelt:

Roter Sand – Mord auf Gran Canaria

ERIC BERG

DER KÜSTENPFAD

Kriminalroman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2025 by Eric Berg

© 2025 by Limes in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

produktsicherheit@penguinrandomhouse.de

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Redaktion: Angela Troni

Umschlaggestaltung und -motiv: Maritius Images (Alamy Stock Photos / olandsfokus), www.buerosued.de

KW • Herstellung: KH

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-26179-5V001

www.limes-verlag.de

1

»Du willst auf Wanderschaft gehen?« Meinem Mann Yim fiel fast der Kochlöffel aus der Hand, und er musste die Lippen aufeinanderpressen, um nicht zu lachen.

Ich konnte es ihm nicht übel nehmen. Das Sportlichste an mir war die Geschwindigkeit, mit der ich ein Glas Prosecco leerte. Gelegentlich machten wir Radtouren, die mein Gesäß noch eine Woche danach reflektierte, und als Wanderung bezeichnete ich es bereits, wenn wir von unserem Dorf die paar Kilometer bis zum Wismarer Stadtrand spazierten. Ende Juni, also in etwa zehn Tagen, wollte Yim dort sein neues Fischrestaurant eröffnen.

»Ich habe gerade wenig zu tun«, sagte ich und spähte in den Topf, in dem ein Fischragout schmorte. »Außer, deine künftige Speisekarte rauf und runter zu probieren, was ich bereits dreimal getan habe. Und jedes Mal habe ich ein Kilo zugenommen.«

»Es steht dir gut.«

»Noch zwei solche Wochen, und ich muss mir ein halbes Dutzend neuer Etuikleider kaufen. Übrigens, die Wettervorhersage für die nächsten zehn Tage ist ziemlich günstig. Wenn nicht jetzt, wann dann? Außerdem mache ich es nicht zu meinem Privatvergnügen, sondern für den Job.«

Na ja, Letzteres stimmte nur halbwegs. Als Gerichtsreporterin war es eigentlich nicht meine Aufgabe, Mordfällen nachzuspüren, zumal der, um den es mir ging, erst wenige Tage alt und noch nicht aufgeklärt war.

Sieben Frauen und Männer waren auf eine mehrtägige Wanderung gegangen, nur sechs von ihnen hatten überlebt. Eine Person aus der Gruppe war im Wald ermordet worden. Ein Szenario für einen Gruselfilm – oder für das Buch über wahre Kriminalfälle, das ich zu schreiben gedachte. Gerade die Aktualität hatte meinen Verleger angespitzt, der in unserem letzten Gespräch meinte, ein laufender Fall sorge für den nötigen Pep. Man konnte sicherlich darüber streiten, ob die vierzehn Toten auf zweihundertsiebzig Seiten, die ich bisher in dem Buch versammelt hatte, bereits genug Pep boten. Aber es war mein erstes Projekt dieser Art. Journalistische Artikel hatte ich als Gerichtsreporterin bereits Hunderte veröffentlicht, aber ein Buch zu schreiben, war immer mein heimlicher Traum gewesen. Die diffuse Gefahr, im letzten Moment daran zu scheitern, waberte beständig durch meinen Körper, mal nah am Herzen, mal in der Magengrube, die meiste Zeit jedoch in den Windungen meines Gehirns. Ich wollte meinen Verleger glücklich sehen, und mein Verleger wollte sich auch glücklich sehen, also war es beschlossen.

»Normalerweise lieferst du mir nicht drei Argumente, bevor du etwas tust«, scherzte Yim. »Kommt mir so vor, als wolltest du eher dich selbst überzeugen und weniger mich.«

Ich schmunzelte. »Da ist was dran, leider. Ich habe so etwas noch nie gemacht, noch dazu alleine.«

»Ich würde gerne mitkommen.«

Ich schmiegte mich an Yim, der nach Kokos und Zitronengras duftete. »Wir wissen beide, dass das nicht geht. Die Eröffnungsfeier ist in weniger als vierzehn Tagen, und du hast bis dahin allerhand um die Ohren.«

Seine Hände streichelten meinen Rücken auf und ab. »Was ist das überhaupt für ein Fall?«

»Na, der Pilgermord drüben in Neuburg, fünfzehn Kilometer hinter Wismar.«

»Pilgermord« – so dramatisch hatte der Boulevard den Fall getauft. Allerdings nicht hundertprozentig zutreffend. Pilgerfahrten hatten eigentlich religiöse Ziele, etwa die Wanderung auf dem Lutherweg nach Worms, auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela oder auf dem Paulusweg in die Türkei. Der Wanderweg, dem die Bürokratie den romantischen Namen E 9 gegeben hatte, war durch und durch weltlicher Natur. Er war Teil einer zwölftausend Kilometer langen europäischen Fernwanderstrecke vom Baltikum bis nach Portugal und verlief auf deutschem Boden zwischen Usedom und Ostfriesland. An der Ostsee endete er in Warnemünde, nicht weit von Lübeck.

Dennoch, in diesem speziellen Fall sah ich dem Boulevard das Schaumschlagen nach. Im einundzwanzigsten Jahrhundert durfte man das Pilgern nicht mehr so eng auslegen, vor allem nicht in Europa, wo Christen Zen-Gärten anlegten, die Sommersonnenwende in Stonehenge feierten oder sich hinduistische Schriftzeichen auf den Rücken tätowieren ließen. Das Wandern hatte eine meditative Komponente bekommen, ähnlich dem Fasten. Ursprünglich hatte es mal reinigende, mal stärkende, mal reflektierende Eigenschaften gehabt, und so konnte ein jeder die Haustür hinter sich zuknallen und auf einem x-beliebigen E-Irgendwas an die fünfhundert Kilometer zum Strand von Soundso pilgern, um dort ein Nacktbad zu nehmen.

Außerdem hörte sich Pilgermord besser an als Wanderermord oder Waldmord oder Ferienhausmord. Trotzdem war die Resonanz nicht besonders groß gewesen, von der Schlagzeile in einem großen deutschen Nachrichtenblatt einmal abgesehen. Am nächsten Tag waren bereits andere Verbrechen wichtiger, ein suspendierter Polizist, der seine Familie erschossen hatte, ein Clankrieg in Hamburg …

Ob in einem halben Jahr, wenn mein Buch erschien, der Fall noch heiß genug sein würde, war höchst unsicher. Natürlich hing es auch davon ab, ob meine Schilderung etwas Neues, Aufregendes oder Tiefgehendes böte. Damit, ein paar Akten zu studieren, den Tatort zu besichtigen und zwei, drei, meinetwegen auch fünfzehn Interviews zu führen, war es nicht getan.

Yim beschwerte sich. »Mir läuft es kalt den Rücken runter, wenn ich daran denke, dass du alleine durch einen Wald läufst, wo gerade erst jemand ermordet wurde.«

»Der Täter wird ja wohl kaum noch hinterm Busch sitzen.«

»Trotzdem, Doro, so geht das nicht. Ich werde mir die ganze Zeit Sorgen machen und die Doraden in der Pfanne anbrennen lassen.«

Um Yim – und mir selbst auch – einen Gefallen zu tun, durchforstete ich noch am selben Tag mein Adressbuch auf der Suche nach Personen, die in Frage kamen, mich zu begleiten. Sie mussten sowohl Zeit für eine mehrtägige Wanderung haben als auch entsprechendes Schuhwerk, sprich: eine gewisse Erfahrung und Leidensfähigkeit. Jemand, für den ein Hühnerauge bereits ein Grund für einen Krankenschein war, kam nicht infrage. Ferner musste der Wille vorhanden sein, sich für eine Woche vom Lebenspartner und dem heimischen Sofa zu lösen. Nicht zu unterschätzen war die nötige Toleranz, mich länger als ein paar Stunden um sich zu haben. Dutzendweise schieden die Kandidaten aus.

Erst beim Buchstaben S wurde ich fündig. Meine Freundin Sylvia fuhr jeden Sommer ins Allgäu, nach Österreich oder Südtirol zum Bergwandern. Seit ihrer Scheidung war sie vermögend und arbeitslos, eine seltene Kombination, vor allem in Berlin, außerdem verstanden wir uns prächtig. Leider weilte sie gerade auf Korsika, wie sie mir begeistert am Telefon erzählte. Und Viktor, mein frühverrenteter Cousin, der ebenfalls sämtliche Kriterien erfüllte, hatte den Fuß in Gips. Ich legte auf und stellte mich auf eine einsame Wanderung ein, was fast schon wieder etwas Meditatives an sich hatte.

Vielleicht war genau das der tiefere Grund gewesen, weshalb sich drei von sieben Leuten der Wandergruppe ohne Begleitperson auf den Weg gemacht hatten. Weil sie auf der Suche nach etwas waren oder vor etwas davonliefen. Für beide Motive waren Menschen, die man liebte und immer um sich hatte, meiner Erfahrung nach nur hinderlich. Die einen lenkten, ohne es zu wollen, von der Suche ab, die anderen riefen, ebenso unabsichtlich, permanent die Erinnerungen wach, die man verdrängen wollte. Alle meinten es gut, aber alle erreichten genau das Gegenteil. Abgesehen davon, war das Alleinsein ein Zustand, den viele Menschen mieden, sei es aus Gewohnheit oder Veranlagung. Nicht wenige ängstigten sich sogar davor, und so war das Wandern in einer Gruppe Gleichgesinnter, wenngleich Fremder, auf die man sich nach Belieben schneller oder weniger schnell einlassen konnte, ein guter Kompromiss. Im besten Fall kamen neue Freundschaften dabei heraus, im schlimmsten lief man am Ende eben doch allein.

Für mein Vorhaben kam das nicht in Frage, ich musste zeitlich und örtlich flexibel sein und die Reise auf Schusters Rappen notfalls abbrechen und an anderer Stelle wieder aufnehmen können. Eventuell musste ich auch mal länger an einem Ort verweilen, als normale Wanderer das tun. Was mir vorschwebte, war nicht nur die übliche Kriminalberichterstattung – wer wurde wo, wann, wie und warum ermordet? Ich wollte vielmehr vollständig in die Materie des Wanderns eintauchen. Ich wollte verstehen, was die Menschen dazu brachte, säkulare oder religiöse Pilgerreisen zu unternehmen, oder besser, sie auf sich zu nehmen. Und das alles sowohl ganz allgemein als auch auf den konkreten Fall bezogen, also auf die Personen besagter Wandergruppe. Normalerweise hatte ich für meine Artikel etwa dreißigtausend Zeichen zur Verfügung, eine Handvoll Seiten also, und das war im Journalismus schon viel. Um zwei Dutzend Wörter führte ich mit den zuständigen Redakteuren manchmal sogar Kriege. Bei einem Buch hingegen fielen zehn, zwanzig oder sogar dreißig zusätzliche Seiten nicht sonderlich ins Gewicht. Ich durfte daher mal so richtig im Thema schwelgen, was im Journalismus als eine der Todsünden gilt.

Als ich am nächsten Tag meinen Rucksack packte, stieß ich auf das erste Hindernis, auf das vor mir schon Millionen und Abermillionen Pilger gestoßen waren: Das Ding war voll, bevor ich die Hälfte der unbedingt benötigten Sachen verstaut hatte. Ich war zwar intelligent genug, zu begreifen, dass »unbedingt benötigt« ein dehnbarer Begriff war, aber nicht kreativ genug, die richtigen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Auch nachdem ich die Liste dreimal durchforstet und so manches wieder gestrichen hatte, platzte der Rucksack noch aus allen Nähten, bevor er fertig gepackt war.

Das amüsierte Yim, als er spätabends aus dem Restaurant nach Hause kam und sich über das Riesending im Schlafzimmer wunderte.

»Dein Rucksack ähnelt eher einem Heißluftballon vor dem Start.«

Mir kam in diesem Moment der Gedanke, die Wanderung an den Nagel zu hängen, bevor ich auch nur den ersten Schritt gemacht hatte.

»Vielleicht nehme ich mir lieber einen Mietwagen, was meinst du? Ich könnte einige der Stationen abklappern, die die Wandergruppe besucht hat, hier einen Spaziergang machen, dort einen Ausflug …«

Yim setzte sich aufs Bett und knipste die Nachttischlampe an. »Das ist doch nicht dasselbe, Doro-Schatz. Das wäre ja wie eine Fahrt mit der Seilbahn auf eine Alm, wo man sich den Bauch mit Buttermilch, Schinken und Schnaps vollschlägt, um sich danach wieder nach unten fahren zu lassen. Dagegen ist nichts einzuwenden, nur ist es dann kein Erlebnis. Das Erlebnis besteht aus der Anstrengung und der nachfolgenden Belohnung. Man kann nicht eins davon weglassen und sich dann wundern, dass das Leben eintönig geworden ist.«

»Ich dachte, du bist gegen die Wanderung.«

»Mir gefällt nur nicht, dass du alleine losziehen willst. Aber eine Reportage über den Pilgermord, ohne die geringste Ahnung vom Pilgern zu haben, das wäre saftlos. Hinterher wärst du sicher enttäuscht, und weil ich dich liebe, will ich nicht, dass du enttäuscht bist. Du hast schon immer einen sehr hohen Anspruch an deine Arbeit gestellt.«

Yim hatte recht. Seit mehr als zwanzig Jahren charakterisierte ich als freie Journalistin und Gerichtsreporterin sowohl die Täter als auch die Opfer und beleuchtete die jeweiligen Fälle von verschiedenen Seiten. Der Name Doro Kagel stand für Artikel mit psychologischem Tiefgang sowie der Einordnung der jeweiligen Geschehnisse in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang. Ich informierte meine Leser nicht bloß, ich lieferte ihnen den Panoramablick. Dass ich dabei mitgeholfen hatte, ein paar Mordfälle zu lösen, etwa die auf Hiddensee und Usedom, war ebenfalls meiner Leidenschaft für die Erforschung der menschlichen Seelenlandschaft zu verdanken, ihrer Höhen und Abgründe.

Nur half mir das alles nicht bei meinem Rucksackproblem, so banal es auch erscheinen mochte.

»Kannst du dir mein Gepäck morgen früh noch mal vornehmen?«, bat ich Yim, dem die Augen schon zufielen.

»Den Teufel werde ich tun und dir einen Scheidungsgrund liefern. Du springst im Dreieck, wenn ich dir etwas ausräume, was du unterwegs unverhofft dringend brauchst.«

Auch wieder wahr. Ich vertagte das Rucksackthema und ging ins Bad.

Als ich am nächsten Morgen gerade die vierte Weglassrunde einläuten wollte, klingelte mein Handy.

»Jonas! Du rufst genau zum richtigen Zeitpunkt an.«

Mein Sohn war ein durchaus erfahrener Backpacker. Lange Wanderungen waren zwar nie sein Ding gewesen, aber er hatte zwischen seinem siebzehnten und dem zweiundzwanzigsten Lebensjahr mehrere Kanutouren mit Freunden unternommen, unter anderem im Spreewald, auf der Lahn, der Durance, dem Balaton …

Ich schilderte ihm mein Problem.

»Als Erstes entfernst du alle Etuikleider aus dem Rucksack«, empfahl er mit ironischem Unterton.

»Frechheit. So eine Schickse bin ich nun auch wieder nicht, dass ich zig Kleider auf eine Wanderung mitnehmen würde. Das ist alles vernünftiges Zeug. Hosen, T-Shirts, Pullover, Jacken und so weiter.«

»Wie viele Hosen und T-Shirts?«

»Drei Hosen, fünf T-Shirts …«

»Es reichen zwei Hosen und drei T-Shirts. Eins ist immer in der Wäsche, das zweite trägst du, und das dritte ziehst du nur an, wenn du sauber aus der Dusche kommst. Du hast bestimmt auch Bücher eingepackt, oder?«

»Nur eins.«

»Lass es zu Hause.«

»Aber …«

»Ich sehe schon, so wird das nichts. Besser, ich begleite dich.«

Es verschlug mir nicht nur die Sprache, sondern zog mir auch den Saft aus den Knien. Ich setzte mich aufs Bett.

Den Namen meines Sohnes hatte ich in meinem Adressbuch schneller überblättert, als ich blinzeln konnte. Er war in einer festen Beziehung mit Fabia, die bald schon meine Schwiegertochter werden könnte, außerdem hatte er unlängst nach dem erfolgreich absolvierten Medizinstudium eine Stelle als Assistenzarzt an einer kleinen Klinik in der Nähe von Freiburg ergattert. In seiner spärlichen Freizeit spielte er Badminton in einem Verein, den er obendrein leitete, und wenn dann noch Zeit übrig war, traf er sich zum Pokern mit Freunden.

Doch selbst, wenn seine Tage weniger ausgefüllt gewesen wären, hätte ich ihn niemals gebeten, mich zu begleiten. Ich hatte das diffuse Gefühl, nicht das Recht zu haben, ihn um einen derart großen Gefallen zu bitten. Er war schon mit neunzehn ausgezogen und führte seither sein eigenes Leben. Unser Verhältnis war gut, wir stritten nie, telefonierten oft, sahen uns ein-, zweimal im Jahr … Wäre es darum gegangen, ein gemeinsames Wochenende bei ihm in Freiburg oder bei mir in Wismar zu verbringen, hätte ich keine Sekunde gezögert. Aber eine Pilgerwanderung, eine ganze Woche lang nur wir zwei, war etwas Intimes, und als intim würde ich unsere Beziehung inzwischen nicht mehr beschreiben, dafür klammerten wir seit zu vielen Jahren zu viele Themen aus. Unser letzter wirklich inniger Augenblick war vermutlich der Tag gewesen, an dem Jonas sich mit vierzehn Jahren dazu durchgerungen hatte, Kontakt zu seinem leiblichen Vater aufzunehmen, dessen gleichgültige Reaktion ihn erschütterte. Damals, vor nunmehr sechzehn Jahren, hatten wir eine ganze Nacht am Küchentisch verbracht und zutiefst persönliche Gefühle ausgetauscht. Danach eigentlich nie wieder, jedenfalls nicht derart eng beieinander.

»Ja, aber … Kannst du denn einfach so weg? Ich meine, was ist mit deiner Arbeit?«

»Das geht schon.«

Ich ließ einige Sekunden verstreichen. »Hast du mit Fabia darüber gesprochen?«

»Sie hat sicher nichts dagegen.«

Ich ließ erneut einige Sekunden verstreichen. »Schön und gut, aber vielleicht möchte sie die Zeit lieber mit dir verbringen.«

»Ich sage doch, es ist kein Problem.«

Mit Jonas war das so eine Sache – oft war er für Diskussionen über anstehende Entscheidungen in seinem Leben, ob groß oder klein, ungewöhnlich aufgeschlossen. Er blockierte nicht, wie das bei erwachsenen Kindern gegenüber elterlichen Ratschlägen kein seltenes Phänomen war. Vielmehr stellte er Fragen, hakte nach, dachte über die Antworten nach und bedankte sich. Es kam durchaus vor, dass er seine Meinung danach änderte. Mehr durfte man nicht erwarten. Manchmal jedoch machte er auch völlig zu, dann hätte man genauso gut mit einer geschlossenen Zimmertür sprechen und sie bitten können, sie möge sich öffnen.

»Und du bist dir ganz sicher?«, fragte ich.

»Morgen Nachmittag bin ich da.«

Gleich nach dem Gespräch verließ ich das Schlafzimmer mit gemischten Gefühlen und ging die Wendeltreppe hinunter ins Erdgeschoss.

Die Treppe war die einzige bauliche Veränderung, die wir vorgenommen hatten, ansonsten hatten wir das kleine Einfamilienhaus belassen wie gekauft. Es war gerade noch im Rahmen unseres Budgets gewesen, was vor allem die zeitgleich stattfindende Restauranteröffnung belastete. Yim musste die kleine Küche akzeptieren, ich den großen Garten. Große Gärten machten Arbeit, und meine Daumen hatten schon alle Farben gehabt, bis auf Grün.

Die Einrichtung war recht zusammengewürfelt, so als stamme sie aus verschiedenen Erbschaften und Flohmarktbesuchen. Mehrere Umzugskartons waren sechs Wochen nach unserem Einzug immer noch nicht ausgepackt, einige Möbel hatten wir nur provisorisch platziert. Es war uns schwergefallen, unsere schöne Wohnung in Berlin zu verlassen – überhaupt die Stadt zu verlassen – und aufs Land zu ziehen. Aber nachdem Yim mit seinem ersten Restaurant während der Pandemie pleitegegangen war und meine Mutter uns das Geld für einen zweiten Versuch geliehen hatte, war uns klar gewesen, dass man ein Fischrestaurant am besten dort eröffnen sollte, wo die Fische herkamen.

In der Küche dufteten eine Seezunge, die mit einer Muschel-Sahne-Soße überzogen war, und ein exotisch angemachter Gurkensalat um die Wette. Ich traute mich nicht, Yim zu sagen, dass ich plötzlich keinen Hunger mehr hatte.

»Hat Jonas dich angerufen?«

»Gerade eben … Moment mal, war das etwa deine Idee?«

Yim schob die Fischfilets auf zwei Teller und den Gurkensalat auf zwei weitere. »Ich habe ihn nur gebeten, dir ein paar Tipps zu geben, was Rucksacktouren angeht. Noch bevor ich Piep sagen konnte, hatte er beschlossen, dich zu begleiten. Was ist los mit dir? Ich dachte, alle Mütter sehnen sich danach, mit ihren erwachsenen Söhnen längst vergangene Urlaubsfreuden heraufzubeschwören.«

Ich nickte. Da war durchaus etwas dran.

»Es ist nur … ich habe ein komisches Gefühl, was Jonas angeht.«

Yim schenkte zwei Weißweingläser halb voll und drückte mir eins in die Hand. »Was für ein Gefühl denn?«

»Irgendetwas stimmt nicht. Ich kann es nicht beschreiben. Nur so viel … es ist kein gutes.«

Einige Tage zuvor, Anfang Juni

Elsi hatte ein gutes Gefühl bei der Sache. Wieso auch nicht? Die Sonne lachte vom Himmel, und Wolgast war ein netter, angenehmer Ort: der Rathausplatz, die Kirche, das Atelier mit den Meeresmotiven, der Kaffee mit Kuchen in einer der Gassen. Nicht zu vergessen die Geschichtstafeln an den Häusern. Leider hatte sie für all das zu wenig Zeit gehabt.

Mit schnellen, kurzen Schritten strebte sie voran. Das Gehen fiel ihr leicht. Dreiundsechzig und kein bisschen müde, sagte sie gerne. Ihre Augen musterten hellwach die Umgebung.

»Nun komm schon, Yannick. Leg mal einen Zahn zu. Oder willst du, dass deine Oma dir davonzieht?«

»Mir wumpe, Oma«, sagte er, ohne von seinem Smartphone aufzublicken.

Manchmal hasste sie diese blinkenden Monster mit den hypnotischen Fähigkeiten, die die jungen Leute davon abhielten, ihre Mitmenschen zu betrachten.

»Sieh mich mal an, Junge.«

»Was?«

»Ansehen sollst du mich.«

Ihr Blick zuckte von Yannicks leidenschaftslosen Augen zu dem schmallippigen Mund und weiter die dünnen, blassen Arme entlang zu den unruhigen Fingern.

»Hast du überhaupt irgendetwas von der Stadt gesehen, außer dem Pflaster?«

»Ich habe dich vorhin vor der Kirche fotografiert und im Café, schon vergessen?«

»Ich meine nicht durch die Linse von diesem Ding?«

»Ich hab unendlich viel Bock drauf, dieses Thema zum sechzehnten Mal zu diskutieren.«

»Du hast ab jetzt Handyverbot.«

»Ich habe was?«

»Handy-ver-bot. Eine Stunde am Tag ist erlaubt, mehr nicht. Wir haben für die nächsten zehn Tage eine Abmachung, wie du weißt. Die tritt hier und ab sofort in Kraft. Also tu, was ich dir sage. Handy weg.«

»Dann nehme ich meine fucking Handystunde eben jetzt.«

»Bist ja mal ein ganz Schlauer.«

»Yup.«

»Deswegen bist du ja auch hier gelandet, auf einer zehntägigen Wanderung mit deiner Oma, der Traum jedes Teenagers. Was bist du nur für ein schlauer Kerl.«

Sie fuhr ihm über die wuscheligen Haare, was gar nicht so leicht war, da er über eins achtzig groß war und sie weniger als eins sechzig maß. Er verstand die liebevolle Geste und lächelte.

»Nur noch ein paar Minuten, Oma. Bitte.«

Sie lachte. »Meinetwegen nimm deine Handystunde. Und jetzt hopp, weiter geht’s.«

Ein bisschen Zeit war noch, daher kaufte Elsi eine Obdachlosenzeitung. Der Verkäufer sah schlimm aus. Frustrierend, er war in ihrem Alter. Sie gab ihm das Doppelte des verlangten Preises und unterhielt sich mit ihm über das Übliche: Missionsstationen, Tafeln, Schlafplätze. Fragte, ob Einzelhändler ihm Stress machten. Ob er Familie habe. Hatte er, einen Sohn in Berlin, den er zuletzt vor zwanzig Jahren gesehen hatte, vielleicht auch vor fünfundzwanzig. Sie gab ihm einen Apfel, den sie aus ihrem Rucksack fischte.

»Vitamine sind wichtig. Kann ich sonst noch was für dich tun?«

»Wenn du schon fragst … hättest du vielleicht ’nen Fünfer für mich?«

»Hier, nimm auch noch meine Orange.«

»Und der Fünfer?«

Elsi kramte in ihrem Portemonnaie, ein Zehner, zwei Zwanziger, vier Fünfziger. Sie gab dem Mann den Zehner. »Und wenn du mal nach Berlin kommst, um deinen Sohn zu suchen, ruf diese Nummer hier an.«

Sie steckte ihre Visitenkarte in die Brusttasche seiner Jacke, nachdem sie die Büronummer durchgestrichen und ihre Privatnummer auf die Rückseite geschrieben hatte. »Wie heißt du?«

»Bruno.«

»Merke ich mir. Finger weg vom Schnaps, Bruno, halt die Ohren steif. Mach’s gut, ich muss weiter. Das wird schon, ich weiß es.«

Sie wusste es nicht. Elsi war Sozialarbeiterin, und alles, was sie wusste, war, dass das Elend nicht weniger wurde. Aber deswegen aufgeben? Nein. Wenn jemand, der sie noch nicht lange kannte, sie fragte, warum sie immer so gute Laune habe, antwortete sie genau das: Ich bin Sozialarbeiterin. Sie erntete dann in der Regel befremdete Blicke. Eine dreiundsechzigjährige Sozialarbeiterin, die seit zweiundvierzig Jahren diesen Job ausübte, hatte müde Augen zu haben, einen schleppenden Gang und tiefe Falten, die bis zu den hängenden Mundwinkeln reichten.

»Wir haben es fast geschafft«, sagte sie zu Yannick.

»Was haben wir geschafft?«, fragte er, ohne aufzublicken. Nebenher schrieb er eine Nachricht.

»Na, was wohl? Wir haben die Erde einmal umrundet.« Es war zum Seufzen, aber Elsi seufzte nie. Kein Fall war hoffnungslos, auch nicht ihr eigener Enkel.

»Hast du Hunger, Yannick? Also, mir knurrt der Magen.«

»Wundert’s dich, wenn du deinen Proviant verschenkst?«

»Es ist ja auch schon fast sechs. Die anderen treffen sich gleich. Gehen wir zum Hotel zurück.« Sie blickte hektisch um sich. »Ich glaube, dort entlang.«

Yannick, immer noch halb abwesend, deutete in eine andere Richtung. »Nö, da entlang. Um zwei Ecken, dann sind wir da.«

»Sagt wer? Google Maps?«

Er zwinkerte ihr zu. »Ja, Oma, aber es wird Mäps ausgesprochen, nicht Maps. Dein Englisch hat sich seit der Muppet Show wohl nicht verbessert, hm?«

Sie lachte. In Augenblicken wie diesem war er wieder ihr kleiner Junge, wie sie ihn von früher kannte: ein bisschen frech, aber immer liebenswürdig. Stundenlang hatte er nachmittags, während sie arbeiten war, in ihrer Küche gesessen, Schulaufgaben gemacht und nebenbei ihre Süßigkeitenschublade geplündert. Nach Hause zu seinen Eltern war er erst gegangen, wenn es Zeit fürs Abendessen war. Manchmal hatte sie ihn von der Schule abgeholt und zur Arbeit mitgenommen, und wenn es bei ihm zu Hause mal wieder ganz schlimm war, durfte er bei ihr übernachten.

Aber seit zwei Jahren veränderte er sich, und manchmal erkannte sie ihn nicht wieder.

Bevor sie Yannick folgte, betrachtete sie ihn einige Sekunden lang von hinten. Er war spargeldünn, so wie sie, wie sein Vater. Damit erschöpften sich die Gemeinsamkeiten aber auch schon. In seinen Bewegungen, seiner Gestik und Mimik lag keinerlei Spannkraft, dabei war er sechsundvierzig Jahre jünger als sie. Er ging nicht, er schlurfte.

Nach zehn Metern hatte sie ihn eingeholt. »Ich bin schon ganz neugierig auf die Truppe. Du auch? Ich meine, das ist doch aufregend, oder? Wir werden zehn Tage miteinander verbringen, kennen aber keinen von denen.«

»Zum Mitschreiben, ich bin nicht neugierig, und ich werde nicht die Tage, sondern die Minuten zählen, bis ich wieder in Berlin bin. Das war die beschissenste Idee, die du je hattest, Oma.«

»Ich mache das doch nur, um …«

»Schon klar. Ich bin ja nicht dolli. Aber es wird nicht klappen.«

»Wir haben eine Vereinbarung.«

»Die haben wir. Ändert aber nichts.«

Sie stieß ihn sachte mit dem Ellenbogen an. »Nun sei mal ein bisschen positiver.«

Elsi hielt sich nicht mit Yannicks düsteren Prophezeiungen auf. Lieber malte sie sich aus, wie die kommenden Tage werden würden. So machte sie das immer, wenn sie einen neuen Sozialfall bekam, und nichts anderes war ihr siebzehnjähriger Enkel. Man handelte eine Zielvereinbarung aus, legte die Marschroute fest, besprach und analysierte regelmäßig die Fortschritte und Rückschläge – nicht anders als bei einer Schuldnerberatung oder einem Bewährungshelfer. Da galt es, ein dickes Fell zu bewahren und alle Kräfte zu mobilisieren. Erst recht in Yannicks Fall. Er war das einzige Kind ihres einzigen Sohnes, und er war kurz vorm Abkippen.

Das Hotel lag gleich beim Fischmarkt und war nur durch einen Weg und einen Schilfgürtel vom Peenestrom getrennt. Ein Fischkutter tuckerte in einiger Entfernung geräuschvoll vorüber. Ein paar Segler glitten gemächlich in Richtung des nahen Yachthafens. Einem von ihnen winkte sie zu. Warum, wusste sie auch nicht. Es war ein kleiner Spaß. In Berlin konnte sie im Sommer über keine Spreebrücke gehen, ohne den Touristen auf den Ausflugsbooten einen Gruß zuzuwerfen.

Der Segler antwortete ihr nicht. Noch so ein Muffel, dachte sie und zuckte mit den Schultern.

Gleich neben dem Hotel befand sich die Gastwirtschaft, in der sich die Wandergruppe zum ersten Mal treffen wollte.

»So, dann schauen wir uns die Bande mal an, was, Yannick?«

Die Teilnehmer hatten sich einige Wochen zuvor in einem Reiseportal im Internet zusammengefunden und sich auf einen Termin und eine Route verständigt. Dabei gab es natürlich immer ein gewisses Risiko, dass sich Einzelne nicht riechen konnten, und da fünf von ihnen in Berlin lebten, hätte es sich angeboten, vorher ein kurzes Kennenlernen zu vereinbaren. Leider kam ausgerechnet Gregor, der die meiste Organisationsarbeit leistete und so etwas wie die treibende Kraft war, aus Eisenach, und die anderen hatten es irgendwie nicht geschafft, sich vorher mal zu treffen.

»Ganz schön aufregend, aufs Geratewohl neue Leute kennenzulernen, findest du nicht?«

Ihr Enkel murmelte etwas Unverständliches. Elsi machte sich keine Sorgen, er könnte grob zu den Fremden sein. Unhöflich war Yannick eigentlich nie, nur ziemlich mundfaul, wie die meisten jungen Leute der Generation Zweitausendplus. Und er verfügte über ein reiches Repertoire an Gossensprache, mit dem sie durch ihre Arbeit bereits vertraut war. Doch vermutlich würde er außer »Hi« und »Ciao« kein Wort reden.

Vor der Eingangstür des Lokals stand ein Mann und rauchte. Elsi wollte einfach an ihm vorbeigehen.

Er aber sagte nach einem kurzen Blickwechsel: »Ihr seid bestimmt Oma und Enkel. Wanderung, oder wat? Donnerlittchen, wusste ich’s doch. Bin der Joe.«

Joe hatte das zerknitterte Gesicht eines Mannes, der gelebt hatte. Nicht immer nur gut, so viel stand für sie fest. Er kam Elsi altersmäßig nahe, und auch sonst war er ihr recht vertraut. Altbekannter Typus: leicht gelbe Zähne und Fingernägel, Tabakgeruch an der Kleidung, die hier einen Fleck und dort ein Loch aufwies. Leute wie er waren meist robust, direkt und – wenn man den richtigen Ton traf – viel umgänglicher als gemeinhin gedacht. Sie erinnerte sich an seine E-Mails und Kurznachrichten, die von Rechtschreibfehlern und typischem Ruhrpott-Humor nur so strotzten. Ihr lagen solche Typen durchaus.

Als Joe ihr die Hand gab, deutete er eine Verbeugung an. Bei Yannick unterließ er es, und sein Händedruck war wohl deutlich rustikaler, denn ihr Enkel schien froh, seine Gliedmaßen im Ganzen zurückbekommen zu haben.

Obwohl erst halb geraucht, drückte Joe die Zigarette in dem roten Standaschenbecher gleich neben der Tür aus. Gemeinsam betraten sie das gut besuchte, rustikale Restaurant. Es roch nach Meerestieren und Öl. Joe führte sie an einen großen Tisch in der Raummitte, um den ein Mann und drei Frauen versammelt waren.

Elsi fiel sofort das junge Mädchen auf, vermutlich noch keine achtzehn, bildschön und mit dem Haar und dem Gesicht einer Meerjungfrau. Ihre hellblauen Augen ruhten klar, aufmerksam und ruhig auf dem Mann neben ihr, der gerade mit ihr sprach. Vom Alter her konnte er ihr Vater sein. Das waren sicher Gregor und Jule, Vater und Tochter aus Eisenach und die einzigen Nicht-Berliner der Gruppe.

»Wir sind komplett!«, rief Joe. »Darf ich vorstellen: Elsbeth und Yannick.«

»Gerne auch Elsi«, lud sie ein und hob die Hand zu einem Gruß in die Runde.

»Hi«, sagte Yannick.

Sie setzten sich auf die beiden Plätze, die noch frei waren. Elsis Augen tasteten einen nach dem anderen ab. Gregor wirkte sportlich, auch ohne das Käppi des Eisenacher Handballvereins. Sein weißes T-Shirt saß eng an dem gebräunten Körper, besonders an den Oberarmen. Obwohl bereits früher Abend, war nicht der Hauch eines Bartschattens auf Wangen und Kinn zu erkennen, was bedeutete, dass er sich am Nachmittag rasiert hatte. Elsi war überzeugt, dass dies eine Gewohnheit von ihm war. Er wirkte ein wenig förmlich, aber wenn er lächelte, blitzte ein kleiner Junge in ihm hervor. Das hätte er ruhig häufiger tun können, doch diese Gunst wurde nur seiner bildhübschen Tochter und seinem Labrador zuteil, den er als Biskuit vorstellte.

Romina war allein gekommen, Mitte dreißig und unzweifelhaft italienischer Abstammung. Zwar stellte sich heraus, dass sie eine deutsche Mutter hatte und in Charlottenburg geboren und aufgewachsen war, wo sie bis heute lebte, aber ansonsten besaß sie sämtliche Attribute einer Süditalienerin: herzerfrischendes Lachen, ausladende Gestik, rassige dunkle Haare, Kruzifix auf der Brust. Ihre Figur neigte deutlich zur Opulenz, ihre Augen waren zwei funkelnde schwarze Perlen. Trotz allem waren ihre Fingernägel das Auffälligste an ihr, sie erinnerten Elsi an Batikmalerei.

Mit Fritzie verhielt es sich ganz anders. Als befürchte sie, etwas Dummes zu sagen, brach sie ihre Sätze oft mittendrin ab: »Wie wäre es …?«, »Wir könnten ja …«, »Morgen Mittag soll es sehr …« Sie sprach sehr leise und machte den Eindruck, ebenso widerwillig vor Ort zu sein wie Yannick. Die meiste Zeit blickte sie auf das Limonadenglas, das sie unentwegt in der rechten Hand drehte, während sie mit der linken an ihrem wenig geschickt geflochtenen Zopf aus strohblonden, leicht ergrauten Haaren herumspielte. Ihre Fingernägel waren abgekaut. Dennoch warf Joe ihr einen Blick nach dem anderen zu, was sie mal verlegen, mal schmunzelnd erwiderte. Elsi schätzte sie auf fünfzig Jahre, wenngleich etwas seltsam Mädchenhaftes in ihrem fahlen Gesicht schimmerte.

In jeder Hinsicht ein bunter Haufen, stellte Elsi fest, sei es altersmäßig, von der geografischen Herkunft oder vom Typus. Genau so hatte sie sich das vorgestellt. Sie freute sich auf die Gespräche, das nähere Kennenlernen. Es war ihre dritte mehrtägige Wanderung in der Begleitung von Fremden, und sie hatte an die beiden früheren vor fünf und vor drei Jahren nur gute Erinnerungen. Allerdings waren sich die Teilnehmer damals ähnlicher gewesen als diesmal.

»Ich bin den Lutherweg fünfzehneinundzwanzig gegangen«, erklärte sie auf Nachfrage, da sie offenbar die Einzige am Tisch war, die so etwas schon einmal gemacht hatte. »Von Worms nach Eisenach. Das war kurz nach dem Tod meines Mannes, und es hat mir sehr gutgetan. Darüber zu sprechen, meine ich. Und dann die Natur. Das Schwitzen. Die Gesellschaft. Einfach alles. Beim zweiten Mal ging es die Oder entlang, da hatten wir zwar Pech mit dem Wetter, es war aber trotzdem schön. Das Wetter wird allgemein überschätzt.« Sie lachte.

In der Chatgruppe, die Gregor bei einem Kurznachrichtendienst eingerichtet hatte, hatten sie lange darüber diskutiert, welchen Weg sie denn nun wählen sollten. Ob sie nur im Inland oder auch ein Stück im Ausland wandern sollten. Ob ein fünf- oder doch ein zehntägiger Marsch. Es hätte Elsi nichts ausgemacht, den Lutherweg noch einmal zu gehen, aber es hatte mehrere Gegenstimmen gegeben. Von Romina zum Beispiel. Vielleicht, weil ihr als Katholikin dieser Weg zu protestantisch war. Und auch von Gregor – überraschenderweise, denn der Lutherweg endete sozusagen vor seiner Haustür. Jule wolle ans Meer, hatte seine lapidare Begründung gelautet, und zwar bei jedem weiteren Vorschlag: der Rhein, die Elbe, die Heide, der Alpenrand.

Schließlich hatten sie sich auf den Ostsee-Wanderweg geeinigt. Wieso auch nicht? Zwar war jeder von ihnen schon einmal dort gewesen, sei es auf Rügen, auf dem Darß, in Holstein oder in Dänemark, aber ein Urlaub hier oder dort war etwas ganz anderes, als ein Gebiet von mehreren Hundert Kilometern zu durchwandern, wie Elsi den anderen glaubhaft versicherte.

Gregor holte eine große Karte hervor, die er aus mehreren Ausdrucken aus dem Internet zusammengeklebt hatte, und breitete sie auf dem Tisch aus. Wie gut, dass er das gemacht habe, lobte Elsi ihn sogleich, denn die Beschilderung des Wanderwegs E 9 ließ, was man in den Erfahrungsberichten so las, an manchen Stellen zu wünschen übrig.

»Donnerlittchen!«, rief Joe. »Wat haste denn da für’n Moped? Is ja generalstabsmäßig.«

»Einer musste sich doch darum kümmern«, sagte Gregor.

Joe lachte breit. Ihm fehlte links hinten ein Zahn. »Ja, aber gleich so’n Ömmes.«

Gregor konzentrierte sich. Er legte die Kuppe des Zeigefingers auf Wolgast, von dort führte sie die Reise nach Eldena, Stahlbrode, Zingst und in etliche andere Ortschaften, von denen die meisten Elsi nichts sagten.

Gregor erklärte: »Ich habe wie vereinbart Tagestouren von um die zwanzig bis fünfundzwanzig Kilometer veranschlagt, an deren Ende ein Gasthof, eine Pension oder ein Ferienhaus gelegen ist. Die Reservierungen sind bereits bestätigt, alle im mittleren bis unteren Preissegment, die Zimmeraufteilung ist wie vorab besprochen folgendermaßen: Joe und Yannick, Romina und Fritzie, Jule und ich. Elsi, du bekommst jeweils dein eigenes Zimmer oder Ferienhäuschen.«

»Ist auch besser so. Ich schnarche nämlich.«

Sie lachten.

»Okay«, sagte Gregor. »Endstation Nummer eins ist der Marktplatz von Wismar. Diejenigen, die wie Jule und ich bis Travemünde weiterwandern wollen, nehmen ab Wismar die Reservierungen bitte selbst vor.«

»Voll generalstabsmäßig«, kommentierte Joe.

»Danke«, erwiderte Gregor. »Fühlt ihr euch alle fit?«

Elsi fand, dass sein Blick etwas zu lange auf ihr ruhte, beschwerte sich jedoch nicht. Sie würde sich selbst als klein und schmächtig bezeichnen, eine Berliner Oma mit kurzen, dünnen grauen Haaren ohne richtige Frisur, fast ein Kasernenschnitt, sowie stockdünnen Gliedern. Leicht gebeugt ging sie auch schon. In Sachen Kondition machte ihr hier am Tisch allerdings kaum einer etwas vor, wenn sie die anderen so ansah.

Dass Gregor die fünfundzwanzig Kilometer am Tag locker schaffte, stand fest. Seine Tochter Jule auch, sie war jung und schlank und wirkte in sich ruhend. Yannick konnte, wenn er wollte, und dafür, dass er wollte, würde Elsi schon sorgen. Die pummelige Romina dagegen war ohne Zweifel eine Wackelkandidatin. Sie würde sicher einiges an Zuspruch und Ermunterung benötigen, Elsis Spezialgebiet. Und Fritzie machte auf Elsi den Eindruck, als sei sie so zufällig wie ein Bauklötzchen an diesen Ort gepurzelt. Joe, der jedes Mal, wenn er einen Ärmel hochschob oder einen Knopf seines Hemdes öffnete, ein weiteres ausgeblichenes Tattoo freilegte, wirkte einerseits wie ein gestandener Kerl. Vermutlich war er das auch mal gewesen mit seinen geschätzt einen Meter fünfundachtzig. Aber als starker Raucher fehlte ihm vermutlich die Ausdauer. Er war sicher gut zu gebrauchen, um eine Wurzel auszugraben, aber auf einen Baum konnte er bestimmt nicht klettern.

»Wir bekommen das schon hin«, sagte Elsi. »Am dritten Tag haben sich die Beine schön eingelaufen, ab dann wird es leichter. Wie sieht’s aus? Frühstück um sieben, Aufbruch um halb acht?«

Joe blies die Backen auf, schluckte seinen Protest jedoch zusammen mit einem halben Glas Bier runter.

»Ich freue mich schon sehr«, sagte Elsi. »Ich habe ein gutes Gefühl.«

Als könnte sie ihren Optimismus zusätzlich anreichern und wie eine weitere Ration Butterbrote ihrem Proviant hinzufügen, wiederholte sie: »Ich habe ein richtig gutes Gefühl.«

Ohne von seinem Handy aufzublicken, sagte Yannick tonlos: »Wann hattest du schon mal ein schlechtes?«

2

Vor mir ergoss sich eine sattgrüne Wiesen- und Schilflandschaft bis in den Peenestrom hinein, der in der Nachmittagssonne glänzte. Ich stand auf dem Katharinenberg, der trotz seines imposanten Namens ein sanfter Hügel war, und genoss, umgeben von Bienensummen, die flirrende sommerliche Wärme. Die Verlockung auf ein kühles Fußbad war groß, und ich nahm mir vor, ihr irgendwo auf dem Rückmarsch in die Wolgaster Innenstadt nachzugeben.

»Weiter?«, fragte Jonas.

»Du scheuchst mich ganz schön, mein Sohn.«

»Ich dachte, wir wollen vor Weihnachten in Wismar ankommen.«

»Die Wanderung samt der Arbeit beginnt morgen. Das hier ist noch Freizeit.«

Yim hatte uns am Vormittag mit dem Auto nach Wolgast gebracht und war sofort zurückgefahren. Ganz kurz hatte sich mein schlechtes Gewissen gemeldet, ihn mit all den Vorbereitungen alleinzulassen, aber schon ein Teller Nudeln und eine Weißweinschorle mit Blick auf den Rathausplatz jagten es zum Teufel. Gleich danach waren Jonas und ich zu einem Spaziergang durch die Stadt aufgebrochen, der in eine spontane Wanderung entlang der Peene mündete.

An einer Badestelle mit jeder Menge verdorrtem Gras und einem kleinen Strand setzte ich mein Vorhaben in die Tat um, zog die Schuhe aus, krempelte die Hose hoch und stapfte ins flache Uferwasser, was bei dreiunddreißig Grad im Schatten einfach nur himmlisch war. Die vorbeifahrenden Segler wurden vom Fahrtwind erfrischt, die Wasservögel tauchten die Köpfe in das kühle Nass, und Jonas tat es ihnen nach. Plötzlich schoss er an mir vorbei und hechtete in den Strom, kraulte kraftvoll ein Stück hinaus und schwamm gemütlich in Seiten- und Rückenlage zurück.

Dergleichen wurde sicher schon tausendmal geschrieben, wenn nicht öfter, aber während ich meinen erwachsenen Sohn beobachtete, fragte ich mich, wo die Zeit geblieben war. So lange schien es mir noch gar nicht her, dass er auf einem ekelhaft grünen Gummikrokodil auf den Ostseewellen geritten war.

Im Schatten einer Silberweide ließ ich mich, halb sitzend und halb liegend, im Gras nieder. In der Ferne flimmerte die Peenebrücke, dahinter die Altstadt von Wolgast mit der markanten gotischen Kirche Sankt Petri. So ganz konnte ich es noch nicht glauben, dass ich dort war, dass ich mein Vorhaben in die Tat umgesetzt hatte, und ich bekam plötzlich Respekt vor meiner Entscheidung. Recherchen führte ich fast immer vor Ort durch, das war selbstverständlich für mich. Es jedoch auf einer tagelangen Wanderung zu tun, verbunden mit ständigen Ortswechseln und Anstrengungen ausgeliefert, die noch gar nicht zu überblicken waren, das war aufregend und neu – um es mal positiv auszudrücken. Es ließe sich aber auch als beunruhigend beschreiben.

Und das alles in Begleitung meines Sohnes. Auch deswegen war ich seltsam nervös. Es gelang mir nicht, den friedlichen Strom mit seinen blitzenden Perlen und Segeln, das romantische Städtchen und das Plätschern der sich im Wasser putzenden Vögel zu genießen. Irgendetwas lag über allem, durchdrang die Szenerie wie ein Gewitter, das man nicht sah, sondern nur schläfrig grollen hörte. Man konnte es innere Stimme nennen – oder Einbildung.

»Alles in Ordnung?«, fragte Jonas, als er tropfnass über mir thronte.

»Ja. Ich habe nur ein wenig Angst vor meiner eigenen Courage.«

»Keine Sorge, wir werden es schon nicht übertreiben. Wenn es so heiß ist wie heute, laufen wir eben nur zehn Kilometer und keine zwanzig. Was soll’s? Und mit meiner Trekking-App verlaufen wir uns auch nicht. Ich finde alle Wege und Unterkünfte, und du kannst dich ganz darauf konzentrieren, dein Buch im Kopf zu Ende zu schreiben. Let me be your jungle scout, Mam.«

Ich lächelte. So alt war ich also schon, dass ich Young Tarzan brauchte, um mich zurechtzufinden.

Abends gingen wir in das Restaurant, in dem sich vierzehn Tage zuvor die bunte Wandergruppe erstmals zusammengefunden hatte. Meiner Erfahrung nach war es äußerst unwahrscheinlich, dass sieben einander fremde Menschen sehr unterschiedlichen Alters und Geschlechts, aus verschiedenen Regionen, Berufen und auch Gesellschaftsschichten gleich »Ein bisschen Frieden« zusammen sangen. Vielmehr beschnupperte man sich erst einmal, und es war das Normalste von der Welt, dass sich Grüppchen innerhalb der Gruppe bildeten. Das bedeutete noch gar nichts. Ob in der Schulklasse, im Kirchenchor, im Büro, im Schützenverein oder beim Rentnertreff, überall gab es Grüppchen, und in den seltensten Fällen ging das gründlich schief. Und selbst wenn es mal gründlich schiefging, kam es nicht zwingend zu einem Mord.

Es war mitten in der Hauptsaison, das Wetter war traumhaft, die Tage waren lang. Jonas und ich ergatterten den letzten freien Platz in der hintersten Ecke, von wo aus wir, außer den Plastikblumen auf dem Tisch, so gut wie nichts von dem Restaurant sehen konnten. Ich war froh, dass Yim die Speisekarte nicht zu Gesicht bekam, denn es wimmelte darauf von Paniertem, was für ihn als künftigen Sternekoch ungefähr das darstellte, was ein Hackbraten für einen Vegetarier war.

Der servierte Weißwein war so warm, dass ich darin hätte baden können, und mein Lachs schwamm in einer Sahnesoße, aus der er wie eine im Klimawandel untergehende Südseeinsel herausragte.

Stell dich nicht so an, ermahnte ich mich, bevor Jonas es tun konnte. Seit ich mit Yim liiert war, bekam ich immer ein Eins-A-Essen, begleitet von einem Zwei-A-Wein. Doch jetzt war ich eine Trekkerin, und Trekkerinnen waren bekanntlich flexibel und robust.

Trotzdem war ich froh, als ich endlich den Teller von mir wegschieben und ein paar Unterlagen auf den Tisch packen konnte.

»Sind das die Dossiers von den Teilnehmern der Wandergruppe?«, fragte Jonas.

»Na ja … Dossiers.« Es war das, was ich bis dahin über die Einzelnen herausgefunden hatte, zumeist nur ein paar Zeilen pro Person. Sozusagen der Status jener sieben Menschen am Tag ihres ersten Zusammentreffens, dem siebten Juni. Ich hatte meine Kontakte zu diversen Zeitungen und den Polizeiwachen der Bundesländer spielen lassen, aus denen die Teilnehmer kamen, trotzdem war das Material spärlich. Meine Anfragen waren nur halbwegs beantwortet worden. Es war ein laufendes Verfahren, da hielten sich alle bedeckt.

Jonas griff nach dem Blatt, das zufällig obenauf lag. Er wusste so gut wie nichts über den Fall, Verbrechen hatten ihn noch nie interessiert. Weder las noch schaute er Krimis, er bevorzugte Romane und Filme, die Gesellschaftsthemen und Sozialkritik zum Inhalt hatten.

»O Mann, sieh dir die hier mal an. Romina Pantelli. Hübscher Name und, wow, auch ein hübsches Gesicht, gerade weil es ein bisschen füllig ist. Tolle Augen. Ist sie Italienerin?«

»Halbitalienerin«, korrigierte ich.

Die zweiunddreißigjährige, ledige Kosmetikerin aus Berlin-Charlottenburg hatte eine besondere Leidenschaft: Fingernägel, auf denen sie kleine Kunstwerke erschuf, sowohl malerische als auch architektonische. Sie hatte den dritten Platz bei einem landesweiten Wettbewerb gewonnen. Ich musste zugeben, ich hätte nicht gewusst, wie ich mit diesen winzigen Chagalls und Neuschwansteins auf meinen Fingernägeln hätte umgehen sollen, denn jede Tätigkeit, außer vielleicht, einen Thron zu besteigen, war damit unmöglich. Und auf einer Party? Sogar ein Sektglas damit zu halten, stellte ich mir als Herausforderung vor, geschweige denn, zuvor den Kleiderschrank auf der Suche nach dem richtigen Fummel zu durchforsten. Aber beeindruckend waren sie trotzdem. Zudem hatte Romina Pantelli Anfang des Jahres ein Diplom als Duft- und Modeberaterin erworben, was auch immer das exakt bedeutete.

»Seltsam, dass so jemand auf eine lange Wanderschaft geht«, murmelte ich nachdenklich.

»So jemand?«

»Eine Frau, die ihr Geld mit artifizieller Kosmetik und dem Versprühen von sündhaft teurem Parfüm verdient, passt besser an die Riviera als auf eine schweißtreibende Wanderung, meinst du nicht?«

»In die Falle getappt«, sagte Jonas und trank einen großen Schluck von seinem Dunkelbier. »So etwas spielt keine Rolle, jedenfalls nicht beim Wandern. Bei Kanutouren auch nicht.«

»Sie muss einen besonderen Grund gehabt haben, das wollte ich damit sagen. Denn sie kommt mir wie jemand vor, der sich überwinden muss, in derben Schuhen durch Matsch zu laufen.«

Jonas nahm sich das nächste Dossier vor. Joe Rowolt, der eigentlich Jochen Rowolt hieß, war ein Duisburger Urgestein und trotzdem in der Welt herumgekommen: Namibia, Oman, Georgien, Brasilien … Doch gerade deswegen wies seine Biografie etliche Lücken auf. Am meisten hatte ich über seine Kindheit herausgefunden, was daran lag, dass das Jugendheim, in dem er zwischen 1977 und 1984 aufgewachsen war, noch etliche Aufzeichnungen besaß. Joe hatte eine schwere Kindheit gehabt, der Vater hatte die Familie früh verlassen, die Mutter war an Schizophrenie erkrankt und hatte sich das Leben genommen. Er machte den Hauptschulabschluss. Als Berufe waren Grubenarbeiter, Seemann, Gärtner und Mechaniker angegeben. Vor allem die letzten zehn Jahre waren dünn oder vielmehr nicht zu rekapitulieren. Bis auf die Information, dass sein letzter Wohnsitz Berlin-Tegel war, eine Wohnwagensiedlung.

Jonas nahm sich das nächste Blatt vor. »Diese Oma hier ist spannend.« Er las weiter und sagte: »Der Enkel noch mehr.«

Elsbeth Gandelagen, eine Sozialarbeiterin aus Berlin-Weißensee, der für ihr vierzigjähriges Engagement mehrere Auszeichnungen verliehen worden waren, konnte offenbar auch in ihrer Freizeit die Füße nicht stillhalten. Das war aber vermutlich nicht der wahre Grund für die Wanderung gewesen, denn sie war nicht nur in drei Vereinen aktiv, sondern betätigte sich auch als gute Fee in einem Seniorenheim und mischte bei einer Tafel mit – ausreichend Betätigung für die ruhelosen Füße einer Dreiundsechzigjährigen.

Ihr Enkel Yannick war gänzlich anders geraten als sie. Er hatte die Realschule ein halbes Jahr vor dem Abschluss abgebrochen und war wegen einiger Ladendiebstähle zu Sozialdienst und einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. Nach dem dritten Ladendiebstahl – dabei ging es immerhin um einen Warenwert von mehreren Tausend Euro – hatte die Richterin nur deshalb von einer Jugendhaftstrafe abgesehen, weil der Name Gandelagen einen guten Klang bei Gericht hatte und Yannicks Oma sich vehement für ihn einsetzte. Sie hatte das nur unter der Bedingung getan, dass er mit ihr auf diese Wanderung ging. Was sie sich wohl davon versprochen hatte? Ich konnte es nur vermuten.

Das zweite Gespann, der Eisenacher Gregor Klee und seine Tochter Jule, war für mich geradezu eine Blackbox. Ich hatte fast gar nichts über die beiden herausbekommen, außer ihr Alter von siebenunddreißig und siebzehn, und dass der Vater Ingenieur und Leiter der Konstruktionsabteilung in einem Automobilwerk war. Jule ging aufs Gymnasium, kein öffentliches, sondern ein privates. Warum der Name von Jules Mutter nirgendwo auftauchte, warum das Mädchen nicht am Unterricht teilnahm, obwohl die Pfingstferien bereits vorbei waren – ich wusste es nicht.

Der Reigen der Dossiers endete, wie er begonnen hatte: Fritzie Thornagel schien mir eine seltsame Wanderbiene zu sein. Sie hatte zusammen mit ihrem Zwillingsbruder und einem fast zwanzig Jahre älteren Bruder einen Großteil ihres siebenundvierzigjährigen Lebens auf Bauernhöfen verbracht. Zunächst lebte sie auf dem Hof ihrer Eltern in der Nähe von Buckow in Brandenburg, den diese nach Auflösung der LPG bald nach der Wende verkauften, um einen neuen zu erwerben, und schließlich, nach dem Tod ihrer Eltern, auf einem Viehhof in Rottal am Inn. Dort hatte sie sich vor dreizehn Jahren abgemeldet, ohne sich irgendwo neu anzumelden, was eigentlich nur ging, wenn man ins Ausland zog oder untertauchte. Auf dem Einwohnermeldeamt von Rottal verlor sich ihre Spur für dreizehn Jahre, ihr Name erschien erst wieder im Polizeiprotokoll vom zwölften Juni.

Nun bestand der Reiz einer solchen Gruppe ja gerade darin, dass sie nicht homogen war, dass Junge und Alte, gut und weniger gut Ausgebildete aus der Stadt oder vom Land aus den unterschiedlichsten Motiven eine gemeinsame Reise antraten und sich im besten Fall gegenseitig unterstützten, wenn es mal nicht so gut lief. Objektiv betrachtet, sprach wenig gegen ein harmonisches Miteinander der Wanderer, außer vielleicht die Verschiedenheit der männlichen Teilnehmer. Ein sportiver Ingenieur, ein Tausendsassa und ein Teenager auf der Kippe.

Ich fragte mich, wie das Kennenlernen der Gruppe wohl verlaufen war und wie viel die sieben dabei von sich preisgegeben hatten. Was sie nach dem ersten Beschnuppern voneinander gedacht hatten. Ob es bereits zarte Sympathien und aufkeimende Abneigungen gegeben hatte.

»Und wer von denen ist nun ermordet worden?«, fragte Jonas.

Ich tippte auf eines der Fotos, die aufgefächert vor ihm lagen.

Er sah mich lange an. »Und du willst herausfinden, wer es war?«

»Deswegen mache ich das hier nicht, Jonas. Ich wüsste auch nicht, wie.«

»Jetzt stell dein Licht mal nicht unter den Scheffel. Du hast schon mehrere Morde aufgeklärt, Mam. Hiddensee, Usedom, Fehmarn. Du bist die Insel-Queen of Crime.«

Er lachte, und ich gab ihm einen Klaps auf die Schulter. »Ich habe etwas anderes gemeint, mein Sohn. Es geht mir in diesem Fall eher darum, die Gefühle nachzuempfinden, die man bei einer solchen Kraftanstrengung hat, die Erschöpfung zu spüren und die Orte und Stationen der Wandergruppe zu besuchen. Ich will ihre Geschichte erzählen und nicht nur den kriminalistischen Aspekt beleuchten.«

Die Kellnerin kam zum Abräumen an den Tisch. »Hat es Ihnen geschmeckt?« Sie hatte einen polnischen Akzent.

»Ja«, log ich, nicht nur, weil es in den seltensten Fällen etwas anderes als Ärger einbringt, in dieser Frage ehrlich zu sein, sondern auch, um mich mit der Frau gut zu stellen.

Sie war gelockt schwarzhaarig, dünn und blass mit harten, farblosen Lippen und wirkte mit ihren hastigen Bewegungen in dem überfüllten Restaurant wie die kleine Schwester von Sisyphos. Ich gab ihr ein mehr als generöses Trinkgeld, was sie kurz innehalten ließ und ihr so etwas wie die Andeutung zur Vorstufe eines Lächelns entlockte.

»Haben Sie an dem Tag hier gearbeitet, als sich die Pilgergruppe … Sie wissen, welche ich meine … vor Kurzem hier getroffen hat?«

»Nein. Welche Gruppe?«

»Vielleicht hat Ihr Chef Ihnen davon erzählt. Es gab einen Mordfall bei einer Gruppe von Wanderern.«

»Ah, jetzt ja. Sie sind Journalistin?«

»Autorin«, log ich noch einmal, da es, wie ich fand, einen besseren Klang hatte. Journalisten haben den Ruf, Sensationsgeier zu sein. Autoren hingegen reflektieren tiefgründig und stehen weit über solchen irdischen Niederungen.

»Ja, ich war hier«, sagte sie. »Aber das Restaurant war voll, und es waren für mich ja auch nur normale Leute.«

»Zu dem Zeitpunkt waren sie genau das«, stimmte ich ihr zu und war dennoch ein wenig enttäuscht. Irgendeine Information hätte ich mir schon erhofft. »Also gar nichts Besonderes? Jemand, der auffallend nett, lustig oder mürrisch war?«

»In der Saison bekomme ich nichts mit, außer, dass ich am Ende vom Tag sechs Monate älter bin.«

Ich schmunzelte über ihr Bonmot, sie ging davon, und ich hatte außer einem mit Sahnesoße getränkten Magen nichts von dem kleinen Ausflug.

Später an der Tür fing uns die Kellnerin jedoch unverhofft ab. »Mir ist doch noch etwas eingefallen. Die Sache mit dem Perso«, sagte sie. »Als die Leute weg waren, habe ich beim Tischwischen auf dem Boden einen Ausweis gefunden. Der Chef hat gesagt, ich soll ihn in einen Briefumschlag stecken und wegschicken.«

»Haben Sie sich den Namen gemerkt?«

»Ja, es war ein komischer Name. Fritzie.«

Die Information ließ mein Herz höherschlagen. »Wissen Sie vielleicht noch mehr?«

»Ja, der Ort war Rottal am irgendwo. Dahin habe ich ihn geschickt, mit einem Kärtchen von uns. So eine hier.« Sie wedelte mit einer Karte des Gasthofs. »Und einem kurzen Gruß auf der Rückseite. Fritzie hat sich bestimmt gefreut.«

Ich gab ihr meine Visitenkarte, für den Fall, dass ihr noch etwas einfiele, und dankte ihr sehr.

Auf dem Rückweg zum Hotel ließen Jonas und ich die Neuigkeiten sacken. Der Abend war mild, das Pflaster reflektierte die Wärme des Tages, eine Glocke schlug neun. Wir wollten am nächsten Morgen früh raus und kamen überein, den Absacker in der Hafenbar zu streichen.

»Ich verstehe das noch nicht ganz«, nahm Jonas mir die Worte aus dem Mund. »Diese Fritzie war seit dreizehn Jahren in Rottal abgemeldet, hast du gesagt. Demnach war der Perso veraltet und ungültig. Wieso hatte sie ihn dann überhaupt dabei?«

Ich konnte mir ebenfalls keinen Reim darauf machen, und weil sich das vorläufig kaum ändern würde, betrachtete ich lieber das, was wir mit einiger Sicherheit sagen konnten. Der Brief des Restaurants war an den Hof adressiert, auf dem nur noch Fritzies Bruder und dessen Familie lebten, falls er eine hatte. Sogar die genaue Adresse hatte die Kellnerin sich gemerkt, da sie sehr einprägsam war und irgendwie malerisch klang: Spechthof 1.

»Ich würde da gerne mal anrufen«, sagte ich und hatte den Satz kaum ausgesprochen, als Jonas sein Handy hervorholte und zu recherchieren begann. Es freute mich, wie viel Anteil er an meiner Arbeit nahm. Viel zu selten hatten wir – seit er zum Studium fortgegangen und erst recht seit er Assistenzarzt geworden war – etwas zusammen unternommen. Nun wurde mir ganz warm ums Herz, als er sich lässig auf meine Schulter lehnte und mir das Ergebnis präsentierte: eine Telefonnummer aus Rottal am Inn, die zu einer gewissen Walpurga Thornagel gehörte, vermutlich Ferdis Ehefrau.

Er lachte auf. »Nur drei Ziffern nach der Vorwahl, ist ja süß.«

Ich stimmte in sein Gelächter ein, wir hakten uns unter und legten so die letzten Meter zum Hotel zurück.

Ich war ein wenig aufgeregt. Für den nächsten Morgen stand mir ein echtes Abenteuer bevor: der Start in die erste mehrtägige Rucksacktour meines Lebens. Aber ich freute mich auch. Ich dachte an das verhaltene Licht über den fahlen, lang gestreckten Stränden, an die Möwen und Kormorane, die den blassblauen Himmel sprenkelten, an das Dünengras, das sich im Wind bog, an die Strandkörbe voller Menschen, die von Kindern und Sandburgen umringt waren, und nicht zuletzt an das Salz auf den Lippen und die Reflexionen der Sonne auf den tanzenden Wellen.

Einige Tage zuvor

Als Jule am frühen Morgen gegen fünf Uhr das Fenster öffnete, schlug ihr ein fantastischer Duft entgegen. Es war eine Mischung aus Algen, der leichten Modrigkeit von Schilf, frischen Brötchen und Kaffee, und als sie die Nase noch länger in den schwachen Wind hielt, der vom Peenestrom herüberwehte, kam noch salziger Fisch hinzu. Vermutlich wurde gerade irgendwo in der Nähe ein Markt aufgebaut. Der Himmel war klar und hell, ein paar Schleierwolken lösten sich im Blau auf, als wollten sie unsichtbar werden, um ihre Existenz zu verbergen. Wie ruhig es war! Möwen und Enten waren zu dieser Stunde geschäftiger als die Menschen, sie stritten um Reviere und putzten sich heraus für den kommenden Tag. Nur wenige Meter von Jule entfernt balancierte eine Katze elegant und selbstbewusst auf einem Dachfirst.

»Hey, Mieze!«, rief Jule und streckte die Hand aus.

Doch das Tier interessierte sich nicht für sie. So war es richtig. Warum einer hungrigen Katze die Fingerkuppen entgegenstrecken, ihr Hoffnung machen und dann nichts anzubieten haben als Fingerkuppen. Sie sah dem Tier nach, bis es zwischen den Mauern und Ziegeln verschwand.

Sie duschte und kämmte sich minutenlang das blonde Haar. Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, es abschneiden zu lassen. Denn es forderte viel Aufmerksamkeit, kostete Zeit. Noch vor einem halben Jahr war sie stolz auf ihre langen Haare gewesen, aber vor einem halben Jahr war eine Ewigkeit her.

Aufgeregt war sie gar nicht, was sie seltsam fand, da ihr die bevorstehende Wanderung viel bedeutete. Sie hatte die Tour unbedingt machen wollen. Ihr Vater hatte ihr andere Vorschläge unterbreitet – Mauritius, die Rocky Mountains, die Kalahari, Singapur –, doch ein klassischer Urlaub, so exotisch er auch sein mochte, sprach sie nicht an, und als er wissen wollte, warum, war sie unfähig gewesen zu antworten. Er hatte es geschluckt. Dieser Urlaub war der ihre. Genau genommen war es gar kein Urlaub.

Sie zog eine bequeme Hose an, dreiviertellang, warf sich ein T-Shirt über, band die Wanderschuhe nicht zu eng und stopfte die letzte Lücke im Rucksack mit ihrem Kulturbeutel, bevor sie die zwei Treppen hinunter zum Frühstücksraum ging. Oma Elsi war als Einzige schon da. Jule hatte ihr insgeheim diesen Spitznamen gegeben, frech, aber zutreffend. Dass sich jemand mit über sechzig Jahren noch diesen Strapazen aussetzte, damit hätte Jule nicht gerechnet. Sechzig war für sie unendlich weit weg. Ihre Großeltern hatten diese Marke alle bereits überschritten, und von denen legte keiner eine längere Strecke zu Fuß zurück als zum Sonntagsbraten im Gasthof und wieder nach Hause. Das Wandern lag nicht in Jules Familie. Das war einer der Gründe, weshalb sie nur mit ihrem Vater unterwegs war, wenngleich nicht der wichtigste.

»Guten Morgen«, sagte sie und setzte sich Oma Elsi gegenüber an den hellen Holztisch. »Oder haben Sie den Platz für Ihren Enkel gedacht?«

»Yannick würde sich notfalls auch unter den Tisch setzen«, scherzte sie. »Um das gleich mal zu klären … Wir duzen uns hier alle.«

»Ja, natürlich. Ich muss mich erst noch daran gewöhnen, Fremde zu duzen, die viermal so alt sind wie ich … sorry.«

»Alles gut. Wir bleiben uns nicht lange fremd, wirst sehen.« Sie zwinkerte Jule zu. Überhaupt zwinkerte sie oft, und nicht jedes Mal aus gutherziger Laune. Es schien vielmehr eine Macke zu sein, ein Ausdruck von … Ja, wovon eigentlich? Jule suchte das passende Wort. Strom, das war es. Oma Elsi stand unter Strom, und das bestimmt nicht nur an diesem Morgen. Alles an ihr war schnell: wie sie aß, wie sie am Frühstücksbüfett vorbeifegte und den Teller füllte, wie sie Kaffee holte und einschenkte, wie sie in ihren Taschen herumnestelte … so, als hätte jemand die Vorlauftaste gedrückt.

»Mit so jemand Jungem bin ich noch nicht auf Tour gegangen«, sagte Elsi nun. »Begleitest du deinen Vater oder er dich?«

»Er mich, sag ich mal.«

»Aha. Und was gefällt dir am Wandern?«

»Weiß nicht. Hab’s noch nie gemacht und Papa auch nicht. Er ist eher der Jogger.«

»Ach, das wird schon. Wenn du eine Frage hast oder einen Tipp brauchst, immer an die Elsi wenden.« Sie trank einen Schluck Kaffee. »Immer an die Elsi wenden, ja?« Sie trank noch einen Schluck Kaffee. »Ja?«

»Na klar.«

»Ich bin immer für euch da. Sag das auch deinem Papa.«

»Na klar.«

»Wir kriegen das hin.«

»Sicher.«

»Das wird schon.«

Ja, dachte Jule, ist ja gut, ich hab’s gecheckt.

Jules Vater war der Nächste, der im gut gefüllten Frühstücksraum eintraf, zusammen mit Biskuit, der seinen Namen wegen der Butterkeksfarbe seines Fells erhalten hatte. Der Labrador war fünf Jahre alt und seit viereinhalb Jahren Teil der Familie, von allen innig geliebt. Jule kraulte ihn im Nacken, er hechelte sie dankbar an und legte sich brav zwischen sie und ihren Vater.

In schneller Folge trudelten auch die Mona Lisa und die verklemmte Zopf-Frau aus Bayern ein, es fehlten nur noch Sloppy Joe und Oma Elsis Enkel, der Freak. Damit hatten sie alle ihren ironischen Stempel weg, jedenfalls fürs Erste, und Jule fand, dass die Ausbeute an Buntheit in der Truppe nicht schlecht ausfiel. Sie hatte sich die bevorstehende Wanderung von Anfang an als lebendigen Trip vorgestellt. Nichts war schlimmer, als wenn sieben Leute sich gemeinsam langweilen, und das kam öfter vor als gedacht.

Sloppy Joe kam um fünf vor halb acht und sah aus, als sei er das letzte Mal zu seiner Schulzeit so früh aufgestanden.

Demonstrativ blickte Jules Vater auf die Uhr. »Wir wollen in fünf Minuten los.«

»Jetzt trinke ich erst mal ’nen Kaffee. Vorher bin ich zu nix zu gebrauchen.«

Jule kannte ihren Vater gut genug, um zu wissen, welche Bosheit ihm gerade auf der Zunge tanzte: hinterher auch nicht. Doch er war auch deswegen der jüngste technische Leiter der Konstruktionsabteilung seiner Firma geworden, weil er die meisten Bosheiten herunterschluckte, bevor sie Schaden anrichten konnten. Die meisten …

»Wenn Yannick nicht pünktlich ist, bekommt er eben kein Frühstück«, sagte Elsi. »So einfach ist das. Punkt.«

»Ich gehe ihn mal holen«, sagte Jule.

Ihr Vater meinte zwar, das sei nicht ihre Sache, aber Jule setzte ihr Vorhaben unbeirrt in die Tat um, und Biskuit entschied sich, sie zu begleiten.

Yannick hatte sich im Zimmer neben ihrem bis tief in die Nacht Internetvideos reingezogen und Spiele gezockt, stundenlanges Geballer war durch die dünnen Wände gedrungen, bis Jule irgendwann eingeschlafen war. Und er wohl auch.

Nachdem sie an seine Tür geklopft hatte, brauchte er eine Minute, um zu öffnen. Er trug nichts als eine karierte Boxershorts.

»Fuck«, murmelte er. »Verschlafen?«

»Ich stehe bestimmt nicht vor deiner Tür, um dich zu verführen«, sagte sie. »Wenn du dich beeilst, kannst du dir noch eine Stulle grapschen, bevor es losgeht. Sloppy Joe ist auch erst superspät runtergekommen, das ist dein Glück.«

Er lächelte über ihren kleinen Scherz. Gleich darauf stürzte er zum Bett, wo er sich die Klamotten von gestern überwarf. »Fucking Trekking.«

Sie machte ein paar Schritte ins Zimmer hinein. »Warum bist du hier, wenn es dir nicht gefällt?«

»Hab Mist gebaut, und das ist meine Strafe.«



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