Der Kybernetiker - Friedhelm Tonk - E-Book

Der Kybernetiker E-Book

Friedhelm Tonk

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Beschreibung

In der zweiten Lebenshälfte zieht der Protagonist Bilanz und analysiert seine berufliche Laufbahn und die bisher gescheiterte Suche nach der großen Liebe. Er beschreibt seine Entwicklung vom technisch interessierten Jungen zum erfolgreichen Sach­verständigen für Industrieanlagen und Autos und seine Schilderungen technischer Zusammenhänge lesen sich so spannend und anschaulich, dass man das Buch um einiges klüger geworden aus der Hand legen wird. Dem Scheitern seiner Beziehungen zu wunderbaren Frauen spürt er mit demselben analytischen Denken nach, mit dem er auch seine Gutachten erstellt. Erst durch eine Zufallsbekanntschaft erkennt er, dass die Idole seiner Jugend ihn dazu verleitet haben, so hohe Ansprüche an seine Partnerin zu stellen, dass jede Frau durch dieses Raster fallen musste.

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Seitenzahl: 549

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Friedhelm Tonk

Der Kybernetiker

Plötzlich und unerwartet verliebt

Roman

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2022 by R. G. Fischer Verlag

Orber Str. 30, D-60386 Frankfurt/Main

Alle Rechte vorbehalten

Schriftart: Times New Roman

Herstellung: rgf/bf/1B

ISBN 978-3-8301-9507-8 EPUB

INHALT

Vorwort

1.Spiel mit mir

2.Das Glück, wie es hätte sein können

3.Salz auf unsere Haut

4.Das Motorrad

5.Der Schaum aller Tage

6.Tatsachen des Lebens

7.Extrem laut und hautnah

8.Ich kann alles

9.Kleinstes gemeinsames Vielfaches

10.Nur Rosen als Stütze

11.Anleitungen zum Unglücklichsein

12.Abgesang

13.Wuppertaler Platt

VORWORT

Sprache beschreibt Zustände und hilft Sachverhalte mittels bestimmter Begriffe begreifbar zu machen. Ihre Form entspricht unserer gedanklichen Struktur. So entsteht Kommunikation. Glücklicherweise entwickeln sich die gesellschaftlichen Zustände, und zwar auch dadurch, dass sich die Widersprüche zuspitzen. Damit ändert sich unser Denken und damit wiederum unsere Sprache und auch wie wir miteinander umgehen.

Den gegenwärtigen Fortschritt bei der Gleichberechtigung wünschen sich viele engagierte Leute in Reden und Texten wiederzufinden, was bisher zu praktikablen, allerdings auch unmöglichen Wortgebilden geführt hat. In den kritischen Kommentaren liest man von Genderunfug oder sogar Sprachterror.

Übersensibilisiert bildet sich Widerstand, viele möchten nicht zu einer vermeintlich korrekten Rede gezwungen werden und nicht Elementares neu lernen. In der Vergangenheit schloss die männliche Form des Wortes die Frauen mit ein.

Wer nun die grundsätzliche Form des gendergerechten Ausdrucks propagiert, ist vermeintlich linguistisch nicht ganz auf dem Laufenden. Das Geschlecht von Wörtern, ihr Genus, ist eine Formalie, die mit dem Geschlecht, dem Sexus der Menschen nichts zu tun hat. Ich habe bewusst auf ähnliche Konstruktionen in diesem Buch verzichtet, weil keine gängige Lösung in Sicht ist. Obwohl ich mir bewusst bin, dass gerade das Gebiet der Technik eine Domäne der Männer ist. In den allermeisten Fällen sind die Frauen, und nicht nur beim Motorrad, auf den Sozius verbannt.

Das so bezeichnete generische Maskulinum berücksichtigt alle Geschlechter, wir müssen es diskutieren, aber nicht vor Gericht zerren, es kommt auf den gesellschaftlichen Wandel an. Der derzeitige Unsinn dieses satzgestalterischen Slaloms verhunzt manche Texte oder Reden bis zum Unverständnis. Mann/Frau versucht mit untauglichen Mitteln einen gesellschaftlichen Zustand festzuschreiben, der lediglich auf bestem Wege ist, aber noch einer geruhsamen Entwicklung bedarf.

Das lenkt vom Wesentlichen ab. Das ist Energie am falschen Platz. Manch einer bemängelt gerne und rückt sein Fortschrittsbewusstsein in den Vordergrund, dann ist es nicht mehr weit von der Mitgliederin bis zur Kugelschreiberin. Und was ist mit Herrentorte, Zugehfrau, Bauherr, Mutterboden, Vaterland, schwanzlos, Schwanzlurch? Ist herrlich und fraulich identisch?

Muss die Losung der Französischen Revolution von 1789 der heutigen Situation angepasst werden in Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit? Bei vielen jungen Leuten gilt diese Akribie als warzig. Die Entwicklung hat auch eine politische Dimension. Eine gerechtere Sprache schafft noch lange keine redlichere Gesellschaft. Ich möchte diese Spaltung in immer kleiner werdende Gruppen mit Eigeninteressen unter Verlust der bindenden Gemeinsamkeiten nicht stützen. Unsere gesellschaftliche Struktur hat andere Probleme als sich vordergründig der Minderheitenprobleme anzunehmen.

In diesem Buch möchte ich allen Personen, unabhängig von ihrem Geschlecht, respektvoll begegnen. Ich favorisiere keine der orthografischen Varianten, werde mich bemühen, geschlechtergerecht zu formulieren. Dem besseren Verständnis und der Lesbarkeit zuliebe wird im weiteren Verlauf aber der gewachsenen Alltagssprache Ausdruck verliehen.

Ich unterstütze es, alle Menschen als selbstverständlichen Teil der gesellschaftlichen Normalität anzuerkennen und zu respektieren.

1. SPIEL MIT MIR

Es war ein geruhsamer Tag. Auf der rechten Spur der Autobahn war ich unterwegs zum nächsten Wochenendseminar Schadenskompatibilität und Kraftfahrzeugbrände Teil II in Kiel. Ich fuhr entspannt, weil ausreichend Zeit eingeplant war. Aus den Augenwinkeln merkte ich rechts neben mir auf der Einfädelspur ein helles Kabrio.

Der Blick in den Rückspiegel bestätigte einen größeren freien Bereich hinter meinem Fahrzeug, so dass ich vom Einfädeln des Fahrzeuges hinter mir ausging.

Ganz im Gegenteil dazu beschleunigte das Kabrio, blinkte und zwängte sich vor mich, ich musste deutlich vom Gas gehen. Wenn ich nicht so ein großes Herz hätte, hätte ich mich aufgeregt, ließ mich aber zu keiner Reaktion hinreißen.

In einer späteren Situation – der Verkehr floss flüssig, die Fahrspuren waren frei – fuhr ich auf der linken Spur auf eben dieses Kabrio auf.

Trotz des Windshots waren im Luftzug flatternde Haare zu erkennen sowie an der Kontur links neben der Kopfstütze die Beschäftigung der Fahrerin mit einem Handy-Telefonat.

Klar, dass diese Jungerwachsene jetzt nicht auch noch auf den rückwärtigen Verkehr achten und damit das Verlassen der Überholspur berücksichtigen konnte.

Ich blieb gelassen im Normalabstand hinter dem Kabrio. Nach fünf Minuten gab ich doch einmal ein Lichtzeichen und nach weiteren gefühlten zehn Minuten eine ausführlichere Lichthupe, ohne Erfolg. Meinem Überholbegehren verschaffte ich mit einem kurzen Doppelklanghorn Ausdruck. Ah, jetzt – aufmerksam geworden, fuhr sie auf die rechte Spur.

In Erwartung eines entschuldigenden Schmerzensblickes, eventuell gepaart mit einem verstörten Gesichtsausdruck, hervorgerufen durch die inneren Telefon-Dämonen, hätte ich dann gern zurückgelächelt.

Hoppla, vielmehr erfolgte der mehrfache deutsche Autofahrergruß mit Zeigefinger an die Stirn, hätte nicht wissen wollen, was einem Lippenleser nun mitgeteilt wurde.

I don’t care. I love it. Ich schaute wieder geradeaus auf meine Fahrspur, um dem Repertoire weiterer Zornausbrüche zu entgehen. Wahrscheinlich ein Einzelkind, allein erzogen oder ins Internat abgeschoben, möglicherweise ein Autobahn-Trauma, weil die Eltern es einmal auf einer Raststätte vergessen hatten.

Vermutlich folgte anlässlich des ersten Klassenbucheintrages die Beschwerde der Mutter, Bedrohung und körperlicher Angriff auf die Lehrkräfte. Schwere Kindheit, mit einem Kinderzimmer in der Angebot-Phalanx eines Spielzeug-Supermarktes, von der Mutter maximal betreut mit gluckenhafter Zuneigung. Gleichwohl hatte sich die Mutter intensiv um das Kind gekümmert, damit es sich selbstständig entwickeln kann.

Heute war die junge Frau raus aus diesem trauten Familienidyll, allein gelassen, die Verbindung in das Sicherheitsnetz der Freunde und Verwandten nur noch durch die kalte Elektronik am Ohr möglich.

Mit der Muttermilch wurde freilich auch das undifferenzierte Loben eingesogen, mit der Folge eines falschen Selbstbildnisses. Eltern verherrlichen, was immer so ein Fratz produziert, Gekritzeltes oder Gitarrengeklimper. Bunte Klebefiguren wurden gleichsam als die blaue Phase von van Gogh interpretiert. Dann die weitere Fehlentwicklung durch die Frauenquote, Frauenparkplätze, vielleicht eine Linkshänderin im Bewusstsein eines Sonderstatus. Im Vergleich mit gleichaltrigen Berufskolleginnen mittlerweile verunsichert, fühlte sie sich zurückgedrängt, erkannte ihren Gewinn- und Vorwärtsdrang, sah die falsche Auslegung der Feminismusbewegung, unsozialer geht immer, erstaunliche Kampfqualitäten auch.

Die Katastrophe war programmiert, diesem hochbegabten Wunderkind war vor kurzem überraschend klar geworden, dass die erbrachten Spitzenleistungen nicht wirklich jemanden interessierten. Wahrscheinlich war sie für die Rekonvaleszenz unterwegs ins Schweigekloster, Pilates-Seminar oder Schwitzzelt.

Vermutlich lag ich aber auch damit falsch. Sie würde ihre engste Vertraute – natürlich immer noch ihre Mutter – in die Shoppingmall bestellt haben, um ein bisschen Jogging durch die Boutiquen, die Outletstudios und den Coiffeur zu machen (in dem lebensbedrohlichen Fall einer Falschnuancierung des Haarfärbemittels wird dann der Polizeinotruf gewählt), um anschließend gemeinsam eine Sprechstunde wahrzunehmen für eine Korrektur-OP oder Fertilisation. Und die Mutter würde sie begrüßen: »Ach du, mein Juwel, bist doch meine einzige Prinzessin.« Und kürte sich damit selbst zur Königin des Zwergstaates. Ein überschaubares Beziehungs- und Entwicklungsmuster.

Meine Gedanken flogen mir nur so durch die Stirn, als ich mich auf die rechte Spur zurückfallen ließ.

Wieso hatte ich meinem Ärger über dieses verkehrswidrige, unsoziale Verhalten und die naive Selbstbehauptung nicht einfach Luft verschafft? Und warum sah ich mich jetzt diesem Zwang ausgesetzt, inmitten einer Unüberschaubarkeit der Situation wieder eine bestmögliche Entscheidung treffen zu müssen?

Viel zu häufig war ich damit beschäftigt in meinem beruflichen Leben alle möglichen Ansprüche an Karriere oder die gesellschaftlichen Ideale mit meinem eigenen Dasein abzugleichen.

Während einer Konferenz bat mich mal mein damaliger Chef ein vorbereitetes Papier von seinem Schreibtisch zu holen. Weil ich es nicht direkt fand, öffnete ich seine Schreibtischschublade und sah dort mehrere stahlharte Aufputschmittel wie auch mehrere Sorten Zigaretten.

Ein Mann in hoher Verantwortung für Millionenumsätze des Konzerns. Sein innerster Zwang nach Autorität und Führungsposition passte wohl bestens in diese Ellenbogenwelt des Managements. Ich sah die Paarung von Ehrgeiz und Genialität, was in dieser Position selbst mit psychopathischen Zügen jemanden sehr weit bringen kann. Die Angelegenheiten der Mitarbeiter waren ihm ziemlich egal, es zeigte sich kein soziales Verantwortungsgefühl, dafür umso mehr die überhöhte Leistungsabforderung, was automatisch die Grenze zwischen Beruf und Familie verwischte. Diese Manager sind aufgerieben zwischen Fachkongressen, Pressemitteilungen, Coachingstunden und Therapiesitzungen. In ständiger Befürchtung die Projekte an die Anbieter aus den USA, Shanghai oder Japan zu verlieren. Ich sah seine physische Überlastung, die sich immer wieder in beständigen Zuckungen der Augenlider und Mundwinkel äußerte.

Ein hoher Stresspegel. So wollte ich nicht werden. Aber damit sollte ich noch konfrontiert werden.

Ich schaffte es, in diesem Moment, mit der Erinnerung – an die damalige Entscheidung als Manager in Rio – diesen Lebensabschnitt effektiv zu beenden und mir Selbstbestätigung und Ausgeglichenheit zu verschaffen.

Nach meiner durch ein Nicken bestärkten Zustimmung galt meine Aufmerksamkeit wieder dem fließenden Verkehr und der inneren Vorbereitung auf das Seminar.

Der Veranstalter des Seminars hatte ein großzügiges Hotel unmittelbar an einem Schifffahrtskanal ausgewählt, mittelgroße Frachter, beladen mit Containern oder großvolumigen Transportkisten zogen vorüber. Mehrere kleine Segelboote mit GfK-Rümpfen und Holzaufbauten waren an der Mole festgemacht. Ein schöner, ungewöhnlicher Anblick für einen Großstadt-Menschen. Nach der Ablage des Gepäcks im Zimmer machte ich mich erstmal mit den Gegebenheiten im und ums Hotel vertraut. Ich lockerte mich ein wenig im Fitnessraum und wählte dann zwei entspannte Saunagänge. Da sonst niemand anwesend war, konnte ich verschwenderisch mit dem Aufgusswasser umgehen. In diesem Holzkübel waren ätherische Öle eingetropft, die meinen geschundenen Atemwegen gut taten. Die nach dem Aufschütten wallenden Wrasen hinterließen ein brennendes Prickeln auf der Haut, meinem deutlichen Ausdruck des Wohlbefindens gab ich Luft. Ich duschte mich kalt ab, legte mich im Bademantel in den Ruheraum, und schloss mit einem kühlen Bier in dem dem Saunabereich eingebundenen Bistro ab.

Die Thematik des Seminars am nächsten Morgen war nicht so spannend und der vortragende Ingenieur schaffte es leider nicht, die Teilnehmer einzubinden und größere Wissbegierde zu wecken. Ich war seit einigen Jahren ein öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für Kraftfahrzeugschäden und Bewertungen, arbeitete insbesondere für die Instanzgerichte und musste turnusmäßig die Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen vor der IHK1 nachweisen. Deswegen belegte ich auch manchmal Seminare, die dann leider keine wesentlich neuen Inhalte vermittelten. Ich wusste bereits, dass zur Entstehung eines Brandes in einem Fahrzeug drei Dinge zusammentreffen müssen: brennbares Material, Sauerstoff und eine Zündquelle. Es war mir auch nicht fremd, dass gerade bei Kaskoschäden die Materialien auf Brandbeschleuniger zu kontrollieren sind und eine auf einem Fahrzeugsitz abgelegte Kippe, bei der Verwendung moderner Textilien für die Sitzbezüge, kaum einen fortschreitenden Brand verursachen kann. Aus der Blickrichtung eines möglicherweise selbst initiierten Fahrzeugbrandes und dem Versuch eines Versicherungsbetruges, um die entsprechende Summe des Fahrzeugwertes von der Versicherung zu kassieren, ist also auf die entsprechenden Untersuchungen und die informativen Kriterien zu achten.

Ich saß also etwas interesselos in dem mit ca. 25 Teilnehmern und auch angehenden Sachverständigen gefüllten Saal, als die beständige Nachfragerei hinter mir mich zu irritieren begann. Ich drehte mich ein wenig zur Seite, um den Vorgang etwas näher einzusehen. Da saß ein Hüne von Mensch mit Schreibblock und bedrängte die neben ihm sitzende junge Frau sowohl mit Verständnisfragen zum Thema, wie auch nach ihrer persönlichen Situation – aus welcher Stadt sie denn komme und ich hörte auch irgendwas von Technik sei schwer verständlich und wie es ihr denn damit ginge.

In der nächsten Kaffeepause suchte ich einige mir bekannte Kollegen auf und tauschte mich ein wenig mit ihnen über die Auftragssituation aus. Aber ich wollte auch noch eine Zigarette rauchen, begab mich nach draußen, wo gerade mehrere Ausflugsschiffe mit Partystimmung vorbeifuhren. Ringsum hatten nun auch andere elegante Plattbodenschiffe oder umgebaute frühere Butterschiffe festgemacht. Ich begeisterte mich für die präzise renovierten Holzaufbauten, mit Intarsien und Messing-Applikationen, die ordentlich gerefften Segel, die blanke Reling, die symmetrisch gerollten Reeps, als mir die etwas abseits stehende junge Frau von eben auffiel.

Sie war nach meinem Kennerblick geschmackvoll gekleidet, wenig farbintensiv, schulterlange dunkle Haare, Kostüm und halbhohe Schuhe.

Wir begrüßten uns, hatten ja auch noch das Namensschildchen angeheftet, sie trug es lässig am Taschenaufschlag ihres boleroartigen Jersey-Blazers, Sophie.

»Da hatten Sie aber einen Conférencier neben sich …«

Sie lachte etwas lauter als ich erwartet hatte und schaute sich dabei nach rechts und links um.

»Ja, ich glaube, ich muss mich gleich woanders hinsetzen.«

Sie strahlte etwas Unruhiges aus und stützte meine Einschätzung, indem sie ihre vier Finger jeweils über dem Ohr in ihre Haare drückte und mit mehreren feschen Bewegungen ihre Haare auflockerte.

Jetzt hatte ich einen Moment Zeit, die edle Aussage in ihrer weiblichen Silhouette zu bemerken. Es war ein leicht taillierter Kurzblazer mit lediglich angedeuteten Revers in einem Rundhalsausschnitt. Und dann der Rock, wow, brachte Stil und Bewegung in Einklang. Mit seinem Pencilstyle wurde erst recht diese feminine Linie unterstrichen.

Jetzt schaute ich an mir herunter, die weiße Jeans und das dunkle Jackett im Stil von David Hemmings im Film Blow Up, auch nicht schlecht.

Bei ihren letzten Worten schwang sie ihren Kopf kurz, aber energisch, mit einer hastigen, intuitiven Bewegung zur Seite, um eine imaginäre Haarsträhne aus dem Gesichtsfeld zu schaukeln. Es war ähnlich einem Moment des Nachdenkens, wie ein eingeworfenes Hmh oder Äah, damit die Gedanken ein wenig Zeit haben sich zu sammeln.

Ihr Rock war dermaßen eng, der musste doch …? Ja klar, einen rückseitigen Gehschlitz haben, um überhaupt eine einigermaßen realistische Schrittlänge hinzubekommen.

Und natürlich, die Farbgebung war Ton in Ton mit nur in Nuancen erkennbaren Nadelstreifen.

Ich erklärte kurz, dass ich ein Sachverständigenbüro in Köln hatte und mich für ein bisschen Weiterbildung interessierte. Sie erklärte, nach dem Studium in einem sehr großen Büro für die Analyse von Kraftfahrzeugunfällen in München als einzige Frau angestellt und für Wege-Zeit-Diagramme verantwortlich zu sein.

Ich fragte, wie es ihr denn ginge in diesem Männerkartell, sei es normaler Grundrhythmus oder durchaus auch mit α-Wellen? Sie konterte, dass die Sachverständigen die eigentlich wahren Künstler seien. Aus manchmal sehr dürftigen Angaben in den Gerichtsakten würde an die Ingenieure die Anforderung gestellt, ihre Ergebnisse mit großer Sicherheit zu generieren. Ich hätte das bestätigen können, weil es häufig darauf ankam, nicht nur die individuellen Wahrnehmungen und Darstellungen der klagenden Parteien zu analysieren, sondern auch die bewusst falschen Angaben durch die entstehenden Widersprüche herauszufiltern. Ich unterließ es aber, um der Entwicklung in ein Fachgespräch entgegenzuwirken.

Durch die großen Fenster des Hotels sah ich, dass sich die meisten Seminarteilnehmer schon wieder im Veranstaltungsraum eingefunden hatten, fragte schnell, ob sie heute Abend auch in die Sauna gehen würde, was ich im selben Moment bereute, da sie deutlich verneinte und dabei mit ihrem Handrücken über meinem Unterarm strich.

Wir gingen zusammen rein und sie setzte sich neben mich, ich registrierte das als sehr angenehm. Während der Fachvortrag sich so dahinschleppte, machte ich mir nur wenige Notizen, beobachtete aber, dass sie gelegentlich, insbesondere bei speziellen Inhalten, wie exotherme Reaktion – schwerentflammbare Innenauskleidung – Brand-Entstehungsort etc. auf meine Aufzeichnungen schaute.

Ich suchte nach meiner Tapferkeitsmedaille und schrieb kühn auf meinen Block nachher den Hunger gemeinsam stillen? Sie schrieb ein schwungvolles Jou auf ihre Notizseite und hielt diese schräg zu mir rüber. Ich freute mich auf einen netten Abend mit begrenzten fachlichen Inhalten und ansonsten viel Differenziertheit in der Sensorik.

Das Seminar mit den verschiedenen Dozenten, Overhead-Projektionen aus dem Laptop und nur zum Teil interessanten Diskussionsbeiträgen schleppte sich zum Ende. Ich war froh diesmal weniger die so genannten Co-Referenten ertragen zu müssen, die bei solchen Gelegenheiten gerne ihr eigenes Ego mit irgendwelchen Pseudoerkenntnissen streicheln müssen und einen minutenlangen Vortrag halten. Filibustern nennt man das. Das kann man dann meist schon im Ansatz erkennen, wenn derjenige einen Zettel in der Hand haltend aufsteht und meist beginnt mit: »Mir ist da mal folgendes passiert …«

Wie oft habe ich dann einfach gesagt: »Stellen Sie jetzt bitte Ihre Frage.«

Meist setzten sich die Leute dann leicht verwirrt wieder hin, manchmal erhielt ich eine nickende Zustimmung meiner Kollegen. Das erinnerte mich wiederholt an den scholastischen Ablauf, wo immer die gleichen Schüler am Ende der Stunde oder nach der Klassenarbeit zum Lehrer nach vorne gingen, um sich irgendwie einzuschmeicheln.

Wir trafen uns gegen 19:00 Uhr im Restaurant des Hotels, ein junger Kellner erklärte uns das heutige Angebot. Wir beschränkten uns auf 2 kleine Gänge, er winkte den Sommelier herbei, der uns unter vielen anderen einen französischen Rosé empfahl.

Sie stand auf, um vom Nebentisch eine kleine Veilchenvase gegen das etwas dröge Exemplar unseres Tisches auszutauschen. Ich mutmaßte in ihrem Blick eine gewisse Traurigkeit und zielte: »Noch in der Trennungsphase? Bist du noch in der Schonzeit oder ist es schon Zeit?« Sie schenkte mir ein Lächeln und erzählte von einer schwierigen Klärungsphase vor einigen Monaten, dem Aufeinanderprallen gegensätzlicher Interessen, der aber doch liebevollen und harmonischen Zeit miteinander. »Ja, die Atmosphäre hier am Tisch birgt für mich einige Erinnerungen.« Ich kommentierte das nicht, sah aber die Schwermut in ihrem Gesicht. Wir blieben in einem allgemeinen Gespräch und ich empfand ein gewisses Vertrauen in unserem Austausch. Wir hatten uns reichlich Zeit gelassen, insbesondere hatten wir uns über Emotionalität und die Basis einer funktionierenden Beziehung ausgetauscht.

Wenn du einen Menschen ansiehst, siehst du nur die Hälfte von ihm. Also wollte ich noch etwas über ihre Denkfundamente erfahren: »Hast du das eigentlich verfolgt, wie das mit den schwarzen Kassen und den Schmiergeldzahlungen war?«

»Ja, am Rande, war das nicht damals im Zusammenhang mit Waffenlieferungen an Saudi-Arabien?«

»Kohl hatte damals angeblich nichts von Spenden gewusst und musste doch später die Existenz dieser Konten zugeben; soweit ich weiß, ging es um Millionenbeträge, die an den Büchern vorbeigegangen sind.«

Ich bemerkte ihre leichte Irritation, diesmal fasste sie sich instinktiv in ihre Bluse, um einen Träger geradezurücken, ich wollte diese brisante Ebene verlassen, hatte aber ein warmes Gefühl, ihre Gestik fand ich feminin und reizvoll, mittlerweile war es ca. 22:00 Uhr.

Wir wollten noch ein bisschen spazieren und gingen den Kai entlang, als uns ein größeres, fantastisch restauriertes Edelholzboot auffiel. An Bord gab es noch rege Aktivitäten.

Sie fragte: »Ein Zweimaster, ist das eine alte Kogge?« Ich wusste es besser, wollte allerdings nicht wieder mit Fachwissen glänzen. Im Zuge meiner beruflichen Aufgaben hatte ich nicht nur am Köln/Bonner Flughafen kleinere Flugzeuge, etwa aus Insolvenzen, zu bewerten, sondern im Yachthafen auch zahlreiche Motor- oder Segelboote aus gleichem Anlass. Der Auftrag kam dann entweder von den Banken als Kreditgeber oder von den Gerichten, z. B. im Zuge einer Erbschaftsauseinandersetzung.

Ich beschränkte mich auf eine einsilbige Erklärung, dass mit Kogge ein Segelschiffstyp der Hanse bezeichnet wurde, das für die Auseinandersetzungen der Hansestädte mit Piraten oder auch als Kriegsschiff eingesetzt wurde. Es hatte nur einen Mast und ein Rahsegel. Die hölzernen Planken waren mit Pech und Werg abgedichtet und die umgeschlagenen Nägel zur Befestigung nannte man Spieker. Historische Funde belegen, dass es diesen Schiffstyp schon ca. 1000 n. Chr. gegeben hat. Nein, es handelte sich um eine Brigg, ein 2-mastiges Segelschiff, das hat also wesentlich mehr Segel, die eine bestimmte Bezeichnung haben und nach einer straffen Regelung angebracht waren. Ein noch größerer Schiffstyp ist die Bark mit mindestens drei oder auch fünf Masten. Am vordersten Mast gibt’s das Rahsegel und am letzten das Schratsegel. Die Bark war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Hochseefrachtschiff weit verbreitet.

Wir hatten uns unterdessen dem Schiff genähert und sahen die großen Servierplatten, abgedeckt mit einem halbrunden Kunststoffdeckel, die auf der Kaimauer abgestellt wurden. Es war ein lauwarmer Abend in Sonnenuntergangsstimmung. Ich ging etwas hinter ihr und blickte wieder auf den leicht taillierten Blazer mit angedeuteten Schößchen und unterhalb … der Rock war so eng, ich sah die knopfförmige Kontur ihrer Strapse. Mmh, klassisch gut und sehr reizvoll.

Wir hörten Shanty-Musik und das Mitsingen der Leute, es wurde aufgeräumt und geputzt, Flaschen klirrten. Zwischen den Leuten und uns entspann sich ein flapsiges Gespräch derart, dass sie wohl für die wenigen Leute ein bisschen zu viel Versorgung eingeplant hätten.

»Ja, allerdings, wir sind ein Eventboot und hatten eine eintägige Ausfahrt für die Abteilung einer Hamburger Gewerkschaft, das ist leider alles übrig geblieben. Ach, setzt euch doch ein wenig hierher mit uns.« Einer rief einem Bönsel zu: »Eey, Piet, bring doch noch ein paar Flaschen mit.« Und schon saßen wir in der Runde blau-weiß gestreifter Hemden mit einem roten Halstuch, die Crew-Uniform. Jemand hob die Deckel der Silberschalen hoch und gab den Blick auf umfangreiches Fingerfood frei. Ich sah auf Anhieb Toastscheibchen oder Schwarzbrot mit Pastete, Räucheraal, Salami, Weich- und Hartkäse, Garnelen, Krebsschwänze mit den notwendigen Beilagen, wie Salatblätter, Peperoni, Oliven, Datteln usw. Zwischen diesen Schnittchen standen kleine Schälchen mit den unterschiedlichsten Dips.

Das sah so schön bunt, frisch zubereitet und lecker aus, dass jeder gleich mehrere Stücke in der Hand haltend weiter davon schwärmte, wie angenehm dieser Tag, das Wetter und die Gewerkschaftsleute gewesen seien. Irgendjemand drehte die Bordmusik etwas lauter, Korken ploppten und wir fanden uns mitten in einer behaglichen Nachfeieratmosphäre. Sie erzählten davon, das meiste in der großen Bordküche selber zubereitet zu haben, von der begrenzten Anzahl der Leute (die dann bei mehrtägigen Ausfahrten in den wenigen Hängematten poofen müssen), vom notwendigen Anpacken der Gäste an Bord, vor allem bei den Wendemanövern oder dem Straffen der Segel. Sie fingen an Zoten zu erzählen und beömmelten sich aus vollem Halse, die Stimmen überschlugen sich über die Leute, die bei entsprechendem Wellengang, unterstützt von genügendem Bier- und Weinkonsum, alles wieder auskotzten und zum Duschen unter Deck geschickt werden mussten. Wir beide waren ebenfalls lauthals begeistert, hatten wir doch zusammen mindestens eine Flasche geleert, waren zudem aber auch veranlasst, immer wieder andere Weinlagen zu kosten. Mit Interesse hatte ich verfolgt, wie sie es schaffen würde, sich mit diesem Rock auf die Kaimauer zu setzen. Mit gekonnter Eleganz hatte sie rechts und links den Rocksaum etwas nach oben gezogen, dies ließ einen weitergehenden Blick auf ihre Beine zu. Ich sollte nicht noch mehr Alkohol zu mir nehmen, damit alles im respektablen Rahmen blieb.

Die Stimmung war natürlich so, dass begonnen wurde Witze zu erzählen. Es war herrlich und auch fraulich.

Der Deckoffizier, mit drei Streifen auf dem Ärmel, erzählte von dem Taxifahrer, der von seinem Fahrgast auf die Schulter getippt wurde, daraufhin das Steuer verriss und beinah gegen ein Straßenschild gefahren wäre, sich dann umdreht und schreit: »Tun Sie das nie nie wieder!« – »Wieso denn, wieso?« – »Mensch, ich bin 20 Jahre lang Leichenwagenfahrer gewesen.«

Sophie erzählte von 2 Bengeln, die sich vor dem Standesamt postiert hatten und in dem Moment, als das sehr junge Paar die Treppe herunterschreitet, zusammen laut rufen: »Hallo Papa, Papa!«

Dann schaute die Runde auf mich, was ich beitragen könnte. Ich erzählte: »Mir ist es mal folgendermaßen passiert: Als die etwas derangierte Frau mit den 2 Einkaufstaschen und der großen Oberweite zu mir in den Aufzug stieg und mich bat, die 2 zu drücken, ist es irgendwie eskaliert.«

Allgemeines Gelächter, aber etwas zurückhaltend, war vielleicht schon etwas schlüpfrig oder manche hatten es im Dusel nicht verstanden. Die Ausgelassenheit wurde größer und die Reste auf den Serviertellern kleiner, mittlerweile waren diese zerpliesert.

Irgendwann machten wir uns auf, es muss ca. 2:30 Uhr gewesen sein, wurden lautstark verabschiedet: machet joot in Kölle, wir bekamen noch eine Werbepostkarte mit den Kontaktdaten der Reederei, ob wir noch eine Flasche mitnehmen wollten, tschüss, tschüss.

Unsere Zimmer befanden sich in unterschiedlichen Stockwerken, ich sagte, ich fahre noch mit hoch zu ihr in den vierten Stock und fügte nachdrücklich hinzu, dass ich das eine Stockwerk zu mir dann runtergehen würde. Wir standen oben im Flur, unsere Gesichter waren ca. 20 cm voneinander entfernt, ich konnte sie gut riechen, wir schauten uns in die Augen und blinzelten nur leicht mit den Lidern. Mir fiel ein, dass sich die Augenlider mit einer Geschwindigkeit von 300 km/h … ich strich diesen Gedanken mit dem Zeigefinger über meine Stirn weg, wie ein Bild auf dem Handy.

Day breakes and my heart aches.

Ich fragte sie: »Was ist mit morgen?«

»Ich hab einen Leihwagen, muss nach Hamburg zum Bahnhof, der Zug fährt irgendwann nachmittags.«

»Oh, da weiß ich was, lass uns beim Frühstück darüber reden, wir könnten schön picknicken.« Sie stimmte zu und ich sah wieder dieses vielsagende Lächeln in ihrem Gesicht.

»Sobald ich zum Frühstück gehe, lass ich zweimal dein Handy klingeln«, terminierte ich.

»Nein, ich brauche etwas länger für die Restaurierung, klingel, sobald du aufgestanden bist.«

Diese Vorgehensweise – es nicht zu versuchen – entsprach meiner Grundüberzeugung und auch den Abmachungen, die ich in jungen Jahren mit meinen Freunden als Feingefühl gegenüber den Mädels beschworen hatte.

Am Morgen stand sie dann vor mir mit streng nach hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengefassten Haaren. Ihre Lidschatten leicht gedunkelt, aber betont, mit dazu passendem Eyeliner, ihre Lippen in irresistible velvet mit hoher Deckkraft seidig glänzend, Nagellack in zartem Nude-Ton, knielanger Faltenrock mit kurzer hoher Taille sowie der Situation angemessene sportliche Schuhe. Ich liebte diese bewusste Fraulichkeit und sah die erotische Botschaft. Mit einem Lächeln gab es zur Begrüßung einen Wangenkuss.

Später erfuhr ich, dass der Lippenstift die Geschmacksrichtung Hibiskus hatte und kussecht war.

In Erwartung eines schönen Tages hatten wir nur ein flüchtiges Frühstück, packten aber in gemeinsamer Absprache vom Buffet ein wenig geröstetes Brot und Pastete in einer Serviette zusammen, um für das Picknick mindestens die Grundlage zu haben. Auch die weiteren Vorbereitungen für die Abreise, mit Koffer packen und auschecken, erledigten sich flüssig. Wir verstauten ihre Sachen in ihrem Leihwagen und waren schon kurz danach in meinem Auto unterwegs. Wir fuhren los in Richtung Sonne, etwas weiter außerhalb der Stadt wollten wir versuchen, in einem bäuerlichen Hofladen leckere Sachen zu kaufen.

»Wir sollten auf Schilder achten, wo Kartoffeln oder Gemüse zum Kauf angeboten werden, die werden sicherlich auch noch weitere Spezereien an diesem Sonntagmorgen haben.«

Es dauerte nicht lange, bis wir mehrere kleine, unbesetzte Karrenkioske am Straßenrand vorfanden. Wo es uns geeignet schien, bogen wir in Richtung Bauernhof ab und fanden zu unserer Freude einen geöffneten kleinen Laden.

Draußen standen Traktoren und landwirtschaftliche Maschinen, Hühner liefen ihrer Picklust hinterher. Es roch angenehm nach Pferdestall und feuchter Erde.

Drinnen waren alle Erzeugnisse eines selbstproduzierenden Bauernhofs vorzufinden. Als nach unserem Klingeln eine junge Frau erschien, war sie von unserer Idee ein Picknick zu gestalten ziemlich begeistert, machte ein paar Vorschläge und präsentierte sogar eine Flasche gekühlten Weißburgunder. Wir bekamen ein leeres Erdbeerkörbchen, konnten alles verstauen und waren kurz danach wieder Richtung Sonne unterwegs.

Wir sprachen uns ab, in irgendeinen Feldweg abzubiegen, fanden den auch rasch, nahmen die Auskleidung aus dem Kofferraum meines Autos und schon lagen wir in der Sonne eines weiten Getreidefeldes.

Natürlich hatte ich ein Leatherman in meinem Auto, um die Weinflasche zu öffnen. Die Situation war freilich für uns beide etwas ungewöhnlich und auch spannend.

Später pflückte sie eine Mohnblume und hielt sie staunend vor sich: »Die sieht so fantastisch aus und folgt mit der Anzahl der Blätter unabänderlich den Naturgesetzen. Wusstest du, dass alle Blüten eine ganz bestimmte Anzahl von Blättern haben? Ich glaube, da Vinci hat das herausgefunden, der hat sich so sehr an der Natur orientiert mit seinen Erfindungen.«

»Ja, es gibt eine so genannte Fibonacci-Folge, wo nach einer bestimmten geometrischen Regel die Summe zweier aufeinander folgender Zahlen jeweils die nächste ergibt. Also112358132134usw., das ist eine Art Wachstumsmuster der Natur.«

»Genau, daraus folgt z. B. die Anzahl der Blütenblätter. Und das steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Goldenen Schnitt.«

Diesmal nestelte sie an ihrer Bluse, erfasste mit zwei Fingern den unteren Rand ihres BHs, um diesen ein wenig gerade zu ziehen.

»Wie viele Wissenschaftler haben sich an dem Baukasten der Natur bedient, sie haben den Goldenen Schnitt herausgefunden, danach geht es ums Teilungsverhältnis von Strecken oder symmetrischen Größen, insbesondere kann das mit Zirkel und Lineal konstruiert werden.«

Ich wusste noch weitere Einzelheiten, während des Studiums hatte ich darüber in Seminaren gehört. In der Natur paart sich immer der geringstnotwendige Aufwand mit der größtmöglichen Effizienz, verkniff mir aber weitere Ausführungen. Die Nachweisbarkeit einer derart besonders ästhetischen Wirkung des Goldenen Schnitts ist in der Forschung umstritten, wie auch die historische Frage, ob dieser schon bei der Proportionierung von Kunst- und Bauwerken im Altertum eine Rolle gespielt hat.

So nahmen wir erst ein paar Schlucke und steckten uns gegenseitig Kleinigkeiten zu, wir hatten sogar Servietten dabei.

Meine sanfte Libelle fragte, was ich denn im Moment so lese.

»Es ist wahrscheinlich nicht viel anders als bei dir, die Fachliteratur überwiegt, das wöchentliche Nachrichtenmagazin stapelt sich manchmal, weil ich einfach nicht durchkomme. Manchmal lese ich immer noch und manchmal wiederholt Kosinski, Vian, Ruiz. Krimis lese ich nie, weil …«, sie unterbrach mich und mir wurde klar, dass sie eigentlich gar keine Antwort wollte. Nun lagen wir uns gegenüber auf der Seite, zwischen uns das Essensgemenge, ich legte mich auf den Rücken und hatte den fantastischen blauen Himmel, Geräusche eines flatternden Vogels, das Piepsen einer Maus in der Gerste, das idyllische Rauschen der Getreidehalme – als sie ein wenig näher rückte. Wir blickten uns unmittelbar in die Augen. Nein, es war nicht Shalimar oder Chanel, es war ihr eigener Duft, der mir durch die Nase bis in den Bauch kitzelte. Ich ließ ihre Haare durch meine Finger gleiten und massierte sie mit den Fingerspitzen im Nacken. Sie ließ ihren Kopf etwas nach vorne fallen, schloss die Augen und schwärmte, wie gern sie meine Hand auf ihrer Haut spüre.

»Wo möchtest du meine Hand fühlen?«

»Überall.«

Ich bemerkte, wie sie vermied konkreter zu werden, wollte sie schüchtern wirken?

Nun wollte ich wissen: »Welche Sprachen sprichst du eigentlich?«

»Ja, normal, Englisch und ein bisschen Französisch.«

Ich lächelte bei den Worten: »Nein, ich meine Körpersprache oder das Liebesvokabular.«

Sie stutzte: »Was meinst du damit?«

»Frauen haben so eine unglaublich körperliche Ausdrucksweise und Einflussnahme, um die Männer zu kitzeln, ich denke da zum Beispiel an das den Kopf in den Nacken legen oder sich bei einem Spaghettiträgertop in den Nacken fassen, für den freien Blick auf die Schulter und die Achsel. Sehr verführerisch ist auch zu sitzen, ohne die Knie aneinander zu pressen, das ist manchmal so ein starker Ausdruck, eine Mitteilung an das Gegenüber.«

»Ja, natürlich kenne ich das. Ich weiß doch genau, wann ich mir durch das Haar streichle, in welchen Farbkombinationen Schuhe, Kleidung und Lippenbalm zueinander passen, ob ich ein komplettes Make-up auflege oder ganz natürlich bleibe, welcher Nagellack zu welchem Termin oder Event am besten passt.«

»Und du kannst ganz genau abschätzen, welchen Effekt du erzielst oder erzielen willst?«

»Eine Frau weiß ihre Reize sinnvoll einzusetzen und sie braucht manchmal die Gewissheit, dass der Mann den anerkennenden Pfiff kaum unterdrücken kann.«

Sie hatte jetzt ihren Jersey-Blazer abgelegt, ich sah ihre enge, weiße Bluse und ihre Formen, sie lag wieder auf dem Plaid dicht neben mir.

»Gestern sah ich dich allerdings in gedeckten Farben und mäßigem Make-up, aber mit SSL.«

»Waaaas hast du gesehen?« Das Akronym kannte sie noch nicht.

»Dein Rock war so eng mit sichtbarer Sliplinie, das war auf der Hafenmole, ich konnte unterscheiden, ob du einen normalen Slip oder einen Tanga trägst.«

»Oh, du hast mir dauernd auf die Figur geguckt, ohne etwas dazu zu sagen?«

Bei diesem Anblick haben sich meine Augen in die Hände geklatscht, aber das sagte ich nicht.

»Du hast eine erdfern sportliche Figur, spielst du Tennis?«

Sie blickte mir wieder tief in die Augen und schürzte ein wenig die Lippen, als sie meine Wange streichelte, während meine Fingerspitzen ihren Haaransatz erreichten.

Ich registrierte schnell, es war weder ein Urwald, der bis in das nächste Trockengebiet reichte, noch ein geformtes Zahnbürstchen, vielmehr ein edles Dreieck.

Mir fiel ein:

In einem thermodynamischen System ist die Änderung der inneren Energie gleich der Summe der ausgetauschten Wärme- und mechanischen Energie.

»Ich wollte dich noch zu deinem Liebesvokabular fragen.«

Ich glaubte, bei der Erwähnung des Wortes Tanga wieder ein minimales Zucken in ihrem Gesicht und eine leichte Rötung bemerkt zu haben.

Ich finde es interessant, ob jemand eine moralische Verklemmung zeigt oder eine ehrliche Offenheit. Dann weiß ich auch etwas mehr über sexuelle Ansprüche und was ich später zu erwarten habe. In meinen Gedanken huschten die vielen Szenen vorüber, in denen manche meiner Freundinnen ihre Zärtlichkeit, ihr Begehren zu einem Kaum-Spürbaren formalisiert hatten und es kein erotisches Flüstern oder irgendeine Initiativkraft gab. Ich kenne nur wenige Familien, in denen ein liebevoller Umgang, Intimität, Leidenschaft und Zärtlichkeit thematisiert werden, in denen die Erwachsenen eben dies vorleben und den Kindern auch brisante Motive nahe bringen und in die gelenkte Erziehung einfließen lassen. Es geht um Wertvorstellungen, Aufklärung und Prävention. Diese Themen sollten kein Tabu sein. Der Mensch ist von Natur aus ein sexuelles Wesen und auch Kinder sollten schon früh in die Thematik eingebunden sein, Eltern sollten das aufgreifen und Fragen altersgemäß ansprechen.

In meinem Elternhaus gab es keine aufklärenden Gespräche. War die erste Freundin zum Kaffee eingeladen, verwirrte das meine Mutter: »Fritz, sag du doch mal was dazu.«

Meine Gedanken schweiften in meine Jugendzeit ab.

Ich gab ihr einen Kuss auf die unterdessen nackte Schulter.

Dann fiel mir ein: Sprich erst vor einem gediegenen Auto, wenn sich dessen Türen mit dem Geräusch eines Kusses auf eine nackte Schulter schließen lassen und wollte wissen: »Welche Worte benutzt du, ohne rot zu werden? Knackiger Po, Lügen-BH, Venushügel, Erotik, Schwanz, Vögeln, …«

Sie unterbrach mich jählings und wirkte brüskiert: »Also!«

War ich zu weit gegangen? Weil sie leicht überrascht etwas länger überlegte, ich schwankte immer noch, ob es eine gespielte Scham war.

Sie: »Wieso, ganz normal, Liebe machen, zärtlich sein, schmusen.«

Unterdessen gingen meine Fingerspitzen weiter auf Entdeckungstour, spielten in ihrem kräuseligen Haar und fanden das Zentralgestirn.

Ich wartete auf ihr Lächeln, sah die glänzenden Augen. Wir kletterten an einem silbernen Seil nach oben, ich spürte ihre willensstarke Hand und schloss die Augen und sie umhüllte mich in einen treibenden Schwindel. Es wuchs.

Sie öffnete sich für meine Hand, die lag jetzt reglos auf dem gekräuselten Hügel, ohne Ausrichtung auf ein Ziel, schwerelos. Es kitzelte in mir, wie das eine Feder auf der Haut auslöst. Zwei Finger lagen jetzt auf den feinen Muskeln ihrer Lippen und pausierten mit leichtem Druck, ich registrierte ihren Einspruch, aber nur einen leichten, weil es kein Sehen oder Hören gab, die Sinne waren dem Fallenlassen gewichen. Ich mag diese ungesteuerten Momente des Entschwebens. Ihr Atem war vor meinem Gesicht, er log nicht, erzählte von Wünschen und willkommenen Geschenken. Ihr Mund drückte einen Kuss auf meine Lippen und der Körper reagierte wie ein Schiff in den Stromschnellen und erinnerte sich an Vergangenes, wie beim Betrachten alter Bilder. Ein Rehkitz schaute aus der Niederung. Aber meine Hand blieb nur in der Nähe. Vertrauen. Ich ließ mich leiten von ihrem Rhythmus, ohne zu fragen hörte ich ihre Stimme. Chili begann durch meine Adern zu laufen, es pulste und rollte sich in mir.

Jetzt hatte ich mir ein wenig Feuchtigkeit von etwas weiter unten geholt und kehrte wieder zurück zu diesem lieblichen Rehlein, es war nicht mehr als eine würdevolle Begrüßung, als ich eine leichte Bewegung spürte, ihr Schoß drückte sich gegen meine Hand, eine Zeitlang.

Als sie begann sich etwas zu drehen, nahm ich sie flugs zurück. Sie winkelte ihr Knie an, kam halb auf mir zu liegen und flüsterte mir ins Ohr: »Weißt du, das hängt doch sehr davon ab, was eine Frau gerade erlebt hat und mit wem sie darüber spricht. Wenn ich mit meinen Freundinnen darüber rede, zum Beispiel nach einem erlebten, hektischen One-night-stand – was ich nie mache – fällt da sicherlich eine drastischere Formulierung, als wenn ich ein tief greifendes Erlebnis hatte.«

Mittlerweile hatte sie ihr Knie und ihren Oberschenkel so auf mir platziert, um diesem Thema noch ein bisschen näher zu kommen.

»Ist das ein Feuerwerk oder möglicherweise dein Herz, das da schlägt?«

Blöder Spruch, dachte ich gerade noch über mich selbst, als ihre Lippen die meinen intensiv verlangten. Das fühlte sich unendlich an, ich verlor mich in meinen exspektativen Empfindungen, so wollte ich das. Es folgten intensive Küsse, unsere Zungen freuten sich miteinander. Die Essenssachen hatte ich mittlerweile nach weiter unten entsorgt, die Flasche mit dem Restwein war umgekippt, wir wälzten uns, meine Hand lag auf ihrem Hintern und ich registrierte sofort mehrere Sachen. Sie war sportlich, was schon erkundet war, das passte zu dem Bedürfnis meiner Hände. Weder an der Taille noch auf der Rundung gab es eine Sliplinie, auch das wusste ich ja schon nach dem ersten Ausflug meiner Finger. Meine unhöfliche Hand erfreute sich an den Muskelkontraktionen, ihr ganzer Körper war in schlingernder Bewegung.

Zu jeder wirkenden Kraft gibt es stets eine gleichgroße entgegengesetzt gerichtete Kraft.

Dann ging alles sehr schnell (äußerlich) und im Inneren doch unwahrscheinlich langsam. Ihr Kopf blieb in der Nähe meiner Lippen, ich wollte das nicht anders, riechen und schmecken. Es war Neuland voller Überraschungen für uns beide, ohne durch die Zeit abgeklärte Rituale und ohne triviale Suche nach Adrenalin. Ich wollte kein Kapitel überspringen, Sehnsucht nach Einzelheiten, keineswegs wie ein Karussell.

Sie war viel mehr oben als ich, meine Hände lagen auf ihrer Taille, Küsse und immer wieder Küsse. Sie sagte es nicht, aber sie meinte: Komm! Ihre Stimme war wie eine Stradivari, der man einen edlen Ton entlockt. Sie war laut und erlebte intensiv, ich wusste nicht mehr, wo ich war und insbesondere was meine Hände machten. Es war, als ob sich die Gerstenhalme bei ihren Atemstößen bögen. Manchmal rast es wie ein Autorennen, brüllende Motoren um mich herum, ich bin Pilot und gleichzeitig Zuschauer, dann wie ein Film, Zeitlupe, als ob jemand den Ton abgestellt hat, kein Geräusch existiert, ein Feuerwerk, bei dem die Blitze in verglühenden Funken auf mich herabregnen, dann rauscht es noch in meinem Kopf, es strömt in den Muskeln, der Körper bäumt sich auf und zittert vor dem thermischen Wallen, wer schreit?

Es ist selten so gut.

Ich trage dich in mir. Nein, hat sie das vielleicht gesagt oder war das mein Gedanke? Auspendeln.

Es folgte das süße Wohlgefühl neben einer Frau zu liegen, die man gerade geliebt hat.

Allmählich schlugen wir die Augen wieder auf, unsere Stirnen berührten sich, ihr Kopf lag in meinem Arm. Es muss nachmittags gewesen sein, als sich diese Wonnesituation allmählich veränderte. Wir räumten ein wenig zusammen, gingen zusammen pinkeln und auf der Rückfahrt zu ihrem Auto am Hotel hielten wir häufiger an, als uns beiden bewusst war, um uns intensiv zu küssen.

Sie sagte: »Ich will aber noch einen Kaffee, du warst mir vom ersten Moment an wichtig.«

Ich regte an: »Lade mich zu einem Caipirinha oder Mojito ein, am Meer, lass uns treffen und ein ganzes Wochenende verbringen. Ich bin nett und du bist sehnsüchtig. Sag, ich will und tue es auch.«

»Was denkst du?«

»Ich bin in dieser Sorglosigkeit, die man im Allgemeinen erst so um die 40 entwickelt, wenn man sich mit einer so wichtigen Angelegenheit, wie der Liebe, beschäftigt.« Sie legte ihren Zeigefinger auf meine Lippen.

Wer was gesagt oder geantwortet hat, blieb im Unklaren. Dieser Abschied würde wehtun, ich hatte sowieso Riesenprobleme mit dem Abschiednehmen. Ich holte meine hinter der Rezeption abgestellten Utensilien, wir gingen raus auf den Parkplatz. Jeder zu seinem Auto. Drehen wir uns nochmal um, fragte ich mich. Ja, ich fühlte und ich sah Traurigkeit, aber wir lächelten uns noch einmal zu, sie fuhr nach Hamburg zu ihrem Zug und ich begab mich auf den Weg nach Köln.

Ich fuhr viel zu schnell und obwohl ich in solcher Situation immer den Straßenrand und den Rückspiegel nach Radarinstallation oder nachfolgender Legislative scanne, habe ich nicht bemerkt, dass ich verfolgt wurde. Und schon ging auch neben mir die Kelle aus dem Seitenfenster des Zivilwagens raus. Ich wurde auf den nächsten Parkplatz einer Tankstelle geleitet.

An der Beifahrerseite blickte die Polizistin ins Wageninnere, links von mir stand in Höhe der 2. Tür der Polizist, beugte sich zu meiner Scheibe herunter, mit der Hand an der Waffe. Er machte eine Kurbelbewegung, ich ließ die Scheibe runter. »Verkehrskontrolle, Sie wissen, warum wir Sie anhalten? Bitte mal Fahrzeugpapiere und Führerschein.« Ich sagte nur: »Ja.«

Während er per Funk meine Unterlagen prüfte, stieg ich aus und rauchte eine.

Sie erläuterte den Tatsachenstand, Spurwechsel ohne Blinken, viel zu schnell, zu dicht aufgefahren, Videoaufzeichnung. Mittlerweile kam er dazu, gab mir die Papiere zurück und fragte mich, ob mir die Sachlage klar sei, Anzeige, Punkte in Flensburg und Geldstrafe, ich hatte alles nur mit halbem Ohr mitbekommen.

Sie fragte, woher ich komme und wo ich hin wolle. Ich erzählte etwas vom Seminar für Sachverständige und der Begegnung und etwas vom Erlebten an der Mole. Ich sah, wie sich beide anschauten und schmunzelten. Aber ich registrierte, dass es kein Lächeln auf der Basis der Vermutung einer Ausrede war.

Die beiden schienen Zeit zu haben, einem Gespräch nicht abgeneigt und er fragte noch, ob ich was dazu sagen könne, was denn ein Sachverständiger bei einer komplizierten Kollisionsanalyse zweier Fahrzeuge mache.

War es doch eine Kontrollfrage hinsichtlich meiner Angaben? Aber ich war prädestiniert, ihm eine fachlich fundierte Antwort zu geben: »Primär haben Sachverständige die Aufgabe Beweise zu sichern, um eine Aussage zum Unfallablauf und ggf. der Schuldfrage zu ermöglichen.«

»Ja, und was bedeutet das?«

»Ich kann Ihnen ein Beispiel geben: ich hatte im Gerichtsauftrag ein schwer beschädigtes Fahrzeug zu untersuchen und die Frage zu beantworten, ob es selbst verschuldetes Auffahren im Zuge einer Staubildung oder Aufschieben durch den Hintermann war. Glücklicherweise hatte noch vor Ort ein Polizeibeamter das Zündschloss inspiziert und festgestellt, dass der Schlüssel nach links gedreht und eingerastet war.«

»Ja, und das bedeutet – das Fahrzeug stand, der Motor war abgeschaltet«, schlussfolgerte sie richtig.

Ich weiter: »Genau, der Beamte musste seine Aussage als wichtiger Zeuge vor Gericht machen, der Beweis war dadurch geführt, der Hintermann war aufgefahren und hat die Schwerstverletzung der Insassen im Pkw verursacht. Die ersten Ermittlungen vor Ort sind insbesondere bei einer Massenkarambolage entscheidend, weil dann Veränderungen beim Abschleppvorgang oder durch das Personal auf dem Sicherstellungsgelände ausgeschlossen werden können. Aber meistens werden wir schon direkt zur Unfallstelle gerufen, um zu ermitteln, zumindest bei Reihenunfällen oder komplexer Sachlage.«

»Interessanter Job.«

Sie kam auf die Tatsachen zurück, wir müssten uns die Videoaufzeichnung zur Bestätigung anschauen und meine Aussage dazu aufnehmen. Als wir zu dem Zivilwagen rüber gingen, sie die Tür öffnete und das Videogerät bediente, griff er nach dem Hörer des summenden Funkgerätes und ich hörte nur, wie er sagte: »Ja, wir kommen.«

Er wandte sich zu mir: »Wir müssen jetzt schnell weg, Sie haben Glück gehabt, wir wünschen Ihnen alles Gute bei Ihrer Beziehung«, er lächelte etwas verschmitzt bei seinen Worten.

Ich hatte das Bedürfnis beiden die Hand zu schütteln, ich bedankte mich.

Anschließend fuhr ich sehr zurückhaltend weiter und mir war bei der Vergegenwärtigung der Einzelheiten klar, dass die beiden Beamten ein Verhältnis miteinander gehabt haben müssen.

Zur Unterstreichung der Wichtigkeit des Jobs der Polizeibeamten hätte ich auch eine weitere Geschichte erzählen können, zu der ich kürzlich gerufen wurde.

Ich erhielt den Auftrag per Telefon von der Polizei in Absprache mit der Staatsanwaltschaft. Es ging um einen Reihenauffahrunfall auf der Kölner Autobahn mit Beteiligung von Bussen, Kleinlastern und mehreren PKWs. Bei meinem Eintreffen waren die Toten bereits abtransportiert. In erster Linie ging es jetzt um die Endstellung der Fahrzeuge, Fundorte der Leichen und insbesondere um sämtliche Spurensicherungen, um später eine Aussage zum Schadensablauf und der Verantwortung machen zu können. Ich dokumentierte die Spurenlage in dem mir zugewiesenen Bereich auf der Rückseite eines Omnibusses. Als ein wichtiges Kriterium stellte ich umfangreiche Blutspuren auf der Heckklappe des Busses fest, mit den entsprechenden Höhenzuordnungen. Etwa in Kopfhöhe sicherte ich Antragungen von Haut und Haaren, beschriftete entsprechend die Beutel und hielt dies alles fotografisch fest. Über die DNA-Analysen würden dann die in diesem Bereich getöteten Personen benannt werden können. Es war zu schlussfolgern, die Insassen waren ausgestiegen und hatten sich auf der Autobahn hinter dem Bus versammelt, als diese durch die hinteren Fahrzeuge insgesamt aufgeschoben wurden.

Ich kroste mit der rechten Hand im Handschuhfach herum, ohne die Augen von der Straße zu lassen, suchte eine bestimmte Kassette und fand sie. War es Lied Nummer 3 oder 4? Ich probierte Nr. 3, volle Lautstärke, das war es, was ich jetzt hören musste, und sang mit:

Allein bin ich in der Nacht

meine Seele wacht und lauscht

oh, Herz, hörst du, wie es klingt

in den Palmen singt und rauscht

der Wind … hat mir ein Lied erzählt

von einem Glück unsagbar schön

er weiß, was meinem Herzen fehlt

für wen es schlägt und glüht

er weiß für wen

Komm, komm

der Wind …

Was für ein fantastischer Text von Zarah Leander, er streichelte meine Seele, wie so oft.

Ich wartete dann täglich auf die eintreffende Anzeige aus diesem Vorfall, es kam aber nie eine, da wurden mir die beiden Beamten noch sympathischer.

Ein paar Tage später bekam ich einen Brief von ihr aus München. Eine Kunststofffolie war so ausgeschnitten, dass genau ein flacher Schlüssel hineinpasste, dazu gab es folgende klare Anweisung: Das ist der Schlüssel zu meiner Loggia, das ist meine Adresse …, das ist der Code für den Haupteingang … oder der Nachtportier wird dir öffnen. Komm in den 7. Stock, 2. Tür rechts. Du kommst spät abends oder am besten in der Nacht. Bleib leise, ziehe dich aus, nimm mich und verschließe mir den Mund, damit ich nicht schreie.

Die Signatur bestand aus einem Lippenabdruck, aber ich konnte nicht erkennen, ob es ihr Mund war.

Pow, was für ein Paukenschlag. Ich ließ mir ein paar Tage Zeit, um die Größe dieser Entwicklung zu begreifen. Schließlich packte ich den Schlüssel wieder in einen Briefumschlag und schickte ihn mit ein paar belanglosen, entschuldigenden Worten zurück.

»Was ist los mit dir, du und deine Frauengeschichten«, warf mir Jupp vor, ein engster Freund schon aus gemeinsamem Engagement in einer Bürgerinitiative, als ich ihm einige Einzelheiten erzählt hatte. Und er erwähnte auch noch, dass ich mich an das Buch erinnern solle, das er mir damals geschenkt hatte:

Anleitung zum Unglücklichsein. Wir lachten etwas betreten.

Ich war lange Zeit konsterniert von meiner Entscheidung. Vorwürfe an mich selbst, probierte ich eine Analyse, Beweggründe, was hat mich veranlasst? Ich suchte nach Argumenten, sie hatte mir den Finger auf den Mund gelegt? Empfand ich das erst jetzt als unleidlich? Was verbarg sich noch alles dahinter? Sah ich meine Unabhängigkeit eingeschränkt? Nein, das war banal, ich wollte mir jetzt keine pseudohilfreichen Rechtfertigungen zusammensuchen. Jupp weiter: »Und was war mit den angedeuteten, ungewöhnlichen Sexpraktiken? Das kann es auch nicht gewesen sein, du hast dir immer eine selbstbewusste, ideenreiche und emanzipierte Frau gewünscht. Hast du Einschränkungen bei deinen Wertvorstellungen, den Interessen, den Freiheiten, der politischen Haltung gesehen?«

Ich wusste keine Antwort auf meine belämmerte Entscheidung. Ich wollte nie so leben, dass ich mich irgendwann fragen muss, was wäre gewesen, wenn …

Die Bewegung eines ganzheitlichen Systems wird durch die äußeren Kräfte bestimmt.

Es war nicht rückgängig zu machen und ich wollte es auch nicht. Aber es gab ein früheres Schlüsselerlebnis, über das noch zu reflektieren sein wird.

Die in der Natur vorkommenden wie auch alle technischen Prozesse sind irreversibel. Grundsätzlich verlaufen sie nur in eine Richtung.

1Industrie- und Handelskammer

2. DAS GLÜCK, WIE ES HÄTTE SEIN KÖNNEN

Eine offizielle Erklärung des regelungstechnischen Begriffes Kybernetik betrifft die Wissenschaft der Steuerung und Regelung von Maschinen und deren Kommunikation als Vorbereitung des Ablaufgeschehens. Oftmals wird auch der Grundgedanke die Kunst des Steuerns verwendet.

Die Kybernetik beschäftigt sich genauer gesagt mit der Verarbeitung der umfangreichen Parameter in dynamischen Systemen, den Befehlen und deren Verarbeitung, damit die Systeme zielgerecht gesteuert werden bzw. sich selbst entsprechend lenken, wie z. B. bei autonomen Fahrzeugen.

Es ist die Lehre von mehreren, gleichzeitig stattfindenden, bezüglichen Bewegungsabläufen unterschiedlicher Merkmale.

Eine bekannte Deutung ist auch das Schachspiel. Die Überlegungen zu der Vielzahl möglicher Bewegungen, Einflussnahmen und Auswirkungen münden in Entscheidungen. Oder auch der Ablauf des Kontaktes zweier Fahrzeuge an einer Kreuzung mit den unterschiedlichen Geschwindigkeiten, Vorrechten und der Verständigung untereinander folgt dem Prinzip der Kybernetik unter der Prämisse einer Kontaktvermeidung.

Einmal ging ich die Haderslebener Straße runter, am Kohlenhändler vorbei, bis auf die Friedrich-Engels-Allee nach rechts, ungefähr da, wo die Kneipe von Jochens Vater war.

Eigentlich war das immer unser Ausgangspunkt für den Tagesablauf, manchmal durften wir bei ihm in der Küche eine Kleinigkeit naschen.

Der Kohlenhändler war interessant, wir bekamen von ihm immer unser Heizmaterial geliefert. Oftmals stand ich an seiner Toreinfahrt, sah die größeren Halden von Eierkohlen, Briketts, Steinkohle und Anmachholz. Es gab das typisch blecherne Geräusch, wenn er mit einer großen Schippe die Kohlebrocken in eine Art halbrunden Waagebehälter wulachte, der größer war als eine Schubkarre. Ab einer bestimmten Menge kippte diese dann etwas nach hinten, was wohl bedeutete, dass die Menge einen Zentner erreicht hatte. Anschließend wurde vorne ein Sack dran gehalten und die ganze Ladung kippte und rutschte mit erheblicher Staubentwicklung hinein. Der Mann war auch immer total schwarz, ein richtiger Schmeerpull. Ich sah auch, dass diese Waage einen Einstellmechanismus hatte und sagte meiner Mutter, dass der die Leute sicherlich bescheißt, man müsste mal den Kohlenbüggel nachwiegen. »Ach, nein, wie sollen wir das denn machen, es reicht, wenn du die in den Keller gekippten Säcke zählst.«

Und dann musste ich den riesigen Berg von stinkenden Klütten und Briketts so stapeln, dass eine Ecke entstand, in die dann die Eierkohlen oder Steinkohlenstücke hineingeschüttet wurden. Und das in diesem zappendusteren Keller, wo auch noch irgendein Bullemann wohnen sollte. Manchmal war ich auch ein Bangböx.

Danach sah ich ebenso schwarz aus wie der Kohlenhändler und wurde in der Küche in einer Zinkbadewanne abgeschrubbt. Das warme Wasser wurde auf dem Gasherd bereitet, dazu gab es neben der Wohnungstür eine Gasuhr, in die immer geriffelte Wertmünzen eingeworfen werden mussten.

Zu dem Zeitpunkt in Wuppertal war ich ca. neun Jahre alt und kam also um diese Ecke auf die Friedrich-Engels-Allee. Ich sah eine größere Menschenmenge und Blutspritzer von der Fahrbahn bis auf den Bürgersteig. Ich drückte mich ein wenig durch die entsetzten Leute und sah auf den Stufen vor der Kneipe einen Mann ohne Kopf. Das Blut schwappte und lief inzwischen die Treppenstufen runter, die Kleidung des Mannes war völlig durchtränkt. Ich schaute nochmal auf die Fahrbahn und verstand den Vorgang. Da stand ein Kleinlaster mit einer großen Metallplatte auf der Ladefläche, dahinter lag das Motorrad, auf der Metallplatte befand sich Blut. Der musste wohl mit seinem Motorrad in Kopfhöhe gegen diese Metallplatte geprallt sein. In dem Moment fasste mich jemand hart an der Schulter, ein Polizist, dies sei nichts für mich, ich soll zu meiner Mama gehen. Ich wand mich aus seinem Griff, schaute mir die Szene nochmal an und entdeckte den Kopf des Mannes am Ende von ausgerollten Blutspuren weiter vorn auf der Ladefläche. Wem ich auch davon erzählte, jedes Mal kam es zu schaurigen Reaktionen. Meine Eltern wandten sich ab, ich solle aufhören mit den Details, wie ich überhaupt dazu käme, mir das anzuschauen. Meine Freunde wollten gar nicht erst, dass ich damit anfange – sie hätten schon davon in den Nachrichten gehört.

Später noch machte ich mir manchmal ein Späßchen daraus und fragte, ob ich nochmal erzählen solle, wie der Kopf … ich grinste manchmal heimlich und wertete Situation für mich als Punktgewinn.

Ehemals endete die Wittensteinstraße in Höhe der Haderslebener Straße an einer hohen Ziegelsteinmauer. Zwischen den gemauerten Vorsprüngen ergab sich für uns die Breite eines Fußballtores. Das war der beständige Treff aller Ballfreunde oder wir spielten gegenüber von unserem Haus auf dem Bürgersteig zwischen der Gartenmauer der Rudolf Steiner Schule und den parkenden Autos. Wegen unserem unausbleiblichen Freudengeschrei wurden wir jedes Mal von einem alleinlebenden alten Sack fortgejagt. Es gab keine Eltern von irgendeinem von uns, die uns in irgendeiner Form praktisch oder mit Rat geholfen hätten, uns gegen den Dämlack zur Wehr zu setzen. Wir waren eine Clique, wir waren allein, ich erinnere mich kaum an irgendeine Erziehungsmaßnahme, nicht einmal bewusste Einflussnahmen durch die Erwachsenen, weil die genug mit ihrem Beruf und Finanzen zu tun hatten. Aber wir lernten es miteinander in der Gruppe uns allmählich dieser wortgewaltigen Einschränkungen des alten Knieskopps zu erwehren. Und damit eröffnete sich früh die Notwendigkeit, eigene Drangsal selbstverantwortlich in die Hand zu nehmen.

Es gab damals ein beliebtes Spiel: das Klingeltürchen. Waren wir sauer auf irgendein uns einschränkendes Verhalten oder auf einen Schlonz, hatten wir einen Riesenspaß mit häufigem Klingeln an den Haustüren. Da gab es auch noch einen Friseur, der uns regelmäßig verscheuchte. Der Friseursalon hatte eine halbhohe Auslage im Schaufenster, so etwa in unserer Gürtelhöhe. Dann stellten wir uns vor die Scheibe, ein bisschen pielögen und taten eine Bewegung, als ob wir uns den Reißverschluss öffnen würden, verdrehten die Augen, so dass es von innen aussah, als würden wir gegen die Scheibe pinkeln, dann blieb nur eins: blitzartiges Wegrennen und sich an der nächsten Ecke ausschütten vor Lachen.

Sehr beliebt in den Novembertagen war das Martinssingen. Dazu zogen wir mit dem Stoffbeutel des Turnunterrichts zu den kleinen Läden der umliegenden Straßen und sangen einige schiefe Lieder, deren Texte anfänglich niemand verstand, durch das beständige Mitsingen sich aber nach und nach einprägten. In einer Gruppe von sechs bis acht Blagen trollten wir dann zwischen Krämerladen, Nähstube, Tapetengeschäft, Milchladen, Konsum und Schuster gewieft hin und her, bis die Besitzer mittlerweile unsere Gesichter erkannten und auch anhand des mittlerweile vollen Büggels uns weitere Pretiosen versagten. Aus den vielen Lollys, Äpfeln, Apfelsinen, Kaugummis, Bonnschen, Klömmken und anderen Süßigkeiten entspann sich dann immer ein reges Tauschgeschäft. Diese Leckereien waren ein willkommenes Zubrot in den nächsten Wochen. Gab es von den Ladenbesitzern eine bräsige Weigerungshaltung, waren wir sehr darauf erpicht, dem fiesen Kääl oder der Öllschen im Wegstratzen lauthals Gitzhalz zuzurufen.

Da gab es das Lied vom Heiligen Sankt Martin, das wohl aus dem Kölner Raum zur Jahrhundertwende entstanden ist und ins Bergische Land rübergeschwappt war:

Dä hellje Zinter Maetes

Der heilige Sankt Martin

dat wor ne jode Mann

das war ein guter Mann

dä jov de Kinder Käzjer

der gab den Kindern Kerzchen

Un stoch se selver an

und steckte sie selber an

Hä wonnt ein reicher Mann

hier wohnt ein reicher Mann

dä uns vieles jewe kann

der uns vieles geben kann

die Äppel un die Biere

die Äpfel und die Birnen

Einer aus unserer Freundesclique war der Sohn eines Getreidehändlers, der gegenüber vom Unterbarmer Bahnhof ein großes Lager für sämtliche Getreidesorten hatte. Die Büssing und Hanomag Lastwagen brachten ihr Schüttgut auf eine Plane vor diese Halle und oft war es unsere Aufgabe, mit Schubkarren das Getreide in die abgetrennten Boxen reinzuschütten. Genauso wie beim Kohlenhändler füllten wir dann auch mit verzinkten Schaufeln die Kippwaage und anschließend die entsprechend großen Jutesäcke, so dass immer genügend Säcke von jeder Sorte zum Verkauf bereit standen. Nachher gab es immer ein wenig Kleingeld von seinem Vater oder sogar ein leckeres Essen bei der Familie unseres Freundes. Auch Jahrzehnte später erinnerten mich immer mal bestimmte Gerüche an diese goldenen Momente der Kindheit. Körbe voller Kamilleblüten, Nelkenknospen, Hagebutten und Kräutern, deren Namen ich nicht kannte, alle diese wohligen Aromen haben sich mit den verknüpften Erlebnissen in den Gehirnwindungen festgesetzt. Dazu gehört auch der intensive Geruch des Abflammens der Restfederkiele unserer Hühner nach dem Schlachten.

Gedanken an Geborgenheit und schwereloses Glücklichsein durchfluteten manchmal meine Empfindungen, wenn mir später ein erinnerlicher Geruch in die Nase stieg.

Damals gab es in diesem Bereich der Friedrich-Engels-Allee mittig eine Straßenbahn in beide Richtungen. Ich saß in einer der Straßenbahnen in Richtung Loh. Kurz vor dem Polizeipräsidium sah ich unmittelbar unterhalb meines Fensters einen PKW, der von der linken auf die rechte Fahrbahn schwenkte und von hinten von einem Lkw mittig gerammt wurde, so dass der PKW bis auf den Bürgersteig schleuderte.

Am nächsten Tag ging ich auf das Revier, konnte kaum über die Theke gucken, und fragte, ob sie noch einen Zeugen brauchen würden, der gestern den Unfall auf der Hauptstraße genau gesehen hätte. »Nein«, entgegnete der Schupo, »wir wissen, dass der Lkw nicht aufgepasst hat, zu schnell war und den anderen gerammt hat.« Ich entgegnete, dass das so nicht stimme, weil der PKW abrupt und viel zu schnell nach rechts rüber gewechselt sei. Der Beamte schüttelte den Kopf und sagte: »Nein, nein, geh mal nach Haus zu deiner Mutter.« Ich ärgerte mich, wie doof manche Erwachsene waren. Auch die detaillierte Schilderung bei meinen Eltern führte zu keinem hilfreichen Weiterkommen, sie waren autoritätsgläubig.

Ich kam wieder einmal in diesen Tagen an diese Ecke der Hauptstraße, schlenderte auf dem breiten Bürgersteig ein wenig hin und her, leistete mir für 20 Pfennig ein Schöller-Eis und entdeckte dann gegenüber, rechts von der Hauptpost, in Höhe des Konsums, meine Mutter mit zwei Einkaufstaschen. Ich lutschte mein Eis zu Ende, registrierte den Verkehr auf den vier Fahrspuren und den beiden Straßenbahngleisen. Meine Mutter stand jetzt ein wenig näher am Bordstein. Und in einem günstigen Moment lief ich quer rüber zu ihr.

Irgendwo hupte ein Auto oder vielleicht auch mehrere und bevor ich bei meiner Mutter ankam, ließ diese die Einkaufstaschen fallen, es klirrte und ich sah, wie die Milch aus der Tasche lief.

Meine Mutter drückte mich an sich und stammelte: »Mein Junge, mein Junge, was machst du denn.« Als ich mich aus der Umarmung löste, standen ein paar Leute um uns herum und ich hörte einige Wortfetzen von:

Erziehung, … hinter die Ohren, … hätte auch anders …

Daraufhin gab es wieder mal ein ernstes Gespräch mit Vater und Mutter in der so genannten Schemmerstunde. Nach dem Abendessen saß dann die ganze Familie im Kreise, meistens noch um den Küchentisch, um den Ärger, Planungen, Termine oder vor allem die Tageserlebnisse zu erzählen und manches auch gerade gerückt zu bekommen.

Diesmal war ich Mittelpunkt und insbesondere mein Vater war sehr aufgeregt. Nein, er hat mich nie geschlagen. Ich wehrte mich gegen den Vorwurf der Gefährlichkeit der Situation, indem ich erklärte, alles richtig abgeschätzt zu haben, es hätte nichts passieren können, weil alle Fahrzeuge weit genug entfernt waren und ich so spielend leicht zur Mutter rüber konnte. Ich musste versprechen, es nicht nochmal zu tun und immer den Zebrastreifen gegenüber der Post zu benutzen.

Später verstand ich, dass diese Situation des Wechsels der Straßenseite, unter Berücksichtigung des vielförmigen Straßenverkehrs, schon sehr viel mit Kybernetik zu tun hatte. Intuitiv wurden komplexe Vorgänge für ein rasches Ergebnis analysiert und unter geringstmöglichem Aufwand das Ziel anvisiert und die dafür notwendigen Aktionen lösungsorientiert abgestimmt.

Dieser abendliche Ablauf einer Schemmerstunde hieß so, weil das Hauptlicht ausgeschaltet war, es draußen schon dunkelte und allenfalls ein paar Kerzen brannten. Es war eine wertvolle Einrichtung in meiner Familie, die öfters im Monat stattfand oder bei akuten Vorfällen. Die Eltern fragten die Kinder, was ihnen auf der Seele brannte, und die Kinder fragten sie nach Lösungen für ihre Sorgen. Es bedeutete für uns Mut und Stolz zu stärken.

Es war auch die Situation, in der unsere Eltern aus ihrem Leben, Erfahrungen und Schicksalsschlägen erzählten. Oftmals mussten sie unter Tränen ihre Geschichten abbrechen, vor allem dann, wenn es um Kriegserlebnisse ging. So erfuhr ich auch, dass ich einen älteren Bruder gehabt hatte, der in der Nachkriegszeit verhungert war. Wir erfuhren von im Krieg gefallenen Brüdern und vergewaltigten Tanten, von den in den Stadtvierteln der Reichen aus den Mülleimern sortierten Essensresten, von in den Kohlenhaufen vor Plünderungen verstecktem Pferdefleisch. Die Eltern erzählten auch aus ihrer Kindheit, dem Leben in Ostpreußen als Angestellte auf einem Gutshof und zwei durchstandenen Weltkriegen. Mein Vater war zwar Soldat und in russischer Gefangenschaft, hatte aber nie ein Parteibuch und sich vehement gegen eine Einvernahme gewehrt. Folge davon war, dass er seine Anstellung verlor und nur noch für einen Hungerlohn sich um die Gaslaternen in der Gemeinde zu kümmern hatte.

Viele Menschen haben später geleugnet, ein Parteibuch gehabt zu haben. Ich habe meinem Vater geglaubt, weil er mir seine demokratisch-freiheitliche Grundhaltung überzeugend vermittelt hatte, was ich allerdings erst sehr viel später realisierte. In diesem Alter schauten wir gemeinsam Dokumentationen über die Gräuel im Dritten Reich und auch Antikriegsfilme. Manchmal verschlug es uns allen die Sprache, als meine Eltern in dem anschließenden Gespräch weitere Details erzählten und tränenreich Erklärungen darüber gaben, wie es wirklich war.

Irgendwann ist mir einmal aufgefallen, wie schwer sich meine Eltern an der Schreibmaschine taten. Dies hatte nicht nur mit einer gewissen Schwierigkeit sich auszudrücken zu tun: »Fritz, wie soll ich das denn sagen?«