Der lange Winter am Ende der Welt - Julie Harris - E-Book
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Der lange Winter am Ende der Welt E-Book

Julie Harris

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Beschreibung

Beim Versuch, im Jahr 1926 einen neuen Rekord im Alleinflug aufzustellen, schafft es John Robert Shaw bis Alaska. Doch dann gerät er in einen Sturm und gilt fortan als verschollen. Völlig unvermutet wird John 17 Jahre später gefunden – 17 Jahre, in denen er mit den Inuit gelebt hat, in einer Einöde aus ewigem Eis und Schnee. Nun sieht er sich gezwungen, zum zweiten Mal ein völlig neues Leben zu beginnen … Ein bewegender Roman über die Macht der Liebe und den Mut, den eigenen Träumen und Passionen zu folgen.

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Seitenzahl: 585

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Aus dem Englischen von Hans-Joachim Maass

ISBN 978-3-492-98328-0 Januar 2017 © Julie Harris, 1995 Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The Longest Winter«, St. Martin's Press, New York 1995 © der deutschsprachigen Erstausgabe: Piper Verlag GmbH, München/Berlin 1996, 2000 © dieser Ausgabe: Piper Fahrenheit, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2017 Covergestaltung: FAVORITBUERO, München Covermotiv: Galyna Andrushko/shutterstock.com Datenkonvertierung: Cpi books GmbH, Leck   Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.  

Zum Gedenken an meinen Vater, Denis und Viv,

Mein Dank gilt Dr.Lowry Ware, Anne G. Clarke, Louise und Carroll Ferguson

Die Ereignisse dieses Romans haben in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts stattgefunden. Im Mittelpunkt stehen die »Memoiren« eines Mannes, der auf einer Insel vor Alaska von der Außenwelt abgeschnitten ist. In seinen siebzehn Jahren auf dieser Insel waren die einzigen Gefährten John Robert Shaws die dort lebenden amerikanischen Ureinwohner. Wie die meisten Menschen damals war auch Shaw nicht bewußt, daß es Unterschiede unter den Menschengruppen gab, die er als »Indianer« und »Eskimos« bezeichnet. Heute sind wir informierter und bezeichnen die verschiedenen Kulturen mit den Begriffen, die sie selbst gewählt haben. Doch dies ist ein historisches Werk, etwa wie Defoes Robinson Crusoe,

Im Jahre 1911 bekam ein Junge aus Abbeville in South Carolina den ersten Vorgeschmack vom Fliegen. 1926, zwei Jahre nach dem Tod seines besten Freundes, unternahm der vierundzwanzigjährige John Robert Shaw einen Rekordversuch als Alleinflieger in einer restaurierten Curtiss Jenny von 1923. Von einer Zeitung in Miami gesponsert, schaffte er es am 23.April 1926 bis Anchorage. Damit hatte er die halbe Rekordstrecke zurückgelegt. Am 27.April wurde er von einem Sturm überrascht, mußte notlanden und galt siebzehn Jahre lang als verschollen. Man hielt ihn für tot, bis die Aleuten-Inseln im Mai 1943 evakuiert wurden.

Prolog

Ich lernte John im Mai 1943 kennen, als er mit einer Bootsladung evakuierter Aleuten von einer der Andreanof-Inseln aufs Festland gebracht wurde. Soweit ich damals feststellen konnte, wußte zu der Zeit niemand, daß es die Insel überhaupt auf der Landkarte gab oder daß sie bewohnt war, bis sie von den ersten Wasserflugzeugen angeflogen wurde.

Ich habe viele Wochen im Krankenhaus von Anchorage verbracht, um mir Johns Geschichte anzuhören. Er hätte sie jedem erzählt, der sich die Zeit genommen hätte, ihm zuzuhören. Das taten jedoch nicht viele. Wir befanden uns im Krieg. So lautete jedenfalls die Ausrede.

Seine Geschichte erstand in Bruchstücken. Manchmal konnte er stundenlang erzählen. An seinen schlimmsten Tagen starrte er einfach nur die Wand an, als sehnte er sich nach etwas, was er nicht haben konnte.

Er hatte den größten Teil dessen, was geschehen war, zu Papier gebracht, aber wie bei seinen Erzählungen war alles völlig ungeordnet.

Ich brauchte acht Jahre, um daraus eine Geschichte aus einem Guß zu machen und um mich an die fehlenden Bruchstücke zu erinnern, die er mir vor so langer Zeit erzählt hatte.

Betty-Sue Llewellyn

Anchorage, Alaska

1957

1

An dem Tag, an dem er aufwachte und seinen Namen wußte, brach fast die Sonne durch die Wolkendecke. Er erinnerte sich auch fast daran, wie er dorthin gekommen war; er erinnerte sich aber nicht, warum oder wann.

Eine Zeitlang war er überzeugt, sich irgendwo südöstlich von Anchorage zu befinden. Das einzige, woran er sich vage erinnerte, war der Sturm, der sich allmählich zusammenbraute. Er war seit einer halben Stunde unterwegs gewesen und schon wieder auf dem Heimflug, als der Hundertzwanzig-Meilen-Gegenwind, der dann zum Seitenwind und schließlich zum Rückenwind wurde, jede Hoffnung auf eine Zukunft zunichte machte. In diesem Augenblick existierte nichts außer ausströmendem Treibstoff und leckgeschlagenen Ölleitungen, und als die Jenny schließlich, was unvermeidlich war, den Geist aufgab, wurde alles zu einer dunklen, stechenden Stille, bis er die Felswand sah und die erstarrte See. Und dann folgten Sekunden, die ihm wie Stunden vorkamen, bis die Maschine aufschlug und zerschellte.

Bilder erschienen ihm in Wachträumen, zerbrechliche, zerfetzte, verblaßte, nicht greifbare Bilder, die nur allzuoft verwirrend waren, weil es den Anschein hatte, als gehörten sie zu jemand anderem und nicht zu ihm.

Meist drehte sich nur alles in seinem Kopf, da er den Absturz in immer neuen Alpträumen durchlebte, die ihn aufschreien ließen. Wenn er aufwachte, hörte er fremde, glückliche Stimmen singen oder die Laute von spielenden Kindern. Das Echo der Trommeln verscheuchte die Dämonen, bis er wieder die Augen schloß.

Die Frau war allgegenwärtig – die sanfte, beruhigende Stimme, die Berührung der behandschuhten Hand. Gelegentlich zeigten sich die neugierigen, von Pelz umrahmten Gesichter der anderen, die wahrscheinlich sehen wollten, ob er noch am Leben war oder nicht. Er lag dann reglos auf dem Rücken und beobachtete sie. Manchmal lächelte er diese Gesichter an, aber meist wünschte er, sie würden gehen und ihn in Ruhe lassen und den elenden Wind mitnehmen.

Dann, eines Tages, als der Nebel sich so weit gelichtet hatte, um ihm einen Blick auf einen Strand jenseits des Felsens zu ermöglichen, als die schmale Öffnung zu dieser unwirklichen Welt aus ständiger Kälte durch einen Hauch von Sommer geöffnet wurde, kam die Frau wieder herein. Sie trug ein schweres Bündel. Sie zog die Felle herunter und versperrte ihm die Sicht. Es war zwecklos, sie zu bitten, die Tür wieder aufzumachen und etwas frische Luft einzulassen. Wann immer er sprach, lächelte sie nur.

»Was hast du diesmal mitgebracht?« fragte er.

Sie wuchtete das Bündel auf den erhabenen Erdtisch, wandte sich ihm zu und grinste.

Es war ein in Seehundfell gewickeltes Paket. Sie öffnete es und lächelte dabei immerzu, als wüßte sie, daß es seinen Schmerzen ein Ende machen würde, wenn er dies zu sehen bekam. Sie hielt eine Allwettertasche hoch, deren Griffe verrostet und zerbrochen waren. Dann förderte sie die Sachen zutage – Kuriositäten für sie, aber nicht für ihn. Das Logbuch eines Piloten, Bleistifte, Karten. Ein Kompaß, ein Dosenöffner. Sein Bowiemesser. Gabeln, Löffel. Eine verrostete Konservendose mit Bohnen. Eine gefrorene Orange, Unterwäsche und seine Ersatzmütze.

Vor allem war da Papier – ein Bündel brüchigen, stockfleckigen gelben Papiers.

Vielleicht war dies der Augenblick, in dem er sich zu erinnern, wahrhaft zu erinnern begann. Er nahm als erstes das Logbuch in die Hand; weil es im Meerwasser gelegen hatte, klebten die meisten Seiten zusammen. Manche rissen bei der kleinsten Berührung. Die Tinte war verlaufen, aber hier und da erkannte er ein Wort. Vor allem den letzten Eintrag:

23.April ’26. 0700Uhr. Anchorage verlassen. Vorräte und Treibstoff ausreichend, um nach Vancouver zu fliegen. Nordöstlicher Wind, dreißig Knoten. Teuflischer Sturm, der sich im Nordwesten am Horizont zusammenbraut. Sollte es schaffen bis …

John seufzte. Anchorage. Ihm fiel ein, daß er versucht hatte, aus Alaska seine Schwester anzurufen – per R-Gespräch. Er erinnerte sich, daß Mrs.Johnson ihm sagte, es nehme niemand ab, ob er es wieder versuchen könne? Sie hatte ihr ganzes einfaches Leben in Abbeville, South Carolina, verbracht. Vielleicht glaubte sie, Anchorage liege in Kentucky oder Georgia. Also hatte er Mrs.Johnson die Nachricht hinterlassen – »Sagen Sie Meg, daß ich nach Hause komme« –, und als er auflegte, wußte er, daß Meg die Nachricht nie erhalten würde.

John sah die Frau an. Sie studierte das Bowiemesser, dann den Silberlöffei mit dem eingravierten BHS – er gehörte der Familie Shaw seit der Boston Tea Party. Er sah ihr an, daß sie ihn haben wollte, und so nickte er, und das Lächeln, das sie ihm dafür schenkte, war ansteckend.

Sie fand ein Versteck für ihr neues Spielzeug und kam wieder, diesmal mit den beiden Schalen aus Bugholz. Eine enthielt vier Mundvoll erwärmten Seehundbluts und die andere die dicke schwarze Salbe, mit der sie ihn pünktlich zu jeder vollen Stunde einrieb – jedenfalls kam es ihm so vor.

Er wehrte sich nicht mehr. Es führte zu nichts. Das Blut verursachte ihm auch keine Übelkeit mehr wie zu Anfang, und er trank es schnell mit der Würde eines Kindes, das Rizinusöl schluckt.

John vermutete, daß die Salbe so etwas wie ein Antiseptikum der Eskimos war. Was immer es war, es linderte den Schmerz ein wenig. Er saß still, während sie ihm etwas davon ins Gesicht rieb. Er blieb still sitzen, als sie ihm seinen Parka auszog und auch die Brust einrieb. Er wandte jedoch wie immer das Gesicht ab, als die schwarze Salbe sorgfältig und mit sanfter Behutsamkeit auf den Stumpf seines linken Arms getupft wurde. Dann legte er sich hin, wie die Routine es verlangte, nahm das Logbuch in die Hand und versuchte sich auf die Worte zu konzentrieren, während die Frau seinen linken Fuß ergriff und sein linkes Bein bewegte. Er sah nicht allzu viele Wörter – die scharfen, stechenden Schmerze waren stärker als alles andere, bis das Bein taub wurde. Er hatte sich beim Absturz schwer verletzt – den Arm und fast das Bein verloren. Er hatte sich das linke Schlüsselbein gebrochen, ein paar Rippen und sich auch am Kopf verletzt. An manchen Tagen, wenn sein Sehvermögen beeinträchtigt war und sein Gleichgewichtsgefühl aussetzte, wagte er nicht, sich zu rühren, sondern blieb vollkommen still liegen, denn schon die kleinste Bewegung bereitete ihm höllische Schmerzen. Diese Tage wurden jedoch immer seltener. Er war dabei, sich zu erholen, und das hatte er nur der Frau zu verdanken.

Als sie fertig war, ließ sie ihn allein, aber diesmal schlief er nicht. Er langte in seine Allwettertasche und tastete blind nach einem Bleistift. Er hatte ein bestimmtes Ziel vor Augen.

Vielleicht komme ich hier nie mehr lebend raus, dachte er, aber vielleicht findet eines Tages jemand meine Aufzeichnungen, und dann wird meine Familie wissen, daß ich nicht gestorben bin. Man wird mich vielleicht für verschollen halten, vielleicht sogar für tot, aber ich möchte nicht, daß jemand denkt, ich sei wie Bobby gestorben.

Die größte Angst seiner Mutter, fast Wirklichkeit geworden.

John richtete sich auf dem Bett auf, so gut er konnte, so daß er mit dem Rücken gegen das Treibholz gelehnt aufrecht sitzen konnte. Zwei der Kochtöpfe der Frau hingen ihm über die linke Schulter; der Pelz des Saums ihres Winterparka kitzelte ihn im Nacken. Es war bequemer, wenn er das rechte Bein hob, so daß das Logbuch darauf lag, aber es kam ihm fremdartig und fast unmöglich vor, mit der rechten Hand den Bleistift zu halten.

Und es stellten sich keine Worte ein. War es nicht immer so gewesen? Er zeichnete statt dessen ein Flugzeug. Die Linien waren nicht ganz korrekt, aber es war doch die 1923er Jenny, die er seit wann geflogen hatte¼ Februar? War er im Februar aus Miami abgeflogen?

Er konnte Daumen und Zeigefinger nur zum Teil bewegen – zum Schreiben genügte es aber. Er hatte die rechte Hand nicht mehr benutzt, seit er neun Jahre alt war. Und für John, der sich so lange Zeit bemüht hatte, sich an seinen Namen zu erinnern, kehrte die Kindheit wie eine Flutwelle zurück. So schrieb er sie auf, so schnell er konnte, falls alles wieder verschwinden würde und damit für immer verloren war wie er selbst.

Es war der 14.Juni 1911. Wir lebten in der Nähe eines Flugplatzes in Abbeville, South Carolina, obwohl ich es kaum einen Flugplatz nennen kann, denn damals war es nur ein Feld, und in jenen Tagen konnte man überall landen, wo das Gelände flach und baumlos war. Und vierhundertfünfzig Meter waren alles, was Billy Taylor je gebraucht hatte.

Billy Taylor flog meinen Traum, und jeden Tag um fünf nach vier gab sich meine Mutter die größte Mühe, ihren Zorn herunterzuschlucken, wenn er direkt über unser Haus hinwegbrauste. Sie murmelte etwas von neumodischen Erfindungen und fluchte leise vor sich hin, weil die Hühner seit sechs Wochen keine Eier gelegt hatten.

Aber mir waren die Hühner egal.

Da war immer dieser Junge, der auf dem Zaunpfahl balancierte und zusah, wie sein Held eine Maschine landete, die hustete und spuckte und brüllte, und ich rührte mich nie auch nur einen Zentimeter von der Stelle, bis Billy Taylor den Motor abgestellt hatte und herauskletterte.

Ich machte einen Handel mit Gott. Ich sagte etwa, Gott, wenn du mich so fliegen läßt wie Billy Taylor, werde ich freiwillig in die Sonntagsschule gehen. Das wird Ma überraschen, nicht wahr, Gott? Dich auch, nehme ich an. Sir.

Nun, Gott mußte mich gehört haben, aber trotzdem lief nie etwas so, wie ich es mir gedacht hatte.

Billy Taylor sah mich nie auf diesem Zaunpfahl balancieren, jedenfalls glaubte ich das, bis zu jenem Tag im Juni, als er etwas zu niedrig über unser Haus hinwegflog, um zu landen.

Ich fiel vom Zaunpfahl und brach mir den Arm.

Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, John Robert Shaw. Ich wurde an diesem Tag neun.

Mom hörte mich schreien, und ich glaube, Billy Taylor hörte es auch. Alle Nachbarn stürzten aus ihren Häusern. Sie wollten sehen, was das für ein Lärm war.

Der Lieblingsspruch meiner Mutter war »Hab ich’s dir nicht gesagt?« Und als sie mich in die Stadt trug, muß sie es zweitausend Mal gesagt haben. Der Arzt machte einen Hausbesuch, um ein Baby auf die Welt zu bringen, so daß seine alte Krankenschwester die Knochen zurechtrückte. Ich erinnere mich vor allem daran, daß ich noch mehr schrie, und als ich aufwachte, lag ich zu Hause in meinem Bett.

Mein Arm war nie mehr so wie zuvor. Aber ich brauchte keinen Bleistift zu halten, um zu wissen, was ich zu tun hatte. Ich mußte fliegen, und ein gebrochener Arm würde mich nicht davon abhalten.

Mein Vater war 1909 nach Alabama gegangen, um sich Arbeit zu suchen. Er kam nie mehr nach Hause. Also war meine Mutter mit zwei Kindern auf sich gestellt, mit mir und meiner kleinen Schwester. Mir war aber nie wirklich klar, was diese Hühnereier für unser Überleben bedeuteten, denn für mich gab es nichts Wichtigeres, als Billy Taylor dabei zu beobachten, wie er jeden Tag um fünf nach vier mit dieser Maschine landete.

Bis zum 15.Juni 1911.

Meine Mutter zog mich an meinem gesunden Arm vom Zaunpfahl herunter und sagte: »Wir werden diesem gottverdammten Mr.Billy Taylor zeigen, was er uns angetan hat. Er hat uns ruiniert!« In der Hand hatte sie den leeren Eierkorb. Ich hatte sie noch nie fluchen hören, jedenfalls nicht, wenn ich in der Nähe war.

Ruinieren. Ich hatte dieses Wort schon oft gehört – ein Stück Rindfleisch wurde durch zuviel Salz ruiniert; wenn ich Ketchup auf mein einziges gutes Hemd verschüttete, um nicht in die Sonntagsschule gehen zu müssen, es sei denn, ich wußte genau, daß jemand da war, den ich ärgern konnte, war es ebenfalls ruiniert. Folglich wußte ich nicht, was meine Mutter mit diesem »Er hat uns ruiniert« meinte. Außerdem war es mir egal. Ich wußte nur eins: daß wir quer über das Feld auf Billy Taylors Schuppen zuliefen, und je näher wir kamen, um so größer wurde das Flugzeug.

Ich hatte noch nie erlebt, daß meine Mutter auf jemanden so wütend war. Dabei war sie diejenige, die mir immer sagte, ich solle tief Luft holen und bis zehn zählen, und wenn ich bei acht sei, würde ich nicht mehr wütend sein. Vielleicht hatte sie an jenem Tag vergessen, was nach fünf kam.

Als sie Billy Taylors Namen geschrien hatte und er sich umdrehte, weinte sie vor Zorn. Und wenn meine Mutter vor Zorn weinte, hielt man sich am besten nicht in ihrer Nähe auf, aber sie hielt meine Hand in einem eisenharten Griff, so daß es kein Entkommen gab. Ich konnte nur eins tun, auf meine Füße zu starren und nicht in Billy Taylors Gesicht. Ich hatte mich in meinem ganzen Leben noch nicht so geschämt. Ich hatte von Hunderten von Möglichkeiten geträumt, meinem Helden zu begegnen, doch so hatte ich es mir nicht vorgestellt. Von Zeit zu Zeit riskierte ich einen Blick, aber er sah mich immer dann an, wenn ich es tat. Ich fühlte mich albern, wie ich barfuß dastand, neun Jahre alt und an der Hand meiner Mutter. Es war wohl das einzige Mal, daß ich so tat, als hätte sie mich gerade am Straßenrand gefunden.

Aus der Nähe sah Billy Taylor etwa so alt aus, wie mein Vater war, als er wegging – um die Fünfunddreißig. Entweder war er höflich oder wußte, daß es keinen Zweck hatte, es zu versuchen, denn er ließ meine Mutter ausreden, bis nichts mehr kam. Da sagte er: »Es tut mir leid, Mrs.Shaw«, doch da legte sie gleich wieder los.

Dann sah er mich an, als sie ihn ansah, und lächelte. Das Lächeln wurde so breit, daß es ansteckend war, etwa so, als würde in meiner Klasse ein Mitschüler gähnen.

Ich glaube, ich liebte Billy Taylor von dem Augenblick an, in dem wir beide lächelten. Er war meinem Daddy zu ähnlich – dieses Zwinkern, wenn er einen ansah, war so gut wie alles, woran ich mich erinnern konnte. Billy Taylor sagte nur »Ja, Mrs.Shaw«, aber auf die gleiche Weise wie mein Daddy gesagt hatte: »Ja, Süße.«

Mein Vater war ein unglaublich hochgewachsener Mann gewesen; ich konnte mich nicht erinnern, ihm je weiter als bis zum Oberschenkel gereicht zu haben, es sei denn, er saß. Billy Taylor schien fast ebenso hochgewachsen zu sein, als er in seinem Ledermantel und den Stiefeln und der Mütze auf dem Kopf dastand. Ich fing wieder an, davon zu träumen, daß ich eines Tages genauso aussehen würde wie er.

Nach einiger Zeit nahmen wir beide die Stimme meiner Mutter nicht mehr wahr. Ich sah, wie sie ihm den leeren Eierkorb unter die Nase hielt, und ich glaube, er sagte, er werde bezahlen. Darauf erwiderte Mom, sie sei aus Prinzip wütend, was immer das bedeutete. Er versicherte ihr, die Hühner würden sich an den Lärm gewöhnen, aber sie schwor, das würden sie nicht. Dann hörte ich ihn sagen, er habe das Flugfeld gekauft und besitze eine eigene Flugschule. Dies sei die einzige Stelle, die dafür geeignet sei, und er könne nicht umziehen. Er werde hierbleiben.

Ich fragte mich, wie oft man mit Gott einen Handel machen kann.

Billy Taylor sah mich erneut an; und er mußte in meinen Augen etwas erkannt haben – Hoffnung, Aufregung, irgend etwas. Er sah zu seinem Flugzeug hinüber, und ich tat es auch. Er sagte: »Na geh schon, Junge, sieh sie dir an, aber daß du mir nichts anfaßt.«

Also sah ich mir die Maschine an, aber tu das nicht waren Worte, die in meinem Wortschaftz nicht vorkamen. Bei mir bedeutete das »Warum darf ich nicht?«

Ihr Name war Gloria.

Sie stand mit dem Heck auf der Erde da. Sie roch immer noch heiß. Ihr hölzerner Propeller war doppelt so lang wie ich. Er war glatt und glänzend. Nur an ein oder zwei Stellen sah ich einen Fleck, wo irgendein Insekt zerquetscht worden war. Ich drehte mich um. Billy Taylor sah nicht zu mir hin, und Mom hatte aufgehört zu weinen. Was immer er sagte, es funktionierte.

Ich berührte die Tragfläche. Die Oberfläche fühlte sich an wie Stoff, vielleicht Leinen. Ich tippte dagegen. Es fühlte sich hohl an. Ich berührte sie. Streichelte sie wie den Hund, den ich mal gehabt hatte. Sie mochte mich. Gloria mochte mich. Ich hörte sie fast flüstern, na komm schon, steig ein. Laß uns eine Zeitlang so tun, als ob.

Ich drehte mich zu dem Schuppen um, sah die Wörter auf dem Schild an. Ich versuchte sie zu lesen und stotterte mir langsam die Buchstaben vor. Das letzte Wort war immerhin leicht: Schule. Billy Taylors Flugschule.

Vergnügungsflüge. Fünf Dollar für fünfzehn Minuten.

Wenn ich meine Seele für fünf Dollar hätte verpfänden können, hätte ich es getan.

Billy Taylors Flugschule.

Meine Art von Schule.

Ich hörte Billy Taylors Stimme. »Zehn Cent pro Stunde, jeden Tag nach der Schule, an den Wochenenden vier Stunden.«

Das ergab fast einen Dollar in der Woche, was ebensoviel war, wie meine Mutter für den Verkauf ihrer Eier erhielt. Jedenfalls sagte sie das, als sie meine Hand hielt und wir quer übers Flugfeld nach Hause gingen. Ich hielt die Drähte auseinander, so daß sie hindurchklettern konnte, und sie tat das gleiche für mich.

»Verstehst du, John Robert?« fragte sie.

Ich sagte nichts; ich hatte nicht zugehört. Sie brauchte nicht auch noch einen dummen Sohn. Ihr genügten eine Tochter, die nichts als Tanzen im Kopf hatte, ein abwesender Ehemann und Hühner, die keine Eier mehr legten.

»John Robert, hast du auch nur ein Wort von dem gehört, was ich gesagt habe?«

»Ja, Ma, natürlich habe ich das«, erwiderte ich und hoffte, sie würde mehr sagen, damit ich den Anschluß bekam.

»John Robert, du hast einen Job.«

»Wo, Ma?«

»In Billy Taylors Flugschule. John Robert, du hast nicht zugehört.«

Sie gab mir aber keine Ohrfeige; statt dessen nahm sie wieder meine Hand.

Am Abend, als Meg auf der Veranda herumtanzte und tat, als wäre sie eine Primaballerina, dachte ich über diesen Tag nach. Daß ich es bis dahin nicht geschafft hatte, Gott sehr nahe zu kommen. Bis meine Mutter mich packte, mich in die Luft hob und mir einen Kuß auf die Wange schmatzte.

Ich hatte einen Job.

»Soso, vom Pfahl gefallen?« fragte Billy Taylor am nächsten Nachmittag um zwanzig nach vier.

»Ja, Sir, das bin ich.«

»Sehr weh getan?«

»Ich habe mir den Arm gebrochen, Mr.Taylor, Sir.«

»Sehr weh getan?« fragte er nochmals.

»Nein«, log ich und versuchte, die knallroten Finger an meiner rechten Hand zu verbergen.

Er grinste mich eine Zeitlang an, als hätte er mich in den letzten sechs Wochen jeden Tag dabei beobachtet, wie ich ihn beobachtete. »Ich hatte mal einen Jungen etwa in deinem Alter.«

»Tatsächlich, Mr.Taylor?« fragte ich, da ich nicht wußte, was ich sonst hätte sagen sollen. Das sagte meine Mutter auch immer, wenn sie nicht weiterwußte. Bei ihr hatte es immer funktioniert.

»Ja. Starb mit seiner Mutter bei einem Feuer. Das ist jetzt sieben Jahre her.«

»Tut mir leid, das zu hören, Mr.Taylor, Sir. Tut mir wirklich leid, das zu hören.«

»Deine Mutter hat einen ziemlich starken Willen.«

»Mögen Sie sie, Mr.Taylor, Sir? Finden Sie sie hübsch?«

Darauf sagte er nichts. Ich bekam zehn Cent pro Stunde fürs Arbeiten und nicht dafür, über meine Mutter zu sprechen, selbst wenn ich hoffte, er würde sie heiraten. Ich hätte einen neuen Vater gut gebrauchen können, vor allem einen wie ihn.

»Möchtest du fliegen, Junge?« fragte er.

»O ja, Sir. Und ob ich das möchte.«

»Warum?«

Ich hatte nie erwartet, daß er mich das fragte. Warum ich fliegen wollte? Genausogut hätte er mich fragen können, warum die Erde rund ist, obwohl sie platt ist, soweit das Auge reicht. Sie erstreckte sich bis in alle Ewigkeit. Es war mir schon immer schwergefallen, Gefühle in Worte zu kleiden, die andere verstehen konnten, und in diesem Moment hatte ich eine tote Stelle im Gehirn, die etwa die Größe der Appalachen umfaßte. Ich hatte schon immer solche toten Stellen gehabt, vor allem, wenn Mrs.Moriarty mir im Unterricht eine Frage stellte. Ich wußte zwar immer die Antwort, aber nichts kam je richtig heraus.

»Ich habe dich gefragt, warum, mein Junge.«

»Ich weiß es nicht, Mr.Taylor, Sir. Ich weiß es nicht. Aber ich habe zugesehen und mich so manches gefragt, und ich sehe die Vögel fliegen und Sie fliegen und dann denke ich, das kann ich auch. Etwa so. Sir.«

Er hielt mir einen Eimer und einen Putzlappen hin und sagte: »Du gehst da rauf und wischst die Kotze weg, Junge. Und wenn du dann immer noch fliegen willst …«

Ich hörte nichts mehr. Beim Wort »Kotze« blieb mir das Gehirn stehen. Kotze. Ich? Ich sollte Kotze aufwischen?

Ich sah Billy Taylor in die Augen und wußte in dem Moment, daß es Dinge gibt, die alles wert sind, sogar wenn man dafür Kotze aufwischen muß. Ich hoffte nur, meine Mutter würde nie davon erfahren. Sah es so aus, wenn man mit Gott einen Handel machte?

»Du bist jetzt ein Mann, John Robert. Mach mich stolz.« Meine Mutter hatte mir eine kilometerlange Liste von Dingen gegeben, die man tut und die man nicht tut. Ich weiß nicht, woran sie dachte, als sie mir den Hintern tätschelte und mir zusah, wie ich zu dem Flugfeld und der Flugschule losging. Eins weiß ich aber genau. Wenn sie gesehen hätte, wie ich die Kotze vom Vordersitz von Billy Taylos Doppeldecker aufwischte, mit geschlossenen Augen und aufgeplusterten Backen wie bei einem Ochsenfrosch im Frühling, hätte sie mich wohl kaum für einen Mann gehalten, der jemanden stolz macht – natürlich erst, nachdem sie sich halb totgelacht hätte.

Als ich fertig war und mein Mittagessen endlich aufgehört hatte, den Rückweg anzutreten, stellte ich fest, daß ich meine Seele nicht für fünf Dollar zu verpfänden brauchte. »Hast du einen Mantel?« fragte Billy Taylor, als er den Vordersitz seiner Maschine inspizierte. Nirgendwo Kotze.

»Nein, Sir.« Es war Juni. Es war heiß. Ich brauchte keinen Mantel. Ich sagte nicht, daß ich keinen besaß; vielleicht hatte er es erraten. Er kam aus seinem Schuppen mit dem Schild Billy Taylors Flugschule und hatte einen schwarzen Ledermantel mit Pelzkragen über dem Arm. Er roch nach Kotze. Oder vielleicht war ich es, der roch.

Ich zog ihn an. Ich fühlte mich wie ein Flieger mit den Füßen auf dem Erdboden und einem Schwärm wilder Bienen im Bauch.

Und als ich auf den Rücksitz kletterte, war ich zu klein, um über die Seitenwand viel sehen zu können, aber es war verdammt viel besser, als auf einem Zaunpfahl zu stehen und davon zu träumen, wie es sein würde.

»Ich möchte, daß du mir hilfst, mein Sohn«, sagte Billy Taylor, aber ich war zu sehr damit beschäftigt, mir die Instrumente, Schalter und anderen Dinge anzusehen, die man auf dem glänzenden Holzpaneel direkt vor mir ziehen mußte. »Hauptschalter ein«, sagte er. Ich suchte nach dem Hauptschalter. Ich stellte ihn auf »ein«. Dann aus. Dann ein. Fertigmachen zum Gasgeben. Wie zum Teufel machte man das? Er zeigte es mir. Choke raus, Choke rein …

Ich wollte fliegen? Wie sollte ich all das behalten?

Propeller klar?

Wieso das? Hier würde keinem Menschen der Kopf abgehackt werden, höchstens Billy.

Choke rein?

Kontakt.

Ich legte den Schalter von aus auf ein.

Drosselklappe offen?

Das war sie.

Er zog den Propeller herunter und sprang zurück. Der Motor sprang brüllend an. Das ganze Flugzeug erbebte. Ich machte mir fast die Hosen naß. Meine Knöchel waren schon weiß, und mir sprangen fast die Augen aus dem Kopf. Ich dachte, ich würde gleich sterben. Natürlich hatte ich die Maschine landen und sogar abheben sehen. Doch jetzt saß ich drin. Das war etwas völlig anderes.

Billy Taylor ließ mich auf dem Vordersitz sitzen. Ich sah nichts als den Kreis grauen Nebels; alles, was ich fühlen konnte, war das erwartungsvolle Zittern des Flugzeugs.

Als die Hand mich an der Schulter packte, glaubte ich, ich würde sterben. Er hörte mein Schreien nicht. Ich hörte es nicht einmal selbst. Ich versuchte mich an alles zu erinnern, was ich in der Sonntagsschule an mir hatte vorbeirauschen lassen, aber das einzige, was mir in den Sinn kam, war die Stimme meiner Mutter vor dem Abendessen: »Segne, was du uns bescheret hast …«

Billy Taylor hörte mein Schreien nicht, als wir über das Gras auf den Zaun zurasten. Sollte er es doch gehört haben, ignorierte er es. Er hörte mein Schreien auch nicht, als der Erdboden plötzlich nicht mehr da war. Aufsteigen in steilem Winkel, als kletterte ich in den Apfelbaum, und dann wieder runterrutschen und sich festklammern, dann eine scharfe Linkskurve … Ich betete nur, mein Magen möge lange genug an einer Stelle bleiben, damit ich die Augen aufschlagen konnte.

Wieder eine Hand auf der Schulter. Dann wußte ich, warum es hier Kotze gab. Billy Taylor machte seinen Passagieren so viel Angst, daß sie gar nicht anders konnten.

Er brüllte etwas, was ich nicht hörte, und ich schlug die erstarrten Augen auf und folgte mit den Blicken seinem Finger. Da in der Ferne lag Abbeville. Aus der Luft sah es anders aus, aufgeräumt, sauber. Mein Haus war näher. Jesus, betete ich, laß mich nicht auf unser Dach kotzen.

Da war das verrostete Eisen; die Dachrinnen, die nach und nach heruntersackten, die gelben Rosen hinterm Haus, Meg, die gerade aus dem Klohäuschen kam. Ich erkannte sie an ihrem roten Haar. Meine Mutter bückte sich gerade, um ins Hühnerhaus zu gehen. Das Gemüsebeet sah von da oben sehr ordentlich aus.

Billy Taylor umkreiste das Haus zweimal und flog uns dann nach Südwesten. Land, Land, soweit ich sehen konnte – in einer Minute flogen wir den Rand des Sumter Forest entlang, in der nächsten blickten wir auf die Wasserfälle bei Calhoun hinunter, und gerade als ich dachte, wir wollten in der Nähe von Antreville landen, neigte sich die Maschine stark zur Seite – so sehr, daß ich dachte, ich würde gleich hinausfallen.

Als ich wieder die Augen aufschlug, sah ich Abbeville. Wir hielten direkt auf die Main Street zu und gingen hinunter, immer mehr hinunter – wir flogen so niedrig, daß ich schon glaubte, er wolle direkt vor der Bank landen. Und bevor ich wußte, wie mir geschah, ging es wieder aufwärts. Wir verpaßten nur knapp das Denkmal, gingen in eine Linkskurve und gingen hinunter – so nahe beim Zaun, daß ich dachte, wir würden ihn umreißen.

Kein Wunder, daß ich hinuntergefallen war. Und in dem Augenblick wußte ich, daß ich gesehen worden war – der Junge auf einem Zaunpfahl, der jeden Tag um fünf nach vier dort stand. Ich wußte, daß dieser Flieger mich hatte herunterfallen und mir den Arm brechen sehen.

Ich glaube, mein Herz fing wieder an zu schlagen, als die Räder die Erde berührten und nach ein paar kräftigen Hüpfern schließlich dort blieben. Neben dem Schuppen kam der Propeller zum Stehen. Die Maschine hustete, furzte, und dann kam nichts mehr. Ich konnte die Finger meiner linken Hand kaum bewegen; meine Muskeln hatten sich verkrampft.

Billy Taylor half mir hinunter und hielt mich aufrecht, während meine Knie versuchten, mich zu tragen.

Es war erstaunlich, aber ich hatte mich nicht vollgekotzt und mir auch nicht in die Hosen gemacht. Ich fühlte mich so lebendig, daß ich hätte weinen mögen.

»Nun, Junge, möchtest du immer noch fliegen?«

»Und ob ich das will, Mr.Taylor, Sir. Und ob.« Ich tat so, als hätte mir der Wind die Tränen in die Augen getrieben.

Billy Taylor gab mir zehn Cent und sagte mir, ich solle am nächsten Tag wiederkommen.

Als ich nach Hause ging, dachte ich, daß es wohl der einzige Tag seit einem ganzen Jahr war, daß ich meinen Daddy vermißte. Er hätte sich meine Geschichte angehört. Er hätte vielleicht nicht viel gesagt, aber er hätte zugehört.

Da es nicht um Ballett ging, wollte Meg nicht wissen, wie es mir ergangen war. Sie würde nur zuhören, wenn ich ihr draußen hinter dem Klohäuschen Hände und Füße zusammenband, aber an diesem Nachmittag war ich zu glücklich, um zuzulassen, daß sie mich anspuckte. Ich sagte nur »Ich bin geflogen«, als ich die Treppe hinaufrannte. Meg zog ein Gesicht und wirbelte weiter auf ihren Zehen herum.

Ich gab meiner Mutter das Geld, das ich verdient hatte – mir war immer noch nicht klar, warum ich fürs Fliegen bezahlt worden war –, und sie legte es in die Keksdose. Aber meine Mutter war wie meine Schwester – sie wollte auch nicht Bescheid wissen. »Ich bin geflogen«, sagte ich in der Hoffnung, sie würde etwas sagen, irgend etwas.

»Wie schön, John Robert. Hol mir drei Kartoffeln.«

Das war nicht gerade, was mir vorgeschwebt hatte, aber ich wußte ohnehin nie, was die beiden als nächstes sagen würden. Also ging ich hinten auf den Hof zu dem Sack und brachte drei Kartoffeln. »Es war großartig dort oben, Ma.«

Sie warf mir einen Blick zu, den ich nie vergessen werde. Für streunende, hungernde Hunde hatte sie den gleichen Blick.

»Es ist wirklich großartig da oben.«

Ich konnte das Gefühl von Freiheit nicht anders erklären. Ich kann meist nicht erklären, wie mir zumute ist. Manche Leute können sich gut ausdrücken, andere können gut schreiben. Sollte es je zu einem Krieg mit Wörtern kommen, würde ich wahrscheinlich auf der Stelle kapitulieren.

»Ich kann mir vorstellen, daß es schön da oben ist, John Robert, aber ich habe die Füße lieber auf der Erde. Der Himmel ist für Menschen nicht der richtige Ort. Wenn wir fürs Fliegen geschaffen worden wären, wären wir mit Flügeln auf die Welt gekommen. Merk dir das.«

Ich grübelte über ihre Worte nach. Vielleicht hatte Gott gerade deshalb beschlossen, Flugzeuge erfinden zu lassen, damit die Menschen fliegen konnten.

In der Schule glaubte mir auch niemand. Es machte mir aber nichts aus. Endlich hatte ich etwas Wirkliches, wofür ich leben konnte – jetzt tat sich eine ganze neue Welt vor mir auf. Ich begrüßte den Tag mit einem vor Vorfreude schnell schlagenden Herzen. Ich versuchte sogar, bei Mrs.Moriarty aufmerksam zu sein, und meine Mutter fragte sich, was mit mir nicht stimmte, als ich nicht mehr versuchte, mich um die Sonntagsschule herumzudrücken. Ich ging nur hin, weil der Sonntagmorgen so schneller verging, aber ich glaubte, das ist ihr nach einiger Zeit auch aufgegangen.

Eine Zeitlang wurde Billy Taylor mein Held, bis er mir eines Tages von einem Franzosen erzählte, der den Ärmelkanal überflogen hatte. Das erregte meine Aufmerksamkeit, denn Billy flog nur in South Carolina herum. Folglich fragte ich meine Mutter, wo die Franzosen lebten, weil ich den Franzosen fragen wollte, wie es gewesen war, und am nächsten Tag, als wir in die Stadt gingen, zeigte sie mir in einem Buch Frankreich und den Rest der Welt.

Das Buch, das wir uns ansahen, behandelte ein weit größeres Territorium als South Carolina oder auch nur die Vereinigten Staaten. Ich sah ihr in die Augen und sagte ihr, daß ich eines Tages um die ganze Welt fliegen würde. Und ich würde mit den USA anfangen.

Von da an hatte meine Mutter einen anderen Lieblingsspruch. Jetzt gab es kein »Hab ich’s dir nicht gesagt?« mehr; jetzt hieß es »Das ist aber nett, John Robert.«

Sie verlor aber nie ganz diesen Ausdruck in den Augen, diesen Blick, mit dem sie sonst nur streunende, hungernde Hunde ansah.

Das meiste von dem, was er gekritzelt hatte, war unlesbar. Seine Schrift war nie sonderlich gut gewesen, und außerdem mußte er dazu eine Hand benutzen, die ihm seit seinem neunten Lebensjahr den Gehorsam verweigerte. Hier und da fand sich ein Wort, das so etwas wie ein Schlüssel zu dem Sinn des Ganzen zu sein schien. Er fühlte sich wie eine Sekretärin, die die Handschrift ihres Chefs nur anhand der Schleifen eines Konsonanten entziffern kann.

Es gab nicht viel, was einen Sinn ergab. Es war schwierig, in der Kälte zu denken, und fast unmöglich, einen Bleistift zu halten. Die Finger seiner unsichtbaren Hand schmerzten auch. Alles tat weh.

Er hatte das Gefühl, als wäre sein bisheriges Leben – alle vierundzwanzig Jahre – nur ein Traum gewesen, als wäre es etwas Unberührbares, was er nur am Saum zu fassen bekam. Auf diesem Papier stand keine Handschrift. Es war eine durcheinandergewürfelte Masse von Hieroglyphen, die sich allein aus dem Gedächtnis übersetzen ließen. Und alles, was er an Erinnerung besaß, war die eines neunjährigen Jungen – klar, sauber, unschuldig.

Er konnte sich aber nicht an das erinnern, was gestern geschehen war. Auch nicht an den Namen seiner Mutter. Einer der wichtigsten Menschen seines Lebens stand ihm so klar vor Augen, doch ihr Name war für ihn nicht zu fassen.

An Meg erinnerte er sich jedoch. Sie trug das ausgefranste Ballettröckchen, das ihr jemand geschenkt hatte. Fünf Schritte bis zum Ende der Veranda, Drehung, fünf Schritte zurück. Die nackten Holzdielen waren durch das ewige Gleiten bestrumpfter Füße zu einem tiefen Glanz poliert worden. Meg, ohne Vorderzähne, langes, ungebärdiges rotes Haar, strahlend grüne Augen. Meg die Ballerina. In den Augen Sterne einer anderen Art.

Da waren ungetrübte, scharfe Erinnerungen an ein Haus, gesehen aus fünfzehn Meter Entfernung. Und Erinnerungen an einen Freund – Bobby Sullivan, den stets zu Streichen aufgelegten Witzbold, dessen Gesicht jedes Mädchen dazu brachte, sich mehr als nur einmal umzudrehen.

Ich war fünfzehn, als ich mit Billy Taylor zum ersten Mal nach Florida fuhr. Mama stand auf dem Bahnsteig, hielt Meg an den Schultern und hob ihre Hand, als der Zug anfuhr. Ich verstand nicht, warum sie weinte; ich würde doch nur eine Woche wegbleiben.

Eine Woche in Florida mit Billy Taylor. Ich rannte mir die Hacken ab, um Gesellschaft oder Anschluß zu finden, während er sich ein neues Flugzeug kaufte. Er hatte seine Maschine im Bach gelandet. Er hatte sie in das Wasserloch südlich des Flugfelds gesetzt, als der Motor es nicht geschafft hatte, die Maschine abheben zu lassen. Ich war sofort hingerannt und dachte, er sei tot – Teufel auch, er mußte tot sein –, doch er kletterte heraus, ging eine Zeitlang auf die Seite und versetzte der Maschine dann einen heftigen Fußtritt. Jetzt waren wir in Florida, um nach einer Jenny zu suchen, wie er sie nannte. Einer Curtiss Jenny. Einhundert PS, Spannweite elf Meter, fast neun Meter lang. Fluggeschwindigkeit fünfundsiebzig Meilen pro Stunde, Reichweite zweihundertfünfundzwanzig Meilen. Er sprach von ihr, als wollte er sie heiraten. Ich kannte Billy Taylor jetzt seit sechs Jahren und hatte nie die Hoffnung aufgegeben, daß er meine Mutter heiraten würde. Es funktionierte jedoch fast so, wie ich wollte – er tat, als wäre er mein Vater, und ich spielte seinen Sohn.

Einen wie den, den er beim Brand des Hauses verloren hatte. Doch er erzählte mir nie davon. Manchmal hatte ich das Gefühl, er würde es tun – an manchen Tagen war er still und sah mich so komisch an –, aber dann tat er es doch nicht.

In Florida lernte ich Bobby Sullivan auf einem Flugplatz außerhalb von Miami kennen. »Ich wünschte, mein alter Herr besäße ein Flugzeug«, war das erste, was er mir sagte.

Ich erzählte nicht, daß Billy Taylor mein Chef war und nicht mein Vater. Ich sagte nichts weiter als: »Ich glaube, ich setze mich eine Zeitlang hierher, Sir«, und nachdem Billy losgegangen war, um sein neues Flugzeug zu inspizieren, sah ich Bobby bei dem zu, was auch ich getan hatte, nämlich die Maschinen zu säubern. Er sprach nicht viel, ich aber auch nicht. Doch Bobby grinste, als ich sagte, es gebe nur eins, was ich auf den Tod haßte, nämlich die Kotze von jemand anderem wegzuwischen. Ich nehme an, er hatte das auch zur Genüge kennengelernt.

Ich sah sein Fahrrad; es sah aus, als wäre es von hundert Müttern auf einer Müllkippe geboren. So war es auch. Bobby Sullivan war ärmer als wir. Ich fühlte mich nicht so unwohl. »Hab es selbst zusammengebaut«, sagte er, ob nun mit Stolz oder Scham in der Stimme, konnte ich nicht feststellen.

Bobby Sullivan gefiel mir. Während ich keinen Vater hatte, hatte er keine Mutter, doch das war schon fast alles, was wir gemeinsam hatten, abgesehen von unseren Träumen. »Was ist mit ihr passiert?« fragte ich.

»Sie starb einfach. Pa spricht nicht über sie. Zu sehr damit beschäftigt zu trinken.«

Meine Mutter sprach aber über meinen Vater, meist wenn ich etwas Falsches gemacht hatte, und dann hieß es immer: »John Robert, wenn dein Vater noch am Leben wäre, würde er sich im Grab umdrehen, um zu sehen, was du gerade getan hast!«

Ich wurde nie so recht aus ihr schlau. Vielleicht lag es daran, daß sie kaum jemanden in ihrem Alter hatte, mit dem sie sprechen konnte – außer Billy Taylor, und der sprach nur vom Flugzirkus, und dafür interessierte sie sich nicht im mindesten. Ich glaube, es machte ihr Angst. Und Meg hatte nichts als das Tanzen im Kopf. Meine Mutter sprach oft mit den Hühnern.

Bobby Sullivan hörte sich alles an, was ich zu sagen hatte. Ich glaube, ich habe lange Zeit nicht mehr soviel mit einem anderen Menschen gesprochen, vielleicht nur mit einem meiner Vettern, doch nach dem Tod meines Vaters habe ich den kaum gesehen.

Bobby ging nicht in die Schule. Sagte, er hätte es einmal versucht. Wenn er schon wie Vieh irgendwo eingepfercht sitzen müsse, würde er lieber die Schlachthöfe besuchen und dort mehr lernen. »Hast du schon mal ’ne Kuh gesehen, bevor sie geschlachtet wird?«

»Nee«, erwiderte ich.

»Die wissen das, verstehst du. Sie wissen es. Es ist Angst in diesen großen schwarzen Augen. Es ist Angst.«

Bobby hatte auch dunkle Augen. Ich hatte noch nie so dunkle Augen bei einem Menschen gesehen. Eine Zeitlang hielt ich ihn für einen Indianer, einen Apachekrieger wie die in einem Buch, das ich einmal gelesen hatte. Cowboys und Kavallerie, wie sie die Indianer getötet haben. Ich erzählte ihm die Geschichte; er hörte zu, und als ich fertig war, sagte er: »Pa sagte, Ma stammte aus Kuba. Sie war keine Indianerin. Sie ist eine Woche nach meiner Geburt gestorben. Das ist alles, was ich je zu hören kriege. Wie ich meine Ma umgebracht habe.«

Mir gefiel der Ausdruck in seinen Augen nicht. »Oh«, war alles, was mir im Augenblick einfiel. »Was zahlen sie dir in Florida?« fragte ich.

»Und was zahlen sie dir, wo du herkommst?« fragte er.

»Einen Dollar fünfundsiebzig in der Woche.«

»Ich kriege fünf.«

Es kam mir nie in den Sinn, Billy Taylor um mehr als einen Vierteldollar pro Tag zu bitten, da sich die Hühner jetzt an den Lärm gewöhnt hatten und wieder Eier legten. Mom machte sich nicht mehr so viele Sorgen, und wir hatten genug zu essen.

»Ich will Pilot werden«, sagte Bobby, als ich mich unter die Tragfläche einer Jenny von 1916 setzte. »Ich spare mein Geld, um mir ein eigenes Flugzeug zu kaufen.«

Darauf konnte ich nicht viel sagen. »Hast du gewußt, daß die Brüder Wright mit einer Münze gelost haben? Der Verlierer flog als erster. Hast du das gewußt?« fragte ich in einem Versuch, ihn zu übertrumpfen. Ich wollte ihm erklären, was Billy Taylor mir vor langer Zeit erzählt hatte.

»Natürlich weiß ich das«, erwiderte Bobby. »Woher kommst du übrigens?«

Ich sagte es ihm.

Nun, in South Carolina sei er schon mal gewesen, aber nein, Abbeville kenne er nicht. Er habe aber davon gehört, die Geschichten von den Konföderierten und den Yankees und all dem. Wenn er alles zusammenzähle, sei er in New York und Minnesota gewesen und einmal auch in Cheyenne, und der Staat Washington sei wirklich schön. Die Mädchen dort seien auch hübsch. Er zeigte mir auf einer Karte all die Orte, an denen er gewesen war. Vielleicht glaubte er, beim Lügen nicht erwischt zu werden. Vielleicht fühlte er sich besser so. Ich war aus South Carolina und würde ihn wahrscheinlich nie wiedersehen.

Einige Leute haben jedoch die Gewohnheit, gerade dann wieder aufzutauchen, wenn man es am wenigsten erwartet. Bobby Sullivan war wohl der beste Freund, den ich je hatte.

Und als Billy Taylor von seiner Inspektion der Jenny zurückkam, die er kaufen wollte, sagte Bobby: »Ich werde eines Tages direkt zum Nordpol fliegen.«

»Tatsächlich?« sagte ich und stand auf. Ich wischte mir den Staub von den Kleidern. »Ich werde einmal um die ganze Welt fliegen.«

Bobby Sullivan schaffte es nie, aus Atlanta in Georgia herauszukommen. Ich sah ihn 1924 sterben.

John hielt inne und ließ den Bleistift fallen. Die Frau sah zu ihm hoch, neugierig, wenn nicht sogar besorgt. Sie lächelte, und er versuchte ihr Lächeln zu erwidern.

Ihr Gesicht war das erste, das er deutlich wahrgenommen hatte, und nur ihres hatte er seitdem ständig gesehen. Sie lächelte immer, verbarg aber wie seine Mutter nie diesen Blick, der sonst nur streunenden, hungernden Hunden vorbehalten war. Sie wußte nicht, was er war oder warum er es war. Sie hatten jedoch eins gemeinsam: Beide verstanden die Bedeutung eines Lächelns.

»Ich fange an, mich an mehr Dinge zu erinnern.«

Er zeigte ihr, was er geschrieben hatte, aber sie verstand nicht, was er sagte und was er tat. Sie fuhr mit ihrer Arbeit fort – packte ihren Anteil an den Vorräten aus. Er sah aus reiner Gewohnheit zu. Noch ein Topf mit Fett – Fett des Medizinmanns –, übelriechend, dick. Außerdem packte sie so viel rohen Fisch aus, daß sie für eine weitere Woche genug zu essen hatten. Für den Geschmack eines Apfels, eines Erdbeermilchshakes oder einer heißen gebackenen Kartoffel hätte er jetzt seine Seele verkauft.

Er hatte die Dose mit Bohnen gegessen und für seine Gier teuer bezahlt. Er hatte ihr etwas davon angeboten, aber allein schon das Aussehen und der Geruch hatten sie zurückschrecken lassen. Der Anblick von rohem Fisch drehte ihm immer den Magen um. »Himmel«, stöhnte er.

Sie äffte dieses »Himmel« nach und lächelte. Sie setzte sich neben ihn und sah ihm in die Augen. Er wußte, daß sie seine Augen mochte. Er wußte, daß sie sein Haar mochte. Sie berührte es immer wieder, als wollte sie sich vergewissern, daß es echt war. Dann brach sie immer in hysterisches Lachen aus.

Sie sah wieder auf das, was quer auf seinen Beinen lag, und fragte, was es sei.

Eskimos kannten keine Schrift.

John wußte aber, wann ihm eine Frage gestellt wurde, selbst wenn er die Sprache noch nicht verstand.

»Erinnerungen«, war alles, was er sagte. Er legte seinen gesunden Arm um sie und zog sie eine Weile eng zu sich heran.

Es gefiel ihr, wenn er das tat.

Seiner Eskimofrau gefiel aber alles, was er tat.

2

Kioki redet viel. Es kommt mir vor, als versuchte sie mir Eskimo beizubringen. Sie glaubt wohl, daß noch Hoffnung besteht, weil ich es schließlich geschafft habe, mit einiger Mühe ihren Namen nachzusprechen.

Sie hält einen Gegenstand hoch, gibt mir vier Worte, ihn zu beschreiben, und wenn ich den fremdartigen Lärm zu imitieren versuche, der bei ihnen als Sprache gilt, lacht sie wie hysterisch los. Mir ist nicht klar, was daran so komisch ist, nehme aber an, daß man nur zu glücklich ist, eine Chance zum Lachen zu ergreifen, jede Chance, wenn man in diesem tiefgekühlten Höllenloch leben muß. Ich lache nicht über sie, wenn sie John nicht richtig aussprechen kann.

An dem Tag, an dem ich beschloß, die nähere Umgebung dieses engen Schneehauses zu erkunden (ich weiß nicht, wie ich es sonst nennen soll), humpelte ich hinaus und benutzte einen Walknochen als Krückstock. Ich nahm ihn aus der Wand, und das Haus fiel nicht in sich zusammen, obwohl ich es erwartete.

Kioki wollte nicht, daß ich gehe. Ich weiß auch nicht genau, warum ich es tat, denn die Außentemperatur ließ meinen Atem in der Luft gefrieren, und der heulende Wind wehte ihn mir gleich wieder ins Gesicht. Ich wußte erst dann, daß ich einen Schnitt in der Wange hatte, als die Taubheit verschwand.

Erst jetzt weiß ich, was dieser alte Goldsucher aus Anchorage meinte, als er in jener Nacht zu mir sagte: »Sonny, wenn du keinerlei Schmerz spürst, bist du in Schwierigkeiten.« Damals hielt ich ihn für betrunken.

Sogar meine Augäpfel gefroren fast. Ich habe noch nie eine so spiegelglatte Eisfläche gesehen. So weit ich blicken konnte, war das Meer flach und grau. Durch den Wind konnte ich das Grollen, Knacken und Reißen hören, als sich das Eis teilte. Da waren Männer draußen auf dem Eis, etwa acht, die alle um ein Loch kauerten, als warteten sie. Wie schafften sie das? Ich befand mich erst seit wenigen Minuten im Freien und war schon jetzt am ganzen Körper taub.

Ich konnte nicht sagen, wo Norden, Süden, Osten oder Westen war, aber rechts von mir jagte eine schwarzgraue Wolkendecke den dicksten Nebel vor sich her, den ich je gesehen hatte. Er rollte schneller heran als jeder Sommersturm vor den Florida Keys, aber von den Jägern da draußen nahm kaum jemand Notiz davon – ich nehme an, sie leben schon länger mit diesem Wetter als ich.

Also machte ich mich auf den Rückweg, wurde von einem Windstoß von hundertdreißig Stundenkilometern erfaßt, verlor den Halt unter den Füßen und trat in mehr als einen Meter dicken Schnee. Ich hörte das Knacken von Knochen, lange bevor ich den Schmerz spürte. Aber ich weiß, daß der Schrei Tote hätte aufwecken können. Was folgte, ist wieder verschwommen. Kioki rief: »Asuluk! Asuluk!« und ich glaube, daß zwei Leute mich wieder hineintrugen, obwohl ich nicht sicher bin.

Der Medizinmann, Asuluk, kam angerannt, zog mich von der Taille an abwärts aus und sang leise vor sich hin. Kioki hielt mir den Kopf, und kalte Hände rückten plötzlich die Knochen wieder zurecht.

Ich weiß noch, daß ich mich aufrichtete und dem, was ich für den Dorfquacksalber hielt, einen rechten Haken verpaßte, und zwar eine halbe Sekunde, bevor ich mich auf ihn übergab. Kioki schrie, und ich auch. Sie zwang mir etwas in den Schlund. Es war bitter, scharf und heiß. Die Welt drehte sich dreimal schneller, als wenn man in achthundert Fuß Höhe ins Trudeln gerät. Ich kann mich nicht erinnern, in Ohnmacht gefallen zu sein.

Doch als ich aufwachte, war ich in dicke warme Felle gehüllt, und Kioki schlief neben mir. Mein Bein fühlte sich schwer an und wie tot, mit Ausnahme eines Juckreizes, den ich durch Kratzen nicht loswurde, und ich konnte es nicht bewegen. Ich sah es mir an. Sie hatten mich mit meinem Krückstock geschient.

Mein einziger Gedanke war, noch sechs Wochen, bevor ich gehen kann. Noch sechs Wochen, bevor ich mir eine Möglichkeit ausdenken kann, hier rauszukommen.

Ich spürte Kiokis warmen Körper ganz dicht bei mir. Ich spürte ihren Atem und wartete auf den Schmerz, an den ich mich gewöhnt hatte. Doch ich spürte fast nur ihren Duft. Ich weiß noch, daß ich dachte, Gott, o Gott, warum kann sie nicht Sally sein? Aber Gott hat mir nie geantwortet, wenn ich eine Antwort am meisten nötig hatte. Kioki wälzte sich herum und kuschelte sich dichter an mich. Sie schlug die Augen auf und lächelte mich an, und ich wußte auch, was in ihren Augen zu sehen war. Also lächelte ich zurück und drückte sie für einen Moment enger an mich. Dann schloß ich die Augen, und es war nicht Kioki, die ich an mich preßte. Es war Sally – Sally, die keinen anderen Namen hatte, weil ich mir nie die Mühe gemacht hatte zu fragen.

Es ist nicht das erste Mal, daß ich Tagträume von ihr habe, und ich weiß auch, daß es nicht der letzte sein wird. Es kann zwar sein, daß die Erinnerung auf alten Spuren wandert, aber Tagträume machen immer ein paar Umwege.

Eins weiß ich jetzt jedenfalls genau: daß bei dem Absturz nicht meine gesamte Hydraulik draufging.

Aber jemanden zu wollen, mit dem man erst ein paar Stunden verbracht hat, hilft nicht sehr. Weil sie nicht da ist. Ich weiß, daß ich sie nie wiedersehen werde.

Verdammt. Wenn ich nur Prince Rupert erreicht hätte, dann Vancouver und schließlich Seattle, hätte ich diesmal so lange bei Sally bleiben können, wie ich wollte. Ich hätte vielleicht sogar ihren Namen erfahren.

Ich erinnere mich gut an den Sturm – wieder so ein Sturm, der mich vom Kurs abtrieb und meine Ankunft in Seattle um einen Tag verzögerte. Sicht gleich Null, Nebel so dicht, daß ich kaum die Spitzen der Tragflächen sehen konnte. Mehr durch Glück als durch meine Flugkünste entdeckte ich ein kahles Stück Berghang; in Wahrheit verpaßte ich ihn nur um knapp fünf Meter, als sich plötzlich eine Lücke im Nebel auftat.

Durch den Wald führte ein Weg, der zum Landen zu schmal war. Meine Beine waren vor Kälte verkrampft, und so begann ich zu beten. Das habe ich immer getan, wenn ich keine andere Wahl hatte. Dann sah ich es, zwei Morgen, auf denen kaum ein Baumstumpf zu sehen war, eine Stelle, die Gott nur eigens für mich erschaffen haben konnte.

Ich landete, vergaß Gott und überlegte, was ich als nächstes tun sollte.

Ich ging etwa eine Meile auf einem schmalen, schlammigen Weg und weiß noch, daß ich in dem Moment dachte, jetzt solltest du umkehren. Ich weiß noch, daß ich sagte, Schluß jetzt, nicht mehr weiter. Ich würde Miami anrufen und Sam sagen, daß ich nach Hause kam. Ich übte jedes verdammte Wort ein.

Dann sah ich den Handelsposten. Rauch stieg aus einem Schornstein auf. Rauch, Feuer, Wärme. Zehn Jahre Fliegen hatten mich gelehrt, daß Leute, die weit weg von anderen leben, für jede Gesellschaft dankbar sind.

Mir war nur nicht klar, wie dankbar einige sein konnten.

Zum Laden führten vier Treppenstufen. Ein alter Indianerhäuptling aus Holz, der seit Anbeginn der Zeiten dort gestanden hatte, bewachte die Tür. Die rote Farbe auf seinem Gesicht war so gesprungen wie meine Lippen. Der besiegte Ausdruck in seinen Augen folgte jeder meiner Bewegungen. Ich war hungrig, naß, durchgekühlt, und diese vier Treppenstufen kamen mir vor wie der Mount Everest.

Der Laden hatte eine Glocke, die herunterfiel, als der Nordostwind mich ins Haus schob. Ich hätte mehr als ein verblichenes Schild mit der Aufschrift BITTE TÜR SCHLIESSEN dort hingehängt. Ich stemmte mich gegen die Tür und schob sie langsam zu, hob dann die Glocke auf und versuchte zu sehen, wo sie hinpaßte.

Das war nicht ungewöhnlich; ich hatte anderen Leuten schon immer irgendwelche Dinge kaputtgemacht.

»Ganz schön windig draußen«, sagte eine weiche, mädchenhafte Stimme. Ich hatte das Mädchen weder gesehen noch gehört.

Sie hatte grüne Augen und Haar, das so rot war wie das von Meg. Sie war nur etwa 1,55Meter groß; sie nahm mir die Glocke aus der Hand, bestieg eine Leiter und hängte sie wieder hin. Das hätte sie gar nicht tun müssen, ich wäre auch so herangekommen. Aber ich habe nie Mühe gehabt, Dinge zu erreichen, an die andere nicht herankamen. Ich war 1,92Meter groß – ich hatte von meinem Vater alles bis auf einen einzigen fehlenden Zentimeter geerbt. Vor dem Abflug aus Florida hatte ich meiner Mutter versprechen müssen, wiederzukommen. Sie sagte, wenn sie mich ansähe, sehe sie meinen Daddy.

Da fragte ich mich wieder, ob er sie hatte sitzen lassen und nicht gestorben war.

Nun, Mom, sagte ich mir, ich komme jetzt zurück. Du hast am Ende doch deinen Willen durchgesetzt.

»Sind Sie nach Seattle oder Vancouver unterwegs?« fragte das rothaarige Mädchen.

»Nein. Zum Pol«, sagte ich. Ich hatte es satt, wenn Leute mich fragten, wohin ich wollte und weshalb, obwohl es ihnen ohnehin egal war. Als wäre dieser Flug quer durchs Land nur für mich wichtig. Der Glanz dieser persönlichen Trophäe, für die die Zeitung in Miami zahlte, verblaßte allmählich.

»Zum Pol?« fragte sie.

War es eine Stadt, von der sie noch nichts gehört hatte? Ein neues Holzfällerlager? »Ich mußte wegen des Sturms landen.«

»Waren Sie das, der vor einiger Zeit hier herumbrummte?«

»Ich nehme es an.« Es hatte zwei Stunden gedauert, bei beißendem Gegenwind bis hierher zu marschieren. Der peitschende Eisregen hätte genügt, einen Puma zu lähmen, und jetzt schneite es. Es war Frühling, und es schneite. Ich nehme an, es ist durchaus gerechtfertigt zu sagen, daß ich restlos die Schnauze voll hatte. Doch dann sah ich ihr in die Augen, und mein Zorn schmolz dahin. Ich lächelte. Ich konnte es immer noch. Es kam mir vor wie ein Wunder.

Meine Mutter sagte immer, ich hätte so eine besondere Art, ein Mädchen anzusehen und zu lächeln und sie erröten zu lassen. Dieses Mädchen hier war keine Ausnahme, doch im Augenblick war ich zu durchgekühlt und angeödet, um es zu bemerken.

»Wie ist es denn?« wollte sie wissen.

»Was?« fragte ich zurück. Die Zähne klapperten mir wie verrückt.

»Da oben am Himmel.«

»Das Richtige für Leute, die mit Federn auf die Welt kommen wollten, nehme ich an.« Das war meine Standardantwort auf die Standardfrage.

»Wo ist der Pol?« fragte sie.

»Es ist die Spitze der Welt, die Arktis.« Ich hatte gerade sagen wollen, daß ich nur einen Spaß gemacht hätte, daß ich von Florida über Land nach San Francisco, Seattle, Anchorage fliegen wollte und von dort quer übers Land nach Maine, zurück nach Florida und allzu vielen Orten dazwischen, doch sie war mir zuvorgekommen.

»Da oben gibt es nichts als Eis.«

Nichts als Eis. Dem kam ich jeden Tag näher. Ich war durchnäßt, ich war durchgefroren. Alles, was ich wollte, war etwas Heißes zu trinken und ein Telefon, bevor Kälte und Erfrierungen mich umbrachten, bevor meine nassen Kleider zu Eis erstarrten. Ich konnte mir bessere Orte zum Sterben vorstellen, und Clearwater Beach, Miami, stand ganz oben auf meiner Liste.

»Wollen Sie etwas kaufen, Mister?«

Ich konnte nirgends ein Telefon sehen, nur Regale an den Wänden des dunklen Ladens – Regale mit ein paar Konservendosen, Flaschen, Blechdosen mit Tabak – und diesen alten Indianer, der mich immer noch anstarrte, obwohl ich ihn nicht sehen konnte. »Was haben Sie mir denn anzubieten?«

Sie errötete wieder. Ich wußte nicht, weshalb sie kicherte. Bobby Sullivan sagte immer, das sei ein gutes Zeichen. Es hätte vielleicht bei ihm funktioniert, aber ich war zu ausgekühlt, um mir etwas daraus zu machen. Ich fühlte mich kalt, durcheinander, angeödet.

»Haben Sie irgendwas Heißes?«

»Aber sicher. Sie sollten sich lieber abtrocknen, bevor Sie sterben. Der Erdboden ist immer noch viel zu schlammig. Wir könnten Sie gar nicht begraben. Es ist ein langer Winter gewesen.« Sie sagte es mit einem Lächeln und führte mich am hinteren Ende des Ladens in einen kleinen Raum mit Blockhauswänden. Ein Tisch, zwei Stühle, Regale an der Wand und zwei Pritschen. Als erstes fiel mir das brüllende Kaminfeuer auf. Es zog mich an wie das Licht eine Motte.

Sie machte mir einen Kaffee – heiß, stark und süß –, und ich setzte mich in einer winzigen Küche neben das Feuer und sah zu, wie sie mit dem weitermachte, was sie vorhin begonnen hatte, als ich, der hochgewachsene Fremde, aus dem Blizzard hereinkam. Sie war dabei, ein Abendessen zu kochen, und es roch wie eine Art Eintopf. Es roch phantastisch.

»Papa ist in Seattle«, sagte sie. »Ich bin allein hier.«

Wenn sie es in einem anderen Tonfall gesagt hätte, hätte es mich besorgt gemacht.

»Ziehen Sie die Kleider aus. Vielleicht passen Ihnen ein paar von diesen Sachen.« Sie nahm ein Hemd, das fünf Nummern zu groß aussah, und einen Lumberjack, die an Haken hinter der Tür hingen, und wühlte in einem Kasten unter einem der Betten, bis sie ein paar Hosen hervorzog. Dann widmete sie sich wieder ihrem Essen und ignorierte mich, während ich die nassen Sachen auszog und sie auf den Stuhl neben dem Feuer legte. Meine Füße waren blau. Mit einem Fußtritt schickte sie ein paar Mokassins zu mir hinüber.

Ich zog mich an, streifte die Slipper über und setzte mich auf eine Holzkiste in der Nähe des Feuers. Sie erinnerte mich an eine jüngere Meg, aber Meg war nie so schön gewesen – jedenfalls war dies mein Eindruck. Dieses Mädchen war genauso unkompliziert. Würde kaum mit der Wimper zucken, wenn das Dach einstürzte. Hatte mich, einen Fremden, der vor einem Sturm Schutz suchte, bei sich aufgenommen. Teufel, ich hätte sonstwer sein können. Sonstwer.

Sie trug ein verblichenes rotes Kleid mit einem eingerissenen schwarzen Spitzenkragen und einem Cardigan; ihre Beine waren von den Knien bis zu den Knöcheln nackt. An den Füßen trug sie Mokassins.

»Wo ist Ihr Flugzeug?« fragte sie, genau wie Meg. Kam gleich zur Sache.

»Eine Meile weiter südlich.«

»Eine Meile weiter südlich … das müßte Johnsons Farm sein?«

Johnsons Farm. Ich hatte in der Nähe dieses gerodeten Stücks Land eine verlassene Hütte gesehen und war zu dem Schluß gekommen, daß ich trockener bleiben würde, wenn ich unter der Jenny schlief. »Mag sein.«

»Was werden Sie heute abend tun?«

»Ich muß mir was ausdenken.«

»Das Holzfällerlager ist geschlossen.«

»Ja, ich bin direkt daran vorbeigegangen.«

»Heutzutage kommt kaum noch jemand hier vorbei. Aus diesem Grund ist Papa in Seattle. Freitags kommt er jedoch immer nach Hause.«

Ich nahm an, daß es Mittwoch war. Aber wenn man allein in einem solchen Haus lebt, verliert man vielleicht leicht die Übersicht über die Wochentage.

Sie hob den Topf auf und stellte ihn auf den alten eisernen Herd. In dem Stapel unter dem Feuer waren nicht mehr viele Scheite übrig. Sie bückte sich, nahm ein Stück Holz und warf es ins Feuer. Sie hatte hübsche Beine.

»Der Sturm könnte zwei oder drei Tage anhalten. Es gibt ein paar Dinge, bei denen Sie mir helfen könnten, wenn ich Ihnen Kost und Logis biete.«