Der letzte Heuler - Cornelia Kuhnert - E-Book + Hörbuch

Der letzte Heuler Hörbuch

Cornelia Kuhnert

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Beschreibung

Geheult wird nicht. Jedenfalls nicht im Norden … Ostfriesland, Neuharlingersiel, im Sommer: An einem ausnahmsweise warmen Tag entdeckt Lehrerin Rosa am Strand einen einsamen Heuler. Als sie Hilfe für das Robbenbaby holen will, trifft sie nicht auf die Tierärztin, sondern auf deren Gatten. Der liegt in einer Blutlache. Und ist ziemlich tot. Wie sich herausstellt, wurde der pensionierte Chefarzt der Kinderklinik erschossen. Mit einer russischen Makarow. Die Kripo Wittmund glaubt daher an Auftragsmord, doch Rosa und ihre Freunde – Dorfpolizist Rudi und Postbote Henner – halten das für ziemlichen Quatsch. Auf eigene Faust und mit ihren ganz speziellen Methoden stellen die drei Ermittlungen an. Und stolpern über Dixi-Klos, kostspielige Reitstunden und Liebesverhältnisse, die so ganz rund wohl nicht gelaufen sein dürften …

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Zeit:4 Std. 45 min

Sprecher:Oliver Kalkofe

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Christiane Franke • Cornelia Kuhnert

Der letzte Heuler

Ein Ostfriesen-Krimi

Über dieses Buch

Geheult wird nicht. Jedenfalls nicht im Norden …

Ostfriesland, Neuharlingersiel, im Sommer: An einem ausnahmsweise warmen Tag entdeckt Lehrerin Rosa am Strand einen einsamen Heuler. Als sie Hilfe für das Robbenbaby holen will, trifft sie nicht auf die Tierärztin, sondern auf deren Gatten. Der liegt in einer Blutlache. Und ist ziemlich tot.

Wie sich herausstellt, wurde der pensionierte Chefarzt der Kinderklinik erschossen. Mit einer russischen Makarow. Die Kripo Wittmund glaubt daher an Auftragsmord, doch Rosa und ihre Freunde – Dorfpolizist Rudi und Postbote Henner – halten das für ziemlichen Quatsch. Auf eigene Faust und mit ihren ganz speziellen Methoden stellen die drei Ermittlungen an. Und stolpern über Dixi-Klos, kostspielige Reitstunden und Liebesverhältnisse, die so ganz rund wohl nicht gelaufen sein dürften …

Vita

Christiane Franke wurde an der Nordseeküste geboren und lebt immer noch gerne dort. Sie schreibt Küstenkrimis und gibt Anthologien heraus.

 

Cornelia Kuhnert lebt in Hannover. Sie hat bereits zahlreiche Kriminalromane veröffentlicht und Anthologien herausgegeben.

«Endlich ein neues, originelles Ermittlerteam an der Küste!» (Klaus-Peter Wolf)

 

«Wer geglaubt hat, dass er Ostfriesland kennt, der wird hier eines Besseren belehrt – und das mit einer saftigen Portion Spannung und vor allem Humor, den manch einer den knorrigen Charakteren am Nordseestrand nicht zutraut, was aber einmal mehr beweist: Friesland singt nicht nur, es lacht auch!» (Margarete von Schwarzkopf)

 

«Diejenigen, die Ostfriesland lieben, und alle, die dort noch nie gefroren haben, werden von diesem Trio so begeistert sein wie ich!» (Gisa Pauly)

 

«Ein spaßiger Krimi mit Lokalkolorit.» (Hamburger Morgenpost)

 

«Tolle knorrige Charaktere, eine witzige Sprache, vor allem gleitet dieser charmante Roman nie ins Triviale und Klischeehafte ab.» (Föhrer Blatt)

 

«Morden im Norden: spannend und witzig und vor allem mit viel Herz erzählt.» (WDR 5)

 

Weitere Veröffentlichung

Krabbenbrot und Seemannstod. Ein Ostfriesen-Krimi

Samstag

Heute wird sie ihn umbringen. Der Abend ist perfekt für einen Mord. Dunkle Wolken jagen über den nächtlichen Himmel, verdecken den Mond, der nur ab und zu blitzartig zum Vorschein kommt. Das Klackern seiner Schuhe hallt durch die menschenleere Gasse. Sie drückt sich in den Torbogen und hält den Atem an. Die Schritte kommen näher. Sie umklammert das Messer. Jetzt oder nie.

Flatsch. Ein dicker weiß-grüner Klecks landet auf der Tastatur des Laptops und reißt Rosa Moll aus den Tiefen des Krimis, den sie gerade schreibt. «Pepe, du Ferkel!», schimpft sie, worauf ihr Beo fröhlich seinen Lieblingssatz krächzt: «Halt die Klappe!»

Sie wirft mit dem Stift nach ihm, zielt jedoch nicht vernünftig; der Filzschreiber fliegt gegen das weiße Plisseerollo und hinterlässt einen dicken roten Punkt.

«Halt die Klappe!», kreischt der Beo erneut.

«Nee, mein Lieber, so nicht. Ab in den Käfig.» Rosa wirft Pepe einen bösen Blick zu. Ihre Krimistimmung ist verflogen. Blöder Vogel! Resigniert schaut sie auf ihre Armbanduhr. Schon fünf. Der Tag ist wie im Flug vergangen. Dann kann sie sich ebenso gut um ihr Sportprogramm kümmern: Zurück zur Barbie-Figur. Na ja, zumindest in die Nähe davon.

 

Zehn Minuten später läuft Rosa zum Hafen, hält sich rechts und nimmt die Straße den Deich hinauf. Oben steigt sie über den Zaun für die Schafherde. Die Tiere halten das Gras kurz und trampeln alles schön fest. Das ist gut für den Deich. Rosa schaut aufs Meer. Nichts davon zu sehen. Nur die Salzwiesen. Und ein paar Austernfischer, Möwen und Küstenseeschwalben. Die Salzwiesen sind matschig und das Wasser weit weg. Erst ganz hinten am Horizont glitzert es silbrig. Das kann noch Stunden dauern, bis die Nordsee wieder hier vorn ankommt.

Drüben, auf Wangerooge, glänzen der Westturm und der neue Leuchtturm in der Sonne. Entschlossen läuft sie los, die Arme locker an der Seite schwingend. Eine Möwe zieht kreischend ihre Kreise über Rosa, ein Schaf blökt. Dunkle Köttel hängen hinten am Fell. Auch nicht gerade hygienisch. Rosa steigert das Tempo, atmet tief ein und wieder aus. Tatsächlich, sie schmeckt das Salz in der Luft. Henner, der unter ihr wohnt, sagt immer, dass ihm südlich von Aurich dieses Salz in der Luft fehlt.

Einatmen, ausatmen. Weiterlaufen. Weiter vorn auf der Deichkrone sieht sie eine Gestalt mit Hund. Keiner der beiden bewegt sich. Seltsam. Vielleicht ein Jäger. Irgendwo muss man das Ansitzen ja auch üben. Rosa läuft mit ausladenden Schritten auf ihn zu. Der Westwind bläst ihr die blonden Locken ins Gesicht. Gerade als sie sie wieder nach hinten streicht, hört sie ein eigenartiges Heulen. Sie wird schneller und kneift die Augen zusammen. Das Jammern kommt von weiter vorn. Und es klingt wie ein Baby! Ohne zu zögern, biegt sie ab und läuft den Deich hinunter.

«Keinen Schritt weiter!»

Rosa zuckt bei dem Kommandoton zusammen. In Zeitlupe dreht sie sich um. Es ist der Mann mit dem Hund. Jetzt kommt Bewegung in den Kerl. Nicht nur, dass er brüllt, er kommt direkt auf sie zugelaufen. Die graue Pelerine, farblich mit dem Wattenmeer korrespondierend, bläst sich im Wind auf.

«Bleiben Sie stehen!», schreit er zornig.

«Ich …» Weiter kommt Rosa nicht.

«Jaja. Sie wollten nur mal gucken. Und genau damit verschrecken Sie das Muttertier. Es ist immer das Gleiche. Da liegt ein Seehundbaby am Strand, und schon kommen die Gaffer angerannt. Haben Sie überhaupt eine Ahnung, dass Sie und Ihresgleichen die Seehundbabys gefährden?»

«Ich …», setzt Rosa an, doch wieder lässt er sie nicht ausreden.

«In der Mehrzahl der Fälle ist die Mutter nämlich gar nicht fort, sondern nur auf der Suche nach Nahrung», doziert der Mann. Sein Hund, ein Weimaraner, blickt gelangweilt über die Salzwiesen.

Rosa taxiert den Schlaumeier. Er trägt einen grauen Bart. Genau so einen wie der Rektor in Hannover, wo sie vor ihrer Versetzung nach Esens unterrichtet hat. Henriquatre nennt man das Ding. Also den Bart. Was für ein bescheuerter Name. Der ist was für Wichtigtuer und kleingeistige Besserwisser.

«Dann verraten Sie mir doch mal, wo die Mutter dieses süßen Kleinen sein soll. Ich sehe hier jedenfalls nichts. Nicht mal Wasser.»

Der Mann im grauen Plastiküberwurf tätschelt den Feldstecher, der vor seiner Brust baumelt. «Ich beobachte das Tier inzwischen schon seit fast zwei Stunden. Weit und breit kein Muttertier. Eine kritische Situation.» Er räuspert sich. «Gestatten, Ewald Reitemeyer, Doktor Ewald Reitemeyer, Oberstudienrat a.D. aus Kiel. Man sollte dem Seehundjäger Bescheid sagen.» Als er Rosas gerunzelte Stirn bemerkt, fügt er hinzu: «Nicht zum Abschießen. Der soll das Tier in die nächstgelegene Seehundaufzuchtstation bringen.»

«Das sind doch keine Seehundjäger. Das sind Wattenjagdaufseher.»

«Bei uns heißen die Seehundjäger.»

Der Typ ist ganz klar ein Wichtigtuer und Besserwisser.

«In Norddeich gibt’s die Seehundstation Nationalpark-Haus.» Sie greift in ihre Hosentasche und zieht ihr Telefon heraus. Resigniert guckt sie auf das abgeschabte Klapphandy. Nee, da ist die Telefonnummer der Aufzuchtstation nicht drin. Wenn doch bloß ihr Smartphone aus der Reparatur zurück wäre, dann könnte sie die Telefonnummer googeln. Aber das dauert wohl noch. Immerhin kann sie mit diesem Ding telefonieren. Die wichtigsten Nummern sind eingespeichert. Rudis gehört dazu. Und wenn einer in diesem Fall der Richtige ist, um zu helfen, dann er: Rudolf Hieronymus Bakker, der Dorfpolizist von Neuharlingersiel. Aber statt Rudis forscher Stimme ertönt nach fünfmaligem Klingeln die automatische Ansage der Mailbox.

«Keiner da», sagt sie zum Schlaumeier, «aber ich habe noch einen anderen Telefonjoker.» Sie drückt die Kurzwahl für Henner.

«Jo.» Ruck, zuck ist ihr Nachbar am Telefon. Wenigstens auf ihn ist Verlass. Wie ein Wasserfall redet Rosa auf Henner ein, obwohl sie sich bemüht, die wichtigsten Fakten auf den Punkt zu bringen. Allerdings ist das mit dem Auf-den-Punkt-Bringen noch nie ihre Stärke gewesen. «Was soll ich jetzt tun? Ich kann Rudi nicht erreichen, und der Kleine heult zum Gotterbarmen!»

«Rudi ist mit Sven in Bremen. Letztes Werder-Heimspiel der Saison. Ich würde ja gerne helfen, aber ich bin in Neustadtgödens. Ruf doch mal bei der Brakenhoff an.»

«Neustadtgödens? Was machst du da denn?» Das interessiert Rosa augenblicklich mehr als der Heuler. Der Ort ist immerhin eine gute Dreiviertelstunde mit dem Auto entfernt. Beruflich hat Henner dort garantiert nichts zu schaffen. Ist ja gar nicht sein Zustellbezirk. Ob eine Frau dahintersteckt?

«Was ich hier mache? Du hörst aber auch nie zu. Übernächste Woche findet hier der Ausrufer-Wettbewerb statt. Da muss ich mich noch um einiges kümmern, ich bin doch im Festausschuss.»

«Ach so, dieser Wettbewerb. Und was soll ich jetzt mit dem Seehundbaby machen?»

«Ruf die Brakenhoff an. Hab ich doch schon gesagt. Die ist Tierärztin und arbeitet in der Seehundstation. Die wird dir weiterhelfen.»

«Dass ich da nicht selbst draufgekommen bin. Ich kenn die. Vor zwei Wochen wollte ich mit Pepe zu ihr in die Praxis. Aber dann war sein Dünnpfiff plötzlich weg.»

Der Studienrat hat ihr die ganze Zeit regungslos zugehört. Rosa zeigt mit dem Finger zur Landseite. In einiger Entfernung stehen ein paar Häuser zwischen den Bäumen. «Sehen Sie das Haus mit dem spitzen Giebel?» Ohne eine Antwort abzuwarten, redet sie weiter: «Dort wohnt die Tierärztin. Da flitze ich jetzt hin, und Sie sichern das Gelände.»

 

Kurz darauf erreicht Rosa den roten Klinkerbau. Rechts befindet sich die Tierarztpraxis, links der Privateingang. Dazwischen wuchern Heckenrosen, ein paar Blüten haben sich schon geöffnet. Rosa zögert, dann drückt sie die Klinke herunter. Abgeschlossen. Rosa klingelt an der anderen Tür. Ein dunkler Gong ertönt. Sie wartet, aber niemand öffnet. Natürlich kann sie verstehen, dass Frau Brakenhoff am Wochenende ihre Ruhe haben will, aber hier handelt es sich um einen Notfall. Energisch klopft sie gegen die Tür. Zu ihrem Erstaunen ist sie nur angelehnt. «Hallo, ist da wer?» Keine Antwort. Sie macht einen Schritt in den Flur. «Frau Doktor Brakenhoff? Ich hab einen Heuler gefunden und brauche Hilfe.»

Immer noch rührt sich nichts. Rosa zögert. «Hallo!?», ruft sie erneut und schaut den Flur entlang. Die gegenüberliegende Tür ist nur angelehnt. Langsam geht sie darauf zu und drückt sie vorsichtig auf.

Sie lugt durch den Spalt. Und erbleicht.

«Das war echt klasse.» Rudi haut seinem Sohn Sven begeistert auf die Schulter, als sie inmitten Tausender begeisterter Fans das Bremer Weserstadion verlassen. «Eins zu eins. Mann, fällt mir ein Stein vom Herzen.»

Sven wedelt mit dem grün-weißen Werder-Schal herum und brüllt: «Olé, olé, olé, oleeeeee … Erste Liga!»

«Und ohne Relegationsspiele. Das ist doch mal was. Und in der nächsten Saison rollen wir das Feld von hinten auf.» Rudi freut sich ehrlich, auch wenn Werder besser hätte abschneiden können. Aber lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.

Rudi ist immer noch hin und weg, dass die Zitterpartie endlich ein Ende hat, während Sven beginnt, jeden einzelnen Werder-Spieler und seine Aktionen auf dem Platz zu bewerten. Vielleicht sollte sich Sven nächstes Jahr nach dem Abitur in Richtung Sportjournalismus orientieren. Rudi hat vor kurzem gesehen, dass das Jeversche Wochenblatt einen Volontär in der Sportredaktion sucht. Das wäre doch was für ihn. Da kann er umsonst zu Fußballspielen gehen, Spieler interviewen, Artikel darüber schreiben und vor allem: Er läuft nicht Gefahr, sich mit seinem Umweltaktivismus um Kopf und Kragen zu reden. Aber so darf er seinem Sohn die Sache natürlich nicht verkaufen. Da ist Fingerspitzengefühl gefragt.

Auf dem Parkplatz finden sie Rudis Auto auf Anhieb, es fahren ja kaum noch Enten auf den Straßen. Vielleicht zu Recht. Rudi weiß, dass sein Auto sicherheitstechnisch auf dem absolut letzten Tabellenplatz liegt. Er weiß selbst nicht, warum er an diesem nostalgischen Gefährt festhält. Aber auch ein Polizist muss nicht immer logisch und rational denken. Denise hat ihm zwar oft genug vorgeworfen, dass er ein Kopfmensch ist, doch das stimmt nicht. Wenn sie recht haben würde, hätte es ihm nicht so weh getan, als sie ihn und Sven verlassen hat. Und wenn sie recht hätte, würde er nicht so an seiner Ente hängen. Inzwischen hat sie sogar schon ein H-Kennzeichen. Immerhin spart man bei einem Oldtimer die Autosteuer, sagt sein Schrauber-Freund Knut immer, wenn Rudi die alte Dame mal wieder aus seiner Werkstatt abholt und sich über die Rechnung aufregt.

Er öffnet die hintere Tür und zieht unter der Wolldecke auf der Rückbank sein Handy hervor. Er ist doch nicht so blöd und nimmt es mit ins Stadion, um es sich da womöglich klauen zu lassen. Er versteckt Handy und Schlüssel immer im Auto. Manchmal auch das Portemonnaie. Sicher ist sicher. Der Blick aufs Display zeigt drei Anrufe in Abwesenheit. Rosa. Die Frau ist eine echte Nervensäge. Aber sie hat auch so etwas Gewisses … Rudi zögert. Er könnte nicht mal genau sagen, was es ist. Vielleicht möchte sie ihn ja für heute Abend einladen. Nö, das kommt nicht in Frage. Er und Sven werden sich nachher in aller Ruhe die Sportschau ansehen und noch einmal das Tor des Belgiers genießen. Der Abstieg von Werder ist abgewendet. Das muss mit einem Männerabend gefeiert werden. Vielleicht hat Henner ja auch Zeit. Rudi wirft Sven die Autoschlüssel zu. «Hier. Fahr du zurück.»

Sein Sohn starrt ihn mit offenem Mund an. «Echt?»

«Jo. Wird Zeit, dass wir auch auf der Autobahn üben.»

«Cool!» Begeistert klettert Sven auf den Fahrersitz. Bislang hat Rudi ihn nur auf der Strecke von Neuharlingersiel nach Esens ans Steuer gelassen. Rudi klappt den unteren Teil der Fensterscheibe hoch, stützt sich mit dem Ellenbogen ab und gibt, kaum dass Sven den Wagen angelassen hat, vom Beifahrersitz Anweisungen: «Weiter nach links, pass auf, da kommt einer von rechts – Vorsicht!»

«Papa!»

«Ist ja schon gut. Ich wollte sowieso telefonieren.»

Er drückt die Wahlwiederholungstaste.

«Rudi!», ruft Rosa in einer Lautstärke in den Hörer, als ob er so schwerhörig wie Henners Vadder wäre.

«Was gibt’s denn? Muss ja wichtig sein, wenn du innerhalb von fünf Minuten dreimal anrufst. Hast du wieder eine Leiche gefunden?» Er lacht laut auf über seinen Scherz.

«Darüber macht man keine Witze!» Rudi zuckt bei Rosas hysterischem Tonfall zusammen. Kaum macht man mal einen kleinen Spruch, sind die Frauen beleidigt. Dabei hat sie es doch so eilig gehabt, mit ihm zu reden. «Ich wollte ja nur sagen …» Gerade in diesem Moment schnellt von rechts ein BMW aus einer Parklücke.

«Pass auf!», ruft Rudi, was Sven mit einem genervten «Mach ich doch» und Rosa mit einem fragenden «Ist alles in Ordnung bei dir?» kommentiert.

Er hätte ihre Anrufe einfach ignorieren sollen. Wäre bestimmt auch noch ein vierter gekommen. «Jo. Ist alles in Butter. Wir kommen gerade vom Werder-Spiel – und Sven fährt.»

«Ach so.»

Wahrscheinlich versteht Rosa nicht einmal ansatzweise, was er ihr damit sagen will, wie denn auch, sie hat ja keine Kinder, vor allem keine, die mit siebzehn den Führerschein gemacht haben. Das Probejahr für Fahranfänger ist echt nichts für schwache Nerven. Genauso wenig wie die letzte Saison von Werder.

«Also, was gibt’s denn so Wichtiges?», fragt er, als Sven auf die B6 einfädelt. Blinker, Seitenblick. Rudi atmet erleichtert auf und lauscht Rosas Redeschwall, der sich wie der Platzregen zu Beginn der zweiten Halbzeit über ihn ergießt und nicht nachlässt.

«Also, da war erst ein Heuler, deswegen hab ich dich angerufen, wegen der Seehundstation. Ist ja Ebbe und das Muttertier weit und breit nicht zu sehen. Und dann bist du nicht rangegangen. Ich hab’s noch zweimal versucht, und dann hab ich Henner angerufen. Der war aber in Sachen Ausruferwettbewerb unterwegs. Ich bin dann rüber zur Tierärztin. Du weißt schon: zu der Brakenhoff. Aber die war nicht da, dafür liegt in ihrem Wohnzimmer ein toter Mann.»

«Ein toter Mann?»

«Ja.»

«Also. Mal ganz langsam. Da ist ein Heuler am Strand …»

«Rudi, der ist doch jetzt nicht wichtig!» Rosa kreischt beinahe. «Hinter mir im Haus liegt ein toter Mann im Wohnzimmer. Sein Hemd ist voller Blut. Ich hab die 110 angerufen, weil du ja schon beim Heuler nicht ans Telefon gegangen bist, und die haben mir gesagt, ich soll vor der Tür warten und nichts anfassen. Also bin ich raus und warte seitdem hier.»

Rudi hört förmlich, wie sie am ganzen Leib zittert. «Bleib ganz ruhig. Wir sind auf dem Weg.» Er wirft einen Blick auf den Tacho. Siebzig Stundenkilometer. Schneller darf Sven hier auch gar nicht fahren. Viel mehr als hundert könnte er aus seiner Ente sowieso nicht herausholen. Das bedeutet, sie brauchen mindestens noch eine Stunde, bis sie zu Hause sind. Rudi knirscht mit den Zähnen. Da passiert mal was in Neuharlingersiel, und er ist nicht vor Ort. So ein Schiet.

«Ich muss jetzt auflegen!», brüllt Rosa in sein Ohr. «Dein Chef und Schnepel steigen gerade aus. Und Emterbäumler auch. Also, tschüs.»

Haueisen und Schnepel. Rudi kann sich jetzt schon die Genugtuung in Schnepels Gesicht vorstellen, wenn Rudi als Letzter am Tatort ankommt. «Drück auf die Tube», zischt Rudi seinem Sohn zu, als sie endlich auf die Autobahn fahren.

Langsam kann Rosa verstehen, warum Rudi immer eine Flappe zieht, wenn er von seinem Kollegen Schnepel erzählt. Bleibt der doch wie angewurzelt stehen und starrt sie an, als er aus dem Auto springt.

«Sie schon wieder», ist das Einzige, was er sagt. Als wenn sie etwas dafür könnte, dass da ein Toter auf dem Teppich liegt. Und statt zu fragen, wie es ihr geht, verschwindet er gleich im Haus. Haueisen ist auch nicht besser, nickt nur kurz zum Gruß und rennt Schnepel hinterher. Der Rechtsmediziner Emterbäumler ist der Einzige, der Manieren hat. Obwohl der Bayer an sich ja eher als Grantler bekannt ist. Grüß Gott, hat er gesagt und sie mit seinen spitzen Vampirzähnen angelächelt. Der sollte sich unbedingt die Vorderfront richten lassen. Ein ordentliches Gebiss würde aus dem einen ganz anderen Menschen machen. Die Leute der Spurensicherung in ihren weißen Overalls grüßen ebenfalls freundlich. Ein großer Dünner sogar ganz besonders galant, das hat sie genau registriert. Dass Haueisen und Schnepel sie übergangen haben, wurmt Rosa. Sie wollte doch nur Hilfe holen, weil das Leben eines Heulers auf dem Spiel steht. O Gott. Der Heuler. Den hat sie in dem ganzen Durcheinander völlig vergessen. Ob der Schlaumeier das Tier immer noch bewacht?

Rosa blickt zum Haus. Die weißen Gestalten huschen drinnen und draußen herum. Zwei sperren alles mit Flatterband ab, um Schaulustige fernzuhalten. Tatortsicherung ist das A und O, hat Rudi bei dem Mord in den letzten Wintertagen gesagt, kaum dass er den Toten auf der Eisscholle gesehen hat. Richtig hektisch hat der alles abgesperrt. Da sind die hier viel entspannter beim Abrollen. Jetzt holt ein anderer einen Aluminiumkoffer aus dem VW-Bus. «Entschuldigung», sagt sie zu dem großen dünnen Kriminaltechniker, der damit aufs Haus zusteuert. «Sie haben doch bestimmt ein Smartphone. Könnten Sie mir einen Gefallen tun?»

Er setzt seinen Koffer ab und lächelt ihr zu. Links und rechts auf den Wangen graben sich zwei tiefe Grübchen ein. «Wie kann ich Ihnen damit helfen?»

«Ich brauche eine Telefonnummer. Weil da hinten ein Heuler ist.»

«Ein Heuler?»

«Ja. Der kleine Seehund liegt hinter den Salzwiesen, Richtung Hafen. Ganz alleine. Ich bin ja bloß hier, weil Frau Brakenhoff für die Seehundstation arbeitet.» Rosa seufzt. «Können Sie mir die Nummer von der Station in Norddeich raussuchen?»

Zwei Minuten später hat Rosa die Telefonnummer. Sie tippt sie in ihr Handy. Besetzt. «So ein Mist.» Dann hat sie eine Idee. «Ich bin gleich wieder da», sagt sie zu dem Kriminaltechniker und schlägt zügig den Weg hinauf zum Deich ein. Schon von weitem sieht sie den Oberstudienrat und seinen Hund. Neben ihm stehen ein junges Mädchen mit Pferdeschwanz, eine Familie mit zwei Jungs in Gummistiefeln – höchstens Kindergartenalter – und ein Paar mittleren Alters. Die Frau trägt eine stramm sitzende Jogginghose und ein hautenges T-Shirt, jede einzelne Fettrolle drückt sich durch den Stoff. Rosa schwört sich augenblicklich, ihre tägliche Joggingrunde ohne Murren zu absolvieren. «Huhu, hier bin ich wieder», ruft sie, während sie auf die Gruppe zurennt. Alle drehen sich um. Der Schlaumeier als Erster, er zupft an seinem Henriquatre und wirft ihr missbilligende Blicke zu.

«Das hat aber lange gedauert. Wo ist denn die Tierärztin?», fragt er in oberlehrerhaftem Ton. Er wird Rosa immer unsympathischer.

«Manchmal kommt es anders, als man denkt», sagt sie. «So wie jetzt. Im Haus der Tierärztin liegt ein Toter.»

«Een Toter?», wiederholt die Frau in der Jogginghose und starrt dabei ihren Mann an. Der legt gleich den Arm um sie.

«Reg dich nicht auf, Liebes. Menschen sterben nun mal.»

«Was ist denn passiert?», fragt das Mädchen mit dem Pferdeschwanz.

«Ich glaube, der wurde ermordet.» Rosa erzählt in aller Ausführlichkeit, wie sie den Toten gefunden, dann die Kripo gerufen und anschließend gewartet hat, bis das komplette Team einschließlich Spurensicherung vor Ort war. Und dass sie natürlich gleich wieder hinmuss. Sie ist schließlich eine wichtige Zeugin. «Ich hab jetzt aber die Telefonnummer der Seehundstation. Da war gerade nur besetzt.»

«Dann haben wir wohl mit denen telefoniert.» Der Studienrat redet nach wie vor im Oberlehrerton. «Das junge Frollein hier hat alles mit ihrem iPhone erledigt. Der Seehundjäger kommt gleich.»

«Wattenjagdaufseher», korrigiert Rosa. Was der kann, kann sie schon lange.

In diesem Moment rast ein dunkelgrüner Pick-up die Deichstraße hoch und stoppt auf der Krone. Weiter heranfahren kann er nicht. Ein junger Mann mit rotem, kurz gestutztem Bart steigt aus dem Auto. Er trägt eine dunkelblaue Fleecejacke. Hinten ist groß das Emblem der Seehundstation Nationalpark-Haus drauf, vorne das Gleiche in klein.

«Moin. Timo Gerrjets», stellt er sich vor. «Ich komme wegen des Heulers. Wo ist er denn?»

Rosa zeigt Richtung Salzwiesen. «Sehen kann man ihn nicht, aber hören.» Der Mann in der Fleecejacke spitzt die Ohren. Der Kleine jault immer noch zum Herzerweichen. Timo Gerrjets ortet ihn schnell.

«Kann es sein, dass das Muttertier noch in der Nähe ist?»

Sofort reißt der Oberstudienrat das Gespräch an sich: «Ich habe alles genauestens beobachtet. Da ist von einem Muttertier weit und breit nichts zu sehen. Ich habe …»

«Wie denn auch? Bei Ebbe.» Rosa kann es nicht lassen.

Reitemeyer wirft ihr einen wütenden Blick zu.

Der Wattenjagdaufseher holt von der Ladefläche des Pick-ups einen Weidenkorb und einen Kescher und streift sich ein Paar Stulpenhandschuhe über.

«Was wollen Sie denn mit dem Kescher?», fragt Rosa neugierig. «Der ist doch viel zu klein für den Seehund.»

Der junge Mann lächelt. Er hört diese Frage wohl nicht zum ersten Mal. «Den Kescher kriegt der Kerli gleich über den Kopf. Damit fixiere ich ihn, die kleinen Biester sind unheimlich beweglich. Die kommen mit ihrem Maul bis an die hinteren Flipper. Und genau da muss man ihn packen und hochheben. Glauben Sie mir, wenn der könnte, würde der mich beißen. Ist eben ein Raubtier. Das darf man nicht vergessen.»

Fasziniert beobachten Rosa und die anderen, wie Gerrjets in seinen Gummistiefeln zum Heuler marschiert.

«Darf ich mal?», fragt Rosa und deutet auf das Fernglas des Studienrats. Der überlässt es ihr tatsächlich, und so kann sie beobachten, wie der junge Mann den Kescher direkt vor den Kopf des Heulers hält, der auch sofort zubeißt. Jetzt greift Gerrjets den Heuler an der Schwanzflosse, hebt ihn auf und legt das bissige Kerlchen in den Weidenkorb. Erst als er den Deckel auf den Korb gelegt und den Gummistropp festgezurrt hat, streift er die Stulpenhandschuhe ab.

«Hilft mir mal einer?», ruft er.

Reitemeyer eilt diensteifrig nach unten. Gemeinsam heben sie die Kiste an und tragen sie den Deich hinauf zum Pick-up.

«Kann ich irgendwie erfahren, was aus dem kleinen Kerl hier wird?», will Rosa wissen.

«Natürlich. Rufen Sie einfach an. Wenn Sie mögen, können Sie auch eine Patenschaft für ihn übernehmen. Kostet fünfhundert Euro, aber dafür dürfen Sie dem Kleinen auch einen Namen geben.»

«Und nun?», fragt einer von den beiden kleinen Jungen.

«Nun bringt er den Heuler in die Seehundstation. In die Quarantäne», erklärt Rosa.

«Stimmt nicht ganz», widerspricht Timo Gerrjets. «Die Quarantänestation ist im Waloseum. Dort untersucht der Tierarzt den Heuler und guckt, ob er ansteckende Krankheiten hat. Viele der kleinen Kerle haben den Lungenwurm, einen hartnäckigen Parasiten. Mit dem haben sie keine große Chance zu überleben und müssen getötet werden.» Er lächelt den Jungen an. «Aber der hier sieht noch ganz fit aus, also wird er sicher geimpft, gechipt und kommt nach ein paar Tagen zu uns in die Seehundstation. Da päppeln wir ihn dann auf.»

Der Bulli der Spurensicherung steht ebenso wie Haueisens Kombi noch vor dem Haus, als Rudi und Sven um kurz nach sieben endlich in Neuharlingersiel ankommen.

«Ich lauf dann nach Hause», sagt Sven, parkt die Ente in die einzige freie Lücke vor der Tierarztpraxis und drückt Rudi den Autoschlüssel in die Hand.

«Is gut.» Bestimmt will Sven noch schnell mit rein. Logisch, so ein Mord interessiert ja jeden. Aber seinen Sohn anscheinend nicht. Der verabschiedet sich mit einem «Bis denne». Rudi sieht ihm sprachlos hinterher. Von Denise und ihm hat Sven das nicht. Vielleicht von Rudis Vater, aber den kennt er ja selbst nicht. Der ist noch vor seiner Geburt irgendwo auf den Weltmeeren verschollen.

Immer noch kopfschüttelnd, doch voller Elan schlüpft Rudi unter dem Absperrband durch und betritt das Haus. Emterbäumler, Haueisen und Schnepel sitzen in der Küche, Rosa mittenmang. Hätte Rudi sich eigentlich denken können, dass die sich nicht so schnell vertreiben lässt.

«Moin», sagt Rudi forsch, als er an den Tisch tritt.

«Was machst du denn hier?» Schnepel blickt ihn vorwurfsvoll an.

«Ist schon in Ordnung. Bakker kennt hier jeden. Da ist es gut, wenn er dabei ist», bremst Haueisen Schnepel aus.

Rudi strahlt übers ganze Gesicht und setzt sich neben Rosa. Endlich weist Haueisen den Meckerpott mal in die Schranken. Und noch besser: Das ist quasi ein Lob von seinem Chef. Das hat Rudi nicht so oft.

«Frau Moll hat schon erzählt, dass Sie beim Werder-Spiel waren. Gerade mal unentschieden. Oder?» Watsch, so einfach loben geht bei Haueisen nicht. Das war ganz klar eine Anspielung auf das HSV-Spiel heute. Rudi weiß genau wie Haueisen, dass Hamburg auswärts 1:4 gewonnen hat.

«Reicht ein Unentschieden denn für den Klassenerhalt?» Schnepel grinst fies.

«Jaja, der ist geschafft.» Das wäre jetzt echt nicht nötig gewesen. Rudi strahlt trotzdem. Nicht mal von Schnepel, diesem Zwergenfurzer, lässt er sich die Freude darüber kaputt machen.

«Also, kommen wir zur Sache. Wir sind ja nicht hier, um über Fußball zu reden.» Haueisen wirft Rudi einen mitleidigen Blick zu. «Der Tote ist Hans-Otto Brakenhoff. Er wurde erschossen. Wie es aussieht, aus kurzer Distanz und von vorne.»

«Erschossen.» Rudi reißt die Augen auf. «Wieso denn erschossen?»

«Ja, lieber Kollege, das würden wir auch gern wissen. Darum sitzen wir hier.» Schnepels näselnder Tonfall bringt Rudis Blut zum Brodeln. Er hält aber lieber den Mund, sonst wird er noch ausfällig. Zum Glück meldet sich der Rechtsmediziner Emterbäumler zu Wort: «Zum Wieso kann i nix sagen, aber zu den Fakten. Da gibt’s sowohl ’nen Einschussdefekt als auch ’nen Ausschussdefekt. Beide sind klein. Das passt zu einer geringen Schussdistanz, aber auch zu der gefundenen Hülse. Neun Millimeter. Es gab kaum Spritzblutung nach außen, die Blutung bahnte sich langsam den Weg durch die Kleidung.»

«Das sieht nach kaltblütiger Hinrichtung aus», vermutet Haueisen.

«Hinrichtung?» Rosa guckt entsetzt. «In Neuharlingersiel? Rudi …», sagt sie beinahe hilfesuchend, als ob er etwas an der Überlegung seines Chefs ändern könnte.

«Ja mei, das würd i zu diesem Zeitpunkt nun nicht unterschreiben», widerspricht auch Emterbäumler Haueisens Theorie. Das gefällt Rudi. Hinrichtung in Neuharlingersiel, das geht ja gar nicht. Das passt nach Palermo oder sonst wohin, aber nicht nach Ostfriesland.

«Lasst uns doch erst mal zusammentragen, was wir über Brakenhoff wissen», schlägt er deshalb vor.

«Stimmt. Dann ergeben sich die nächsten Schritte automatisch. Gut mitgedacht», sagt Haueisen, und diesmal ist Rudi sicher: Das war ein Lob. Dementsprechend dienstbeflissen nickt er.

«Also, ich kannte das Opfer nur vom Sehen. Die Brakenhoffs wohnen noch nicht lange im Ort. Vor vier Jahren hat seine Frau sich hier als Tierärztin selbständig gemacht. Vormittags hält sie eine Kleintiersprechstunde ab, und nachmittags kümmert sie sich ums Großvieh. Kühe und Pferde und so. Ich war mal mit einem meiner Friesenhühner bei ihr, weil ich das mit den Milben einfach nicht in den Griff bekommen habe. Sie hatte sofort das richtige Mittel …» Rudi bemerkt Haueisens verdrehte Augen und lässt den Satz in der Luft hängen. «Jedenfalls habe ich bei der Gelegenheit ihren Ehemann vor der Haustür getroffen. Der machte einen ganz passablen Eindruck. Hat gegrüßt und vom Wetter geredet. Netter Kerl, hab ich gedacht.» Rudi überlegt, was ihm noch einfällt. «Ich hab ihn allerdings ein wenig bedauert. Weil man sich seinen Ruhestand ja nicht so vorstellt, dass man selbst alle Freiheiten hat, die Frau aber noch zwanzig Jahre schuften muss. Obwohl, das hat er natürlich gewusst, als er sich so ’ne Junge genommen hat. Brakenhoff ist übrigens auch Arzt. Aber nicht für Tiere, sondern für Menschen. Der war in Wittmund Chefarzt in der Kinderklinik. Als er in Rente is, sind die beiden hierhergezogen. Viel mehr weiß ich nicht. Ich werd mich aber mal umhören.» Bestimmt ist Henner inzwischen aus Neustadtgödens zurück, der weiß bestimmt mehr. Als Postbote kennt er so einige Geheimnisse in seinem Zustellbezirk. Auch wenn Henner steif und fest behauptet, dass er nie die Postkarten liest, bevor er sie in den Kasten steckt.

Haueisen macht sich Notizen. Ohne aufzusehen, sagt er: «Machen Sie das. Wir müssen unbedingt mehr über diesen Mann wissen. Emterbäumler hat nämlich die Patronenhülse identifiziert.»

Alle Augen richten sich auf den Rechtsmediziner.

«I glaub scho», bestätigt der. «Ganz gerade und ohne Rand. I kenn diese Munition, und ohne der Kriminaltechnik vorgreifen zu wollen, bin i mir sicher, dass es sich bei der Tatwaffe um eine 9×18 PM handelt. Eine Makarow. I hab selbst so eine zu Hause.» Als Emterbäumler Rudis überraschten Blick auffängt, fügt er hinzu: «Nach der Wende hab i die in Ostberlin bei einem Straßenverkäufer erstanden.»

«Eine russische Schusswaffe?» Rosa kommt aus dem Staunen gar nicht wieder raus, und Rudi schwant Böses, als er sich vorstellt, was sich gerade in ihrem Kopf abspielt.

«Genau.» Haueisens Stimme hebt sich. «Und damit nimmt der Fall ungeheure Dimensionen an. Denn wenn Brakenhoff mit einer Standardwaffe der ehemaligen Sowjetarmee getötet wurde, muss das Motiv ganz klar politisch sein.»

«Vielleicht ist Brakenhoff einer dieser inoffiziellen Mitarbeiter gewesen und war von hier aus für die Stasi tätig.» Schnepel springt voll auf den Zug auf. Das wundert Rudi eigentlich nicht. Schnepel ist und bleibt ein Trittbrettfahrer. Rudi schüttelt den Kopf. «Und woher sollte der fünfundzwanzig Jahre nach der Wende den Auftrag bekommen haben?»

«Keine Ahnung. Müssen wir eben rauskriegen. Vielleicht gibt es auch eine Verbindung zur NSA, und im Zuge des ganzen Abhörskandals ist er jetzt mit aufgeflogen.»

«Genau, Chef, so kann es gewesen sein!», begeistert sich Schnepel für Haueisens Theorie.

In diesem Moment hören sie die Eingangstür klappern, ein Schäferhund kommt bellend angelaufen, und eine weibliche Stimme ruft: «Hallo? Was ist passiert?»

Haueisen erhebt sich bedächtig. Er sieht wie immer müde aus mit den dunklen Ringen unter seinen Augen und dem aufgedunsenen Gesicht. Aber Rudi weiß, dass dieser Eindruck täuscht. Haueisen ist ein ganz ausgefuchster Kerl.

«Ja, dann woll’n wir mal», sagt er nun und tritt auf den Flur. «Frau Brakenhoff? Ich bin Kriminalhauptkommissar Haueisen. Wir haben eine schlechte Nachricht.»

Es geht doch nichts über ganz jungen Matjes. Die Abendluft ist lau, und Henner hat sich mit seiner Portion jungfräulicher Heringe auf der friesisch-blau gestrichenen Holzbank vor dem Haus niedergelassen. In der Wohnung mag er bei dieser Frühsommerluft den Abend nicht verbringen. Dazu waren sowohl Winter als auch Frühjahr streng und kalt und lang genug. Da genießt er jeden Sonnenstrahl, jedes Grad mehr. Auch wenn durch den fast sprunghaften Frühling die Pollen explosionsartig durch die Luft flirren und einer allergischen Invasion gleichen. Doch er hat vorgesorgt. Stets hat er sein Asthmaspray in der Tasche, und seit vier Tagen nimmt er sein Antihistamin, sodass er einen Großteil der Pollen abwehren kann. Egal ob Blüten von Gräsern, Blumen, Büschen oder Bäumen. Bei den Eltern auf dem Hof ist es allerdings kritischer. Da gibt’s ja neben den feindlichen Pollen auch noch die ganzen Tierhaare. Milchkühe, der Hofhund Butscher, am schlimmsten aber sind die Stallkatzen. Die stehlen sich liebend gern ins Haus, wenn man mal nicht aufpasst. Vor allem Miss Sofie, eine weiße, übergewichtige Katze mit schwarzen Flecken und rosa Nase, nutzt jede geöffnete Tür. Sie scheint zu wissen, auf welchem Platz Henner sitzt, obwohl er sich angewöhnt hat, immer mal wieder woanders zu sitzen. Entweder Miss Sofie hat prophetische Kräfte, oder sie legt sich aus reiner Gemeinheit auf jeden gerade verfügbaren Stuhl. Im Frühjahr hält es Henner ohne Asthmaspray keine zwei Stunden in der elterlichen Küche aus.

Umso mehr schätzt er den leichten Wind, der an diesem Abend durchs Dorf weht und der das Salz des Meeres mit sich trägt. Es war ein anstrengender Tag in Neustadtgödens. Aber sie haben den Ablauf des Ausruferwettbewerbs heute festgezurrt. Das ist schon mal gut.

Auf dem Rückweg überfiel ihn ein ungeheurer Appetit auf frischen Matjes, und so hat er kurz vor Ladenschluss in der Fischereigenossenschaft noch holländischen Doppelmatjes gekauft. Handfiletiert. Eine wahre Delikatesse. Er hat gleich ein paar mehr genommen. Als kleine Überraschung für Rosa, aber die ist nicht da. Rudis Ente steht auch nicht vor dem Haus, dabei müsste er längst vom Stadion zurück sein. Egal, dann isst er eben einen mehr.

Er langt zum Wachspapier, packt den nächsten Matjes an der Schwanzflosse, hebt ihn hoch, legt den Kopf in den Nacken und öffnet gerade den Mund … als die durchdringende Stimme seiner Obermieterin mitten in sein Ritual platzt: «Was sind das denn für Tischsitten?»

Irritiert lässt Henner den Fisch sinken. «Is hier ein Tisch?»

«Bitte?» Rosa scheint angefasst, als ob sie ein Feuerwerk verschluckt hätte.

«Ich sitz immerhin nicht an einem Tisch, sondern auf einer Gartenbank. Und esse den jungen Matjes, wie es sich gehört. Am Schwanz packen, Mund auf und … flutsch … reingleiten lassen.»

«Ih! Du bist ja so was von versaut.»

«Versaut?» Henner sieht sie entgeistert an. Was hat sie denn nun schon wieder? «Ich hab doch nur …»

«Und überhaupt! Da sitzt du hier, und es ist dir vollkommen egal, was passiert ist.»

Schnell zieht Henner das Papier mit dem Fisch zu sich. Gerade noch rechtzeitig, denn schon lässt Rosa sich neben ihn auf die Holzbank plumpsen.

«Du könntest ja wenigstens mal fragen.»

Henner fährt sich mit der Zunge über den Mund und betrachtet den Matjes, der in seiner Hand baumelt. «Heuler sind hier an der Küste um diese Jahreszeit nicht so ganz unüblich», versucht er, sich an dieses für sie anscheinend so sensible Thema heranzutasten. Als er ihren genervten Blick bemerkt, lenkt er ab: «Willst du auch einen Matjes? Die sind ganz frisch.» Er lässt den Fisch aus seiner Hand in den Mund gleiten.

«Der Mann der Tierärztin ist tot», stößt Rosa hervor, als Henner herzhaft abbeißt. Japsend versucht er, Luft zu bekommen. Sein Kopf wird puterrot, und er keucht. Rosa überlegt nicht lange und haut ihm auf den Rücken. In hohem Bogen fliegt ihm das Fischstück aus dem Hals.

«Wie? Der ist tot?», presst Henner heraus, kaum dass er wieder Luft bekommt.

«Der ist erschossen worden. Mitten in seinem Wohnzimmer. Und ich hab ihn gefunden.»

«Was hast du denn in seinem Wohnzimmer gemacht?»

«In der Arztpraxis war niemand, da hab ich es in der Privatwohnung versucht. Die Tür stand offen. Und im Wohnzimmer lag er. Auf dem Rücken. Die Brust voller Blut.» Rosa schüttelt sich. «Ich bin vor lauter Angst und Panik gleich wieder rausgerannt. Manchmal steht so ein Mörder ja noch hinter dem Vorhang. Ich hab mich im Carport versteckt und die Polizei gerufen, die Haustür immer fest im Auge. Haueisen und Schnepel kamen mit denen von der Kriminaltechnik. Die haben vielleicht geguckt, als sie mich gesehen haben. Unmöglich! Als ob ich was dafür könnte, dass der Mann erschossen wurde.»

Eine erneute Hustenattacke überfällt Henner, und Rosa fasst das als Aufforderung auf, noch einmal auf seinen Rücken zu hauen. «Die Waffe stammt aus alten Militärbeständen, sagt Emterbäumler. Maka-so-wie-noch. Hat wohl ein spezielles Kaliber. Rudi kennt das. Der kommt nach, wenn er da fertig ist», sagt sie, während sie zu einem weiteren Schlag ausholt.

«Rudi kommt noch?» Henner schiebt ihre Hand beiseite. «Das reicht jetzt.»

«Ja. Der musste noch am Tatort bleiben und sich um die Witwe kümmern. Ich wollte ihm eigentlich dabei helfen, aber das war nicht erwünscht. Die haben mich einfach weggeschickt. Dieser Schnepel …» Sie zieht eine Schnute. Insgeheim schmunzelt Henner. Er kann sich gut vorstellen, welches Theater sie gemacht hat, als man sie herauskomplimentiert hat.

«Sag mal», fängt Rosa an, und ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. «Dieser Emterbäumler, wieso ist der eigentlich hier oben im Norden?»

Henner zuckt mit den Schultern. «Keine Ahnung. Wieso fragst du?»

«Nur so», murmelt Rosa und zupft an ihrem Kragen. «Für einen Bayern ist der ziemlich nett.» Die beiden schweigen eine Weile.

«Gibt es schon einen Verdächtigen?», fragt Henner schließlich.

«Nee. Die nehmen erst mal alles auf und rätseln herum. Haueisen wittert die ganz große Verschwörung. Russische Agenten, Stasi, NSA. Ich glaube das aber nicht. Das ist garantiert eine Beziehungstat. Ist doch meistens so. Du weißt doch: Cherchez la femme.» Die letzten Worte werden von Rosas Magenknurren begleitet, und sie wirft Henner einen Blick zu, dass ihm ein wohliger Schauer über den Rücken läuft.

«Iss lieber was», sagt er verlegen und hebt einladend das Papier mit dem Fisch.

Wieder lächelt sie, und der wohlige Schauer verstärkt sich.

«Kannst du mir das zeigen? Also, wie man so einen Matjes isst?»

«Klar.»

«Und kannste mir auch noch mehr über den Brakenhoff und seine Familie erzählen?»

Henner stockt kurz. «Die Brakenhoffs sind so eine ganz eigene Sorte. Sind auch noch nicht lange hier.» Dann hebt er den Matjes und beißt genussvoll zu.

Die Sonne ist untergegangen und zaubert letzte Glanzlichter auf die hereindrängende Flut, die die Wattrillen Linie für Linie verschlingt. Alles sieht so friedlich aus. Rudi braucht einen Moment für sich und ist auf den Deich rauf. Seine Gedanken kreisen um den Mord. Iris Brakenhoff wirkte seltsam unberührt. Dabei ist ihr Mann erschossen worden. Sie ist weder in Tränen ausgebrochen noch zusammengeklappt. Vielleicht haben Ärzte ein anderes Verhältnis zum Leben, zum Sterben und vor allem zu Toten. Da muss man ja nur an Emterbäumler denken. Freiwillig den ganzen Tag an irgendwelchen Leichen rumzuschneiden, sie aufzusägen, Organe zu wiegen – da kann man ja nicht normal sein. Vermutlich ist das bei Tierärzten nicht anders. Rudi schlendert den Deich hinunter, steigt in seine Ente und tuckert los. Am liebsten würde er sich jetzt mit einer Flasche Jever zu seinen Hühnern setzen und seinen Gedanken nachhängen. Aber Rosa wartet. Er hat ihr versprechen müssen, noch vorbeizukommen. Eigentlich hat er genau das nicht vorgehabt, aber nachdem Schnepel Rosa mehr oder weniger aus dem Raum geschoben hat, noch dazu unter Verwendung einiger wenig schmeichelhafter Ausdrücke, war Rudi nichts anderes übrig geblieben. Immerhin hatte sie an der Aufklärung von seinem letzten Fall einigen Anteil. Da muss man ihr gegenüber Kompromisse machen. Natürlich liegt das nicht wirklich im Rahmen seiner beruflichen Kompetenzen. Mehr so im Freundschaftsbereich. Aber falls sie nicht nach dem ersten Klingeln öffnet, geht er zu Henner. So viel ist klar.

Rudi parkt seine Ente in der Garage und gibt ihr einen liebevollen Klaps aufs Stoffverdeck. Wenn die alte Dame ihn nach Bremen und zurück ohne Pannen fährt, ist das jedes Mal ein Grund zur Freude.

Aus dem Vorratsregal nimmt er einen Korb und legt zwei Flaschen Bier hinein. Nach kurzem Zögern legt er eine dritte dazu, vielleicht sind ja beide da. Henner und Rosa. Ach was, Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, drei weitere Buddeln folgen. Man weiß ja nicht, wie es um Henners Vorräte bestellt ist.

Es sind nur wenige Schritte von Rudis Haus zu dem von Henners Tante, in dem sein bester Freund schon seit etlichen Jahren wohnt. Rosa erst seit Jahresbeginn. Nachdem der Finanzbeamte samt Saxophon in das Neubauviertel gezogen ist. Kaum biegt Rudi um die Ecke, sieht er die beiden einträchtig nebeneinander auf der Bank vor dem Haus sitzen. Rosa lehnt den Kopf zurück und hebt ihre Hand. Henner greift nach ihrem Ellbogen und schiebt ihn höher. Jetzt drückt Henner sich ein bisschen dichter an Rosa heran. Also stören wollte Rudi eigentlich nicht. Er überlegt, wie er unauffällig den Rückzug antreten kann, als er sieht, dass in Rosas Hand etwas baumelt, was etappenweise in ihrem Mund verschwindet. Sofort verzieht sich Rudis Mund zu einem breiten Grinsen.

«Guten Appetit!», ruft er über den Zaun und beschleunigt seinen Schritt. «Ist noch einer für mich übrig? Ich habe auch was mitgebracht, dann können die kleinen Jungfrauen besser schwimmen.» Rudi hebt den Korb mit den Bierflaschen.

«Sicher.» Rosa strahlt ihn an und ergänzt mit vollem Mund: «Den Spruch mit den jungfräulichen Fischen kannst du dir übrigens sparen – und die anderen Sauereien auch. Hat Henner alles schon erzählt. Aber das mit dem Bier ist eine gute Idee.»

Schon hat Rudi die Flaschen aus dem Korb geholt und lässt die Kronkorken mit Hilfe eines Feuerzeuges springen. Erst einmal ist nichts zu hören außer dem Gluckern.

«Ihr macht ja wieder Sachen», sagt Henner und schaut Rudi an. «Rosa hat mir das mit dem toten Brakenhoff erzählt. Können wir grad zu Beginn der Touristensaison ja nun gar nicht brauchen.»

«Jo», stimmt Rudi zu. «Ist auch so was von unklar, der Fall.» Er nimmt einen Schluck aus der Flasche und spürt die Kühle des Bieres in seiner Kehle. «Es gab nur einen Schuss. Emterbäumler glaubt, die Waffe ist eine russische Makarow. Haueisen und Schnepel denken deswegen an einen Auftragsmord. Morgen soll ich alle Hotels und Pensionen in der Gegend abklappern und überprüfen, ob in den letzten Tagen irgendwelche Gäste aus den Ostblockstaaten abgestiegen sind. Die haben echt ’ne Macke.»

Rosa hat den letzten Bissen Matjes heruntergeschluckt und wischt sich mit der Hand über den Mund. «Und was ist mit der Witwe? Könnte die das nicht gewesen sein? Die wirkte ja sehr gefasst.»

Rudi nickt. «Den Eindruck hatte ich auch. Aber sie hat ein Alibi. Sie war ab mittags unterwegs, ein Pferd mit Husten musste verarztet werden. Dann hatte sich eine Kuh in Neßmersiel ziemlich schwer am Stacheldrahtzaun verletzt. Sie hat die Wunde genäht, so mit allem Drum und Dran. Anschließend war sie bei drei anderen Bauern und hat nach deren Pferden gesehen. Zwischendurch hat sie etwas gegessen und ist dann ein bisschen am Wasser spazieren gegangen, weil die Sonne so schön schien.» Rudi zuckt mit der Schulter. «Muss ich aber noch überprüfen, ob das alles stimmt.»

Rosas Blick wandert von Rudi zu Henner und wieder zu Rudi zurück. «Was ist denn nun mit den Brakenhoffs?», will sie wissen. «Henner meinte, die beiden wären eine Nummer für sich. Aber mit viel mehr ist er nicht rausgerückt.»

«Na ja. Brakenhoff war schon ziemlich speziell.» Rudi zeigt auf die Tüte der Fischereigenossenschaft. «Is noch einer drin?»

«Jo.» Henner hält Rudi das Pergamentpapier hin. Während Rudi den Kopf in den Nacken legt und der Matjes über seinen Zähnen baumelt, versucht Henner, einen Anfang zu finden: «Brakenhoff war früher Chefarzt der Kinderklinik in Wittmund, und seine Frau hat sich hier als Tierärztin selbständig gemacht. Sie arbeitet auch ehrenamtlich in der Seehundstation. Das hat ihrem Mann gar nicht gepasst. Der hat immer gemeckert, man solle die Heuler doch erschießen. Ansonsten machte er gern einen auf Privatier und hat sich vor allem mit Segeln beschäftigt. Ist von Frühjahr bis Herbst fast nur auf dem Wasser gewesen.»

Rosa unterbricht ihn: «Wieso war er dann heute zu Hause bei diesem Sahnewetter?»

«Keine Ahnung», entgegnet Rudi. «Aber das prüf ich mal nach. Wo liegt eigentlich Brakenhoffs Yacht?»

«In Neßmersiel. Das weiß ich, weil er immer Post vom Yachtclub bekommt. Außerdem jede Menge Werbeprospekte über Segelausrüstungen und so ’n Gedöns.» Henner zögert einen Moment. «Anfang des Jahres hat sich die Brakenhoff den rechten Arm gebrochen. Da war’s natürlich Essig mit arbeiten. Aber sie hat sich für drei Monate einen Aushilfstierarzt aus Brandenburg in die Praxis geholt. Der hat bei Onkens zur Untermiete gewohnt. Möbliert. Adelheid hat erzählt, dass die Brakenhoff abends oft da gewesen ist. Das hat sie von Anke Onken. Die wohnt ja im Erdgeschoss. Es gibt einen gemeinsamen Eingang, und von dort geht eine Treppe hoch.»

«Weiß deine Schwester denn, weshalb die Brakenhoff da gewesen ist?», bohrt Rudi nach.

«Du stellst Fragen! Gearbeitet werden sie in seiner Wohnung ja wohl kaum haben», prustet Rosa los.

Henner verdreht die Augen. «Du weißt doch, wie die Gerüchteküche funktioniert. Da fängt einer an, und die anderen schüren das Feuer unter dem Topf noch ordentlich. Aber richtig was sagt keiner. Ich erinnere mich, dass Adelheid sich darüber amüsiert hat, dass dieser Doktor Schröter, jetzt fällt mir der Name auch wieder ein, mit einem ordentlichen Veilchen in ihren Andenkenladen kam.» Er feixt. «Natürlich wollte Adelheid sofort wissen, was passiert ist. Ihr kennt sie ja. Und da war dann schnell klar, dass der Brakenhoff ihm das verpasst hat.»

«Hat der tatsächlich gesagt, dass Brakenhoff ihn geschlagen hat?», fragt Rosa, und ihre Stimme vibriert vor Begeisterung.

«Nee, so direkt natürlich nicht. Aber so ungefähr.»

Als Henner Rosas Blick auffängt, brummt er: «Der Schröter hat sich damit rausgeredet, dass man als Tierarzt eben nicht ungefährlich lebt und ein alter Ochse ihm das verpasst hätte.»

«Alter Ochse gegen jungen Bullen. Eindeutig Brakenhoff.» Rudi hält die Flasche gegens Licht. Kaum noch was drin.

«Jo», sagt Henner. «Der Schröter kommt überhaupt gut an bei den Frauen. Meine Schwestern schwärmen richtig von dem. Ist so ein Typ wie der Rettungsschwimmer aus dieser amerikanischen Serie, von der Adelheid vor Jahren keine Folge ausgelassen hat.»

«Baywatch? Mit David Hasselhoff? Ja, der war klasse.» Rosas Augen blitzen wie bei einem Hund, der Witterung aufgenommen hat. «Und wo ist dieser Schröter jetzt?»

«Der soll in Norddeich Praxisvertretung machen und ab und zu in der Seehundstation arbeiten. Hat Adelheid mir erzählt. Und die weiß das von Gudrun.»

«Das wird ja immer interessanter! Die Brakenhoff arbeitet doch auch da.» Vor Aufregung röten sich Rosas Wangen. «Ich sage doch immer: Cherchez la femme.»

«Aber der Schröter ist doch ein Mann», widerspricht Henner und sieht Rosa verständnislos an.

«Ich mein das doch im übertragenen Sinn. Eine Frau, zwei Männer. Einer davon alt, der andere jung. Das ist der Klassiker schlechthin. Hitchcock hat in dieser Richtung …»

«Rosa, wir sind hier in Neuharlingersiel …»

«Eben. Und deshalb müssen wir die Sache selbst in die Hand nehmen und dürfen das Feld nicht Haueisen und Schnepel überlassen.»

«Aber die fangen doch gerade erst an», versucht Rudi Rosas Enthusiasmus zu stoppen. «Da können wir nicht gleich dazwischenfunken.» Schließlich weiß er, was es bedeutet, wenn Henners Obermieterin Witterung aufnimmt.

«Die können ruhig ihre Arbeit erledigen, da will ich die gar nicht aufhalten. Aber ich denke, es wird gut sein, sich diese Frau Doktor Brakenhoff näher anzusehen. Du weißt nicht zufällig, wer deren Praxisräume sauber macht?» Rosas Augen funkeln regelrecht.

«Garantiert Clara und ihr Team von ‹Alles sauber?›», vermutet Henner.

«Na, dann ist die Sache doch geritzt.» Bei diesen Worten reicht Rosas Lächeln vom linken bis zum rechten Ohrläppchen.

Rudi beschleicht ein ungutes Gefühl.

Sonntag

Be-kannt-machung! Be-kannt-machuuung! In meinem Heimartort Neuharlingersiel gibt es inzwischen mehr Morde als in all den Orten zusammen, aus denen meine Ausruferkollegen kommen.» Inbrünstig intoniert Henner die Sätze, während er mit einem Becher Sonntagstee im Bett sitzt. Er muss beim Teepalast in Wilhelmshaven unbedingt neuen bestellen, seine Vorräte gehen zur Neige. Den kleinen Gewissensbiss, weil er schon um acht Uhr früh so laut seine Rede probt, schiebt er achselzuckend beiseite. Rosa hat ihn mehr als einmal frühmorgens am Wochenende aus dem Bett geklingelt, nur weil ihr Beo entflogen war oder sie nicht wusste, wie sie die Sicherung im Keller wieder einstöpseln musste.

Nein, Rosa gegenüber braucht er kein schlechtes Gewissen zu haben.

«Be-kannt-machung! Be-kannt-machuuung! In meinem Heimartort Neuharlingersiel gibt es inzwischen mehr Morde als in all den Orten …» Nein. Das geht eigentlich gar nicht. Er kann doch sein Heimatdorf nicht darstellen, als ob hier neuerdings Sodom und Gomorra herrschen. So schlimm ist das ja nun doch nicht. Trotzdem. Der arme Brakenhoff. Man kann gegen den sagen, was man will, aber dass da einfach einer kommt und den abknallt wie im Wilden Westen, das geht gar nicht. Wer das wohl war? Henner trinkt einen Schluck vom guten Sonntagstee und versucht die Gedanken an den Mord wegzuschieben. Er hat gerade mal zwei Wochen Zeit, dann muss sein Text fertig sein. Und er braucht einen guten, wenn er nicht wieder nur auf dem dritten Platz landen will wie letztes Jahr. Ihm fällt aber nichts ein. Missmutig schlägt er die Bettdecke beiseite und steht auf. Unter der Dusche ist ihm schon so manch guter Einfall gekommen.

Das Wasser läuft heiß über seinen Rücken, und er fängt von vorne an: «Be-kannt-machung … Be-kannt-machuuung …» Weiter kommt er nicht. Große Leere breitet sich in seinem Kopf aus. Er greift zur Duschlotion und seift sich den Bauch ein. Vielleicht hilft das, denkt er, als das Telefon klingelt.

Nein. Da geht er jetzt nicht ran. Bestimmt ist es wieder Rosa. Zugegeben, es gibt durchaus ansprechende Züge an ihr, doch ihre Eigenart, ihn in seiner Sonntagsruhe zu stören, kostet sie den einen oder anderen Sympathiepunkt. «Be-kannt-machung … Be-kannt-machuuung», versucht er es erneut. Doch es hat einfach keinen Sinn. Da muss er auch nicht weiter Wasser verschwenden. Henner dreht den Hahn zu, schnappt sich das Handtuch, das am Ende der Badewanne liegt, wo die aufgesetzte Duschabtrennung aufhört, und rubbelt sich ab. Fürs Baden ist die Wanne viel zu klein. Genau genommen auch fürs Duschen. Bei seinen großen Füßen muss er sich schon ein wenig quer stellen. Hätte er nie gedacht, dass sich Badewannen für Schuhgröße achtundvierzigeinhalb nicht wirklich eignen. Deshalb hätte er auch gerne eine richtige Dusche. Als er letztes Jahr zur Hochzeit von Cousine Jutta in einem Hotel übernachtet hat, hatte sein Zimmer einen extra Raum zum Duschen, und das Wasser kam von oben aus einem riesigen runden Ding. «Raindance» hieß das. Henner hat den Mann an der Anmeldung gefragt und sich das aufschreiben lassen. Das fühlte sich so an, als wenn man nackig im Regen steht. Henner kann sich noch gut daran erinnern, wie sie als Kinder splitterfasernackt durch den Bauerngarten seiner Mutter geflitzt sind. Rudi und er vorneweg und seine acht Schwestern wie die Orgelpfeifen hinterher. Manchmal haben die Tropfen fast ein bisschen gekitzelt. Schön hat sich das angefühlt.

Wenn es nach ihm ginge, hätte er sein Bad schon längst in so einen Regentempel umgebaut, aber Tante Hildegard will davon nichts hören. Dabei würde er sich sogar an den Kosten beteiligen. Sein Bausparvertrag ist nächstes Jahr fällig.