Der letzte Magier von Manhattan - Lisa Maxwell - E-Book
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Der letzte Magier von Manhattan E-Book

Lisa Maxwell

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Beschreibung

Prestige triftt auf Das Lied der Krähen – Ein spannender Urban-Fantasy-Roman um eine junge Diebin vor der Kulisse New Yorks des beginnenden 20. Jahrhunderts Die deutsche Erstausgabe des magischen New-York-Times-Bestsellers von Lisa Maxwell. Stopp den Zauberer. Stiehl das Buch. Rette die Zukunft! Seit Jahrhunderten herrscht Krieg zwischen zwei Fraktionen von Magiern: Während die einen sich dem mächtigen Orden Ortus Aurea angeschlossen haben, fristen die anderen ein Schatten-Dasein im Untergrund. Zu ihnen gehört die junge Diebin Esta, die von ihrem Mentor ins New York des Jahres 1901 geschickt wird, um ein Buch zu stehlen, das als Waffe gegen den Orden dienen soll. Esta schließt sich einer Gang von Magiern an, die wie sie den Orden bekämpfen. Sie gewinnt deren Vertrauen und mehr – und weiß doch, dass sie jeden in der Vergangenheit betrügen muss, wenn sie die Zukunft retten will. Eine junge Diebin, das New York der Gangs und Gaslaternen und ein uralter Krieg der Magier. "Der letzte Magier von Manhattan" ist der Auftakt der temporeichen Urban-Fantasy-Saga "Die Rätsel des Ars Arcana" über eine junge Diebin im Manhattan des frühen 20. Jahrhunderts. Magisch und gefährlich geht es weiter in Band 2 der Urban-Fantasy-Reihe: "Die Diebin des Teufels"

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Seitenzahl: 782

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Lisa Maxwell

Der letzte Magier von Manhattan

Roman

Aus dem Englischen von Michelle Gyo

Knaur e-books

Über dieses Buch

Seit Jahrhunderten herrscht Krieg zwischen zwei Fraktionen von Magiern: Während die einen sich dem mächtigen Orden Ortus Aurea angeschlossen haben, fristen die anderen ein Schattendasein im Untergrund. Zu ihnen gehört die junge Diebin Esta, die von ihrem Mentor ins New York des Jahres 1901 geschickt wird, um ein Buch zu stehlen, das als Waffe gegen den Orden dienen soll. Esta schließt sich einer Gang von Magiern an, die wie sie den Orden bekämpfen. Sie gewinnt deren Vertrauen und mehr – und weiß doch, dass sie jeden in der Vergangenheit betrügen muss, wenn sie die Zukunft retten will.

Eine junge Diebin, das New York der Gangs und Gaslaternen und ein uralter Krieg der Magier.

Inhaltsübersicht

KarteDer MagierTEIL 1Die DiebinAn der SchwelleGang durch die ZeitLibero libroIschtars SchlüsselDas Devil’s OwnUnter dem flüchtigen Augenblick des JetztTEIL 2SirenengesangEin mit Sternen übersäter HimmelEine kesse LippeSchade um die guten StiefelDie HerangehensweiseMitten in der NachtBridget Malone, nehme ich anEine neue ÄraDie Bella StregaSehnsucht und EhrgeizKrumme GeschäfteRaube die Nacht für michDie TodeslinieWie oben, so untenDie Währung von GeheimnissenGrundlagenarbeitKlassische IrreführungMeister der AnderweltAlte FreundeDer Kern der MagieDas MetropolitanSchlaue DiebinPlanänderungEin verdammt guter TrickVerborgene QualitätenDer Funken der MachtEine andersartige GefahrEinen Betrüger kann man nicht betrügenDie BotschaftDer Kern wird nicht haltenWas auf der Fulton Street geschahEtwas NeuesDie Last der NachtEin Zimmer voller AngstEine Art HeimkehrTEIL 3RuiniertUnterscheiden zwischen Traum und WachenDer Baum des WissensAuch Kätzchen haben KrallenDer Duft von VerratVerlockung kommt in vielen FormenDer GlassargImprovisationenEin FehltrittEine neue PartnerschaftDen Haken versenkenDéjà VuEine Falle in einer FalleDas fehlende MesserAm Rand des WassersSinneswandelDer Faden löst sich aufDie TombsEcken und KantenGleichgewicht der MächteEine EinladungTEIL 4Die Geschichte des JetztIn der SchlangengrubeGoldene DämmerungKartentauschSchachmattEin lang gehütetes GeheimnisDas MysteriumDie EnthüllungWahnsinn auf den StraßenEine allerletzte NachtTäusch mich einmalEndspielEin sternenloser HimmelEin alter FreundDie unmögliche WahlEventualitätenDer MagierDanksagung
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Der Magier

März 1902 – Brooklyn Bridge

Der Magier stand am Rande seiner Welt und blickte ein letztes Mal auf die Stadt hinab. Wie schartige Zähne ragten die Kirchturmspitzen auf, und die schmutzigen Fenster baufälliger Gebäude blitzten im Licht der aufgehenden Sonne. Früher einmal hatte er sie geliebt, diese Stadt, in deren Straßen kein Gesetz galt und in der man alles werden konnte, was man wollte – was ihm auch gelungen war. Letzten Endes war diese Stadt jedoch nichts als ein Gefängnis. Hier war er geboren, diese Stadt hatte ihn geprägt und geschaffen, und nun würde sie ihn umbringen.

So früh am Morgen war die Brücke leer, überspannte still das Wasser zum anderen Ufer. Die Tragseile schwebten hoch oben in der Luft, vom sanften Morgenlicht beschienen, und die einzigen Geräusche rührten von den Wellen und dem Knirschen der Holzplanken unter seinen Füßen her. Kurz gab er sich der Vorstellung hin, wie sich eine Menschenmenge unter ihm versammelte. Fast konnte er ihre angespannten Mienen sehen, wie sie stumm auf den Moment warteten, in dem er dem Tod ein letztes Mal von der Schippe sprang. Er hob einen Arm, winkte seinem unsichtbaren Publikum zu, und in seiner Vorstellung brach es in Jubel aus. Er setzte das Lächeln auf, zu dem er sich immer auf der Bühne zwang – das Lächeln, das bloß eine Lüge war.

Lügner gaben jedoch die besten Magier ab, und zufällig war er außergewöhnlich gut.

Er senkte den Arm, und sofort schienen die Stille und Leere der Brücke auf ihm zu lasten, als ihm die kalte Realität wieder vor Augen stand. Sein ganzes Leben beruhte auf Illusionen, und nun würde sein Tod sein größter Trick. Dieses eine Mal gab es keinen Betrug. Dieses eine Mal würde es echt sein. Sein finaler Ausbruch.

Bei diesem Gedanken erschauderte er. Vielleicht lag es aber auch an dem eiskalten Wind, der durch den dünnen Stoff seines Jacketts drang. In ein paar Wochen wäre es nicht mehr so kalt.

So ist es besser. Der Frühling war schön, der Sommer mit dem widerlichen Gestank in den Straßen und den heißen, stickigen Gebäuden jedoch nicht. Das Gefühl, wie einem unaufhörlich der Schweiß den Rücken hinablief. Wie die Stadt bei der Hitze immer durchdrehte. Das würde er nicht vermissen.

Was natürlich eine weitere Lüge war.

Noch eine. Sollten sie nach seinem Abgang doch schauen, was Wahrheit und was eine Lüge gewesen war.

Er könnte immer noch gehen, dachte er plötzlich voller Verzweiflung. Er könnte einfach die Brücke überqueren und versuchen, durch die Schwelle zu kommen.

Vielleicht erreichte er die andere Seite. Manchen gelang das. Vielleicht endete es für ihn einfach wie für seine Mutter. Das wäre auch nicht schlimmer als das, was er sowieso verdiente.

Es bestand die geringe Chance, dass er überlebte, und dann konnte er vielleicht neu anfangen. Ihm standen genug Tricks zur Verfügung. Er hatte schon einmal sein Leben und seinen Namen geändert, und das könnte er wieder tun. Zumindest könnte er es versuchen.

Doch er wusste, dass es niemals klappen würde. Sein Abgang wäre nur ein anderer Tod. Denn der Orden, der nicht an die Schwelle gebunden war wie er, würde niemals aufhören, ihn zu verfolgen. Jetzt nicht mehr. Die Zerstörung des Buchs reichte nicht. Fanden sie ihn – und das würden sie –, würden sie ihn niemals gehen lassen. Sie würden ihn benutzen, immer wieder, bis nichts mehr von dem übrig wäre, der er einst gewesen war.

Er würde es darauf ankommen lassen und springen.

Er zog sich auf das Geländer hoch und packte das Seil fest, um in der Frühlingsbrise das Gleichgewicht zu halten. In der Ferne hörte er Kutschen und raue, wütende Stimmen, die von der Stadt her näher kamen, und er wusste, dass der Augenblick des Zögerns vorbei war.

Ein einziger Schritt ist so klein. Jeden Tag hatte er unzählige Schritte getan, ohne sie je wahrzunehmen, und doch, dieser eine Schritt …

Der Lärm näherte sich dem Brückenaufgang, wurde lauter, und er wusste, dass die Zeit gekommen war. Erwischten sie ihn, würden ihm weder Magie noch Tricks oder Lügen helfen. Er ließ das Seil los, tat den letzten Schritt und ging – mit dem Buch – an den einzigen Ort, an den der Orden nicht folgen konnte.

Das Letzte, was er hörte, war das trotzige Aufheulen des Buchs. Oder vielleicht war es das Geräusch, das sich seiner Kehle entrang, als er sich der Luft anvertraute.

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TEIL 1

Die Diebin

Dezember 1926 – Upper West Side

Sie setzte nicht ihre Magie ein, um sich von der Party zu stehlen, und doch verließ sie den Ballsaal ungesehen, während die hellen Töne des Flügels hinter ihr leiser wurden. Egal, welches Jahr es war, die Bediensteten sah nie jemand an, und so fiel auch keinem auf, dass sie ging. Und es fiel keinem auf, dass ihr formloses schwarzes Kleid an der einen Seite ein wenig durchhing – das verräterische Anzeichen für das Messer, das sie in den Röcken verbarg.

Den Menschen entging eben für gewöhnlich immer genau das, was sich direkt vor ihren Nasen abspielte.

Trotz der schweren Türen hörte sie noch immer fern die Klänge des Ragtime, den das Quartett spielte. Wie ein Geist folgte ihr die viel zu fröhliche Melodie durch die Eingangshalle, in der Schnitzwerk und glatt polierter Stein drei Stockwerke weit über ihr aufragten. Die Pracht überwältigte sie jedoch nicht. Sie war kaum beeindruckt und eingeschüchtert schon gar nicht. Hoch aufgerichtet und zielstrebig durchquerte sie den Raum – eine ganz eigene Magie, dachte sie. Man vertraute Menschen mit selbstbewusster Haltung, selbst wenn man das nicht tun sollte. Vielleicht sogar besonders dann, wenn man es nicht tun sollte.

Der gewaltige Kristalllüster ließ Splitter aus elektrischem Licht durch die gewaltige Halle tanzen, doch die Ecken des Raums und die hohe Kassettendecke lagen dennoch im Dunkel. Unter den Palmen, die über zwei Stockwerke an den Wänden hinaufaufragten, lauerten weitere Schatten. Die Halle erschien zwar leer, aber es gab in dieser Villa zu viele Verstecke, aus denen sie beobachtet werden konnte. Rasch ging sie weiter.

An der geschwungenen Prunktreppe angekommen, blickte sie hinauf zum Treppenabsatz, auf dem eine große Orgel stand. In dem Stockwerk darüber befanden sich die privaten Gemächer, in denen Kunstgegenstände, Juwelen, Vasen von unschätzbarem Wert und zahllose Antiquitäten standen – leichte Beute, während alle mit der ausgelassenen Party im Ballsaal beschäftigt waren. Esta war jedoch nicht wegen dieser Schätze hier, so verlockend diese auch sein mochten.

Und sie waren wirklich verlockend.

Sie hielt kurz inne, doch in diesem Moment läutete die Glocke die Stunde und bestätigte ihr, dass sie später dran war als geplant. Erneut warf sie einen Blick über die Schulter, dann huschte sie an der Treppe vorbei und in den Flur, der tiefer in die Villa hineinführte.

Es war ruhig. Still. Der Lärm der Party verfolgte sie nicht mehr, und sie ließ endlich die Schultern ein wenig sinken und stieß einen Seufzer aus, als sich ihre Rückenmuskeln von der kerzengeraden Haltung erholten, die zu ihrer Tarnung als Dienstmädchen gehört hatte. Sie neigte den Kopf und dehnte den Hals, doch bevor sie die erhoffte Lockerung verspürte, wurde sie am Arm gepackt und in die Schatten gezogen.

Instinktiv drehte sie sich um, packte das Handgelenk des Angreifers und zog es mit aller Kraft nach unten, bis er erstickt aufjaulte und sein Ellbogen kurz davor war, aus dem Gelenk zu springen.

»Teufel noch mal, Esta, ich bin’s«, zischte eine vertraute Stimme. Sie war eine oder zwei Oktaven höher als sonst, vermutlich weil Esta immer noch an seinem Arm zog.

Mit einem leisen Fluch ließ sie ihn los. »Du solltest es besser wissen, als mich einfach so zu packen.« Ihr Herz pochte heftig, deshalb verspürte sie keine Reue, als er sich jetzt den Arm rieb. »Was ist überhaupt los mit dir?«

»Du bist spät dran«, schnappte Logan, sein zu attraktives Gesicht dicht an ihrem.

Logan Sullivan hatte goldenes Haar und blaue Augen, über die naive Mädchen Gedichte schrieben, und er war ein Meister darin, dieses Aussehen zu seinem Vorteil zu nutzen. Frauen wollten ihn, Männer wollten sein wie er, doch Esta versuchte er nicht zu beeindrucken. Zumindest nicht mehr.

»Jetzt bin ich ja hier.«

»Du hättest vor zehn Minuten hier sein sollen. Wo warst du?«, fragte er.

Sie brauchte ihm nicht zu antworten. Es hätte ihn auch mehr geärgert, hätte sie es ihm verschwiegen, doch sie konnte ihr zufriedenes Grinsen nicht unterdrücken, als sie eine Diamantkrawattennadel hochhielt, die sie im Ballsaal einem alten Mann gestohlen hatte, der seine Hände nicht hatte bei sich behalten können.

»Wirklich?« Logan funkelte Esta böse an. »Dafür hast du alles aufs Spiel gesetzt?«

»Ansonsten hätte ich ihm eine runterhauen müssen.« Sie blickte zu ihm auf, um ihren Standpunkt ganz klarzumachen. »Grapscher gehen nicht, Logan.« Sie hatte sich nicht einmal bewusst dazu entschieden, ihn anzurempeln, während er ein junges Dienstmädchen begrapschte, um dann so zu tun, als wischte sie ihm den Champagner vom Mantel, und dabei die Nadel aus seiner Seidenkrawatte zu ziehen. Vielleicht hätte sie sich einfach abwenden sollen, doch das hatte sie nicht. Das konnte sie nicht.

Logan sah sie weiter finster an, aber Esta weigerte sich, Reue zu zeigen. Reue war denen vorbehalten, die ihre Vergangenheit mit sich herumschleppten, und diesen überflüssigen Ballast hatte Esta sich noch nie erlauben können. Und wer konnte es schon bereuen, einen Diamanten zu besitzen? Selbst in dem düsteren Korridor war der Stein eine Pracht – ganz Feuer und Eis. Für Esta stellte er auch ein Stück Sicherheit dar, nicht nur wegen seines Werts, sondern weil er sie daran erinnerte, dass sie immer überleben konnte, was auch geschah. Der Adrenalinschub ob dieser Erkenntnis jagte ihr immer noch durch die Adern, und nicht einmal Logans Wut konnte das Gefühl dämpfen.

»Du machst genau das, was der Auftrag erfordert.« Er blickte sie mit zusammengekniffenen Augen an.

»Ja, das tue ich«, sagte sie leise, aber kein bisschen eingeschüchtert. »Das habe ich immer. Und werde es immer tun. Der Professor weiß das, da dachte ich, du hast das mittlerweile auch begriffen.« Sie sah ihn noch einmal finster an, dann warf sie einen weiteren zufriedenen Blick auf den Diamanten, nur um ihn noch ein wenig zu reizen. Er war auf jeden Fall näher an vier Karat dran, als sie zuerst geglaubt hatte.

»Wir dürfen heute Nacht kein unnötiges Risiko eingehen«, sagte er dann geschäftsmäßig und offensichtlich immer noch in dem Glauben, er hätte etwas zu melden.

Sie tat seine Bemerkung mit einem Schulterzucken ab und steckte den Diamanten in ihre Tasche. »War kein so großes Risiko«, sagte sie wahrheitsgemäß. »Wir sind längst weg, bis der alte Bock es bemerkt. Und du weißt, dass er nicht gesehen hat, wie ich sie ihm genommen habe.« Das taten sie nie. Sie warf ihm einen trotzigen Blick zu.

Logan öffnete den Mund, doch sie war schneller.

»Hast du es gefunden?«, fragte Esta.

Sie wusste schon, wie die Antwort lauten würde – natürlich hatte er es gefunden. Logan fand alles. Das war sein Daseinszweck – zumindest im Team des Professors. Esta ließ ihm seinen Triumph, denn sie musste ihn von dem Diamanten ablenken. Sie hatten keine Zeit für einen seiner Wutanfälle, und so ungern sie es auch zugab, sie war später dran als geplant.

Logan presste die Lippen aufeinander, als müsste er sich mühsam davon abhalten, weiter über den Diamanten zu reden, doch dann gewann sein Ego die Oberhand – wie üblich –, und er nickte. »Im Billardzimmer, wie erwartet.«

»Geh vor«, sagte sie mit einem, wie sie hoffte, gewinnenden Lächeln. Sie kannte den Grundriss der Villa genauso gut wie er, wusste aber aus Erfahrung, dass man Logan am besten das Gefühl gab, er wäre nützlich oder hätte sogar das Sagen. So ließ er sie wenigstens in Ruhe.

Er zögerte kurz, dann deutete er mit dem Kinn endlich in eine Richtung. Sie folgte ihm schweigend und mehr als zufrieden mit sich durch den schwach beleuchteten Flur.

Die Wände waren mit Gemälden bedeckt, auf denen mürrisch dreinblickende Adlige irgendeines bankrotten Landguts aus Europa zu sehen waren. Charles Schwab, der Eigentümer der Villa, war aber nicht adliger als Esta selbst. Er stammte aus einer Familie deutscher Immigranten, das wusste jeder in der Stadt. Das Haus half da auch nicht – es war auf der falschen Seite des Central Parks erbaut, nahm einen ganzen Häuserblock ein und war protzig vergoldet und mit Kristallglas überladen. Der Hausrat darin mochte ein Vermögen wert sein, doch in New York reichte selbst ein Vermögen nicht aus, um sich seinen Platz in den exklusivsten Kreisen der Gesellschaft zu erkaufen.

Zu schade, dass es nicht lange Bestand haben würde. In ein paar Jahren würde der Schwarze Dienstag zuschlagen, und dann würden all diese Kunstwerke sowie jeder Einrichtungsgegenstand verkauft werden, um Schwabs Schulden zu begleichen. Die Villa selbst würde leer stehen, bis man sie eine Dekade später abriss, um Platz für ein weiteres fantasieloses Mietshaus zu schaffen. Wäre die Villa nicht so offensichtlich geschmacklos, wäre das beinahe bedauerlich.

Bis dahin würden noch ein paar Jahre vergehen, und Esta hatte keine Zeit, sich Gedanken über die Zukunft eines Stahlmagnaten zu machen. Nicht, wenn sie einen Auftrag zu erledigen und weniger Zeit als geplant hatte.

Sie liefen durch einen weiteren Flur, der vor einer großen Holztür endete. Logan lauschte aufmerksam, bevor er sie aufstieß. Kurz fragte sich Esta, ob er mit ihr zusammen hineingehen würde.

Doch er nickte ihr nur ernst zu. »Ich passe auf.«

Dankbar, dass Logan ihr doch nicht im Nacken sitzen würde, huschte sie ins Zimmer, das sie sofort mit dem Geruch nach Holzpolitur und Zigarren umhüllte. Das Billardzimmer war durch und durch maskulin eingerichtet, nicht übertrieben vergoldet und mit Kristall überladen, so wie der Rest des Hauses. Hier waren schwere Ledersessel zu kleinen Sitzgruppen arrangiert, und ein gewaltiger Billardtisch stand in der Mitte des Zimmers wie ein Altar.

Die Luft war wegen des Feuers im Kamin stickig, und Esta zupfte am hochgeschlossenen Kragen ihres Kleids und wog dabei das Risiko ab, entweder den Kragen aufzuknöpfen oder die Ärmel aufzurollen. Sie musste es bequem haben, während sie arbeitete, und außer Logan war niemand da …

»Mach endlich«, drängte er. »Schwab beginnt bald mit der Auktion, und dann müssen wir weg sein.«

Den Rücken immer noch Logan zugewandt, musterte sie das Zimmer und zwang sich zu einem tiefen Atemzug, um sich zu beruhigen und ihn nicht umzubringen. »Hast du herausgefunden, wo der Tresor ist?«

»Bücherregal«, sagte er, bevor er die Tür zuzog und sie in dem stickigen Raum einschloss. Die Stille wurde nur von dem steten Ticken der Standuhr unterbrochen – tick … tick … tick –, einer Erinnerung, dass mit jeder verstreichenden Sekunde der Augenblick näher rückte, in dem sie entdeckt werden konnten. Und wenn man sie sah …

Sie verdrängte den Gedanken und konzentrierte sich ganz auf ihre Aufgabe. An der dem großen Kamin gegenüberliegenden Wand reihten sich Regalbretter mit in Leder gebundenen Büchern. Esta strich bewundernd über die makellosen Rücken.

»Wo bist du?«, flüsterte sie.

Die Titel schimmerten sanft im schwachen Licht und behielten ihre Geheimnisse für sich, während sie mit den Fingern über die Unterseite der Regalbretter fuhr. Es dauerte nicht lange – ein kleiner Knopf war ins Holz eingelassen, dort, wo ihn kein Bediensteter aus Versehen fand und niemand außer einem Dieb suchen würde. Sie drückte darauf, der Mechanismus in den Regalen gab mit einem befriedigenden Klicken nach, und ein Viertel der Wand schwang so weit vor, dass sie die an Scharnieren befestigten Regale vorziehen konnte.

Genau, wie sie es erwartet hatte – ein Tresor mit Kombinationsschloss von Herring-Hall-Marvin. Acht Zentimeter dicker Gussstahl und so groß, dass ein Mensch bequem darin sitzen konnte, war es der raffinierteste Tresor, den man 1923 hatte kaufen können. Sie hatte noch nie zuvor ein so neues Modell gesehen. Dieses hier war glänzend dunkelgrün lackiert, und Schwabs Name stand mit goldener, verschnörkelter Schrift darauf. Ein wunderschöner Tresor für die Dinge, die einem sehr reichen Mann am meisten am Herzen lag. Glücklicherweise hatte Esta bereits im Alter von acht Jahren Schlösser geknackt, die eine größere Herausforderung darstellten.

Voller Vorfreude lockerte sie die Finger. Die ganze Nacht hatte sie sich nicht wie sie selbst gefühlt – das steife Kleid, der zu Boden gesenkte Blick, wenn jemand sie ansprach –, es war, als spielte sie eine Rolle, die ihr nicht passte. Jetzt, vor dem Tresor, fühlte sie sich endlich wieder wohl in ihrer Haut.

Sie drückte das Ohr an die Tür, dann begann sie, an der Nummernscheibe zu drehen. Ein Klick … zwei … der Klang von Metall, das im innen liegenden Zylinder gegen Metall rieb, während sie auf den Herzschlag des Schlosses lauschte.

Die Sekunden verstrichen mit unheilbringender Gewissheit, doch je länger sie arbeitete, desto mehr entspannte sie sich. Ein Schloss konnte sie besser lesen als einen Menschen. Schlösser hatten keine Launen oder änderten sich bei jedem Wetterumschwung, und bisher hatte es kein Schloss gegeben, das sein Geheimnis vor ihr hätte wahren können. Innerhalb von Minuten hatte sie drei der vier Ziffern. Sie drehte das Rad erneut, um die vierte …

»Esta?«, zischte Logan und störte ihre Konzentration. »Bist du endlich fertig?«

Die letzte Ziffer war weg, und sie blickte ihn über die Schulter finster an. »Wäre ich vielleicht, wenn du mich in Ruhe lassen würdest.«

»Beeil dich«, blaffte er, trat wieder in den Flur und zog die Tür zu.

»Beeil dich«, murmelte sie und ahmte seinen Befehlston nach, während sie sich wieder nach vorn beugte, um zu lauschen. Als könnte man bei der Kunst des Tresorknackens hetzen. Als wüsste Logan überhaupt, wie das ging.

Als sich der letzte Zylinder endlich mit einem Klicken an seinen Platz schob, verspürte sie eine tiefe Zufriedenheit in sich nachhallen. Nun musste sie die Kombinationen durchprobieren. Noch eine Minute, dann wäre der Inhalt des Tresors in Reichweite. Noch eine Minute, und Logan und sie wären weg. Und Schwab würde es niemals herausfinden.

»Esta?«

Sie fluchte. »Was jetzt?« Dieses Mal drehte sie sich nicht zu Logan um und konzentrierte sich weiter auf die zweite und falsche Kombination.

»Da kommt jemand.« Er blickte kurz hinter sich. »Ich lenke sie ab.«

Jetzt drehte sie sich zu ihm um und bemerkte seine vor Angst angespannte Miene. »Logan …« Doch er war schon wieder weg.

Sie überlegte, ihm zu helfen, verwarf den Gedanken aber und wandte sich stattdessen wieder dem Tresor zu. Logan würde sich darum kümmern. Er würde sich für sie beide darum kümmern, denn so lief das nun mal bei ihnen. So arbeiteten sie. Sie hatte ihre Aufgabe und er seine.

Zwei weitere falsche Kombinationen – die Hitze des Zimmers kroch über ihre Haut, während der Geruch nach Tabak und Holzrauch ihr im Hals kratzte. Sie wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn und versuchte zu ignorieren, dass es sich anfühlte, als würde das Kleid sie ersticken wollen.

Sie versuchte es erneut und ignorierte die Schweißtropfen, die sich unter den Stoffbahnen langsam ihren Weg nach unten suchten. Acht. Einundzwanzig. Dreizehn. Fünfundzwanzig. Sie zog am Griff, und zu ihrer Erleichterung öffnete sich die schwere Tresortür.

Vor dem Zimmer hörte sie das tiefe Brummen von Männerstimmen, doch sie war zu sehr mit dem Inhalt des Tresors beschäftigt, um ihnen viel Beachtung zu schenken. Auf den Regalbrettern und Fächern lagen Briefumschläge aus Leinwand, in denen Aktienzertifikate und Anleihen, Ordner mit Papieren und ordentlich gebündelte, große Geldscheine lagen. Enttäuscht blickte sie auf das seltsam aussehende Geld, da sie nicht einmal einen Dollar mitnehmen konnte. Damit ihr Plan Erfolg hatte, durfte Schwab nicht wissen, dass jemand hier war.

Sie fand, was sie suchte, auf einem Brett weiter unten.

»Hallo, meine Schönheit«, schnurrte sie und griff nach der langen schwarzen Schachtel. Sie hatte sie kaum in den Händen, als die Stimmen im Gang lauter wurden.

»Das ist unerhört! Ich könnte Sie mit einem einzigen Telegramm ruinieren«, brüllte Logan, dessen Stimme durch die schwere Tür hindurch zu hören war. »Wenn ich meinem Onkel berichte – nein, meinem Großvater –, mit welch bodenloser Frechheit ich hier behandelt wurde«, fuhr er fort, »werden Sie keinen weiteren Vertrag diesseits des Mississippi abschließen. Nicht einmal auf der anderen Seite. Niemand wird noch mit Ihnen reden, wenn ich …«

Das muss Schwab sein, dachte Esta, zog eine Nadel aus ihrem Haar und fing an, sich an der verschlossenen Kiste zu schaffen zu machen. Seit Jahren versuchte Schwab, sich einen Namen in der Stadt zu machen. Das Haus war ein Teil davon, doch der Inhalt der Kiste war der wichtigere. Und es war der Inhalt dieser Kiste, den Esta brauchte.

»Sei vernünftig, Jack.« Eine andere Stimme … vermutlich Schwabs. »Ich bin sicher, das ist nur ein Missverständnis …«

Sie bekam eine Gänsehaut, als die Worte zu ihr durchdrangen. Jack? Also war Schwab nicht allein da draußen.

Egal, wie fähig Logan war, in der Unterzahl zu sein, war nie gut. Schnell rein und raus, mit möglichst wenig Kontakt. Diese Regel hielt sie am Leben.

Sie stocherte einen Moment mit der Haarnadel im Schloss herum, bis sie spürte, wie der Verschluss nachgab, und die Kiste aufsprang.

»Nimm deine dreckigen Pfoten von mir!«, schrie Logan laut genug, dass Esta es hörte. Das Zeichen, dass die Lage eskalierte.

Sie legte die Kiste wieder auf das Brett, damit sie ihre Röcke heben und das Messer hervorziehen konnte, das sie dort verborgen hatte. Trotz der Rangelei im Flur bewunderte Esta kurz Maris Handwerkskunst, als sie nun das Messer mit dem juwelenbesetzten Dolch verglich, der auf dem schwarzen Samt der Schachtel lag. Ihrer Freundin war es wieder mal gelungen – nicht dass sie das ernsthaft überraschte.

Mariana Cestero konnte alles replizieren – jedes Material aus jeder Zeit, inklusive Logans geprägter Einladung für die Party an diesem Abend und den fünfzehn Zentimeter langen Dolch, den Esta in den Falten ihres Rocks bei sich getragen hatte. Das Einzige, was Mari nicht vollständig replizieren konnte, war der Stein im Griff des Dolchs, das Herz des Pharao, denn dieser Stein war mehr, als er zu sein schien.

Es war ein Granat, der aus einer der Grabkammern im Tal der Könige entwendet worden sein sollte, der angeblich Macht über das Feuer barg, das am schwersten zu beherrschende Element. Feuer, Wasser, Erde, Himmel und Geist waren die fünf Elemente, die sich der Orden des Ortus Aurea um jeden Preis nutzbar machen wollte, um seine Macht auszubauen.

Natürlich war das ein Irrtum. Elementarmagie war bloß ein Märchen, erfunden von jenen ohne Magie – den Sundren –, um zu erklären, was sie nicht begriffen. Es machte den Orden jedoch nicht weniger gefährlich, nur weil er die Magie nicht begriff. Nur weil man mit dem Stein nicht das Feuer beherrschte, bedeutete das nicht, dass ihm nicht doch etwas Besonderes zu eigen war. Sonst würde Professor Lachlan ihn nicht haben wollen.

Der Granat war so poliert, dass er selbst im sanften Schein des Feuers zu glühen schien. Esta spürte den Sog des Steins, er zog sie an, aber nicht wie die Diamantnadel, sondern auf einer tieferen Ebene.

Elementarmagie mochte ja ein Märchen sein, aber die Magie selbst war real genug.

Organisationen wie der Orden des Ortus Aurea versuchten seit Jahrhunderten, sich die Magie zu eigen zu machen. Schwab hatte den Dolch erworben und die Auktion in der Hoffnung arrangiert, sich so seinen Platz im Orden zu erkaufen. Doch die einzige Magie, die der Orden besaß, war künstliche und verdorbene Zeremonialmagie – pseudowissenschaftliche Praktiken wie Alchemie und Theurgie –, und so würden sie nicht spüren können, was Esta fühlte. Sie würden erst viel später merken, dass Maris Stein eine Fälschung war – wenn sie ihre Experimente durchführten und versuchten, sich die Macht des Steins zunutze zu machen. Und selbst dann würden sie davon ausgehen, dass Schwab sie betrogen hatte … oder den Unterschied erst gar nicht bemerkt hatte. Schwab selbst würde glauben, dass ihn der Antiquitätenhändler betrogen hätte, der ihm den Dolch verkauft hatte. Niemand würde die Wahrheit erkennen – dass das echte Herz des Pharao direkt vor ihren Nasen gestohlen worden war.

Esta nahm den Tausch vor, legte den gefälschten Dolch in die mit Samt ausgeschlagene Kiste und schob den echten Dolch in ihre Rocktasche. Er war schwerer als der, den sie den ganzen Abend dort mit sich herumgetragen hatte, als hätte das Herz des Pharao ein Gewicht und eine Dichte, die Mari nicht vorausgesehen hatte. Einen Augenblick lang sorgte sich Esta, dass Schwab den Unterschied vielleicht doch bemerkte. Dann dachte sie an das Haus – seinen übertriebenen Versuch, seinen Kontostand zur Schau zu stellen – und schüttelte diese Befürchtung ab. Schwab gehörte nicht gerade zu denen, die begriffen, worauf es ankam.

Vor dem Zimmer zerbrach etwas, und eine ihr unbekannte Stimme schrie auf. Rasch verschloss Esta die Kiste und achtete darauf, sie genau so auf das Regal zu stellen, wie sie sie vorgefunden hatte. Dann schloss sie den Tresor. Sie schob gerade den Bücherschrank davor, als sie Logan hörte – ein gequältes Aufstöhnen.

Und dann zersplitterte ein Schuss die Nacht.

Nein!, dachte Esta und rannte schon durch die Tür, als ihr der Schuss noch in den Ohren hallte. Sie musste zu Logan. Er mochte ja vielleicht eine Nervensäge sein, aber er war ihre Nervensäge. Und es war ihr Job, sie beide hier rauszubringen.

Logan lag am anderen Ende des Flurs auf dem Boden und versuchte, sich aufzurappeln, während Schwab sich mühte, einem Mann mit lichter werdendem blondem Haar, dessen Smoking sich um die fette Leibesfülle bauschte, eine Pistole zu entreißen. Der Blonde wehrte sich gegen Schwab und richtete die Waffe erneut auf Logan.

Esta erfasste diese Szene in einem Augenblick, holte tief Luft und zwang sich, das Chaos zu ignorieren. Stattdessen konzentrierte sie sich auf das stetige Schlagen ihres eigenen Herzens.

Poch. Poch.

So gleichmäßig wie die Zylinder des Schlosses, die an ihren Platz glitten.

Poch. Poch.

Beim nächsten Schlag verdichtete sich die Zeit für sie, und es war, als erstarrte die Welt um sie fast vollständig: Schwabs wabbelnde Wangen hielten beinahe still. Der Schweiß, der dem blonden Mann von der Schläfe tropfte, schien mitten in der Luft eingefroren, während er quälend langsam zu Boden fiel.

Es war, als spulte jemand die Welt wie einen Film vor, Bild um Bild. Und dieser Jemand war sie.

Finde die Spanne zwischen dem, was ist, und dem, was nicht ist, hatte Professor Lachlan sie gelehrt.

Denn nicht in den Elementen war die Magie. Die Magie befand sich in den Zwischenräumen, in der Leere zwischen allen Dingen, sie verband sie. Sie wartete dort auf die, die wussten, wie man sie fand, auf die, denen die Fähigkeit angeboren war, diese Verbindungen zu sehen – die Mageus.

Wie Esta.

Vorhin hatte sie die Magie nicht gebraucht, nicht, um von der Party weg zu entkommen oder das Schloss zu knacken, doch sie brauchte sie jetzt, also öffnete sie sich für sie. Für sie war es fast so leicht wie zu atmen, die Leere zwischen den Sekunden und dem Schlagen der Herzen zu finden. Sie stürzte zu Logan und stahl Zeit, während sie durch das beinahe erstarrte Standbild huschte.

Doch sie konnte die Zeit nicht vollständig anhalten. Sie konnte den Moment nicht umkehren und den Finger des blonden Mannes auch nicht davon abhalten, den Abzug noch einmal zu drücken.

Sie war noch nicht ganz bei Logan, als das Krachen des Revolvers ihre Konzentration zerschmetterte. Ihr entglitt die Zeit, und die Welt setzte sich mit einem Ruck wieder in Bewegung. Esta kam die Entfernung zwischen dem Billardzimmer bis zu der Stelle, an der sie jetzt für alle sichtbar und ungeschützt mitten im Flur stand, wie eine Ewigkeit vor, doch für die beiden Männer tauchte sie vollkommen unvermittelt dort auf. Mitglieder des Ordens würden sofort begreifen, dass sie Magie angewandt hatte.

Die Männer hielten einen Augenblick inne, die Augen beinahe schon komisch weit aufgerissen. Dann schien der Blonde sich wieder zu fangen. Er machte sich von Schwab los, hob die Pistole und zielte.

An der Schwelle

August 1900 – East 36th and Madison Avenue

Dolph Saunders war für die Nacht geboren. Die stillen Stunden, in denen sich die Stadt verdunkelte und das Gelichter des Tages die Straßen verließ, waren ihm am liebsten. Sie waren zwar Kriminelle und Halsabschneider, aber die, die sich nach dem Entzünden der Lampen dort draußen aufhielten, waren seine Leute – Besitzlose und Verleugnete, die in den Schatten lebten und sich ihr jämmerliches Leben am Rande der Gesellschaft schufen. Die, die wussten, dass es nur darauf ankam, sich nicht erwischen zu lassen.

In dieser Nacht waren ihm die Schatten jedoch kein Trost. Er hockte in einer Nische gegenüber der Villa von J.P. Morgan und verfluchte sich selbst, weil er nicht mehr tun konnte. Seine Mannschaft war spät dran, und in der Luft lag eine Unruhe – es fühlte sich zu sehr danach an, als wartete die Nacht selbst darauf, dass etwas geschah. Dolph gefiel das überhaupt nicht. Nicht, nachdem bereits so viele verschwunden waren, und besonders dann nicht, wenn Leenas Leben auf dem Spiel stand.

Es war nicht ungewöhnlich, dass Menschen in diesem Teil der Stadt verschwanden. Kreuzte man die falsche Straße, kam man der falschen Gang in die Quere. Und kam man dem falschen Boss in die Quere, verschwand man vielleicht spurlos. Die mit alter Magie, besonders die, die unter Dolphs Schutz standen, wussten den meisten Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Aber eine Handvoll seiner Leute, die innerhalb eines Monats verschwanden? Das konnte kein Zufall sein.

Dolph zweifelte nicht daran, dass der Orden die Schuld daran trug, doch in letzter Zeit hatte der sich ruhig verhalten. Seit Wochen war in der Bowery keine Razzia durchgeführt worden, was an sich schon ungewöhnlich war. Und obwohl ihre Klausur am Ende des Jahres bevorstand, hatten seine Leute nichts gehört, was einen Hinweis auf die Pläne des Ordens gab. Dolph traute diesem Frieden nicht, und er war nicht der Typ, der die, die ihm gegenüber loyal waren, ohne Antworten sitzen ließ. Also hatte Leena, Dolphs Partnerin in allem, als Dienstmädchen in Morgans Villa angeheuert. Morgan bekleidete eines der höchsten Ämter des Ordens, und sie hofften, dass jemand aus seinem Umfeld etwas ausplauderte.

Die letzten paar Wochen hatte sie poliert und geputzt … und nichts über die vermissten Mageus herausgefunden. Vor zwei Nächten war sie nicht nach Hause gekommen.

Er hätte es selbst machen sollen. Es waren seine Leute, seine Verantwortung. Wenn ihr irgendetwas zugestoßen war …

Er zwang sich, den Gedanken beiseitezuschieben. Ihr geht es gut. Leena war schlau, stark und sturer als sonst jemand, den er kannte. Sie kam mit jeder Situation klar. Ihre Magie funktionierte jedoch nur bei den Gaben anderer Mageus. Gegen den Orden war sie nutzlos.

Wie als Antwort auf seine düsteren Gedanken fuhr eine Mietkutsche an der Seite des Hauses vor. Heute Abend wurde keine Lieferung erwartet, und die Ankunft verstärkte Dolphs Unruhe nur. Die Kutsche versperrte ihm die Sicht, sodass er nicht erkennen konnte, ob sich Ärger zusammenbraute.

Doch bevor er sich einen anderen Posten suchen konnte, schwappten wütende Männerstimmen in die Nacht. Einen Augenblick später schlug die Tür der Kutsche mit einem Knall zu, und der Fahrer ließ die Peitsche schnalzen, sodass die Pferde losgaloppierten.

Dolph sah ihr nach, doch als sich ihm jemand mit schnellen Schritten näherte, packte er seinen Stock fester, bereit für alles, was da kam.

»Dolph?«

Es war Nibsy Lorcan. Verstoßen aus einem Heim für Jungen, war er vor ein paar Jahren in Dolphs Bar aufgetaucht. Klein und bescheiden, wie er war, übersah man ihn leicht, aber Dolph konnte die Kraft und die Gabe eines Menschen auf zehn Schritt erspüren. Er hatte gedacht, dass Nibsy eine wertvolle Ergänzung seiner Mannschaft sein könnte, und er hatte recht behalten. Nibsy hatte sich mit der leisen, ruhigen Stimme und dem scharfen Verstand den Respekt selbst der sauertöpfischsten Mitglieder von Dolphs Mannschaft verdient, und mit seiner Gabe vorauszusagen, wie sich unterschiedliche Entscheidungen auswirken könnten, hatte er rasch seinen Platz als Dolphs rechte Hand gewonnen.

Nibsy kam näher, und seine dicken Brillengläser blitzten im Mondlicht auf. »Dolph? Wo bist du?«

Dolph trat aus den Schatten. Trotz der Hitze der Nacht fühlte sich seine Haut eiskalt an. »Hast du sie gefunden?«

Nibs nickte und mühte sich, wieder zu Atem zu kommen.

»Wo ist sie?«, fragte Dolph, und seine Kehle wurde eng, als er das Haus nach einem Zeichen absuchte. »Was ist geschehen?«

»Der Orden muss auf uns gewartet haben«, sagte Nibsy, immer noch nach Luft ringend. »Spot haben sie sofort geschnappt. Ein Messer in den Bauch, keine Fragen. Und dann Appo.«

»Jianyu?«

»Weiß ich nicht«, keuchte Nibsy. »Hab ihn nicht gesehen, als ich weg bin. Leena habe ich gefunden. Morgan hatte sie im Keller, aber … ich konnte nicht zu ihr. Sie haben eine Barriere errichtet. Eine Art Wolke hing in der Luft. Als ich näher heranging, fühlte es sich an, als würde ich sterben.« Nibsy erschauderte und holte erneut tief Luft. »Sie ist ziemlich schwach. Ich hätte sie nicht dort herausholen können. Aber sie hat mir das hier zugeworfen«, sagte er und hielt etwas Kleines hoch, das in Musselin eingeschlagen war. »Sagte, ich solle sie zurücklassen. Und es kamen mehr von ihnen, also … habe ich es getan. Es tut mir leid. Ich hätte nicht …« Seine Stimme brach. »Sie haben sie geholt.«

Dolph nahm das Ding entgegen. Ein Stück Stoff war um einen Messingknopf gewickelt worden – einen, den Dolph von der Dienstmädchenuniform erkannte, die Leena getragen hatte. Der Fetzen wog nicht mehr als ein Atemzug zwischen seinen Fingerspitzen. An einer Seite war er zerfetzt. Sie musste ihn von ihrem Unterrock abgerissen haben. Anscheinend hatte sie Blut benutzt, um zwei Worte auf Latein daraufzuschmieren. Ihr Blut, begriff er. Die Nachricht war so wichtig, dass sie dafür ihr Blut vergossen hatte. Beim Anblick der verschmierten Buchstaben, die bereits zu einem dunklen Rostbraun getrocknet waren, nistete sich die Kälte tief in seine Knochen ein.

»Wir holen sie zurück.« Dolph weigerte sich, etwas anderes auch nur zu denken. Mit dem Daumen rieb er über den Fetzen, spürte das vertraute Echo von Leenas Energie. Er sandte seine Magie in das Stück Stoff, in die Spuren ihres Bluts, versuchte, mehr zu spüren und zu verstehen, was geschehen war. Er konnte die Gabe eines Menschen spüren, wenn dieser eine hatte, konnte sie sogar anzapfen und sie sich borgen, wenn er den Menschen berührte, doch Gegenstände zu lesen, war noch nie seine Stärke gewesen.

Und doch hatte Nibs recht – die winzige Spur, die er von Leena spürte, fühlte sich falsch an, schwach. Er warf den Knopf weg und schob den Stofffetzen in die Innentasche seines Mantels, die seinem Herzen am nächsten war.

»Noch ist Zeit«, sagte er und schritt bereits zu dem Platz hinüber, auf dem die Kutsche wartete.

Die Straßen waren leer, und sie holten die andere Kutsche rasch ein. Sie folgten ihr durch die Stadt gen Süden, und Dolph überkam das ungute Gefühl, dass er wusste, wohin sie fuhr. Als sie endlich auf die Park Row abbogen, wusste Dolph es mit Sicherheit.

Er brachte die Kutsche am Rand des Parks zum Stehen, der die City Hall umgab. Hinter den dunklen Gärten stand die große Endhaltestelle, die den Blick auf die Brücke nach Brooklyn versperrte. Einer Warnung aus Stahl und Glas gleich, ragte sie in der Nacht auf. Dahinter lag die Brücke, die erste ihrer Art, die einen so breiten Fluss überspannte. Quer über die Brücke verlief die Schwelle, die unsichtbare Grenze, die jeden Mageus davon abhielt, die Stadt zu verlassen und mit unversehrter Magie davonzukommen. Sie verhinderte, dass sie das Land jenseits der Brücke mit dem verdarben, was der Orden – und der größte Teil der Bevölkerung – für ungezähmte und gefährliche Macht hielt.

Leena war, wie Dolph auch, mit alter Magie geboren worden. Dass der Orden sie zur Brücke brachte, konnte nur eines bedeuten – sie wussten, was sie war. Und sie würden die Schwelle einsetzen, um ihre Gabe zu zerstören. Um sie zu zerstören.

Das würde er nicht zulassen.

Dolph beobachtete, wie die Mietkutsche mit Leena hinter die Haltestelle fuhr, auf den Eingang für Kutschen zu. »Ich gehe zu Fuß«, sagte er. »Du bleibst hier. Hältst Wache.«

»Sicher?«, fragte Nibs.

»Wir können nicht riskieren, dass sie uns bemerken.« Folgten sie ihnen mit der Kutsche, konnten sie sich nicht verstecken, auf dem Fußgängerweg darüber könnten sie sie vielleicht überraschen und hätten die Chance, Leena zu retten. »Sie werden warten müssen, um die Maut zu zahlen. So werde ich sie leicht einholen können.«

»Aber dein Bein«, sagte Nibs. »Ich könnte …«

Er warf Nibs einen vernichtenden Blick zu. »Mein Bein hat mich noch nie davon abgehalten, zu tun, was getan werden muss. Du bleibst hier. Komme ich nicht zurück, bevor ihre Kutsche wieder hier ist, geh und warne die anderen. Wenn das hier schiefgeht, könnte der Orden Jagd auf sie alle machen.« Er sah Nibs eindringlich an, wollte ihm die Bedeutung dieses Augenblicks begreiflich machen.

Nibs Augen wurden groß. »Du wirst zurückkommen«, sagte er. »Und du wirst Leena zurückbringen.«

Dolph war froh über diese Zuversicht, doch darauf würde er sich nicht verlassen. Er zog sich die Kappe tiefer in die Stirn und ging auf die Haltestelle zu. Er ignorierte sein steifes Bein, so wie immer, und zog sich die breiten Treppen hinauf, die zum Eingang der Brücke führten. Oben angekommen, hielt er sich von den schmalen Lichtstreifen auf den Planken des Stegs fern. Er blieb in den Schatten und bewegte sich trotz seines ungleichmäßigen Gangs schnell – er lebte schon so lange mit dem Hinken, dass es einfach ein Teil von ihm war.

Die Mietkutsche hatte vor dem ersten Turm der Brücke angehalten – direkt hinter dem Ufer. Drei Gestalten stiegen aus. Eine beugte sich wieder in die Kutsche und zog eine vierte heraus. Selbst aus dieser Entfernung erkannte er, dass es Leena war. Er spürte ihre Gabe – vertraut, warm, sein. Doch sie hing schlaff zwischen ihren Entführern. Er spürte auch, wie schwach ihre Magie war, und als er näher kam, sah er, was sie ihr angetan hatten, sah ihr zerschrammtes Gesicht und die blutende Lippe. Sah, wie sie bei einem flattrigen Atemzug zusammenzuckte und sich gegen die Männer zur Wehr setzte, als diese sie auf den Turm, auf die Schwelle zuzerren wollten.

Sein Blut begann zu brodeln.

Dolph wusste, wie jeder andere Mageus in der Stadt, was geschehen würde, wenn jemand mit alter Magie diese Grenze überschritt. Sobald man die Schwelle übertrat, zehrte sie einen aus. Hatte derjenige Glück und seine Gabe war schwach – mehr ein Talent als wahre Macht –, so überlebte er vielleicht, doch der fortan fehlende Teil seiner selbst zerrüttete ihn, und er litt für den Rest seines Lebens unter diesem Verlust.

Die meisten blieben hohl und leer und vernichtet zurück. Oftmals tot. Und deshalb wusste er ganz genau, was mit Leena geschehen würde, denn sie war eine der mächtigsten Mageus, die er jemals kennengelernt hatte.

Er hielt sich in den Schatten und rechnete sich seine Chancen aus, Leena den Männern zu entreißen. Einen könnte er mit Leichtigkeit ausschalten, sogar mit dem Bein, und die vergiftete Klinge in seinem Stock reichte für den zweiten, aber der dritte? Ihm blieb keine Zeit, zurückzugehen und Nibs zu holen … nicht dass der Junge in einem Kampf eine große Hilfe wäre.

»Haltet sie aufrecht, Jungs«, sagte der Anführer der drei. »Ich will die Angst in ihren Augen sehen – dreckige Made.«

Die zwei Männer zogen Leena auf die Füße, und einer schlug ihr fest auf die Wange.

Dolphs Blut kochte, und er konnte seine Wut kaum zügeln. Doch er zwang sich, still zu bleiben, nichts zu überstürzen und so die einzige Gelegenheit zu verpfuschen, die ihm blieb, um sie zu befreien.

Doch zuzusehen, wie ein anderer Mann sie berührte, ihr wehtat … Seine Knöchel schmerzten, so fest packte er seinen Stock. Zur Hölle mit dem Plan, die Schwelle zu zerstören. Er würde sie alle zerstören.

Er schlich durch die Schatten, bis er beinahe über ihnen war. Hier spürte er die kalte Energie der Schwelle bereits. Anders als natürliche Magie, die sich warm und lebendig anfühlte, war die Schwelle wie Eis. Verzweiflung und Verwesung. Es war widernatürliche Magie, Macht, die ein Ritual verdorben hatte und die von der Energie genährt wurde, die sie anderen aussaugte. Und wie jede widernatürliche Magie forderte sie einen Preis.

Er war ihr jetzt so nahe, dass er sich nur umdrehen und davonlaufen wollte. Er war ihr so nahe, dass er spürte, wie leicht ihm all das genommen werden konnte, was ihn ausmachte. Doch er würde nicht zulassen, dass jemand noch einmal Hand an sie legte.

Der Mann, der gesprochen hatte, zerrte Leenas Kopf an den Haaren zurück. »Da bist du ja«, sagte er und lachte, als sie das linke Auge öffnete, um ihn anzusehen. Ihr rechtes Auge war zugeschwollen. »Weißt du, was gleich mit dir passiert, Täubchen? Ich wette, das tust du. Ich wette, du kannst es fühlen, nicht wahr?« Der Mann lachte. »Genau das verdienen Maden wie du und deinesgleichen.«

Leenas Auge schloss sich. Kein Anzeichen der Schwäche, das wusste Dolph, sie sammelte nur ihre Kraft.

Das ist mein Mädchen, dachte Dolph, als Leena einen üblen Fluch murmelte. Dann öffnete sie das Auge, das nicht zugeschwollen war, und spuckte dem Mann ins Gesicht.

Der Mann reagierte sofort. Seine Hand schoss vor, und Leenas Kopf zuckte nach hinten.

Dolph war bereits in Bewegung. Er schwang sich auf das Geländer und schlug mit dem Ende seines Stocks gegen die Straßenlampe. Wie Beute, die den nahenden Jäger spürte, wurden die Männer unter ihm ganz ruhig, als das Licht ausging, und lauschten angestrengt auf die Quelle dieser Störung.

»Auf was wartet ihr?«, rief der Anführer und durchbrach die entstandene Stille. In seiner Stimme schwang jedoch eine Unruhe mit, die vorher nicht da war. »Bringt sie rüber.«

Die Männer gehorchten nicht augenblicklich. Während sie zögerten, da ihre Augen sich noch an die Dunkelheit gewöhnen mussten, schob Dolph die Augenklappe auf das andere Auge und sah nun mit dem, das bereits an die Dunkelheit gewöhnt war. Er sah die Brücke unter sich klar und deutlich, und lautlos ließ er sich von dem Steg darüber auf sie hinabfallen. Er ignorierte das Stechen in seinem Bein, als er auf dem Anführer landete, ihn zu Boden stieß und ihm die scharfe Klinge in den Knöchel rammte, die im Ende seines Stocks verborgen war. Der Mann stieß einen Schrei aus, als würde er bei lebendigem Leib verbrannt.

Nun, dieses Gift brannte tatsächlich.

Während der Anführer weiterschrie, wandte Dolph sich schon dem nächsten Mann zu, aber der wehrte sich bereits gegen einen unsichtbaren Angreifer. Er zuckte auf, dann wurde er ganz still und sank mit weit aufgerissenen Augen zu Boden. Jianyu tauchte auf, schien sich förmlich aus der Nacht heraus zu materialisieren. Er nickte Dolph kurz zu, und gemeinsam wandten sie sich dem dritten Mann zu.

Der Letzte schien vor Angst gelähmt und begriff nicht, dass er besser davonlaufen sollte. Er hielt Leena wie einen Schild vor sich.

»Lasst mich in Ruhe, oder ich bringe sie um«, sagte er, und seine Stimme brach, während er in der Dunkelheit blinzelte.

Dolph trat auf ihn zu, und Jianyu umkreiste den Mann von der anderen Seite.

»Du bist bereits in dem Moment gestorben, in dem du sie angefasst hast«, murmelte Dolph, kaum noch eine Armeslänge von dem Mann entfernt.

Der Mann taumelte rückwärts, und Leena nutzte die Gelegenheit, um sich von ihm loszumachen. Doch er verlor das Gleichgewicht, und er hatte sie zu fest gepackt. Der Mann zog sie mit sich, weg von Dolph, auf die eisige Schwelle zu.

Ohne an sich selbst zu denken, griff Dolph nach ihnen, aber seine Finger erwischten nur den Ärmel des Mannes. Der Mantelstoff riss, und der Mann – und Leena – stürzten rückwärts in die Schwelle.

Dolph spürte den Moment, in dem sie die Schwelle überquerte, weil er ihre Überraschung und ihren Schmerz und ihre Verzweiflung spürte, als wären es seine eigenen. Die Schwelle leuchtete auf und erhellte die Nacht, als die Magie durch Leena hindurchströmte und ihre Macht aus ihr heraussaugte. Sie schrie, ihr Rücken krümmte sich. Ihre Arme und Beine wurden steif und zitterten unter der grauenhaften Kraft, die sie gepackt hielt.

Der Mann, der sie festhielt, schrie ebenfalls, doch nicht wegen der Schwelle. Als sie zu zittern begann, ließ er sie fallen und lief davon, verschwand in der Nacht und in Richtung anderes Ufer, wohin Dolph ihm nicht folgen konnte.

Dolphs Blick galt nur Leena. Mit hilflosem Entsetzen sah er zu, wie ihr Körper vor Schmerz zuckte, als die Magie aus ihr herausgerissen wurde. Er ging auf sie zu, ungeachtet seiner eigenen tief sitzenden Angst vor der Schwelle, doch als seine Finger die eisige Barriere berührten, konnte er sich nicht dazu bringen, die Hand weiter auszustrecken.

»Leena!«, schrie er. »Sieh mich an!«

Sie sank zu Boden, ausgezehrt, und doch stöhnte sie noch und wand sich vor Schmerzen. Er spürte ihre Gabe nicht mehr.

»Leena!«, schrie er erneut, und Wut und Entsetzen mischten sich in seiner Stimme.

Es reichte, um sie für einen Augenblick abzulenken, und obwohl sich ihr Gesicht vor Schmerz verzog, versuchte sie, sich dem Klang seiner Stimme zuzuwenden.

»So ist es gut«, sagte er, als sich ihre Blicke endlich begegneten.

Auf ihrer Miene zeigten sich der Schmerz und der Schock über die Zerstörungswut der Schwelle, aber sie war noch nicht tot. Solange ihr Herz schlug, gab es Hoffnung, sagte sich Dolph und verdrängte die Wahrheit.

Niemand kam zurück, der die Schwelle überquerte.

Leena war anders, sagte er sich, als sie versuchte, sich auf ihn zu konzentrieren. Einen Augenblick lang dachte Dolph, seine Leena noch in der von Qual verzerrten Miene zu sehen.

»Komm zu mir, Streghina. Du musst es versuchen, für mich«, flehte er.

Und weil sie der stärkste Mensch war, den er jemals gekannt hatte, versuchte sie es wirklich. Sie zwang sich, sich zu bewegen, nach ihm auszustrecken, und ihre Glieder zitterten vor Anstrengung, als sie sich auf ihn zuschob.

»So ist es gut, Liebste. Nur noch ein kleines Stück«, sagte er und mühte sich, das tierische Aufheulen zu unterdrücken, das sich in ihm sammelte.

Mit dem letzten Rest Kraft schleppte sie sich vorwärts. Ihr Gesicht war angespannt, aber sie machte weiter. Seine Leena. Sein Herz.

»Du kannst es schaffen. Nur noch ein Stückchen.«

Sie sah zu ihm auf, ihre einst so wunderschönen Augen leuchteten in schaurigem Blutrot. Ihre Miene war entschlossen, als sie etwas zu flüstern versuchte, aber bevor sie es beenden konnte, brach sie außerhalb seiner Reichweite zusammen.

»Nein!«, schrie er. »Du kannst uns nicht verlassen. Du kannst jetzt nicht aufgeben.« Er kniete sich so dicht vor die Schwelle, wie er es sich traute, und wollte sie mit bloßem Willen dazu zwingen, sich zu bewegen.

Doch Leena sah nur zu ihm auf, kaum in der Lage, sich mit dem unverletzten Auge auf ihn zu konzentrieren.

Nein, dachte er. Er würde ihr Schicksal nicht akzeptieren. Konnte es nicht akzeptieren. Nicht seine Leena, die an seiner Seite war, seit sie Kinder waren. Nicht die Frau, die in jeder Hinsicht seine Partnerin war, trotz all der Fehler, die er begangen hatte. Er konnte sie nicht dort zurücklassen. Ganz gleich, was es für ihn bedeutete.

Dolph zwang sich, die Hand nach Leena auszustrecken, sich Stück für Stück durch die sengende Kälte zu schieben. Den quälenden Schmerz zu ignorieren. Die Schwelle zu durchbrechen, war, als würde man die Hand durch Glas schieben und spüren, wie sich die Splitter durch Haut und Sehnen bohrten. Oder als würde man sich in geschmolzenes Metall setzen, wenn flüssiger Stahl kälter wäre als Eis.

Doch selbst dieser Schmerz war nichts im Vergleich zu dem Gedanken, sie zu verlieren.

Endlich packte er Leenas Hand. Sie blinzelte langsam, mit leerem Blick, als sie den Druck seiner Hand spürte, doch als seine Finger nun fest um ihre lagen, stellte er fest, dass ihm die Kraft fehlte, sie zurückzuziehen. Die Schwelle packte sein Handgelenk, grub sich eisig und tief unter seine Haut, suchte das Herz dessen, wer und was er war.

Da plötzlich bewegte er sich. Jianyu hatte ihn an den Beinen gepackt und zog ihn und Leena weg von der unsichtbaren Grenze. Mit letzter Kraft nahm Dolph Leena in die Arme und zog sie auf seinen Schoß, sich kaum der Taubheit in seiner eigenen Brust gewahr.

»Ich war nicht schnell genug«, sagte Jianyu. »Ich wollte sie holen, bevor sie sie packten, aber …«

Dolph hörte ihn nicht einmal.

»Nein«, flüsterte Dolph und fuhr die Linien ihres Gesichts nach. Ihr Atem rasselte schwach in ihrer Lunge, während sie sich an ihn klammerte, und er wiegte sie und flehte sie an, bei ihm zu bleiben. »Ich kann das nicht ohne dich tun.«

Aber sie antwortete nicht.

»Nein!«, schrie er, als er spürte, wie ihr Körper in seinen Armen erschlaffte. »Nein!« Wieder und wieder heulte er das Wort in die Nacht hinaus, Hass und Verzweiflung verhärteten ihn, versiegelten ihn, bis er nur noch das Fossil des Mannes war, der er einst gewesen war.

Gang durch die Zeit

Dezember 1926 – Upper West Side

Als der Blonde die Waffe auf sie richtete, erstarrte Esta. Seine Miene spiegelte eine Mischung aus Abscheu und Aufregung wider, während er abwechselnd auf sie und Logan zielte.

»Ich hab es dir gesagt«, knurrte Schwab. »Ich habe dich davor gewarnt, dass so etwas passieren würde.«

»Jack!«, schrie Schwab und griff erneut nach dem Arm des Mannes. »Nimm die Waffe runter!«

Jack schüttelte ihn ab. »Du hast keine Ahnung, zu was sie in der Lage sind.« Er wandte sich an Esta und Logan. »Wer hat euch geschickt? Sagt es mir!«, schrie er mit vor Zorn rotem Gesicht.

Esta blickte zu Logan hinüber und bemerkte den dunklen Fleck, der sich auf dem weißen Hemd unter seinem Jackett ausbreitete. Seine Lider flatterten kurz, dann öffnete er die Augen und sah sie an. Jetzt blickte er nicht mehr so großspurig drein.

»Ich lasse micht nicht wieder ruinieren«, sagte der Blonde, spannte den Hahn und zielte nun auf Logan. »Nicht dieses Mal.«

Zeige nie, was du kannst. Das war eine ihrer wichtigsten Regeln. Erfuhr der Orden, zu was sie in der Lage war, würden sie niemals aufhören, sie zu jagen. Doch sie hatten sie bereits gesehen. Und der Fleck, der sich auf Logans Hemd ausbreitete, wuchs in besorgniserregendem Tempo. Sie musste ihn hier rausschaffen, ihn zurückbringen.

Dann schien alles gleichzeitig zu geschehen.

Sie hörte, wie der Hahn gespannt wurde, und zog gleichzeitig die Zeit um sich herum zusammen.

»Neeeeeeiiiiin!«, rief Logan, seine Stimme so träge und gedehnt wie der Augenblick selbst.

Das Hallen des Schusses.

Esta durchquerte den verbleibenden Teil des Flurs und warf sich zwischen Logan und die Waffe. Sie packte Logan fest um die Brust, dann streckte sie sich nach dem Ort aus, an dem sie in Sicherheit wären … konzentrierte all ihre Kraft und Macht … und zog sie in eine leere Version des gleichen Flurs.

Tageslicht strömte durch ungeputzte Fenster am anderen Ende des Gangs, erhellte die Staubkörnchen, die sie in der abgestandenen Luft des vollkommen stillen Hauses aufgewirbelt hatten.

Logan stöhnte und rutschte von ihr herunter. »Verdammt, was hast du getan?«

Sie schob ihre Besorgnis beiseite und musterte den Flur, der nun anders war, und das stille, unbewohnte Haus. »Ich habe uns da rausgebracht.«

»Vor ihren Augen?« Seine Haut war blass, und er zitterte.

»Sie hatten mich bereits gesehen.«

»Du hättest nicht so reinplatzen sollen«, krächzte er und verzog das Gesicht. »Ich hatte alles unter Kontrolle.«

Eigentlich hätte es sie verärgert, dass er gleich wieder zu der üblichen Nervensäge wurde, aber Esta war so erleichtert, dass es ihr egal war. Also würde die Wunde ihn vermutlich nicht umbringen. Zumindest nicht sofort.

Esta deutete mit einem Nicken auf sein blutiges Hemd. »Klar. Du bist prima zurechtgekommen.«

»Schieb das nicht auf mich. Hättest du nicht den Diamanten geklaut, wärst du nicht zu spät dran für unser Treffen. Wir wären wirklich weg, bevor Schwab auftauchte«, hielt er dagegen. »Dann wäre das alles nicht passiert.«

Sie blickte ihn finster an und blockte ab, doch sie wusste, dass er recht hatte – und das hasste sie. »Ich habe dich da rausgeholt, oder nicht? Oder wäre es dir lieber, du wärst tot?«

»Sie werden es erfahren.«

»Ich weiß«, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Für Schwab und den anderen Mann musste es ausgesehen haben, als wären Esta und Logan einfach verschwunden, und Menschen verschwanden nicht einfach. Nicht ohne Magie – natürliche Magie. Alte Magie. Das würde sogar Schwab begreifen.

»Der Orden wird davon gehört haben«, sagte Logan erneut. »Wer weiß, was das bewirkt …«

»Vielleicht nichts«, sagte sie und versuchte, ihre Unsicherheit zu verdrängen. »Wir haben zuvor noch nie etwas verändert.«

»Niemand hat uns je zuvor gesehen«, erwiderte er.

»Nun, wir leben nicht in den 1920ern. Und sie werden nicht hundert Jahre lang nach ein paar Teenagern Ausschau halten.«

»Der Orden verfügt über ein gutes Gedächtnis.« Logan starrte sie finster an, oder zumindest versuchte er es, denn sein Blick fokussierte sich immer noch nicht richtig, und der Schwindel, der ihn für gewöhnlich packte, nachdem sie durch die Zeit gegangen waren, hatte sichtliche Auswirkungen. Er sank zurück auf die Ellbogen. »Wann sind wir überhaupt?«

Esta sah sich in dem muffigen, stillen Flur um. Ganz plötzlich war sie nicht mehr so sicher, ob sie das Richtige getan hatte. »Ich weiß es nicht«, gab sie zu.

»Wie kannst du es nicht wissen?« Er klang zu arrogant für jemanden, der vermutlich gerade verblutete. »Warst du nicht diejenige, die uns hierhergebracht hat?«

»Ja, aber ich bin nicht sicher, welches Jahr es genau ist. Ich habe nur versucht, uns da rauszubringen, und dann ging die Pistole los und …« Sie verstummte, als sie ein Stechen in der Schulter spürte, das sie daran erinnerte, was geschehen war. Vorsichtig berührte sie den feuchten, zerfetzten Stoff.

Logans Blick huschte über sie. »Wurdest du getroffen?«

»Mir geht’s gut«, sagte sie, verärgert, weil sie gezögert hatte und der Kugel in die Quere gekommen war. »Das ist kaum ein Kratzer, was man von dir nicht behaupten kann.« Schwerfällig stand sie auf und streckte Logan die Hand hin.

Er ließ sich von ihr aufhelfen, doch dann schwankte er unsicher und lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen sie.

»Wir sind nicht später als achtundvierzig. Vermutlich irgendwann in den Dreißigern, so wie das Haus aussieht. Kannst du gehen?«, fragte sie, bevor er noch weiter jammerte.

»Ich denke schon«, sagte er, verzog das Gesicht und drückte die Hand auf die Seite. Die Anstrengung aufzustehen, hatte ihm beinahe jegliche Farbe genommen.

»Gut. Wann immer wir hier sind, ich kann uns von hier aus nicht zurückbringen.« Der Schmerz pochte jetzt in ihrer Schulter, doch die Kugel hatte sie wirklich nur gestreift. Sie würde gesund, aber wenn sie Logan nicht bald zurück zu Professor Lachlan schaffte, wusste sie nicht, ob er wieder gesund würde. »Wir müssen nach draußen.«

Estas Fähigkeit, die Zeit zu manipulieren, hatte gewisse Grenzen, vor allem die, dass die Zeit an einen Ort gebunden war. Orte trugen den Abdruck ihrer Geschichte, Augenblicke, die übereinanderlagen, Moment für Moment – aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Esta konnte sich vertikal zwischen diesen Ebenen bewegen, aber der Ort, an den sie gehen wollte, musste in diesem Moment bereits existiert haben. Schwabs Villa war 1948 abgerissen worden. In ihrer eigenen Zeit existierte sie nicht mehr, und deshalb konnte sie sie nicht aus dem Inneren des Hauses zurückbringen. Die Straßen der Upper West Side waren hingegen im Grunde gleich geblieben.

Logan stolperte hin und wieder, doch sie schafften es ohne größere Probleme, das leere Haus zu durchqueren. Als sie an der Vordertür waren, hörte Esta ein Geräusch im Haus.

»Was ist das?« Logan hob den Kopf und lauschte.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie und zog ihn weiter.

»Wenn das der Orden …«

»Wir müssen hier raus. Sofort«, unterbrach sie ihn.

Esta öffnete die Haustür, als tiefe Stimmen durch die leeren Flure zu ihnen schallten. Sie zog Logan hinaus in die kühle Luft, und gemeinsam stolperten sie auf das Tor der Villa zu.

Durch die Ebenen der Zeit zu gehen, war nicht so einfach, wie die Leere zwischen den Momenten zusammenzuziehen und die Sekunden zu verlangsamen. Sie brauchte dafür sehr viel mehr Energie, und sie brauchte vor allem etwas, worauf sie ihre Energie konzentrieren konnte, etwas, das ihre Gabe verstärkte – ein Juwel ähnlich dem Herz des Pharao, das in einen silbernen Armreif eingelassen war, den sie unter dem Ärmel ihrer Dienstmädchenuniform verborgen trug.

Sie spürte, dass ihr Stein noch warm war, weil sie erst vor ein paar Minuten durch die Zeit gegangen waren. Der Streifschuss, der schmerzte, und die Ereignisse hatten sie ausgelaugt, deshalb fiel es ihr schwerer als sonst, die richtige Zeitebene zu finden. Je angestrengter sie suchte, desto mehr erwärmte sich der Stein, bis er beinahe unangenehm heiß auf ihrer Haut war.

Esta war nie zuvor so rasch hintereinander durch die Zeit getreten. Der Stein und sie brauchten vermutlich mehr Zeit, um sich zu erholen, aber ironischerweise war Zeit genau das, was sie nicht hatten, wenn sie nicht noch einmal entdeckt werden wollten.

Die Stimmen waren jetzt näher.

Sie zwang sich, die sengende Hitze des Steins auf ihrer Haut zu ignorieren, und mit letzter Kraft fand sie endlich die richtige Zeitebene und zog sie hindurch.

Der Schnee um sie herum verschwand, während Esta das vertraute Ziehen und Stoßen fühlte, das sie immer spürte, wenn sie sich außerhalb der Regeln der Zeit bewegte. Schwabs schlossähnliche Villa wandelte sich zum braunroten Ziegelstein eines gewöhnlichen Mietshauses, und die Stadt – ihre Stadt – tauchte auf. Schnittige, moderne Autos und sommergrüne Bäume sowie die anderen Häuser in der Straße materialisierten sich wie aus dem Nichts. Es war früher Morgen, nur wenige Augenblicke nachdem sie ihre Zeit verlassen hatten, und die Straßen waren leer und still.

Erleichtert lachte sie auf und sank dann unter Logans Gewicht auf dem warmen Bürgersteig zusammen. »Wir haben es geschafft«, sagte sie und hielt nach Dakari Ausschau, Professor Lachlans Bodyguard, der ihre Mitfahrgelegenheit darstellte.

Logan antwortete nicht. Seine Haut war aschfahl, seine Augen starrten blicklos durch halb geschlossene Lider, während ihre Stadt geschäftig um sie herum brummte.

Libero libro

November 1900 – Bowery

Dolph Saunders saß in seinem verdunkelten Büro und fuhr mit den Fingern über den brüchigen Stofffetzen, den er in der Hand hielt. Er brauchte kein Licht, um zu erkennen, was darauf geschrieben stand. Er kannte die Zeile schon seit Monaten auswendig: libero libro.