Der letzte Syrer - Omar Youssef Souleimane - E-Book

Der letzte Syrer E-Book

Omar Youssef Souleimane

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Beschreibung

März 2011, die arabische Welt ist in Aufruhr, alles scheint möglich. In Damaskus schart die Studentin Joséphine eine Gruppe junger Leute um sich. Sie alle eint die Hoffnung auf ein selbstbestimmtes Leben, eine freiere Welt. Sie haben Träume, Pläne für die Zukunft, sie verlieben sich. Youssef und Mohammad. Youssef und Joséphine. Chalil und Joséphine. Homosexualität und ein gesellschaftlich konservatives Milieu prallen aufeinander. Zusehends verflechten sich die Ideale der jungen Generation mit einer Revolution, die ein ganzes Land erfasst und in einen Bürgerkrieg mündet. Omar Youssef Souleimane ergründet die Herzen der syrischen Jugend am Beginn des Arabischen Frühlings. Sie trat für ein Ende der Diktatur und eine Demokratisierung ihres Landes ein, sollte aber an den brutalen Schergen des Regimes und an gewaltbereiten Islamisten scheitern. Ein ebenso poetisches wie schockierendes Plädoyer für die Freiheit des Individuums, für eine Gesellschaft, die allen einen Raum lässt.

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Seitenzahl: 168

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www.lenos.ch

Omar Youssef Souleimane

Der letzte Syrer

Roman

Aus dem Französischen von Christiane Kayser

Lenos Verlag

Titel der französischen Originalausgabe:

Le dernier Syrien

Copyright © 2020 by Éditions Flammarion, Paris

E-Book-Ausgabe 2022

Copyright © der deutschen Übersetzung

2022 by Lenos Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Coverbild: Shutterstock

eISBN 978 3 85787 997 5

www.lenos.ch

Der Autor

Omar Youssef Souleimane, geboren 1987 in al-Kutaifa bei Damaskus, aufgewachsen in Saudi-Arabien. Bis 2010 arbeitete er als Journalist in Syrien. Mit Ausbruch des Bürgerkrieges floh er über Jordanien nach Frankreich, wo er 2012 politisches Asyl erhielt. Heute lebt er als Schriftsteller in Paris. Omar Youssef Souleimane veröffentlichte mehrere preisgekrönte Gedichtbände sowie die autobiographische Erzählung Le petit terroriste (2018). Le dernier Syrien ist sein erster Roman. omaryoussef.org

Die Übersetzerin

Christiane Kayser, geboren 1954 in Esch-sur-Alzette, Luxemburg, übersetzt aus dem Französischen, u. a. Mahi Binebine, Tahar Ben Jelloun, Jean Vautrin, Tonino Benacquista, Boualem Sansal und Fouad Laroui. Sie engagiert sich ausserdem seit vielen Jahren in der Entwicklungszusammenarbeit in verschiedenen Ländern Afrikas. Mitgründung des Pole Institute in Goma, D. R. Kongo, Begleitung der Afrikaarbeit des Zivilen Friedensdienstes beim Evangelischen Entwicklungsdienst (EED), später Brot für die Welt. Christiane Kayser ist Mitherausgeberin des Mapinduzi Journal und der Reihe Building Peace / Construire la Paix. Sie lebt in Berlin und südlich von Toulouse.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Dank

1

Es ist eine alte Geschichte.

Kaufleute fanden in der Nähe der Pyramiden in Ägypten ein Kind in einem Brunnen. Sie beschlossen, es zum Sklavenmarkt zu bringen, wo es an den Obersten der Leibwache des Pharao verkauft wurde, der es adoptierte, da er selber keine Kinder hatte und von der Intelligenz des kleinen Jungen fasziniert war.

Das Kind wuchs im Palast auf und wurde sehr schön: Sein betörendes Gesicht entfachte eine unheilvolle Leidenschaft bei der Adoptivmutter.

Eines Tages scharte sie ihre Freundinnen um sich und gab jeder ein Messer, während der junge Mann ihnen Früchte brachte. Als sie dieses herrliche Wesen sahen, verstörte sie seine Schönheit, und die Frauen schnitten sich in die Finger. »Das ist kein Mensch, das ist ein Engel!«, riefen sie. Die Hausherrin schmachtete nur noch mehr nach dem jungen Mann und wollte ihn einsperren, um sich seine Reize zu sichern. Er wehrte sich, doch als der Adoptivvater hinzukam, beschuldigte ihn die Frau der versuchten Vergewaltigung. Obwohl die Lüge offensichtlich war, liess ihn der Hofbeamte in den Kerker werfen.

Diese Anekdote hatte Youssef Dutzende Male gehört. »Deshalb habe ich dich Youssef genannt, mein Schatz. Damit du so schön wie dieser Prophet wirst«, sagte ihm seine Mutter an den Winterabenden, wenn sein Kopf auf ihrem Schoss ruhte und sie ihm über das Haar strich. »Er wirkte Wunder, konnte die Zukunft aus den Träumen der Menschen lesen, und am Ende kam er frei, denn er war ehrlich, geduldig und gab nie seine Prinzipien auf.« Dies waren die letzten Worte, die das Kind vor dem Einschlafen hörte.

Es ist eine alte Geschichte.

Als Youssef im März 2011 an der ersten Demonstration in Damaskus teilnahm, kam es ihm vor, als sei nach vierzig Jahren Schweigen und Angst der gegen das Assad-Regime ausgestossene Freiheitsschrei ein mächtigeres Wunder als das Wirken des Propheten. Kein Gott hatte ihn erschaffen, er war ein reines Produkt der Empörung. In Tunesien hatte sich Bouazizi aus Protest gegen Diktator Ben Ali selbst verbrannt, und als Reaktion auf sein Opfer hatte eine grosse Welle von Demonstrationen Ägypten, Libyen, den Jemen und dann Syrien erfasst. Diesen Tsunami der Wut hatte niemand vorhersehen können.

Am Ende der Demonstration war ein Polizist Youssef auf den Fersen; der junge Mann war in den Eingang eines Gebäudes gelaufen, hatte seine Tasche weggeworfen und seine Jacke ausgezogen. Dann ging er wieder hinaus, gab den Bettler, bat den Polizisten um Almosen und kam unbehelligt davon. Bis heute versteht er nicht, wie er so etwas hatte wagen können und wieso sein Verfolger ihn nicht erkannt hatte. Seither hat er den Eindruck, alles um ihn herum sei nur Filmkulisse. Dieser Gedanke, der ihn zum Lachen bringt, kommt ihm selbst in den härtesten Momenten.

Seit diesem Zwischenfall lebt er nicht mehr in Damaskus. Die Hauptstadt fehlt ihm und inspiriert ihn. Und trotz des Risikos, vom Geheimdienst verhaftet zu werden, ist es ein aufregendes Abenteuer, dorthin zurückzukehren, um neue Kampfgefährten zu treffen. Für ihn ist Damaskus wie ein Spiegel, ein Sonnenstrahl zwischen zwei Wolken, dort fühlt er sich unsterblich. Jedes Mal wenn er dort ist, hat er den Eindruck, einen Teil seiner Seele wiederzufinden. Er geniesst es, stundenlang durch die Altstadt zu bummeln; das ist der einzige Ort, an dem er nicht von der Zukunft besessen ist: wie ein Vogel im Flug, der immer weiterfliegen muss.

Youssef trägt seine besten Kleider, er möchte elegant sein, falls er diese Welt verlassen muss, das ist seine Form des Widerstands.

2

Freude überkommt ihn, während er durch das Busfenster die Landschaft vorbeiziehen sieht. In diesem Augenblick kann nichts seine Freude trüben, nichts seine Kraft erschüttern; alles wird gutgehen, dieser Gedanke lodert in seinem Herzen.

Von seinem Sitz aus beobachtet er sein Spiegelbild in der Scheibe, er sinnt über seinen Vornamen nach: »Ich habe keinerlei Bezug zu diesem Propheten, ich weiss nicht einmal, ob es eine wahre Geschichte ist, und es ist mir auch egal. Er deutete die Zukunft aus den Träumen, die Aufständischen aber verwirklichen ihre Träume, und das ist das Wesentliche.«

Zwischen seinem Sitz und dem vor ihm ist wenig Platz, das ist nichts Neues, dieses Problem hat er mit seinen langen Beinen öfter; als er klein war, nannten ihn die anderen Schüler Spinne und traten nach ihm.

Dann denkt er an seine Kameraden von der Qalb-Bewegung, die er vor einigen Monaten in Homs kennengelernt hat: Aktivisten, die für eine andere Zukunft kämpfen, die alle Teile der syrischen Jugend gegen das Regime zusammenbringen wollen. Diese Studierenden, sowohl aus den Natur- wie den Geisteswissenschaften, sind oft hochintelligent und sehr aktiv, sie kommen von verschiedenen Universitäten. Alle sind sie der Korruption müde, die dort herrscht: Zum Beispiel haben Kinder von Offizieren bereits vor den Examen Einblick in die Prüfungsthemen. Mit Beginn der Revolution haben sich diese Aktivisten zusammengetan und nach langen Debatten beschlossen, eine politische Bewegung zu gründen. Für Youssef ist das wesentliche Ziel, einen Bürgerkrieg zu verhindern. »Wir müssen dem Regime friedlich entgegentreten, jede Form von Gewalt vermeiden und unabhängig bleiben: Wir sind keine politische Partei, die die Macht ergreifen will.«

Der Bus fährt an einer vergoldeten Statue des ehemaligen Präsidenten Hafis al-Assad vorbei, er lächelt und hat den Arm zum Gruss erhoben. »Bald ist diese Erde frei. Du wirst sehen, wir werden dir einen Arschtritt versetzen, dich vom Sockel stossen und in den Müll werfen«, denkt er. Auf seinem Handy liest er Nachrichten: »Demonstrationen im Süden, trotz der Belagerung durch die Armee des Regimes. An der Küste wurde ein Neunzehnjähriger von einem Heckenschützen getötet.« Er wechselt zu den Auslandsmeldungen: »Islamistische Milizen kämpfen in der libyschen Hauptstadt gegen die Regierung. In Tunesien zum ersten Mal demokratische Wahlen. Neuer Sexskandal um Berlusconi.«

Er wendet den Kopf nach links, ein etwa fünfzigjähriger Mann isst Sonnenblumenkerne und sieht sich den nichtssagenden Film an, der auf dem Bildschirm des Busses läuft. Youssef hat es noch nie gemocht, dass in überfüllten Bussen schlechte Filme gezeigt werden. Man hört die Stimmen der Schauspieler nicht, und diese Art von Filmen aus den 1970er Jahren hat sowieso immer ein Happy End: Die beiden Hauptfiguren heiraten, während die Bösen tot oder im Gefängnis sind. Diese Welt, in der die perfekteste aller Gerechtigkeiten herrscht, klingt falsch und passt ihm nicht. Eine der letzten Szenen zeigt das Eintreffen der Polizei, die eine Dealerbande hochnimmt. Dann schlendert ein lachendes Paar am Fluss entlang und schaut sich dabei tief in die Augen. »Es ist immer das Gleiche, man gibt sich mit einem einzigen Spielfilm zufrieden, anstelle der tausend anderen, die heutzutage in der arabischen Welt gedreht werden«, sagt sich Youssef. Am liebsten würde er den Mann ansprechen, der von dieser Szene so fasziniert ist, ihn bitten, damit aufzuhören, lieber an die Dinge zu denken, die vor kurzem passiert sind, doch er wendet sich wieder zum Fenster; er verliert sich in seinen Gedanken und ist glücklich, wenn er sich ausmalt, was er in Damaskus tun wird. In einer halben Stunde wird er dort sein; der Bus rast über den Asphalt, aber für Youssef ist es noch ein langer Weg.

3

Anfang Oktober vermischt sich in Damaskus die Hitze mit kühler Luft, man meint, zugleich zwei Jahreszeiten zu erleben. Der Himmel ist klar, die Stadt in sanftes Licht gehüllt.

Neben dem al-Hamidijja-Suk steht die Statue von Saladin: Er sitzt auf einem Pferd und schwingt sein Schwert, zwei Soldaten stehen neben ihm, sie ziehen Gefangene hinter sich her, die bei einem Kreuzzug gemacht wurden. Hinter der Statue erblickt man die Zitadelle, ihre von Sonnenstrahlen durchbrochenen Zinnen, die an alte Zivilisationen, Schlachten, Siege und Niederlagen erinnern. Seit Jahrhunderten erzählen diese Orte die Geschichte der Stadt, die von Römern, Mongolen und Türken besetzt wurde … sie sind alle verschwunden. Sie aber ist immer noch da und erstrahlt weiter.

Des Wartens vor dem Suk müde, entfernt sich Mohammad und gibt vor, ein Telefongespräch zu führen. Versteckt hinter Ramschwaren, die vor einem Laden hängen, beobachtet er die Passanten. Jedes Mal wenn sich jemand zu ihm wendet, zuckt er zusammen.

Er bedauert, sich so nah bei seiner Kleiderboutique verabredet zu haben; er könnte einem seiner Kunden begegnen. Seit Jahren arbeitet er hier, es ist ein Familiengeschäft: Sein Vater und sein Grossvater haben vor ihm diesen Laden geführt. Sie haben ihr Leben hier verbracht. Ein guter Ruf ist für die Kundenbindung unentbehrlich. Was würden sie alle sagen? Würden sie ihn als Schwuchtel beschimpfen? Wer würde danach noch wagen, seinen Laden zu betreten?

Er sieht einen Strassenhändler, das macht ihm Angst, diese Leute arbeiten oft für den Geheimdienst. Er kennt sie seit langem, seit jener Nacht, als sie im Dunkeln zu ihm kamen. Nicht einmal ihre Gesichter konnte er erkennen. Doch er erinnert sich sehr gut an ihre Militärstiefel, die im Flur das Gesicht seines Vaters zerquetschten: »Willst du einen Putsch organisieren, Arschloch?« Und dann hatten sie ihn mitgenommen. Mohammad hatte sich zitternd an das Kleid seiner Mutter geklammert. Er fühlte, wie Urin seine Beine hinablief. Er verstand nichts, war nur von einem erfüllt: Grauen. Noch heute überkommt ihn jenes Gefühl, sobald er einen Geheimdienstler sieht. Mohammads Mutter war ihnen nachgelaufen: »Wohin bringt ihr ihn? Bleibt stehen! Wartet!« Sein Vater hatte ihr zugebrüllt: »Es dauert nicht lange, das ist ein Irrtum! Ich bin mir sicher, mach dir keine Sorgen!«

Wenn Mohammad nach jener Nacht fragte, wo sein Papa sei, antwortete sie, er sei auf Reisen. Die Jahre vergingen, sie lebten zu zweit in dem grossen Haus. Seine Mutter war hart zu ihm. Immer wieder sagte sie ihm: »Du bist nicht wie die andern. Du bist das Kind des Helden. Du musst seinem Beispiel folgen.« Er nickte und bat sie dann um Erlaubnis, seinen Lieblingszeichentrickfilm ansehen zu dürfen, Cinderella. Einmal hatte er mit anderen Kindern auf dem Bürgersteig Fussball gespielt, da kam seine Mutter, schlug ihn vor seinen Spielkameraden und schleifte ihn nach Hause. Für sie war die Strasse eine Wildnis, die er nicht allein betreten durfte.

Wie immer ist er vor der vereinbarten Uhrzeit am Treffpunkt.

4

Obwohl es kein üblicher Name ist, hat sie entschieden, sich Joséphine zu nennen. Nicht nur aus Verehrung für Joséphine Baker, sondern auch wegen der Bedeutung: jene, die zusammenführt. Niemand kennt ihren wahren Vornamen. Wenn man sie danach fragt, erwidert sie lachend: »Ich habe ihn vergessen.«

Ihr Leben ist ein Herz, das durch die Netzwerke schlägt. Seit ihrem ersten Jahr an der Universität hat sie überall Freunde gewonnen: in Aleppo, in Homs, in Damaskus, an der Küste. Sie ist ständig in Bewegung, von einem Ort zum andern, um sie aufzusuchen. Jedes Mal wenn sie einen von ihnen wiedersieht, hat sie den Eindruck, sich neu zu entdecken. Ihr Glück besteht darin, ihre Probleme zu lösen; nunmehr versucht sie, eine Lösung für die Probleme ihres Landes zu finden.

Seit drei Jahren lebt sie in Damaskus, nachdem sie das Haus ihrer Eltern an der Küste verlassen hatte, um Anglistik zu studieren. Es war nur ein Vorwand, um ihrer Familie zu entkommen. Sie war die einzige Tochter, umringt von drei Brüdern, sie erstickte in dem kleinen Dorf, wo jeder jeden kennt. Für sie war Damaskus eine neue Welt, in der sie atmen konnte. Zuerst hatte sich ihr Vater geweigert, sie ziehen zu lassen, doch am Ende konnte sie ihn überzeugen. »Ich werde Lehrerin, und du kannst deinen Freunden stolz von mir erzählen.« Er gab ihr alles, was sie für das Studium benötigte.

Joséphine ist gestresst, aus keinem besonderen Grund, das ist immer so bei ihr. Sie geht in einen Laden, wählt sehr schnell einige Kosmetikartikel aus, ohne sie genauer anzusehen, zahlt und tritt wieder auf die Strasse. Sie ist nicht weit entfernt von ihrem Viertel, Schaalan, sie läuft weiter, mit einem Rucksack, in der Hand ihr Telefon, auf das sie ständig starrt, um die Dutzenden von Nachrichten zu beantworten, die sie bekommt. Ein junger Mann ruft ihr zu: »Was hast du heute Abend vor? Ich möchte deine Muschi lecken.« Sie streckt den Mittelfinger in seine Richtung und sieht ihn dabei nicht einmal an.

Eine Nachricht von Chalil: »Ich bin in deiner Strasse, warte auf dich.« Sie lächelt, diese einfache Nachricht gefällt ihr: Sie weiss, er kann auch ohne sie hinein. Sie fährt sich mit der Zunge über die Lippen, zögert mit der Antwort. Er hat einen Schlüssel, wie alle ihre Freunde. »Meine Wohnung gehört euch allen. Ich, mein Zuhause, das sind eure Arme«, sagt sie ihnen jeden Tag. Sie hat ihn getroffen, kurz nachdem sie Daou gegründet hatte, eine Aktivistengruppe in der Hauptstadt. Das war im April, einen Monat nach Beginn der Revolution. »Wir müssen alle jungen Aktivisten aus allen Regionen zusammenbringen, diese ganze Energie wie einen Laserstrahl bündeln, um die Assad-Mafia zu zerstören.« Ein Kindheitserlebnis hatte sie auf diese Idee gebracht: Mit Freunden hatte sie ein Brennglas benutzt, um im Garten Blätter anzuzünden. Chalil war einer der Ersten, der zu ihr stiess. Er arbeitet sehr gern mit ihr zusammen, ist bereit, tagelang ohne Schlaf auszukommen, um eine Demonstration zu organisieren, solange diese Frau, Joséphine, dabei ist. Sie antwortet ihm: »Geh schon hoch, ich komme.«

5

Der Aufzug ist sehr klein, Youssef tritt zur Seite, um Joséphine den Vortritt zu lassen. Sie lehnt ab, er besteht darauf. Sie stösst seine Schulter an: »Geh nur, Schatz, vergiss das Klischee, ich stehe lieber direkt an der Tür.« Sie schiebt eine Hand in ihren BH. »Schau nicht so, das wird kein Striptease!«, sagt sie lachend. Sie sieht ihm in die Augen und findet keinen Funken Begehren in ihnen. Ihre Hand erstarrt unter der Bluse, und sie vergisst, was sie sucht. Sie hatte sich nicht vorstellen können, dass Youssef so kalt, so ruhig reagieren könnte. Er sieht sie an. Er scheint völlig gleichgültig.

Sie zieht einen Kuli heraus und hält ihn ihm hin.

»Was soll ich damit?«

»Was macht man mit einem Kuli? Tanzt man?«

»Warum gibst du ihn mir?«

»Ein Geschenk. Nicht zum Schreiben, zum Filmen.«

Sie zieht die Kappe ab und eine winzige Digitalkamera heraus, schiebt sie wieder hinein, drückt auf den Knopf des Kulis und heftet ihn an Youssefs Hemdtasche. Dabei sagt sie: »Ich liebe dich, Youssef, du bist wunderbar!« Unten an der Wand des Aufzugs bemerkt er ein Tag: ein von einem Pfeil durchbohrtes rotes Herz. Er zeigt es Joséphine und erwidert: »Ich weiss, da ist der Beweis.«

6

Chalils Kopfhörer hängen über seinen Schultern, er hat sich chic gemacht, reibt sich von Zeit zu Zeit die Augen und blickt immer wieder zu Youssef, der mit Joséphine scherzt. Die beiden scheinen sich nahezustehen, sie haben sogar gemeinsam lachend die Wohnung betreten. Dutzende Fragen schwirren ihm durch den Kopf: Von Youssef weiss er nur, dass er in Homs lebt. Seit den Ereignissen versucht er, den wahren Charakter der Leute um sich herum zu ergründen, um sicherzugehen, dass sie keine Spitzel sind. Doch diesen neuen Besucher kann er nicht einschätzen. Raschid, ein anderer Aktivist, liegt auf dem Sofa, raucht Shit und wendet sich ihm zu: »Chalil, wenn man dich so sieht, könnte man meinen, du seist mit einer Prinzessin verabredet, und kann sich nicht vorstellen, dass du an einer politischen Versammlung teilnimmst.« Es ist nicht das erste Mal, dass Raschid so eine Bemerkung fallenlässt; als sie sich kennenlernten, hatte Raschid ihn am Arm berührt und gesagt: »Bist ein echt hübscher Kerl!« Chalil hatte gelächelt, aber heute ist er nicht so gut aufgelegt. Dass er den Grund dieser Melancholie, die ihn überkommt und erstickt, nicht kennt, macht ihn nur noch trauriger.

Das Licht vom Balkon spiegelt sich auf einem Glastisch mitten im Wohnzimmer. Die Sofas stehen wild durcheinander. Joséphines Mantel liegt neben ihrem Schal. Der offene Schrank quillt über von bunten Kleidungsstücken. Ein Bild an der Wand zeigt einen alten Mann beim Gehen, sein Gesicht zum Wohnzimmer gewandt, als beobachte er Joséphine. Sie zieht einen USB-Stick aus dem Stift und steckt ihn in ihren Computer, der auf dem Tisch steht. Chalil, Youssef, Raschid und Joséphine sehen und hören deutlich das vorhin ausgesprochene »Ich liebe dich, Youssef …«. Joséphine wendet sich zu den Jungs, gespannt auf ihre Reaktionen im Angesicht dieser neuen Technologie. Raschid ruft: »Der Glückliche!« Youssefs Blick ist auf sein Handy gerichtet: »Es ist schon drei, und ich habe in einer Stunde eine Verabredung. Können wir zur Sache kommen?«

Chalil versucht, ein Glas Wasser vom Tisch zu nehmen, und stösst es um. Das Geräusch des am Boden zerbrechenden Glases lässt ihn zusammenzucken, als wäre es ein Donnerschlag. Es ist alles sehr schnell gegangen. Er hat den Eindruck, das Glas ist von alleine gefallen. Chalil steht auf, um einen Putzlappen zu holen, aber Joséphine hält ihn zurück: »Lass nur, kein Problem.« Sie schiebt sich eine rebellische Haarsträhne hinters Ohr. »Wir sind hier, um eine grosse Demo mit Sunniten und Alawiten* in Homs zu organisieren«, hebt sie an. »In der Hauptstadt hat das Regime bereits sehr viele Aktivisten verhaftet. Das ist in der Heimatstadt dieses Burschen, den ich euch hiermit vorstelle, noch nicht der Fall.« Sie deutet auf Youssef. »Die Lage ist dort ganz anders; in der Altstadt gibt es keine Geheimdienstler mehr. Die Bevölkerung hat es geschafft, sie zu verjagen.«

Raschid haut auf den Tisch: »Bravo! Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie sehr ich mich danach sehne, dort zu leben! Man kann spazieren gehen, man kann alles, was man will, laut sagen, ohne Angst haben zu müssen, von der Polizei verhaftet zu werden, himmlisch! Das ist die wahre Revolution, das ist …« Youssef unterbricht ihn: »Nicht ganz. Aus Rache hat das Regime Checkpoints errichtet, und in den alawitischen Vierteln gibt es zahlreiche Heckenschützen, die auf sunnitische Zivilisten schiessen. Der Hass ist überall, er wird immer grösser. Manche haben sogar zu den Waffen gegriffen.«

»Das ist gut, die Demos müssen mit Waffen geschützt werden«, bekräftigt Chalil. »Ja, wir sind friedlich, doch wir brauchen etwas zur Abschreckung, um diesen Schlächtern Angst einzujagen! Diese Verbrecher haben alles: Kanonen, Kampfflugzeuge, aber sie sind feige. Letztens hat unweit eines Checkpoints ein kleiner Junge gerufen: ›Die Rebellen sind da!‹ Blitzschnell sind die Soldaten weggerannt.«

Nachdenklich streicht Youssef über die roten Blüten der Blumen auf dem Tisch. »Wenn jeder zur Kalaschnikow greift, steuern wir geradewegs auf einen Bürgerkrieg zu!« Chalil erwidert: »Die Lösung ist, dass die Soldaten desertieren und zur Unterstützung der Revolution eine