Der letzte Wolf (eBook) - S.A. Cosby - E-Book

Der letzte Wolf (eBook) E-Book

S. A. Cosby

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Beschreibung

»Cosby beweist aufs Neue, dass er einer der markantesten und packendsten Spannungsautoren ist.« WASHINGTON POST Der neue Roman von S. A. Cosby: Sheriff Titus Crown auf der Jagd nach einem Serienkiller Titus Crown kehrt nach jahrelanger Arbeit für das FBI in seine Heimat Charon County, Virginia, zurück und wird dort zum ersten schwarzen Sheriff in der Geschichte des Landstrichs gewählt. Ein Jahr nach der Wahl wird ein junger Schwarzer von örtlichen Deputys erschossen. Titus verspricht, die Hintergründe aufzuklären, doch bei seinen Ermittlungen stößt er auf ein Massengrab und sieht sich mit einem Mal einem Serienkiller gegenüber, der in den dunklen Wäldern und auf einsamen Feldwegen lange Zeit unbemerkt getötet hat. Titus versucht seinen Instinkten treu zu bleiben, eine Massenpanik zu verhindern, obwohl hier jeder jeden kennt und Gerüchte schnell die Runde machen – und gegen den alltäglichen Rassismus zu kämpfen, während er sich auf die Jagd nach dem Killer begibt …

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Seitenzahl: 526

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S.A.COSBY

DER LETZTE WOLF

KRIMINALROMAN

AUS DEM AMERIKANISCHEN ENGLISCH VON JÜRGEN BÜRGER

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel

All the sinners bleed bei FLATIRON BOOKS.

Text Copyright © 2023 by S. A. Cosby

Published by arrangement with FLATIRON BOOKS. All rights reserved.

Dieses Werk wurde im Auftrag von FLATIRON BOOKS durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover, vermittelt.

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen

Originalausgabe (1. Auflage November 2023)

© 2023 by ars vivendi verlag

GmbH & Co. KG, Bauhof 1,

90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

www.arsvivendi.com

eISBN 978-3-7472-0519-8

Für meinen Bruder Darrell Cosby.

Nur wir selbst können je verstehen, was wir verstehen.

»Der Glaube an eine übernatürliche Quelle des Bösen ist unnötig; der Mensch allein ist zu jeder Bösartigkeit fähig.«

JOSEPH CONRAD

»Siehe, ich mache alles neu!«

OFFENBARUNG 21,5

INHALT

CHARON COUNTY

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

CHARON COUNTY

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

CHARON COUNTY

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

DREISSIG

EINUNDDREISSIG

DANKSAGUNGEN

CHARON COUNTY

Charon County wurde aus Blut und Dunkelheit erschaffen.

Buchstäblich und im übertragenen Sinn.

Schon allein der Name ist von Schatten und Unheil umhüllt. Der Legende nach sollte das County eigentlich Charlotte oder Charles County heißen, aber die Stadtväter zögerten zu lange, sodass diese Namen bereits vergeben waren, als sie sich endlich entschlossen, ihrem noch so jungen Lager eine offizielle Struktur zu verleihen. Man erzählt sich, dass sie mit dem Finger auf der Liste der möglichen Namen nach unten wanderten, bis sie sich für Charon entschieden. Diese wettergegerbten Männer mit Händen wie Spalthölzer scherten sich nicht um den makabren Charakter des Namens. Vielleicht gefiel er ihnen einfach nur, weil ein Fluss durch das County floss wie der Styx.

Wer weiß das schon? Wer kann die Gedanken dieser längst verstorbenen Männer schon kennen?

Bekannt ist nur, dass im Jahr 1805 eine Gruppe weißer Landbesitzer mitten in der Nacht das letzte verbliebene Dorf der Ureinwohner auf der tränenförmigen Halbinsel, auf der Charon County entstehen sollte, in Brand setzten.

Diejenigen, die den Flammen entkamen, wurden ohne Rücksicht auf Alter, Geschlecht oder Gebrechlichkeit mit Musketen niedergemacht. Dies war die erste von vielen Tragödien in der Geschichte von Charon. Der Kannibalismuswinter von 1853. Der Malariaausbruch von 1901. Die Vergiftung beim Picknick der United Daughters of the Confederacy im Jahr 1935. Der Selbstmord der Familie Danforth im Jahr 1957. Die Ertrunkenen bei der Taufe eines Erweckungs-Zeltlagers 1968 – und so weiter und so fort. Wie in den meisten Städten und Countys des Südens wurde auch hier der Boden mit Generationen von Tränen getränkt, und an jedem Founders’ Day wurden auf dem zentralen Platz des Ortes Gewalt und Gemetzel als die Säulen des Pioniergeistes gefeiert.

Blut und Tränen. Gewalt und Gemetzel. Liebe und Hass. Das waren die Felsen, auf denen der Süden errichtet wurde. Sie waren das Fundament, auf dem Charon County stand.

Böte sich die Gelegenheit, die Einwohner von Charon darauf anzusprechen, würden die meisten antworten, dass diese Dinge der Vergangenheit angehörten. Fortgespült vom Fluss der Zeit, der immer nur vorwärts fließt. Vielleicht würden sie sogar sagen, diese Dinge sollten am besten dem Vergessen anheimfallen.

Aber könnte man Sheriff Titus Crown fragen, würde er vermutlich antworten, dass jeder, der so denkt, entweder ein Narr oder ein Lügner ist. Oder beides. Und wenn man nach jenem langen Oktober Gelegenheit gehabt hätte, mit ihm zu sprechen, hätte er gesagt, dass das Fundament von Charon verrottet und verfault war, und zwar nicht nur das Fleisch, sondern auch die Seele. Dass die Felsen, auf denen der Süden errichtet war, erodierten und sich spalteten wie der Stein, auf den Moses mit seinem Stab schlug. Und dass anstelle von Wasser nur Blut und Ichor herausflössen.

Vielleicht hätte er geistesabwesend die Narben in seinem Gesicht oder auf seiner Brust berührt, einem in die Augen gesehen und mit dem rauen Flüstern, zu dem seine Sprechstimme geworden war, gesagt:

»Der Süden ändert sich nicht. Man kann versuchen, die Vergangenheit zu verdrängen, aber dann kehrt sie nur auf noch schrecklichere Weise zurück.«

Vielleicht hätte er geseufzt, den Blick abgewandt und gesagt:

»Der Süden ändert sich nicht … nur die Namen, Daten und Gesichter. Und manchmal ändern sich nicht einmal die, nicht wirklich. Manchmal sind es derselbe Tag und dieselben Gesichter, die auf dich warten, wenn du die Augen schließt. Die in der Dunkelheit auf dich warten …«

EINS

Titus wachte fünf Minuten vor der eingestellten Weckzeit »7.00 Uhr« auf und machte sich mit der Maschine von Keurig, die Darlene ihm letzte Weihnachten geschenkt hatte, eine Tasse Kaffee. Damals hatte er gedacht, es sei ein ziemlich kostspieliges Geschenk für eine Beziehung, die gerade mal vier Monate alt war. Inzwischen musste er zugeben, dass es ein verdammt gutes Geschenk war.

Er hatte ihr ein Parfum geschenkt.

Fast zuckte er zusammen, als er daran zurückdachte. Hätte es einen Wettbewerb gegeben, der sich um die Frage dreht, wie gut man seinen Lover kennt, wäre Darlene eine Kandidatin für die Goldmedaille gewesen. Bei Titus hätte es nicht mal für Bronze gereicht. In den letzten zehn Monaten hatte er sich gezwungen, in puncto Geschenken exponentiell besser zu werden.

Er trank seinen Kaffee in kleinen Schlucken.

Seine letzte Freundin vor Darlene hatte gesagt, er sei ein toller Freund, aber in Sachen Beziehung sei er schrecklich. Er hatte dieser Einschätzung nicht widersprochen.

Titus trank einen weiteren Schluck.

Er hörte das Knacken der Treppenstufen, als sein Vater herunter in die Küche kam. Das Klagen des alten Holzes hatte ihn und Marquis an so manchem späten Freitagabend in Schwierigkeiten gebracht, bis Titus irgendwann nicht mehr ausging und Marquis gar nicht mehr nach Hause kam.

»Hey, wenn du hier schon in deinen Boxershorts rumstehst, kannst du mir auch einen von diesen tollen Kaffees aus der Maschine da machen«, sagte Albert Crown. Titus sah zu, wie sein Vater zum Küchentisch humpelte und sich vorsichtig auf einen ihrer mit Vinyl bezogenen Metallstühle sinken ließ, die jeden Hipster-Innenarchitekten in Nouveau-Retro-Euphorie versetzt hätte. Es war jetzt ein Jahr vergangen, seit sein Vater die künstliche Hüfte bekommen hatte, und Albert ging noch immer mit bedächtiger Langsamkeit. Er weigerte sich starrköpfig, einen Gehstock zu benutzen, aber Titus sah, wie sich sein glattes braunes Gesicht jedes Mal zu einem gordischen Knoten verzog, wenn sich ein Gewitter von der Bucht näherte oder die Temperatur wie ein Bleigewicht zu sinken begann.

Albert Crown hatte vierzig Jahre lang seinen Lebensunterhalt damit verdient, an sechs Tagen der Woche jeweils vierzehn Stunden vor der Küste von Piney Island Krabbenkörbe aus dem Wasser zu ziehen – auf Booten, die Leuten gehörten, für die er kaum als Mensch durchging. Ohne Versicherung, ohne Altersvorsorge. Und doch hatte diese knochenharte Arbeit und die Sparsamkeit von Titus’ Mutter es ihnen ermöglicht, ein Haus mit drei Schlafzimmern an der Preach Neck Road zu bauen. Sie waren die einzige Familie, ob schwarz oder weiß, die ein Haus mit einem richtigen Fundament gehabt hatte. Der Neid hatte die Grenzen zwischen den Hautfarben überschritten und ihre Nachbarn vereint, weil das Haus in diesem Wald aus Mobile Homes aufragte wie eine Rose inmitten von Unkraut.

»Im Ruhestand können wir vor dem Haus in unseren Schaukelstühlen sitzen und Patsy Jones zuwinken, wenn sie vorbeifährt und die Augen verdreht«, hatte Titus’ Mutter Helen eines Abends am Küchentisch zu seinem Vater gesagt, als dieser ausnahmsweise mal nicht unten im Watering Hole oder in Grace’s Place war.

Titus stellte eine Tasse in die Kaffeemaschine, drückte eine Kapsel in das Gerät und stellte den Timer ein.

Wie so vieles im Leben sollte auch der bescheidene Ruhestandsplan seiner Mutter nicht aufgehen. Sie starb lange, bevor sie in der Cunningham Flag Factory aufhören und in Rente gehen konnte. Patsy Jones jedoch fuhr immer noch am Haus vorbei und verdrehte die Augen.

»Welche hast du reingetan?«, fragte Albert. Er schlug die Tageszeitung auf und begann, mit dem Finger die Spalten entlangzufahren. Titus sah, wie sich seine Lippen kaum merklich bewegten. Seine Mutter war eine experimentierfreudigere Leserin gewesen, aber sein Vater ließ keinen Tag vergehen, ohne die Zeitung durchgearbeitet zu haben.

»Haselnuss. Die einzige Sorte, die du magst.«

Albert lachte leise. »Erzähl das bloß nicht diesem Mädchen. Sie hat uns das Vorteilspack besorgt. Das war sehr nett vor ihr.« Er leckte einen Finger an und blätterte um. Dann saugte er an seinen Zähnen und ächzte. »Diese Redneck-Typen können’s auch nicht lassen, oder? Jetzt veranstalten sie eine verdammte Parade für diese Statue. Die sind doch nur sauer, weil endlich mal wer den Mumm hatte, ihnen zu sagen, dass ihr mordender Verrätervorfahre einen Scheiß wert war«, spuckte er aus.

»Ricky Sours und diese Sons of the Confederacy rennen mir im Büro schon seit zwei Wochen die Bude ein«, sagte Titus. Er trank noch einen Schluck.

»Weswegen?«, fragte Albert.

»Sie wollen sich vergewissern, dass der Sheriff ›seine Pflicht erfüllen und Absperrgitter aufstellen‹ wird, falls irgendwelche Gegendemonstranten aufkreuzen sollten. Du weißt schon, weil Ricky ja nun mal weiß ist, bin ich wegen ›meines kulturellen Hintergrunds‹ ihnen gegenüber voreingenommen«, sagte Titus in ausdruckslosem, ruhigem Tonfall, wie er es beim FBI gelernt hatte, aber er bemerkte dennoch den Blick seines Vaters, der über den Zeitungsrand linste.

Albert schüttelte den Kopf. »Zu Ward Bennings hätte dieser Sours das niemals gesagt. Scheiße, Ward wäre wahrscheinlich mit dem Stern an seiner Brust bei denen mitmarschiert. ›Kultureller Hintergrund‹ – am Arsch. Er meint, weil du ein schwarzer Mann bist und er ein Rassist. Mein Gott, Junge, ich weiß manchmal wirklich nicht, wie du das alles aushältst.«

»Ich stell mir einfach vor, wie Sherman ihren blutrünstigen Verrätervorfahren die Zähne einschlägt. Das ist mein Zen«, sagte Titus tonlos, aber Albert prustete los.

»Letzten Freitag hat Linwood Lassiter unten im Laden einen der Kerle mit so einem Aufkleber auf dem Truck gefragt, warum sie kein Denkmal errichten für … Wie heißt der Kerl noch schnell? Der mit den Eiern?«, sagte Albert.

»Benedict Arnold?«

»Genau, sollen sie doch dem Typen auch ein Denkmal setzen, wenn sie so auf Verräter stehen. Der Kerl im Laden hat dann irgendwas von Tradition und Geschichte gefaselt, worauf Linwood meinte, okay, wie wär’s dann mit einer Statue für Nat Turner? Der Kerl ist in seinen Truck, hat Vollgas gegeben und ne dicke Rauchwolke zurückgelassen. Aber eine Antwort hatte er nicht«, sagte Albert.

Titus kniff die Augen zusammen. »Hast du ein Nummernschild? Wie sah der Truck aus?«

»Nee, wir waren zu sehr mit Lachen beschäftigt. Sah aus, wie die Trucks von diesen Kerlen eben aussehen. Mordsmäßige Stoßdämpfer und nicht die Spur von Dreck auf der Ladefläche. Ein bisschen so wie die Leute, die mit ihren großen schicken Booten in die Bucht fahren, aber nie auch nur einen einzigen Fisch fangen. Für die sind die Werkzeuge eines Arbeiters nichts als Spielzeug«, sagte Albert.

Titus trank seinen Kaffee aus, ließ Wasser in die Tasse laufen und stellte sie in die Spüle.

»Benedict Arnold interessiert die nicht, Pop. Er hat nicht dieselben Leute gehasst wie sie. Ich geh mich jetzt anziehen. Ich hab um neun Dienst. Im Kühlschrank steht noch Rindergulasch von Sonntag. Das könntest du doch zu Mittag essen«, sagte Titus.

»Junge, ich bin noch nicht so alt, dass ich mir kein Mittagessen mehr machen kann. Wer hat dir eigentlich das Kochen beigebracht?«

Titus spürte, dass sich ein Lächeln auf sein Gesicht schob. »Du«, sagte er. Aber, dachte Titus, erst als Mama unter der Erde war und du zu Jesus gefunden hattest.

»Verdammt wahr. Wahrscheinlich werde ich das Gulasch essen, aber in der Küche krieg ich immer noch was auf die Beine«, meinte Albert zwinkernd. Titus schüttelte den Kopf und ging zur Treppe.

»Vielleicht besorg ich ein paar Austern, und wir machen dann am Wochenende ein Feuerchen auf dem alten Grill. Lass doch auch deinen kleinen Bruder rüberkommen«, sagte Albert.

Titus erstarrte kurz, bevor er weiter die Treppe hochging. Marquis würde weder an diesem noch an irgendeinem anderen Wochenende rüberkommen. Die Tatsache, dass sein Vater immer noch an dieser Vorstellung festhielt, war zuweilen deprimierend und ärgerlich. Marquis hatte sich als autodidaktischer Tischler selbstständig gemacht. Er wohnte auf der anderen Seite des County im Windy River Trailer Park, hätte aber genauso gut in Nepal leben können. Obwohl er sich seine Arbeitszeit selbst einteilte, konnte es leicht mal Monate dauern, bis sie ihn wiedersahen. In einem so kleinen Ort wie Charon County war das schon eine Leistung.

Titus ging in sein Zimmer und öffnete den Kleiderschrank. Seine Alltagskleidung, die er nie als »Zivilkleidung« bezeichnete, weil das seinen Uniformen einen Grad an Militarisierung verliehen hätte, der ihm nicht gefiel, hing links, und zwar in alphabetischer Reihenfolge nach Farben sortiert: blau zuerst, dann gelb, rot und so weiter. Darlene hatte einmal gesagt, er sei der organisierteste Mann, den sie je getroffen habe. Seine Schuhe waren auf die gleiche Art geordnet.

Kellie, seine Ex-Freundin aus seiner Zeit in Indiana, hatte seine Kleidung immer umsortiert, wenn sie über Nacht blieb. Sie hatte gesagt, sie tue das nur zu seinem Besten: »Ich muss dich ein bisschen lockerer machen, Virginia. Du bist viel zu verkrampft, eines Tages drehst du noch durch. Ich versuche nur, dir mit deiner geistigen Gesundheit zu helfen.«

Titus war der Meinung, dass sie das nur getan hatte, weil sie wusste, dass er es hasste. Sie hatte gewusst, dass sie darüber streiten würden, und auch, dass sie sich wieder versöhnen würden – und zwar ziemlich wild.

Er seufzte tief.

Kellie war die Vergangenheit. Darlene seine Gegenwart. Und egal was Faulkner sagte, dieser Teil seines Lebens war vorbei.

Seine Uniformen, die allesamt aus einem dunkelbraunen Hemd und einer helleren braunen Hose mit einem dunkelbraunen Seitenstreifen am Bein bestanden, hingen auf der rechten Seite des Schranks. Daneben, ganz rechts, zwei kugelsichere Westen. Zwei Paar schwarze Lederschuhe standen auf dem Boden. Ein brauner Dreispitz lag auf einem Regalboden. Darlene nannte ihn seinen »Smokey Bear«-Hut.

»Weil du mein großer alter Bär bist«, hatte sie eines Nachts gesagt, als sie auf seiner Brust gelegen hatte. Ihre Finger hatten auf seiner Brustnarbe gespielt wie eine Pianistin. Die Narbe war so was wie ein Geschenk von Red DeCrain, einem rechtsradikalen, christlichen Nationalisten, Milizführer und für sieben Minuten Möchtegern-Märtyrer.

Diese sieben Minuten hatten viele Leben verändert. Das von Titus, das von Red und seiner Frau, und auch das von Reds drei Söhnen, die alle Sprengstoffwesten getragen hatten. Der jüngste Sohn war gerade mal sieben Jahre alt gewesen. Die Weste hatte ihm locker um die Schultern gehangen, als wäre es ein Hoodie, den er sich von einem seiner Brüder ausgeliehen hatte. Als er den Sicherungsstift gezogen hatte, war sein Gesicht so leer gewesen wie ein Blatt in einem Notizbuch.

Dann war es –

»Hör auf damit«, sagte er laut. Er rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. Nach der Detonation hatte ein Splitter die Brandnarbe in der Form eines Fragezeichens auf seinem Bauch verursacht. Die Narben auf seiner Seele waren nicht zu sehen, aber nicht weniger entsetzlich.

Die Art und Weise, wie Titus seine Uniform anzog, bestand aus einem eingeübten Ritual, das beruhigend auf ihn wirkte. Zuerst nahm er die Weste und schnallte sie fest. Dann schnappte er sich sein Hemd, anschließend die braune Krawatte, die neben ihren beiden Brüdern an einem Haken auf der Innenseite der Schranktür hing. Als Nächstes die Hose, dann die Schuhe. Er ging zum Nachttisch, zog eine Schublade auf und nahm seinen Dienstgürtel heraus. Er schnallte ihn um, bevor er den Schlüssel vom Nachttisch nahm und behutsam in die Hocke ging. Ein Sheriff konnte sich in seinem County nicht mit zerknitterter Hose sehen lassen. Ein schwarzer Sheriff musste für alle Fälle eine Ersatzhose in seinem Büro haben.

Er zog einen Metallkasten unter dem Bett hervor, öffnete ihn und nahm seine Dienstpistole heraus. Das County bezahlte nur eine 9mm-Smith & Wesson. Titus wollte aber etwas mit mehr Mannstoppwirkung und hatte die SIG Sauer P320 deshalb selbst gekauft. Es war die gleiche Waffe, die auch von der Virginia State Police benutzt wurde. Er kontrollierte Magazin und Kammer, bevor er die Waffe ins Holster schob. Auf dem Nachttisch lagen zwei Sonnenbrillen. Titus nahm eine davon und steckte sie in die Brusttasche seines Hemdes. Anschließend hakte er den Transponder des Funkgeräts an seinen Gürtel und das Mikro an seinen Kragen.

Als Letztes griff er in die Schublade und nahm seine Dienstmarke heraus. Er steckte sie über der linken Brusttasche an sein Hemd und ging dann die Treppe hinunter.

Albert saß immer noch am Tisch, aber die Tageszeitung war weg. Stattdessen lag dort ein Umschlag mit Titus’ Namen.

»Was ist das?«, fragte Titus, obwohl er ziemlich sicher war, dass er es bereits wusste.

»Es ist jetzt ein Jahr her. Reverend Jackson hat letzten Sonntag gesagt, es ist immer noch ein Wunder, das man preisen muss. Wer hätte gedacht, dass der Unfall, bei dem Ward Bennings von einem Holztransporter überfahren wurde, dazu führen würde, dass der erste Schwarze die Nachwahl zum Sheriff von Charon County gewinnt?«, meinte Albert.

Titus nahm den Umschlag und schlitzte ihn mit dem Daumennagel auf. Eine Grußkarte mit einem drolligen Pinguin vorne drauf, der eine teuflische Mistgabel hielt. Innen stand:

MUSS WOHL MIT DEM TEUFEL ZUGEHEN, IHR ZWEI SEID IMMER NOCH ZUSAMMEN! ALLES GUTE ZUM JAHRESTAG!

Titus hob die Augenbrauen.

»Im Walmart gab’s keine Karte für den Fall, dass man stolz auf seinen Sohn ist, weil er zum ersten schwarzen Sheriff der Countygeschichte gewählt wurde. Aber ich bin stolz. Mein Junge ist wieder zu Hause und verändert was. Du weißt gar nicht, was es für die Leute bedeutet, dich in dieser Uniform zu sehen, Titus. Wenn deine Mama noch da wäre, dann wäre sie auch sehr stolz auf dich«, sagte Albert mit belegter Stimme. Titus’ Mutter war seit dreiundzwanzig Jahren tot, und doch drang bei ihrer bloßen Erwähnung der Schmerz aus seinem Vater wie Wasser aus einem Waschlappen.

Wäre sie auch dann noch stolz, wenn sie wüsste, was in Indiana auf dem Gelände der DeCrains passiert war? Ich glaube nicht, dachte Titus. Nein, ich glaube nicht, dass sie dann noch stolz wäre.

»Nicht alle Leute hier sind stolz. Aber trotzdem vielen Dank für die Karte, Pop.«

»Meinst du diesen Addison von der New Wave Church? Pfff, um den macht sich doch keiner einen Kopf. Der glaubt doch, Jesus hätte Jeans getragen«, sagte Albert. Das war die schlimmste Beleidigung, die sein Vater, der Pfingstkirchler, der jeden Sonntag seinen besten Anzug trug, mit Blick auf den New-Age-Geistlichen mit seinen Dreadlocks aussprechen konnte.

»Er macht gute Arbeit in seiner Kirche, Pop«, sagte Titus.

»Du nennst das eine Kirche? Es hört sich jedes Mal an wie eine Kneipe, wenn man dort vorbeifährt.«

»Hörst du dich etwa nicht so an? Egal, Jamal Addison ist nicht der Einzige, der mich für einen Onkel Tom hält«, sagte Titus mit einem kläglichen Lächeln.

»Tja, Reverend Jackson predigt immer wieder, dass man sich vor falschen Propheten in Acht nehmen muss«, sagte Albert.

Titus fand das ironisch, erwiderte aber nichts.

»Weißt du, es wäre wirklich schön, wenn du ab und an mal zum Gottesdienst kämst. Niemand in der Kirche hält dich für einen verdammten Onkel Tom«, sagte Albert. »Sie haben hart für dich gearbeitet, Titus. Ich sag ja nur …« Wie viel Dankbarkeit er der Emmanuel Baptist Church für ihre Unterstützung bei seiner Überraschungskandidatur schuldete, war Thema eines Gesprächs, das sein Vater immer wieder mit ihm führen wollte, Titus aber zu meiden suchte. Nicht, weil er undankbar gewesen wäre – er war sich sehr wohl bewusst, dass ihm gerade die Unterstützung von Kirchengemeinden wie der Emmanuel ins Büro des Sheriffs verholfen hatte. Nicht zu vergessen die vielen zugezogenen Neo-Hippies sowie die Angehörigen der alten Elite, die Ward Bennings’ Sohn Cooter mehr hassten, als sie dem früheren Football-Helden und FBI-Agenten misstrauten. Es war eine ungewöhnliche Koalition gewesen, die so sicher mindestens eine Generation lang nicht wieder zusammenfinden würde. Und jetzt hielten alle ihre Hände auf. Die Kirche seines Vaters war da keine Ausnahme. Titus wusste, dass die Unterstützung der Gemeinde seines Vaters an Bedingungen geknüpft war, die er nicht bereit war zu erfüllen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er seit seinem fünfzehnten Lebensjahr keinen regulären Gottesdienst mehr besucht hatte. Er hatte damit ungefähr zur selben Zeit aufgehört, als sein Vater damit anfing. Zwei Jahre nach dem Tod seiner Mutter.

»Ich werd’s dich wissen lassen, Pop. In der nächsten Woche ist das Herbstfest. Du weißt, dass ich alle Hände voll zu tun haben werde«, log Titus. Das Herbstfest war in erster Linie ein Vorwand für die Bewohner von Charon County, sich zu betrinken und auf der Straße zu tanzen, bevor man sich zu einem whiskeydurchtränkten Kuss in irgendeinen dunklen Winkel des Parks vor dem Gerichtsgebäude davonstahl.

Albert wollte schon einen neuen Anlauf wagen, als plötzlich Titus’ Funkgerät mit einem Knistern und Knacken zum Leben erwachte.

»Titus hier. Was gibt’s?«

Die Stimme am anderen Ende gehörte Cam Trowder aus der Telefonzentrale. Cam hatte die Frühschicht, seine Kollegin Kathy Miller arbeitete nachts. Cam war einer der wenigen im Sheriff’s Office, die schon für Titus’ Vorgänger gearbeitet hatten.

Cam war ein Veteran des Irakkriegs, der unter Druck nicht die Nerven verlor und überdies ein geradezu enzyklopädisches Wissen über jede Straße und jeden Feldweg im County besaß. Er wohnte nicht weit vom Büro des Sheriffs entfernt und schaffte mit seinem geländegängigen elektrischen Rollstuhl bis zu zwanzig Meilen die Stunde. Cam hatte ihn mithilfe von YouTube-Videos und Anleitungen, die er sich aus dem Internet geladen hatte, selbst frisiert. Der Mann hatte einen unglaublichen Willen.

Und genau aus diesem Grund versetzte die schiere Hoffnungslosigkeit, die jetzt in seiner Stimme lag, Titus’ Nerven in Aufruhr.

»Titus … wir haben einen Amoklauf an der Highschool. Titus, ich krieg hier Minimum hundert Anrufe pro Minute. Ich glaube … Ich glaube … Ich glaube … Titus, mein Neffe ist auch da«, sagte Cam. Er klang merkwürdig. Dann begriff Titus, dass er weinte.

»Cam, schicken Sie alle Einheiten zur Highschool!«, brüllte Titus in sein Mikro.

»Mein Neffe ist da«, sagte Cam.

»Alle Einheiten verständigen! Sofort!«

Cam stöhnte, aber als seine Stimme dann aus dem Funkgerät kam, war sie ruhig und entschlossen: »Verstanden, Chief. Zentrale an alle Einheiten. Bewaffneter in der Jefferson Davis Highschool. Ich wiederhole, Bewaffneter in der Jefferson Davis Highschool.«

Titus ließ die Grußkarte fallen und rannte zur Tür.

»Was ist los?«, rief ihm Albert hinterher.

Aber als Antwort erhielt er nur das Geräusch der zuschlagenden Fliegengittertür, die der Herbstwind mit seinem kalten Griff erfasst hatte.

Titus war längst weg.

ZWEI

Auch das Chaos scheint mitunter eine eigene innere Ordnung zu besitzen, die aus sich wiederholenden Mustern besteht. Als Titus mit kreischenden Reifen auf den Parkplatz der Jefferson Davis High einbog, konnte er ein solches Muster beobachten, das sich wie ein Origami-Objekt in umgekehrter Reihenfolge entfaltete.

Schüler und Lehrer strömten aus sämtlichen Öffnungen des riesigen Backsteingebäudes. Sie rannten aus dem Vordereingang. Sie stahlen sich aus den Nebeneingängen. Sie sprangen aus den Fenstern. Manche waren auf der Rückseite durch ein metallenes Rolltor geschlüpft, das zur Werkstatt von Mr. Herndons Automechanik-Kurs gehörte. Die Flut von Schülern und Lehrern ergoss sich um Titus’ Wagen herum wie ein Fluss um einen Felsen. Ihre Gesichter waren wie aus einem Gemälde von Francis Bacon, überschattet von einem Trauma, das sie auch noch in zehn Jahren im Supermarkt oder beim Fernsehen in Tränen ausbrechen lassen würde.

Das war der erste Akt dieser speziellen Art von Chaos: atavistische Panik, die aus den tiefsten Tiefen des ältesten Gehirnareals hervorging. Kämpfen oder Flüchten wurde von einem abstrakten Konzept im Biologieunterricht zu einer unmittelbaren Frage des Überlebens.

Titus sprang aus dem SUV und zog seine Waffe. Die Schreie der Kinder waren wie Donnerschläge, die ihn bis ins Mark erschütterten. Er schaute nach links und sah zwei seiner Deputys neben dem Rasen vor der Schule halten. Davy Hildebrandt fuhr den einen Streifenwagen, Roger Simmons den anderen. Sekunden später folgte Carla Ortiz hinter ihnen im Van des Drogenpräventionsprogramms, mit dem sie Mittel- und Grundschulen besuchte. Roger sprang mit einer kurzläufigen Schrotflinte aus dem Wagen. Davy hatte seine Dienstwaffe gezogen, Carla ihre ebenfalls. Roger rannte auf die Teenager zu. Er hielt die Flinte am Schaft, wobei der Lauf auf das Meer von Körpern gerichtet war, das auf ihn zukam.

»Roger, die Waffe hoch! Waffe hoch!«, brüllte Titus. Roger blieb stehen und starrte ihn an. Er blinzelte heftig, dann senkte er den Blick auf seine Hände. Titus sah, dass er zitterte, als hätte er einen Whiskey gekippt, und dann die Waffe hob, sodass der Lauf zum Himmel zeigte.

»Davy! Bring alle auf die andere Straßenseite! Auf die andere Seite der Straße!«, brüllte Titus. Davy steckte seine Kanone ins Holster, winkte den Schülern und Lehrern zu und begann, sie über die Straße auf die Weide zu treiben, die zu Oakfield Farms gehörte. Die wenigen Angus-Rinder, die dort grasten, wirkten trotz der Schreie des Entsetzens, die durch die frische Luft des frühen Morgens hallten, völlig ungerührt.

»Was machen wir, Chef?«, fragte Carla. Sie hatte sich ihren Weg durch die Menge gebahnt und stand nun neben ihm. Titus sah einen roten Pick-up mit mobilem Einsatzlicht auf dem Dach herangerast kommen. Tom Sadler saß am Steuer. Er hatte an diesem Tag frei, musste aber auf seinem Scanner den Notruf gehört haben. Es gab nur wenige Angestellte des Charon County Sheriff’s Office, die gerade nicht hier waren.

Titus betete, dass sie die nicht auch noch benötigen würden. Er betete, dass der Schütze keine AR-15 oder AK-47 oder irgendeine andere Waffe hatte, die den Tod so massenhaft aussäte wie ein Traktor die Samen auf den Feldern.

»Wir gehen rein und räumen das Gebäude«, sagte Titus und schnappte sich sein Mikro. »Davy, sorg dafür, dass Tom die Menge im Auge behält. Dann kommst du zurück und hilfst uns, den Tatort zu räumen. Hast du die Schutzweste an?«

Das Funkgerät knisterte, als Davy antwortete. »Klar doch. Ich hol Tom.«

»Hau rein, Davy«, sagte Titus. Er gab Carla ein Zeichen, ihm zu folgen, und bewegte sich an den Nachzüglern vorbei auf die Schule zu.

»Er hat Mr. Spearman erschossen!«, sagte ein zierliches blondes Mädchen, in dem Titus Daisy Matthews’ Tochter erkannte. Er war mit Daisy zur Schule gegangen. Die Tochter hieß …

»Lisa, rüber auf die andere Straßenseite«, brüllte Carla.

»Wer hat Mr. Spearman erschossen? Wie sieht er aus, Lisa?«, fragte Titus.

Lisa drehte den Kopf und starrte ihn an, als hätte sie gerade erst registriert, dass er mit seinen eins neunzig vor ihr aufgetaucht war. »Ich … ich … weiß es nicht. Er hat eine Maske getragen. Er hat ihm ins Gesicht geschossen. Oh mein Gott, er hat Mr. Spearman erschossen!« Ihre Augen waren groß wie Traktorräder. Sie weinte nicht, aber ihr Gesicht bebte rot. Titus wusste, dass die Tränen später kommen würden. Entweder Tränen oder nächtliche Schreie.

»War er groß? Größer als ich? Was ist mit seiner Kleidung? Was hatte er an?«, fragte er.

Lisa schloss die Augen und ließ sich gegen Carla sacken. »Ich weiß es nicht!«, stieß sie schluchzend aus.

Titus holte tief Luft. Ihm wurde bewusst, dass er gebrüllt hatte. Ein Polizeibeamter mit tiefer, kräftiger Stimme, der anderen ins Gesicht brüllt, bekam kaum sachdienliche Informationen. Das wusste er, predigte es seinen Deputys, und doch hatte er es getan.

Er berührte sein Mikro.

»Der Verdächtige trägt eine Maske. Mehr haben wir nicht. Gehen wir rein«, sagte er.

»Schätzchen, du musst jetzt auf die andere Straßenseite gehen, okay?«, sagte Carla so einfühlsam sie konnte. Lisa erwiderte nichts und rannte wie eine aufgeschreckte Gazelle zur Weide.

»Okay, auf geht’s«, sagte Titus.

Auch dies ein Muster inmitten des Chaos: Mit gezogenen Waffen marschierten Männer und Frauen auf einen Mann zu – es ist fast immer ein Mann, der ebenfalls seine Waffe gezogen hat, der Lauf immer noch heiß, nachdem er ein Klassenzimmer oder ein Kino oder ein Großraumbüro mit stahlmantelumhüllten Bleibrocken beharkt hat, die mit achthundert Metern pro Sekunde durch den Raum fetzten.

Titus spürte, dass sich in seinem Bauch alles krampfartig zusammenzog. Er atmete langsam und ruhig, aber sein Kopf pochte. Der Wind frischte auf und kühlte den Schweiß, der ihm in den Kragen lief. Das Sonnenlicht spiegelte sich in den Fensterscheiben. Seine Sonnenbrille dämpfte das grelle Licht, während er vorrückte. Seine Schuhe knirschten auf dem Asphalt. Das Geräusch erklang vielstimmig in seinen Ohren. Carla rechts neben ihm atmete tief und scharf ein. Davy auf seiner Linken stieß eine Art Wehklagen aus, wie ein blökendes Lamm. Roger hatte die Führung übernommen. Titus sah, dass sich die Muskeln in seinen massigen Schultern anspannten, was ihn an ein aufgerolltes Tau an Deck eines Schiffs erinnerte.

In den letzten fünfzehn Jahren hatte Charon genau zwei Morde zu verzeichnen gehabt. Der eine wurde innerhalb von fünfzehn Minuten aufgeklärt, als Alice Lowney gestand, ihren Ehemann Walter mit einer Mistgabel erstochen zu haben, nachdem sie ihn dabei erwischt hatte, wie er mit ihrem Nachbarn Ezra Collins, Pips Cousin, schlief. Der andere blieb ungelöst, und wenn man den Aktennotizen von Ward Benning Glauben schenken durfte, würde das auch für alle Zeiten so bleiben. Das Opfer war ein weißer Mann zwischen einundzwanzig und fünfundvierzig Jahren, der in saubere Stücke zerlegt in einem Koffer am Fiddler’s Beach gefunden worden war. Man ging allgemein davon aus, dass die Überreste von einer ungewöhnlich starken Flut aus der Chesapeake Bay angespült worden waren, die sich so nicht wiederholen würde. Die Leute sagten gern, Charon sei kein Ort, an dem solch schreckliche Dinge regelmäßig passierten.

Titus hingegen fand, die Leute hatten einfach kein gutes Langzeitgedächtnis.

Charons jüngste Geschichte war tatsächlich relativ ruhig, aber die Vergangenheit hatte eine Vielzahl an Gräuel und Schrecken zu bieten, die inzwischen ins Reich der Legenden übergegangen waren. Manchmal zitierte sein Vater Reverend Jacksons Predigten über die Hölle und die Verdammnis und sagte, Charon sei längst überfällig für eine Zeit des Schmerzes. Titus glaubte nicht, dass der Reverend die Gabe der Präszienz besaß, aber er glaubte, dass das, was bereits einmal geschehen ist, wieder geschieht. Dass sich das Rad der Zeit dreht und dreht und irgendwann wieder an derselben Stelle landet wie schon zwanzig, dreißig, vierzig Jahre zuvor. Ganz gleich, was sie im Inneren der Schule anträfen – die Zeit des Friedens war vorbei. Die Zeit des Schmerzes war zurückgekehrt, und das während seiner Dienstzeit.

Sie waren noch rund zwanzig Meter von der Eingangstreppe der Schule entfernt, als die Tür aufging und ein Mann heraustrat, der eine Ledermaske mit einer Wolfsschnauze in der linken Hand trug und ein Gewehr Kaliber .30-30 wie ein Neugeborenes in der rechten Armbeuge hielt. Er hatte einen vom Wetter gezeichneten schwarzen Caban, der in der Mitte zugeknöpft war, und schmutzige Jeans an. Die Haare waren zu zerzausten Cornrows geflochten, die mal wieder erneuert werden mussten. Sein Mund war zu einer Grimasse erstarrt, die sein ganzes Gesicht zu verschlingen schien.

Einen Moment lang war die Welt wieder völlig still. Die Geräusche der Menschenmenge wurden von der Brise aus der Luft getilgt. Es gab nur die Morgensonne, den blauen Himmel und diesen Mann, den Titus erkannte und der zu ihnen herabschaute.

»Latrell, nimm die Waffe runter!«, bellte Titus. Latrell wandte ihm den Kopf zu. Die Tatsache, dass fünf Polizisten ihre Waffen auf ihn gerichtet hatten, schien ihn nicht im Geringsten zu beunruhigen. Sein glattes braunes Gesicht wirkte trotz des golfballgroßen Blutergusses auf der rechten Wange unheimlich ruhig. Stecknadelkopfgroße Pupillen taxierten Titus mit einer tiefen Ungerührtheit. Titus tippte auf Oxy oder Heroin. Trotz seiner besten Bemühungen gab es beides reichlich in Charon. Latrell war da und auch wieder nicht. Er sah aus wie ein Kleinkind, das den wachsamen Augen seiner Eltern entkommen war und noch nicht wusste, dass es sich verlaufen hatte.

Titus kannte Latrells Eltern, Calvin und Dorothy Macdonald. Er war mit Calvin zur Schule gegangen. Zusammen mit Patrick Tines und Big Bobby Packer hatten sie Charon die bisher einzige State-Meisterschaft beschert. Calvin war Wide Receiver, Titus Quarterback. Am Abend der Meisterschaftsfeier hatte Titus mit Nancy Tolliver auf dem Rücksitz von Calvins Ford Mustang seine Jungfräulichkeit verloren. Sie stand darauf, gewürgt zu werden, aber das hatte Titus einfach nicht über sich gebracht. Damals nicht. Er fragte sich, wie eine Siebzehnjährige überhaupt auf erotische Atemkontrolle stehen konnte, bis ihm klar wurde, dass ihm keine der möglichen Antworten auf diese Frage gefiel.

Inzwischen arbeitete Calvin auf der Werft in Newport News. Demnächst feierte er dort sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum. Dorothy war Pflegekraft im Pruitt Nursing Home. Sie hatten noch einen weiteren Sohn, den zwölfjährigen Lavon. Latrell war ihr Ältester und derjenige mit den meisten Problemen. Titus hatte Latrell einmal wegen des Besitzes von Drogenutensilien verhaftet, nachdem er aus einem 7-Eleven geworfen worden war, weil er einen Streit angefangen hatte, als man ihm nach Mitternacht kein Bier mehr verkaufen wollte. In jener Nacht hatte er sehr ähnlich ausgesehen wie jetzt. Völlig durch den Wind, aber im Wesentlichen harmlos. Nur dass er damals kein Gewehr und keine Ledermaske bei sich gehabt hatte. Als Calvin dann seinen Sohn auf Kaution herausgeholt hatte, hatte er zu Titus nur gesagt, dass Latrell »verkorkst« sei. Titus hatte gespürt, dass sein alter Freund mehr hatte sagen wollen. Sich danach gesehnt hatte, mehr zu sagen. Doch stattdessen hatte er einfach seinen Sohn eingesammelt und seine Meinung für sich behalten. Titus hatte ihnen nachgesehen und war sich vollkommen bewusst gewesen, dass Calvin mit Latrells Dämonen zu kämpfen hatte. Und dass er seinem ehemaligen Mannschaftskameraden keine Schulter mehr bieten konnte, um sich auszuheulen. Die Dienstmarke an seiner Brust hatte diese Tür zugeschlagen.

Anscheinend hatten sich inzwischen die Dämonen, mit denen Latrell kämpfte, verzehnfacht.

»Latrell! Lass. Die. Waffe. Fallen«, sagte Titus. Er artikulierte jedes einzelne Wort so klar und deutlich, wie seine Zunge es zuließ. Er wollte den Nebel durchdringen, der Latrells Verstand offenkundig umhüllt hatte. Er wollte, dass er ihn hörte. Latrell musste kapieren, dass Waffen auf ihn gerichtet waren. Er musste begreifen, dass er diesen Ort immer noch aufrecht verlassen konnte, was immer er auch getan haben mochte. Er war Calvins Sohn. Und selbst wenn er der Sohn eines Mannes gewesen wäre, den Titus nicht kannte, mit dem er keinen billigen Schnaps gesoffen und vier Jahre lang täglich trainiert hatte, mit dem er nicht im Schatten dieser riesigen Konföderiertenflagge an der Countygrenze aufgewachsen war – auch dann hätte Latrell diese Chance verdient gehabt.

»Er ist einer von den Erzengeln«, sagte Latrell. Seine Stimme bebte, war aber klar vernehmbar.

»Latrell, du musst jetzt dieses Gewehr da aus der Hand geben und dich auf den Boden legen«, sagte Titus.

»Er hat gesagt, er wär der Schwarze Engel. Der Todesengel. Mr. Spearman hat immer gesagt, dass er sich einfach gern reden hört«, sagte Latrell. Titus sah, dass Tränen über sein Gesicht rannen.

»Latrell, du musst jetzt das Gewehr weglegen«, sagte Titus laut und deutlich, aber nicht mehr so einschüchternd. Das hier musste nicht in einem Kugelhagel enden.

»Er hat sie Gott anrufen lassen. Dann hat er ihnen gesagt, er wär Malacho dmauto, der Zerstörer. Aber das stimmte auch nicht. Er war einfach nur ein kranker Wichser, genau wie Mr. Spearman«, sagte Latrell. Er ließ die Maske fallen und drückte die Mündung des Gewehrlaufs unter sein Kinn.

Titus erstarrte. Er senkte seine Waffe nur wenige Zentimeter. Er wollte nicht, dass Latrell abdrückte, aber er wusste auch, wie schnell jemand von Selbstmord zu Mord übergehen konnte. Die Worte, die aus dem Mund des jungen Mannes kamen, hätte man als das wirre Gerede eines gebrochenen Geistes abtun können.

Und doch …

Titus sah die Qualen, die sich durch Latrell schlängelten, die seinen Körper verdrehten, seine Gliedmaßen verrenkten. Es war, als würde er unter der Last einer Schuld und einer Scham stehen, die er nicht richtig in Worte fassen konnte. Seine Hände umklammerten das Gewehr mit manischer Verzweiflung, und seine Finger wogten hin und her wie die Tentakel einer Tiefseekreatur, die die Sonne nicht kannte.

»Latrell, hör mir jetzt zu. Egal, was passiert ist, wir können über alles reden. Was immer du getan hast – so bringst du das nicht in Ordnung. Leg die Waffe weg. Bitte. Leg das Gewehr auf den Boden und lass uns reden. Das muss doch nicht sein«, sagte Titus. Er nahm eine Hand von seiner Waffe und zeigte Latrell die geöffnete Handfläche. Durch die gespreizten Finger konnte er verfolgen, wie Latrell behutsam den Lauf unter seinem Kinn wegnahm.

»So ist gut. Und jetzt leg es auf den Boden und komm langsam auf mich zu«, sagte Titus. Er änderte die Anweisung, weil er nicht wollte, dass sich das Gewehr in Latrells Reichweite befand, falls er es sich doch noch anders überlegte. Der Junge dünstete den Wahnsinn aus wie Asphalt die Julihitze.

»Leg die Kanone hin, Arschloch!«, schrie Roger.

»Deputy, halten Sie sich zurück!«, brüllte Titus.

Latrell schloss die Augen.

»Nein …«, raunte Titus.

»Du hast keine Ahnung, was ich getan hab. Ich hab ja versucht aufzuhören, und die haben gesagt, sie würden meinen kleinen Bruder umbringen. Der Engel hat seine Maske nie abgenommen. Aber Mr. Spearman – er wollte, dass sie sein Gesicht sehen. Das gefiel ihm sehr«, sagte Latrell in einer Art Sprechgesang, der wie ein einziger langer Satz klang.

»Latrell, warte«, sagte Titus.

Latrell schlug die Augen auf. »Überprüft sein Telefon«, sagte er. Titus senkte seine Waffe einen weiteren Zentimeter.

Dann hob Latrell das Gewehr über seinen Kopf.

»Ich bin der Tod geworden!«, heulte er, als er die Stufen hinunter und auf Titus und seine Deputys zustürmte.

Wenn Titus diese Szene später wie einen Film in Endlosschleife immer wieder in seinem Kopf abspielte, drückte er stets genau an dieser Stelle auf Pause. Dieser wie von einem undurchsichtigen Schimmer verborgene Moment bestand aus einer für Titus unklaren Abfolge von Bewegungen. Hatte Latrell das Gewehr auf sie gerichtet? Hatte er überhaupt begonnen, das Gewehr auf sie zu richten? Titus schloss dann seine Augen und versuchte verzweifelt, sich zu erinnern, aber sobald er nach ihr griff, löste sich die Erinnerung auf wie ein Gespinst.

Er hörte den ersten Schuss, bevor Latrell seinen dritten Schritt gemacht hatte. Grobes Schrot aus Rogers Flinte verwandelte die eine Hälfte von Latrells Kopf in roten Nebel. Tom Sadler jagte fünf Kugeln aus seiner sechsschüssigen .357er Smith & Wesson. Tom war ein hervorragender Schütze. Alle Kugeln fanden ihr Ziel dicht gebündelt in Latrells Brust.

»Nicht schießen, verdammt!«, brüllte Titus aus Leibeskräften. Davy hatte noch keinen Schuss abgefeuert und steckte seine Waffe so schnell zurück ins Holster, als vollführte er einen Zaubertrick. Carla richtete ihre Waffe nach unten, behielt sie aber schussbereit in der Hand. Davy murmelte etwas, aber Titus konnte die Worte nicht verstehen. Die Schüsse klingelten ihm immer noch in den Ohren.

Latrells Körper fiel die unteren neun Granitstufen der Jefferson Davis High hinab wie eine achtlos weggeworfene Stoffpuppe. Das .30-30er Gewehr schepperte weit außerhalb seiner Reichweite auf den Boden – als ob das noch eine Rolle spielte. Als Latrell vor seinen Füßen zur Ruhe kam, sah Titus die Blutspur, die er hinterlassen hatte. Sie befleckte die Stufen mit Streifen und Strichen wie eine rötliche Kalligrafie.

DREI

Sie fanden Mr. Spearman hinter seinem Schreibtisch. Er saß mit offenem Mund zurückgelehnt auf seinem Stuhl, die Krawatte schief, die grauen Nackenhaare über dem Kragen. Jeder in Charon County, der während der vergangenen dreißig Jahre in der neunten Klasse Erdkundeunterricht gehabt hatte, kannte diese zerfranste blaue Krawatte mit den rorschachinspirierten Kaffeeflecken. Hätte man eine Umfrage gemacht, wer der Lieblingslehrer an der Jefferson Davis High war, wäre Jeff Spearman höchstwahrscheinlich in fünfundzwanzig seiner dreißig Dienstjahre auf dem ersten Platz gelandet.

Wären da nicht die münzgroße Wunde auf seiner Wange und das klaffende Loch in seinem Hinterkopf gewesen, hätte man durchaus meinen können, er würde nur ein Nickerchen machen.

Die Tafel unmittelbar hinter Mr. Spearman war mit Knochenstücken, Hirnmasse und grauen Haaren übersät. Alles wurde von einer Blutschicht an Ort und Stelle gehalten.

Für Titus sah das aus wie ein Arts-and-Crafts-Projekt in einem Schlachthof, das von einem Geistesgestörten erschaffen worden war.

Er legte zwei Finger auf den Hals der Leiche. Es bestand kaum ein Zweifel daran, dass Jeff Spearman das Zeitliche gesegnet hatte, allerdings legte Titus großen Wert darauf, gründlich vorzugehen. Während des Studiums hatte er in einem Anatomiekurs von einem Mann gelesen, der sich bei einem Arbeitsunfall eine sechzig Zentimeter lange Eisenstange durchs Gehirn gerammt hatte und trotzdem selbst ins Krankenhaus gefahren war.

»Nehmt euch den Rest der Schule vor. Raum für Raum. Los«, befahl Titus.

Keiner rührte sich.

»Scheiße, warum hat der Mr. Spearman erschossen?«, fragte Davy. Der Schmerz in seiner Stimme ließ Titus zusammenzucken. Genau das fragte er sich selbst auch, aber die Zeit für Fragen würde später kommen. Im Moment mussten sie den Tatort sichern.

»Verdammter Terrorist. Habt ihr gehört, was der gebrüllt hat, als er auf uns losging? Irgendeinen Islamscheiß«, sagte Roger. Er atmete schwer wie ein Stier.

Titus wirbelte herum und trat ganz nah an ihn heran. »Noch wissen wir gar nichts. Wir wissen nicht, warum er das getan hat oder ob er es überhaupt getan hat. Vielleicht hat er einen Komplizen. Vielleicht hat Mr. Spearman sich selbst erschossen, und Latrell hat lediglich dieses Gewehr aufgehoben. Vielleicht haben wir es mit Terroristen zu tun. Vielleicht haben wir es mit jemandem zu tun, der psychisch krank ist und niemals Zugang zu einem Gewehr hätte haben dürfen, mit dem man einen Elch erlegen kann. Wir wissen einen Scheißdreck. Also werden wir jetzt erst mal den verdammten Tatort sichern. Los jetzt. Ich werde es euch nicht noch mal sagen.« Er benutzte bewusst den Plural, sprach aber zu Roger und starrte ihm fest in die Augen, bis Roger den Kopf senkte, sich abwandte und den Raum verließ.

Titus’ übrige Deputys folgten ihm. Er und Davy wechselten kurz Blicke, bevor auch Davy zur Tür ging.

»Und was er da zum Malacho dmauto gebrüllt hat, war kein Islamscheiß. Das war Aramäisch. Stellt nicht einfach irgendwelche Vermutungen darüber an, was hier passiert ist«, sagte Titus in den leeren Raum.

Eine Stunde später waren sie auf dem Parkplatz, wo sich inzwischen Krankenwagen, Feuerwehrautos und scharenweise verängstigte Eltern auf der Suche nach ihren traumatisierten Kindern eingefunden hatten. Dutzende Männer und Frauen hielten ihre Ehepartner, von denen viele wahrscheinlich ihren letzten Arbeitstag als Angestellte des Schulsystems von Charon County absolviert hatten. Unmittelbar mit der Möglichkeit des eigenen Ablebens konfrontiert zu sein, lässt einen schon mal über die berufliche Laufbahn nachdenken, für die man sich entschieden hat.

»Müssen beide in die Gerichtsmedizin?«, fragte ein beleibter, hellhäutiger Mann. Er war vom Bestattungsunternehmen. Virginia war immer noch ein weitgehend ländlicher Bundesstaat mit höchstens mittelgroßen Städten, die von großen Waldgebieten umgeben waren. Selbst große Countys wie Red Hill oder Queen hatten keine richtige Gerichtsmedizin. Der Bundesstaat ernannte einfach einen ortsansässigen Arzt zum offiziellen Leichenbeschauer, der Verstorbene ohne Anwesenheit anderer Personen untersuchte. Tante Emma, die in ihrem Bett starb, nachdem sie eine Erdnuss unglücklich verschluckt hatte; Mama Jane, die einem Schlaganfall erlag, während sie Pfirsiche für den Herbst einmachte – der örtliche Leichenbeschauer kümmerte sich um alles, was man als natürlichen oder erwartbaren Todesfall bezeichnen konnte.

Leute mit Einschusslöchern kamen nach Richmond, wo sie in der Gerichtsmedizin des Bundesstaates obduziert wurden.

»Ja, beide, aber Maynard’s wird sich um Spearman kümmern«, sagte Titus. Der hellhäutige Mann nickte. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass alles an Ort und Stelle und ordnungsgemäß arretiert war, begann er die Bahre mit Latrells Leiche in seinen Wagen zu schieben.

»Hey, Moment mal kurz«, sagte Titus. Der Mann vom Bestattungsunternehmen blieb stehen.

Titus zog den Reißverschluss des Leichensacks auf. »Können Sie mir ein Paar Handschuhe geben?«

Der Mann beugte sich ins Führerhaus seines Transporters und warf ihm dann ein Paar schwarze Latexhandschuhe zu. Titus streifte sie über und öffnete Latrells Jacke. Er ignorierte den ekelhaft penetranten Geruch entleerter Eingeweide und das metallische Aroma vergossenen Blutes. Eine Erinnerung, die so stark war, dass sie sich wie eine Halluzination anfühlte, versuchte sich in seinen Kopf zu drängen, aber er hielt sie in Schach, indem er sich auf Latrells Leiche konzentrierte. In der Mitte seines Brustbeins befand sich ein blutiges Wabenmuster. Mit geübter Gründlichkeit durchsuchte Titus Latrells Taschen und fand nach wenigen Augenblicken sein Handy. Latrell hatte bei seinem Gefasel Spearmans Telefon erwähnt. Hatten sie vor der Schießerei miteinander kommuniziert? Die eine Möglichkeit, das herauszufinden, bestand darin, die Leiche nach Richmond zu schicken und den Beweis vier Wochen lang in einer Schublade liegen zu lassen. Die andere war, Latrells und Spearmans Handys mit ins Büro zu nehmen und sie selbst zu durchforsten.

»Carla, holen Sie mir mal einen Beweismittelbeutel aus meinem Wagen«, sagte Titus. Carla nickte und joggte zu seinem SUV hinüber. Als sie zurückkehrte, ließ Titus das Handy in den Beutel fallen.

»Sie können ihn jetzt mitnehmen. Carla, geben Sie Maynard Bescheid, dass Spearman jetzt ebenfalls abgeholt werden kann, aber vorher sehen Sie bitte nach, ob er sein Handy bei sich hat«, sagte er. Er ließ das »Mister« weg. Latrell war eine kaputte Seele mit Problemen gewesen, die er sich nicht mal ansatzweise vorstellen konnte. Er war ein Dieb gewesen, drogensüchtig und eine echte Plage, wo auch immer er gerade aufkreuzte. Der gesunde Menschenverstand legte eindeutig nahe, dass Titus nichts von dem glauben sollte, was Latrell Macdonald gesagt hatte.

Und doch gelang es ihm nicht, den gesunden Menschenverstand und den Ausdruck in Latrells Augen, als dieser anfing, von Erzengeln und Jeff Spearman zu reden, auf einen Nenner zu bringen. Die Dunkelheit in diesen Augen, die sich wie ein schwarzes Loch ausgedehnt hatte, als er vom Todesengel brüllend auf sie zugerannt war, hatte keine Lügen enthalten. Da war Titus ganz sicher. Wusste es instinktiv. Seine Ausbilder auf der FBI-Akademie hätten ihn dafür gescholten.

»Bauchgefühl ist Bullshit«, hatte Bob McNally, sein Dozent für Verhaltensforschung, immer gesagt. Die Vorstellung, dass allein empirische Beweise für eine Ermittlung von Bedeutung waren, hatte Titus auf der Akademie mit Begeisterung verfochten. In der Praxis hatte sich diese Vorstellung jedoch als so brüchig wie frisches Eis auf einem Teich erwiesen.

»Beweise führen zu Verurteilungen, aber dein Bauchgefühl führt dich zum Kern des Falles«, hatte Ezekiel Wiggins, der einzige andere schwarze Agent in der FBI-Außenstelle Indiana zu sagen gepflegt. Titus glaubte, dass die Wahrheit wahrscheinlich irgendwo in der Mitte lag. Beweise konnten kontaminiert sein. Bauchgefühle konnten einen in die Irre führen. Man musste eine Balance finden zwischen Technik, Intuition und der Wahrheit.

In diesem Fall war die Wahrheit, dass Latrell in Jeff Spearmans Klassenzimmer marschiert war, ihn erschossen hatte, dann hinausgegangen und auf genau den Stufen gestorben war, die er vier Jahre zuvor als Oberstufenschüler hinaufgerannt war. Der Beweis befand sich in dem Gewehr, in Jeff Spearmans Schädel und vielleicht auf Jeff Spearmans Handy.

»Titus, was zum Teufel ist hier los?«

Der Klang von Scott Cunninghams Stimme, die seinen Namen rief, weckte in Titus das Bedürfnis, mit den Zähnen zu knirschen wie eine Getreidemühle. Er holte tief Luft und drehte sich um.

»Es gab eine Schießerei, Scott. Und jetzt gehen Sie bitte hinter das Absperrband zurück.«

Scott stemmte die Hände in die Hüften und reckte das Kinn. Titus hatte ihn das schon in Gemeinderatssitzungen machen gesehen, wenn einmal etwas nicht so gelaufen war, wie er es gern gehabt hätte, was, ehrlich gesagt, nicht sehr häufig vorkam.

»Wer wurde erschossen? Sehen Sie, genau deswegen sage ich immer, dass wir den Lehrern erlauben sollten, Waffen zu tragen«, sagte Scott.

»Scott, ich werde dem County alles schildern, was mir möglich ist, sobald wir den Tatort gesichert, den Täter und das Opfer abtransportiert und ihre Angehörigen benachrichtigt haben. Aber im Moment befinden Sie sich mitten in meinem Tatort und laufen auf Beweisen und Indizien herum, und ich möchte, dass Sie sich jetzt zurückziehen. Sofort!«, sagte Titus.

Scott blickte auf seine Füße hinab. Er stand inmitten der Lache von Latrell Macdonalds Blut. »Verdammt. Verfluchte Scheiße auch«, stöhnte er angewidert und machte zwei große Schritte rückwärts, bevor er seine Schuhsohlen auf dem Gras neben der Eingangstreppe abzuwischen versuchte.

»Hinter die Absperrung«, sagte Titus.

»Ich erwarte einen umfassenden Bericht«, sagte Scott und wartete noch einen kurzen Moment, ehe er zurück zu seinem Truck ging. Titus wusste, dass er den Eindruck erwecken wollte, als wäre es seine freie Entscheidung gewesen zu gehen.

»Scott, Sie sind der Vorsitzende des Gemeinderats. Sie sind nicht mein Chef. Sie werden denselben Bericht erhalten wie der Rest des Countys.«

Scott erbleichte, dann schüttelte er den Kopf. »Ich bin nicht Ihr Feind, Titus.«

Lügner, dachte Titus.

Nachdem Titus seine Bewerbung ankündigt hatte, hatte sich Scott Cunningham mit seinem beträchtlichen Einfluss für Cooter stark gemacht. Titus wusste, dass Scotts Gründe, Cooter zu unterstützen, nichts mit Cooters Philosophie bezüglich der Polizeiarbeit zu tun hatten, die man im Großen und Ganzen auf den Satz eindampfen konnte: Schikaniere schwarze und braune Menschen und überhaupt jeden, der die Demokraten gewählt hat.

Vielmehr war es Scotts Wunsch gewesen, eine persönliche Marionette im Büro des Sheriffs sitzen zu haben. Ein Sheriff, der nicht per se wegschauen würde, bei dem man aber im Zweifelsfall darauf zählen könnte, dass er beide Augen zudrückte. Und wer wäre eine bessere Marionette gewesen als der Sohn des früheren Sheriffs, ein Mann, der vor allem für drei Dinge bekannt war: das Aufmischen von Teenagern, die beim Knutschen am Fluss erwischt wurden, das Erpressen von Bargeld oder Gras bei Verkehrskontrollen und sogar eine Prügelei mit einer Ziege. Wenn man es fertigbrachte, dass Cooter auch nur leicht beschwipst war, konnte er einen unter anderem mit der Geschichte unterhalten, wie die Ziege ihm aus heiterem Himmel einen Kopfstoß verpasst hatte. Wie das bei Siegern so ist, kommentierte die Ziege die Auseinandersetzung nicht.

Als damals die Wahlergebnisse reingekommen waren, war Titus fast genauso schockiert wie Scott gewesen, und im vergangenen Jahr waren die beiden öfter aneinandergeraten, als Titus es bei einem County der Größe von Charon für nötig hielt. Zu einer echten Zäsur war es gekommen, als Titus Alan Cunningham verhaftete, Scotts Cousin und der Bauinspektor des Countys. Jamal Addison hatte Anzeige erstattet, weil Alan schwarzen Familien Baugenehmigungen für Brunnen ohne jeden Grund verweigert hatte. Titus hatte Nachforschungen angestellt und eine ziemlich plumpe Absprache zwischen Alan Cunningham und Reece Kanter, einem ortsansässigen Immobilienunternehmer aufgedeckt. Die beiden hatten sich zusammengetan, um schwarze Familien vom Häuserbau auf dem Stück Land abzuhalten, das Reece für ein neues Wohngebiet am Conyers’s Beach haben wollte. Alan hatte für jede Ablehnung Schmiergeld erhalten.

Scott war der Repräsentant des kollektiven Zorns der Cunningham-Familie gewesen. Aber er konnte nichts für seinen Cousin tun. Ob nun aus Arroganz oder Dummheit – Alan hatte eine papierene Spur belastender Unterlagen hinterlassen, der selbst Wrong Way Corrigan hätte folgen können.

Normalerweise machte es Titus keinen Spaß, Leute zu verhaften, aber Alan Cunningham Handschellen anzulegen war das Highlight seiner Woche und gleichzeitig der Tiefpunkt seiner Beziehung zu Scott gewesen.

»Und ich nicht Ihrer, Scott. Ich bin außerdem keiner Ihrer Schneider in der Fahnenfabrik oder Ihrer Krabbenpuler in der Fischfabrik. Meine Leute und ich werden uns um alles kümmern. Wenn Sie helfen wollen, machen Sie beim Gemeinderat Geld frei für die psychologische Betreuung all derer, die heute hier waren. Machen Sie Ihren Job, ich mache meinen«, sagte Titus. Er drehte Scott den Rücken zu und nahm Carla den Beweismittelbeutel ab.

An jedem anderen Tag hätte er keinen zweiten Gedanken an den permanenten Wer-hat-den-Längsten-Wettbewerb verschwendet, von dem Scott Cunningham überzeugt war, dass sie beide daran teilnahmen, aber an diesem Morgen waren Menschen gestorben. Ihre Körper waren noch warm, während ihr Blut auf den Stufen und den Wänden der Jefferson Davis High abkühlte. Männer wie Scott, Männer, die von ihrem Ego und ihrem Wunsch nach Dominanz in Hierarchien, die nur sie sehen konnten, verzehrt wurden, waren nicht einmal im Angesicht des Todes in der Lage, ihre kleinlichen Ambitionen beiseitezuschieben. Sie gierten nach Macht und Kontrolle in jedem ihnen möglichen Umfang und Ausmaß. Titus glaubte, dass Scott sogar den Job als Chef der Scheißeschaufler auf einer Güllefarm annehmen würde, wenn er dabei jemand anderem sagen konnte, was er zu tun hatte. Scotts kleinstädtische Großmannssucht wurde zu gleichen Teilen von Tradition und Selbstüberschätzung genährt. Die Cunninghams waren eine der größten Familien in einem County, in dem sie die beiden größten Firmen besaßen, die zugleich die größten Arbeitgeber waren. Nach den meisten Maßstäben hatten sie in Charon County das Sagen.

Mit einer Ausnahme.

Titus war der Sheriff, nicht sie, und ganz sicher würde er nicht ausgerechnet heute ihren feudalen Fantasien nachgeben.

»Falls Spearman sein Handy bei sich hat, stecken Sie’s auch in einen Beweismittelbeutel und bringen dann beide Handys mit ins Büro«, sagte Titus zu Carla. Carla war seine zweite Neueinstellung nach Davy. Sie war eine kleine, schlanke Frau mit einem blauen Gürtel in Ju-Jutsu und dem Traum, selbst zum FBI zu gehen. Davy war freundlich und loyal, während Carla klug und hartnäckig war. Irgendwann wäre Davy vielleicht selbst Sheriff. Und irgendwann führte Carla vielleicht irgendwo auf der anderen Seite des Landes Kartellmitglieder in Handschellen vor laufenden Kameras ab.

»Alles klar, Chef. Ich kümmere mich darum«, sagte Carla.

Sie zögerte einen Moment.

»Das hier wird noch übel, stimmt’s? Ich meine das mit den Schüssen. Die meisten Kids haben das draußen mitgefilmt. Ich … ich dachte, er wollte sich ergeben, und dann hat er einfach … es hat ausgesehen, als würde er auf uns losgehen. Ich meine, so hat’s doch ausgesehen, oder?«

»Im Moment müssen Sie nur dieses Handy sicherstellen. Um alles andere kümmern wir uns dann später«, sagte Titus. Carla nickte und ging, um Spearmans Taschen zu durchsuchen. Hinter seiner verspiegelten Sonnenbrille schloss Titus die Augen und fuhr mit der Zunge über seine Zähne, ohne den Mund zu öffnen. Wie lange würde es dauern, bis das Video von einem der Schüler oder Mitarbeiter der Schule viral ging? Einen Tag? Eine Stunde?

Bei der letzten öffentlichen Debatte vor der Wahl war ihm und Cooter Gelegenheit geboten worden, den Einwohnern von Charon County mit einer Schlusserklärung noch einmal ihre Positionen zu erläutern.

Titus war im höhlenartigen East Charon Ruritan Club ans Rednerpult getreten und hatte einen Teil seiner Schuldgefühle als persönliches Leitbild getarnt präsentiert: »George Orwell hat geschrieben, dass wir nur deshalb sicher in unseren Betten schlafen, weil harte Männer für uns bereitstehen, um Gewalt gegen jene auszuüben, die uns Leid zufügen wollen. Ich möchte ein Sheriff’s Department, das dafür sorgt, dass diese harten Männer nicht gegen jene Gewalt ausüben, die sie eigentlich schützen sollen. Ich bin hier geboren, habe hier meinen Highschool-Abschluss gemacht. Ich bin in der Fiddler’s Bay schwimmen gewesen, habe auf der Route 15 Autofahren gelernt. Hinter dem Watering Hole habe ich zum ersten Mal Alkohol getrunken. Charon ist mein Herz und mein Zuhause, aber ich weiß auch, dass diese harten Männer nicht immer überlegt mit ihrer Gewalt umgegangen sind. Ich glaube, das Mindeste, was ein Sheriff tun kann, ist, sicherzustellen, dass sich diese Männer an dieselben Regeln halten, die durchzusetzen sie geschworen haben. Denn wir alle wissen, dass das nicht immer der Fall war«, hatte Titus gesagt. Er hatte das für ein vergleichsweise eloquentes Schlussplädoyer gehalten, zumal Cooters Erklärung aus dumpfen Grunzern bestanden hatte, die sich anhörten, als versuche ein Bär die Worte Recht, Ordnung und Grenzkontrolle zu sagen, obwohl Charon zweitausend Meilen von Mexiko entfernt lag. Als Titus zu seinem Platz zurückkehrte, applaudierten zwar nur wenige, aber alle hatten zugehört.

Und jetzt hatten seine harten Männer Gewalt gegen Latrell Macdonald ausgeübt. Latrell hatte Gewalt gegen Jeff Spearman ausgeübt. Aber hätte das Ganze überhaupt einen anderen Ausgang haben können?

In Titus’ von Buße bestimmtem Verstand war das eine berechtigte Frage, aber er erkannte auch, dass sie verdammt naiv war. Wenn du eine Axt nimmst, wirst du einen Baum fällen. Wenn du eine Waffe in die Hand nimmst, wirst du, ob du nun einen Stern trägst oder nicht, irgendwann einen Menschen umlegen.

Titus wusste, dass diese Möglichkeit immer bestand. Durch den Algorithmus der Strafverfolgung war es sogar fast unvermeidlich. Das machte es allerdings nicht leichter, sich mit der Tatsache abzufinden, dass er die Macht über Leben und Tod besaß.

Als Jamal Addison ihm zum ersten Mal vorgeschlagen hatte, für das Amt des Sheriffs zu kandidieren, nachdem Emmet Thompson von Cooter Bennings angehalten und fast totgeschlagen worden war, war Titus zum Friedhof gegangen, um mit seiner Mutter darüber zu sprechen. Unter den traurigen Kiefern, die über dem Grab Wache hielten, hatte er sich geschworen, etwas zu verändern. Auch sich selbst. Er hatte gesehen, was sich so alles hinter der Thin Blue Line verbergen konnte, und es machte ihn krank. Fast so sehr wie das, was er getan hatte. Er hatte mit der Last eines Versprechens an einen Geist für das Amt des Sheriffs kandidiert.

Und nun hatten seine Deputys einen Mann getötet, dessen Verstand von heroininduzierten Fieberträumen und schwarz gebranntem Schnaps zusammengehalten worden war. Ein Mann, der gelitten hatte. Ein Mann, der seine Hilfe gebraucht hatte.

Titus ging zu seinem SUV hinüber und glitt hinters Lenkrad. Er ließ den Motor an und legte sofort den Gang ein. Eine Menge Papierkram wartete auf ihn, Anrufe mussten getätigt werden. Er musste Latrells Eltern verständigen. Das würde er persönlich erledigen. Das konnte er an niemanden delegieren. Er hoffte bei Gott, dass er zu Calvin und Dorothy kam, bevor sie die Nachrichten im Internet sahen oder, schlimmer noch, jemand sie anrief.

Er würde in Erfahrung bringen müssen, wen er wegen Spearman verständigen musste. Die Schule würde selbstverständlich für heute und wahrscheinlich auch für den Rest der Woche geschlossen bleiben. Das Blut musste erst von den Wänden und der Treppe geschrubbt werden.

Der Bleichmittel-Exorzismus würde zwar das Blut wegwaschen, aber kaum Wirkung auf das Bewusstsein all jener haben, die an diesem Morgen durch die Flure gelaufen waren. Er würde Roger und Tom vorerst in den Innendienst versetzen müssen. Hunderte von Einzelteilen würden nun ineinandergreifen müssen wie verrostete Zahnräder eines alten Motors, und jedes davon konnte ihn an seinen empfindlichsten Stellen verletzen. Aber das war nicht das Einzige, was ihm durch den Kopf ging.

Er wollte wissen, was sich auf Jeff Spearmans Handy befand.

VIER

Als er ins Revier zurückkehrte, brannte sich die Nachricht von der Schießerei bereits durch das County wie ein Funke durch ein Pulverfass. Titus hörte Cam an seinem Schreibtisch Anruf um Anruf beantworten. Kaum hatte er aufgelegt, klingelte es schon wieder, und er antwortete jeweils mit dem allgemein gehaltenen Text, den Titus ihm für Ereignisse mit vielen Verletzten aufgetragen hatte.

»Ja, es hat einen Zwischenfall in der Highschool gegeben. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt können wir keine weiteren Informationen herausgeben. Der Sheriff wird so bald wie möglich einen aktuellen Lagebericht präsentieren«, sagte Cam mit seiner krächzenden, rauen Stimme wieder und wieder.

Titus deutete auf sein Ohr, dann auf Cam. Cam zog das Headset vom Kopf und wischte sich eine Strähne seiner dunkelblonden Haare aus den Augen.

»Mein Neffe?«, war alles, was er sagte. Die Worte klangen abgehackt und schroff, fast als bereite Cam sich bereits darauf vor, von dem Jungen in der Vergangenheitsform zu sprechen.

»Ihm geht’s gut. Außer dem Täter selbst gab es nur ein Todesopfer«, sagte Titus.

Cam lehnte sich in seinem Rollstuhl zurück und schloss die Augen. Erleichterung, dieses unersättliche, egoistische Gefühl, überzog sein ganzes Gesicht.

»Die Leitungen laufen heiß. Ich krieg’s kaum noch gebacken. Vielleicht sollten wir auf der Notrufleitung eine Ansage zu der Schießerei aufnehmen? Das würde uns sehr entlasten«, schlug er vor.

»Gute Idee. Werde ich sofort machen«, sagte Titus.

»Was … was, äh, ist da draußen denn passiert?«, fragte Cam. Er hatte das Headset wieder aufgesetzt und eine Flasche Wasser geöffnet.

»Kennen Sie Calvin Macdonald? Sein Sohn Latrell hat Jeff Spearman mit einer .30-30er erschossen. Dann haben Roger und Tom Latrell erschossen«, sagte Titus. Er erklärte nicht, wie er versucht hatte, Latrell zu entwaffnen, oder dass Roger und Tom seiner Meinung nach eine halbe Sekunde zu schnell abgedrückt hatten.

»Jesus H. Christ. Mr. Spearman war der netteste Lehrer, den ich je hatte. Er hat mich nach dem Basketballtraining immer nach Hause gefahren. Meine Eltern hatten nur ein Auto, und mit dem war mein Dad meistens zur Nachtschicht bei R&J. Scheiße, Mann. Wissen wir schon, warum?«, fragte Cam. Bevor Titus antworten konnte, kam der nächste Anruf.