Der Luna-Effekt - Lincoln Child - E-Book
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Der Luna-Effekt E-Book

Lincoln Child

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Beschreibung

Eine bestialische Mordserie. Ein geheimes Labor tief im Wald. Und die dunkle Kraft des Mondes. Ein scharrendes Geräusch, ein fauliger Geruch. Das ist das Letzte, was David Palmer wahrnimmt, ehe er stirbt. Kurz darauf wird die Leiche des Wanderers am Fuß des Desolation Mountain aufgefunden, abgelegt in einer Vollmondacht und bis zur Unkenntlichkeit zerfleischt. Wie der Enigmatologe Jeremy Logan erfährt, ist Palmer nicht der erste Tourist, der in den dunklen Wäldern des Adirondacks Nationalparks auf mysteriöse Weise ums Leben kam. Für die Einheimischen liegt auf der Hand, wer für die Morde verantwortlich ist: Die sonderbare Blakeney-Familie, um die sich seit Jahren Gerüchte ranken. Von dunklen Ritualen ist die Rede, von verdorbenem Blut - und von Werwölfen. Aber dann entdeckt Logan ein Labor mitten im Wald. Und stößt auf ein Geheimnis, das ebenso unglaublich wie gefährlich ist…

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Seitenzahl: 315

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Lincoln Child

Der Luna-Effekt

Thriller

Aus dem Englischen von Axel Merz

Über dieses Buch

Eine abgeschiedene Hütte in den atemberaubenden Wäldern des Adirondack Nationalparks: Für den Enigmatologen Jeremy Logan der ideale Ort, um endlich in Ruhe zu schreiben. Aber dann wird die Leiche eines Wanderers aufgefunden, so grausam zerfleischt, dass die Polizei zunächst an den Angriff eines wilden Tieres glaubt. Doch Logan kommen Zweifel. Es ist bereits der zweite Tote, der so brutal zugerichtet am Fuße des Desolation Mountain abgelegt wurde. Und warum geschehen die Morde immer bei Vollmond?

Für die Einheimischen liegt auf der Hand, wer für die Todesfälle verantwortlich ist. Der Blakeney-Clan lebt seit Jahrhunderten in der Gegend, und ebenso lange ranken sich Gerüchte um die sonderbare Familie. Von dunklen Ritualen ist die Rede, von verdorbenem Blut, und sogar von Werwölfen. Aber dann entdeckt Logan ein geheimes Labor mitten in der Wildnis. Hier untersucht die junge Wissenschaftlerin Laura Feverbridge den «Luna-Effekt»: die Auswirkungen des Mondes auf die Psyche von Mensch und Tier. Mit unvorhersehbaren Folgen …

Vita

Lincoln Child studierte Literatur und arbeitete viele Jahre als Lektor bei St. Martin’s Press. Gemeinsam mit seinem Freund Douglas Preston schrieb er mehrere Romane, die ein Millionenpublikum begeisterten. Auch mit seinen Soloprojekten «Wächter der Tiefe», «Nullpunkt», «Hüter des Todes» und «Frequenz» feierte Child große Erfolge. Er lebt mit Frau und Tochter in New Jersey.

Für Veronica

1

Um halb acht am Abend machte Palmer eine Pause, um noch einmal etwas zu essen – selbstgemischtes Studentenfutter und einen Energieriegel aus der Außentasche seines Rucksacks. Stunden zuvor hatte er sich geschworen, sich erst dann ein richtiges Abendessen zu gönnen – heiß und dampfend aus seinem Titangeschirr –, wenn er einen geeigneten Platz gefunden hatte, wo er sein Zelt für die Nacht aufschlagen konnte.

Langsam blickte er sich um, während er den Energieriegel kaute. Er hatte gewusst, dass es eine gemeine Schinderei werden würde. Eigentlich glaubte er, die Gegend gut zu kennen, doch mit einem Gewaltmarsch hatte er nicht gerechnet. Vermutlich sind diese ganzen Geschichten doch wahr, dachte er säuerlich.

Es war das zweite Wochenende im Juli, und die Sonne versank gerade im Westen hinter dem Horizont – trotzdem konnte er, vielleicht sechs Kilometer weiter nördlich, den Desolation Mountain ausmachen.

Ganz allein ragte der Berg auf, an seinem Fuß ein See wie ein blauschwarzer Spiegel, und seine grünen Flanken grüßten herüber, als wollte er Palmer verhöhnen. Sechs Kilometer … doch in dieser Landschaft hätten es ebenso gut sechzig sein können.

«Scheiße», murmelte Palmer, steckte die Verpackung des Energieriegels in die Hosentasche und machte sich wieder auf den Weg.

Der Desolation Mountain war ein wegloser Gipfel, etwa 975 Meter hoch und damit nicht hoch genug, um zu den sechsundvierzig High Peaks, den hohen Bergen der Adirondacks, zu zählen. Trotzdem war er wegen des steilen, weglosen Aufstiegs und der Entfernung von den übrigen Gipfeln eine Kerbe im Gürtel wert. Was ihn jedoch für den harten Kern der Backpacker, Bergwanderer und Liebhaber der Adirondacks so attraktiv machte, war seine abgelegene Lage in der Gegend um den Desolation Lake und westlich der Five Ponds Wilderness, im wohl wildesten und einsamsten Gebiet des gesamten fünfundzwanzigtausend Quadratkilometer großen Nationalparks.

Abgelegenheit machte David Palmer nicht das Geringste aus. Er liebte nichts mehr, als in die Wildnis einzutauchen und tagelang keinem Menschen zu begegnen. Es war der Anmarsch zum Berg, der sich als unerwartet tückisch erwies.

Zunächst hatte es gar nicht so schlimm ausgesehen. Palmer hatte seinen SUV am Ausgangspunkt des Baldwin-Mountain-Wanderwegs unter Bäumen abgestellt und war acht Kilometer weit bis zum Ende eines privaten Forstwegs gewandert. Anschließend war er lange durch einen uralten Wald gegangen, wo die Bäume so hoch und dicht waren, dass unter ihnen stets Dämmerlicht herrschte und der Waldboden weich und vollkommen frei von Unterholz und Schößlingen war.

Aber als Palmer die Five Ponds Wilderness und damit den Wald hinter sich gelassen hatte und sich an den letzten Teil des Weges zum Desolation Lake machte, war es mit dem schnellen, leichten Dahinschreiten unvermutet vorbei gewesen. Seit Stunden kam er nur noch im Schneckentempo voran. Die Landschaft war eine karge, hässliche, unwegsame Wildnis, ein Labyrinth aus Gletschersümpfen, Windbrüchen und Toteis-Seen, das ihn zwang, auf jeden einzelnen Schritt zu achten. Es gab keinen Pfad, nicht einmal einen Wildwechsel, und wegen der zahlreichen kreuz und quer verlaufenden Schluchten musste er immer wieder stehen bleiben und seinen Garmin-GPS-Empfänger konsultieren. Mehr als einmal war er auf trügerischen, unter dichten Moosen und Flechten kaum erkennbaren Felsplatten ausgerutscht. Gott sei Dank hatte er sich für die schweren Bergstiefel entschieden, sonst hätte er sich womöglich schon längst einen Knöchel verstaucht oder Schlimmeres.

Einen halben Kilometer weiter blieb er erneut stehen. Ein Felssturz versperrte ihm den Weg, die Stelle war zu eng, um sich mit dem schweren Rucksack auf dem Rücken hindurchzuquetschen. Leise fluchend streifte Palmer den Rucksack ab, suchte die weiteste Passage zwischen den Felsbrocken, schob den Rucksack hindurch und sich selbst hinterher. Die trockenen Enden von Zweigen und Ästen zerkratzten ihm das Gesicht und bohrten sich in Hose und Ärmel.

Auf der anderen Seite des Felssturzes setzte er den Rucksack wieder auf und achtete darauf, dass die Riemen eng anlagen. So spät am Tag wurde jeder Rucksack schwer, und Palmer wollte sichergehen, dass der Inhalt nicht verrutschte.

Er nahm sich ausreichend Zeit und drehte die Schultern hierhin und dorthin, bis die schwere Last richtig verteilt war. Die Mehrheit der Wanderer benutzte dieser Tage Rucksäcke mit eingearbeiteter Stabilisierung, doch Palmer zog seinen Kelty Tioga mit externem Tragegestell vor. Er wanderte meistens mit schwerem Gepäck, und Tragegestelle waren nicht nur leichter zu packen, sondern boten auch mehr Tragekomfort und Balance.

Die Sonne war inzwischen untergegangen, und die Landschaft versank von Minute zu Minute tiefer in der Dunkelheit. Für Palmer sah es aus, als würde ein Gott langsam an einem Dimmer drehen. Dann stieg ein voller Mond in den schwarzen Nachthimmel auf und verlieh der Landschaft eine merkwürdig fleckige, beinahe spektrale Lumineszenz. Palmer wollte sich nicht allein auf das Mondlicht verlassen, denn es machte Unebenheiten unkenntlich und verbarg Löcher und Furchen – er hatte auf die harte Tour gelernt, nicht auf sein Glück zu vertrauen. Daher griff er nach der Taschenlampe an seinem Gürtel, löste den Clip und schaltete sie ein.

Inzwischen war es nach neun. Als er seinen Weg fortsetzte, überschlug er im Geiste, wie schnell er vorangekommen war, und stellte fest, dass es zuletzt nicht viel mehr als ein Kilometer pro Stunde gewesen war. Natürlich könnte er bis zum Desolation Lake weiterlaufen und sein Zelt am Ufer des Sees aufschlagen. Doch er würde frühestens um Mitternacht dort ankommen, und dann wäre er zu erschöpft, um am nächsten Tag noch Freude am Aufstieg zu haben. Nein, es musste doch einen Platz geben, irgendeinen Platz in dieser gottverlassenen Wildnis, der so flach und frei von Gestrüpp war, dass er das Zelt und sein Kochgeschirr aufbauen konnte. Eine heiße Mahlzeit und ein weicher Schlafsack, das kam ihm inzwischen beinahe wie unerreichbarer Luxus vor.

Während er sich umsichtig seinen Weg suchte und mit der Taschenlampe hierhin und dorthin leuchtete, wünschte er sich nicht zum ersten Mal an diesem Tag zurück in die Region der High Peaks. Zugegeben, die Wege dort waren manchmal so breit wie Highways, und ständig traf man auf andere Wanderer, doch wenigstens hatte man dort einen richtigen Wald um sich herum mit Lichtungen und Wiesen und nicht dieses unwirtliche Durcheinander von …

Neben einem dichten Gestrüpp aus Schneeballbüschen hielt er unvermittelt inne. Er war so sehr in Gedanken vertieft und damit beschäftigt gewesen, auf den Untergrund vor sich zu achten, dass ihm der eigenartige Geruch, der mit einem Mal in der Luft hing, zunächst gar nicht aufgefallen war. Palmer schnupperte. Der Geruch war schwach, aber deutlich erkennbar: ein wenig säuerlich, ein wenig nach Moschus, nicht wie von einem Stinktier, jedoch definitiv unangenehm.

Palmer beleuchtete mit der Taschenlampe die nähere Umgebung, doch da war nichts. Er zuckte die Schultern und setzte den Weg fort.

Der Mond stieg höher und tauchte den Desolation Mountain in silbriges Licht. Noch knapp fünf Kilometer. Verdammt, vielleicht sollte er doch versuchen, sich durch das Gestrüpp hindurch den Weg zum See zu bahnen. Andererseits musste er auch an den Rückweg denken, und er musste …

Da war er wieder, dieser eigenartige, unangenehme Geruch. Stärker jetzt, noch fauliger. Ranzig und animalisch.

Wieder blieb Palmer stehen und suchte mit seiner Taschenlampe die Umgebung ab. Ein nervöses Kribbeln stieg in ihm auf. Der Lichtkegel glitt über Schößlinge und ein Gewirr aus herabgefallenen Zweigen und Ästen und ließ mit seiner Helligkeit alles außerhalb pechschwarz wirken.

Palmer schüttelte den Kopf. Die unheimliche Einsamkeit dieser Gegend zerrte an den Nerven. Den ganzen Tag über hatte er bis auf einen einzelnen Waschbären und zwei junge Füchse kaum ein Tier gesehen. Und das war noch im Wald gewesen, der nun weit hinter ihm lag. Kein Tier, das größer als eine Maus und noch ganz bei Trost war, würde in dieser öden Umgebung sein Revier einrichten.

Die frustrierende Schinderei würde früher oder später zu Ende sein, und sobald er sich erst den Bauch mit heißem Chili vollgeschlagen, seine Luftmatratze aufgeblasen und den Schlafsack ausgerollt hatte, würde er …

Da war der Geruch wieder, stärker als zuvor, und mit ihm kam diesmal ein Geräusch – ein tiefer, gutturaler Laut, halb Grunzen, halb Knurren. Es klang wütend. Wütend und … hungrig.

Ohne einen Moment zu zögern, rannte Palmer los, so schnell es der schwere Rucksack erlaubte. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe hüpfte in wilden Bögen vorneweg, während er keuchend und mit brennenden Lungen über umgestürzte Baumstämme und Toteis-Kessel sprang und das Grunzen und Knurren hinter ihm lauter und lauter wurde.

Da verfing sich sein Fuß in einer frei liegenden Wurzel, und er stürzte schwer. Ein enormes Gewicht, das nichts mit seinem Rucksack zu tun hatte, drückte ihn plötzlich zu Boden, und ein furchtbarer, reißender Schmerz, mit nichts vergleichbar, was er je erlebt hatte, fuhr ihm über Gesicht und Hals, während der Gestank wie eine Welle über ihm zusammenschlug. Eine weitere Explosion von Schmerz, noch eine … und dann wurde alles rot, ehe ihn die Schwärze mit sich riss.

2

Drei Monate später

Die Route führte ihn aus den Vororten von New Haven heraus nach Norden in Richtung Waterbury, dann westlich entlang der kurvenreichen I-84 und über die Grenze des Staates New York, bis sie hinter der Newburgh Beacon Bridge die I-87 querte, den New York Thruway. Von hier aus verlief sie in einem direkten Bogen nach Norden, bis zur Linken nach und nach die niedrigen, dichtbewaldeten Gipfel der Catskills sichtbar wurden. Der Verkehr an diesem Freitagnachmittag verdichtete sich, als er sich Albany näherte. Hinter Glens Falls, wo die Sattelschlepper und Tieflader abbogen, die Trailer und Formel-1-Rennwagen nach Watkins Glen brachten, war dann wieder weniger los. Am Lake George, der selbst um diese späte Jahreszeit noch Touristen und Wochenendausflügler anzog, ließ der Verkehr noch mehr nach.

Am ersten Rastplatz hinter dem Lake George öffnete Jeremy Logan das Dach seines alten Lotus Elan, obwohl sich der Nachmittag bereits dem Ende näherte und die Temperaturen nur um die sechzehn Grad lagen.

Es war fünfzehn Jahre her, seit er diese Reise zum letzten Mal unternommen hatte, doch diesen Abschnitt der Strecke hatte er immer am meisten gemocht, und er war entschlossen, ihn auch diesmal zu genießen. Mit jeder Stadt, durch die er kam – Pottersville, Schroon Lake, North Hudson –, waren weniger Autos unterwegs, und die Berge ringsum schienen weiter in die Höhe zu wachsen. Die dunkle Masse der Adirondacks ragte stolz und mächtig in den Himmel, gekleidet in Oktoberfarben – Grün, Rostbraun und Gold –, und ließ die Catskills, die er keine drei Stunden zuvor durchquert hatte, lächerlich niedrig erscheinen. Die Luft, die an seiner Windschutzscheibe vorbeirauschte, war herrlich kühl und duftete nach Tannen. Die untergehende Sonne vergoldete die kahlen Gipfel der Berge, während die Täler und Einschnitte dazwischen – dicht bewachsen mit Fichten, Birken und Buchen – noch dunkler und geheimnisvoller wirkten.

Der Northway, wie dieser Abschnitt der I-87 auch genannt wurde, war immer noch so rissig und mit Asphaltflicken übersät, wie Logan ihn in Erinnerung hatte. Mit ein wenig Phantasie konnte er vor sich sehen, wie er das letzte Mal diese Strecke gefahren war, John Coltrane und Bill Evans leise, kaum hörbar im Radio und Karen, seine Frau, auf dem Beifahrersitz. Der Anblick der immer höher aufragenden Berge beim Nachleuchten des Sonnenuntergangs und dem raschen Heraufziehen der Nacht, das fast jedes Mal mit dem letzten Abschnitt der sechsstündigen Fahrt von Connecticut zusammenfiel, hatte etwas an sich, was den Puls beschleunigte und Lust auf Abenteuer wachrief.

Logan hatte sich nie viel aus der freien Natur gemacht – er war als junger Mann ein passabler Fliegenfischer gewesen, weil er bei einem Vater in die Schule ging, der von diesem Sport wie besessen war, und schaffte achtzehn Loch beim Golf üblicherweise mit einem weniger als dreistelligen Ergebnis. Für Jogging oder Marathonläufe fehlte es ihm an Geduld, derartige Aktivitäten fand er so lähmend stumpfsinnig wie das Laufrad eines Hamsters. Doch an einem langen Wochenende zu Beginn seiner Ehe hatte ein anderes Paar, beide Assistenzprofessoren an der Yale University und Mitglieder im AMC, dem Appalachian Mountain Club, ihn und Kit zu einer gemeinsamen Bergtour auf den Whiteface Mountain nördlich von Lake Placid überredet. Logan hatte trotz Vorbehalten zugestimmt – und war zu seiner eigenen Überraschung begeistert gewesen von diesem Mini-Urlaub. Einen Berg hinaufzuwandern hatte etwas zutiefst Befriedigendes – die Auswahl der Route, das Suchen der Wegmarkierungen, die Abfolge der Klimazonen im Verlauf des Aufstiegs, das Zögern vor den wirklich steilen Abschnitten … und dann schließlich das Durchbrechen der Baumgrenze, während man den mäandernden Geröllpfaden zum eigentlichen Gipfel folgte. Nicht nur, dass der Ausblick atemberaubend war, das Erobern eines Gipfels hatte ihn auch auf eine unbeschreibliche Art bereichert. Nein, das war nicht ganz richtig, denn diese Berge konnten nicht «erobert» oder gar gezähmt werden – es war vielmehr, als ob man zu einer Vereinbarung, zu einem stillen Einverständnis mit ihnen gelänge. Eine tiefe Befriedigung, wie man sie auf einem Laufband niemals erleben konnte. Nach der Tour auf den Whiteface waren Logan und seine Frau immer wieder in die Berge zurückgekehrt, Jahr für Jahr, und zu bescheidenen «Gipfelsammlern» geworden: der Algonquin, der Cascade, der Porter, der Giant und natürlich der Mount Marcy – mit 1630 Metern der höchste Berg im gesamten Staat New York.

Dann hatten ihre Berufe – seiner als ordentlicher Professor für Geschichte und ihrer als Cellistin – ihre Zeit immer mehr in Anspruch genommen, und was sie an gemeinsamem Urlaub hatten, verbrachten sie auf Auslandsreisen, wo Logan seine Forschungen ergänzte, oder in Tanglewood, wenn Karen auf dem dortigen Musikfestival spielte. Die langen Wochenenden in den High Peaks blieben auf der Strecke, genau wie nun der Northway, den er im Rückspiegel sah.

In Underwood bog er von der Interstate ab auf die NY73 und folgte dem Verlauf der Straße durch dichte Wälder und vorbei an schäumenden Bächen, die in steinige Schluchten hinabstürzten. Er durchquerte Keene Valley und die Stadt Keene, bevor er Lake Placid im Westen passierte und gleich danach Saranac Lake. Die Städte waren ein wenig größer, als er sie in Erinnerung hatte, die Siedlungen an den Rändern erstreckten sich weiter in den Wald hinein als früher, doch die Veränderungen waren nur geringfügig, und er fühlte sich trotz allem unwiderstehlich an vergangene Touren erinnert.

«Es ist fast wie früher, Kit», sagte er laut beim Fahren. «Wie bei unserer letzten Tour, als wir auf den Skylight gestiegen sind und uns im Nebel beinahe verlaufen hätten.»

Er führte häufig Gespräche mit seiner Frau, die vor mehr als fünf Jahren an Krebs gestorben war. Natürlich nur, wenn er allein war – abgesehen von Kit –, und doch war die Unterhaltung weniger einseitig, als man das vielleicht erwartet hätte.

Bei Saranac Lake bog er nach links auf die Route 3 in Richtung Tupper Lake ab. Jetzt kamen ihm nur noch gelegentlich Fahrzeuge entgegen, ihre Scheinwerfer flimmerten in der feuchten Luft. Mit diesem Teil des Parks war er nicht so vertraut, daher fuhr er vorsichtiger, nachdem sich schwarze Dunkelheit herabgesenkt hatte. Acht oder neun Kilometer weiter erfasste der Lichtkegel seiner Scheinwerfer ein breites offenes Tor, eingeschnitten in das dichte Unterholz des Waldes zu seiner Rechten. Es gab kein Schild über oder neben dem Tor, lediglich eine große Metallplakette mit einer Kumuluswolke über einer gekräuselten Wasserfläche.

Er bog in die Einfahrt und folgte für vielleicht fünf Kilometer einer holprigen, ausgefahrenen Piste, bis sich der Wald vor ihm unvermittelt öffnete und ein großes dreistöckiges Gebäude aus Feldsteinen und dunkelbraunem Holz in den Blick kam. Mit seinem großen, an allen Ecken bis fast zum Boden überstehenden Schindeldach erinnerte es an ein Schweizer Chalet. Balkone mit Geländern aus geflochtenen Zweigen zogen sich am ersten und zweiten Stockwerk entlang, und aus den Reihen der großen, rot gerahmten Fenster schimmerte das warme, freundliche Licht von Kaminfeuern und Lampen.

Das war Cloudwater, Logans Reiseziel. Das Resort hatte nicht immer so geheißen. Vor sechzig Jahren war es als Rainshadow Lounge bekannt gewesen. Es war eines der «Great Camps», die gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts an abgelegenen Seen im Norden des Staates New York und in den New-England-Staaten als Sommerresidenzen für die ganz Reichen erbaut worden waren. Die Rainshadow Lounge, errichtet im typisch rustikalen Adirondack-Stil und mit einem riesigen Bootshaus mit Kuppeldach am Rainshadow Lake, war das berühmteste und grandioseste von allen gewesen.

All das hatte sich im Jahre 1954 geändert, inzwischen war Cloudwater weit mehr als ein ländlicher Sommerspielplatz für eine der wohlhabendsten Familien Manhattans. Und Logan war den weiten Weg von seinem Haus in Connecticut bis hierher gefahren, um diese neue Funktion in vollem Maße auszuschöpfen.

Er folgte der halbkreisförmigen Auffahrt bis unmittelbar vor das Haus, stellte den Wagen ab, stieg die ausgetretenen und unglaublich breiten Stufen hinauf und ging an Reihen weiß gestrichener Adirondack-Sessel vorbei in die Lobby. Das Foyer war warm und einladend, mit indirekter Beleuchtung und erfüllt von einer weichen, goldenen, leicht dunstigen Atmosphäre, die nach Holzrauch duftete. Logan hatte die merkwürdig angenehme Empfindung, wie eine Fliege im Bernstein zu versinken.

Ein Empfangsschalter aus zimtbraunem Holz, der von etwa fünfzig Schichten Lack glänzte, befand sich vor ihm. Als er näher trat, blickte eine Frau mittleren Alters hinter dem Schalter freundlich lächelnd auf.

«Mein Name ist Jeremy Logan», stellte er sich vor. «Ich hatte reserviert.»

«Einen Moment bitte.» Die Frau konsultierte einen Tablet-Computer, der unterhalb der Tischplatte lag, als wäre er ein Anachronismus, den man verstecken musste. «Ah, richtig. Dr. Logan. Sie haben für sechs Wochen gebucht.»

«Das stimmt.»

«Sehr schön.» Sie studierte das Tablet noch einige Sekunden länger. «Dr. Jeremy Logan?» Sie sah plötzlich auf, und in ihren Augen war zu lesen, dass sie ihn erkannt hatte. «Aber hier steht, Sie sind Historiker?»

«Ich bin Historiker. Unter anderem.»

Die Frau zögerte, nickte dann und wandte sich erneut dem Tablet-Computer zu. «Ich sehe, Ihnen wurde die Thomas-Cole-Hütte zugewiesen. Von Mr. Hartshorn persönlich. Diese Hütte ist üblicherweise für Musiker oder bildende Künstler reserviert – Schriftsteller erhalten gewöhnlich Räume im Hauptgebäude der Anlage.»

«Ich werde ihm meinen Dank aussprechen.»

«Ihr Haus liegt gleich hinter dem Bootshaus, keine zwei Minuten zu Fuß. Wenn Sie möchten, zeige ich es Ihnen, und dann können Sie Ihren Wagen auf dem zugewiesenen Parkplatz abstellen und Ihr Gepäck holen.»

«Danke, das wäre sehr freundlich von Ihnen.»

Sie drehte sich um, öffnete einen Holzschrank und nahm einen großen Schlüssel von einem Messinghaken. Dann sperrte sie den Schrank wieder zu und lächelte Logan an. Draußen führte sie ihn über den gekiesten Platz vor dem Haus zu einem Pfad zwischen den Bäumen, der von kleinen Laternen im Tiffany-Stil flankiert wurde. Der Duft der Kiefern war überwältigend. Alle zwanzig Meter ging ein Weg nach rechts oder links ab, markiert von kleinen holzgeschnitzten Schildern an niedrigen Pfosten: Albert Bierstadt, Thomas Moran, William Hart.

Kurze Zeit später bogen sie an einem Schild ab, auf dem Thomas Cole stand. Direkt vor ihnen, halb versteckt unter Bäumen, stand ein zweigeschossiges Blockhaus, trotz seines rustikalen Charmes mit seiner Fassade aus geschälten Baumstämmen und dem Fundament aus Granitsteinen offensichtlich ein moderner Bau.

Die Frau übergab Logan den Schlüssel. «Ich denke, Sie finden im Haus alles, was Sie brauchen.» Sie sah auf ihre Uhr. «Es ist fast acht. Die Küche schließt um neun. Sie sollten sich mit dem Auspacken beeilen, falls Sie noch essen möchten.»

«Danke sehr», sagte Logan.

Sie lächelte ein weiteres Mal, dann wandte sie sich ab und ging den Weg wieder zurück.

Logan stieg die Stufen hinauf, sperrte die Tür auf und trat ein. Er betätigte die Reihe von Schaltern gleich neben dem Eingang, und das Licht ging an. Rasch sah er sich um: weiße Dielenböden, altertümliche Teppiche, ein moderner Schreibtisch mit Stühlen von Herman Miller Aeron, Einbauschränke aus Mahagoni, ein mächtiger Kamin aus Feldsteinen sowie eine frei stehende Wendeltreppe, die nach oben zu einem Schlafzimmer oder Loft führte. Durch eine Tür auf der anderen Seite des Raums erspähte er eine Küche, vollständig eingerichtet mit Mikrowelle, Ceran-Herd und einem Weinkühlschrank. Es war eine gleichermaßen geschmackvolle wie funktionelle Mischung aus Alt und Neu.

Als er sich im Zimmer umdrehte, gestattete er sich ein leises, zufriedenes Seufzen. «Kit, ich denke, das ist genau das Richtige», sagte er zu seiner Frau. «Ich habe mir sechs Wochen gegeben. Wenn ich es hier nicht fertigschreibe, dann schaffe ich es wohl nie.»

Er ließ das Licht brennen und ging, um sein Gepäck aus dem Wagen zu holen.

3

Zwanzig Minuten später verließ Logan sein Blockhaus und kehrte zum Hauptgebäude zurück. Die kleinen Lampen entlang des Weges sahen aus wie Feenlichter. Er verließ den Wald und trat hinaus auf die weitläufige freie Rasenfläche, in deren Mitte das Haupthaus stand. Er blieb stehen, um es ein weiteres Mal zu bewundern. Das Gefühl von Optimismus, das ihn erfasst hatte, als er sein Blockhaus in Augenschein genommen hatte, verstärkte sich.

Cloudwater bezeichnete sich selbst als Künstlerkolonie. Mitten im Adirondack State Park gelegen, wohnten hier mehrere Dutzend Maler, Schriftsteller und Musiker, um ein oder zwei Monate lang an ihren jeweiligen Projekten zu arbeiten, sei es ein Gemälde, ein Roman oder ein Musikstück. Jeder hatte sein eigenes Zimmer in dem großen Haupthaus oder – im Fall von Musikern oder bildenden Künstlern – in einem der abgeschiedenen Blockhäuser, die über das dichtbewaldete Gelände verteilt lagen. Es war keine Ferienanlage – die Menschen, die hierherkamen, kamen zum Arbeiten, und es gab Regeln, um dafür zu sorgen, dass es auch so blieb. Angeboten wurden weder eine Cocktailstunde noch sonstige Aktivitäten, abgesehen von dem einen oder anderen Vortrag nach dem Abendessen oder den anspruchsvollen Filmen, die samstagabends gezeigt wurden. Besuche in den Blockhäusern waren nur auf Einladung möglich. Das Mittagessen wurde einzeln eingenommen, entweder auf dem Zimmer oder im Haus, während Frühstück und Abendessen im Speisesaal serviert wurden.

Logan stieg die Stufen hinauf und betrat das Gebäude. In Zweier- oder Dreiergruppen spazierten Leute durch das große Foyer und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen.

Die Decke der Eingangshalle wurde von mächtigen geschwungenen Balken getragen, die von den Seiten des Raumes paarweise anstiegen. Logan kam sich vor wie im Bauch eines gekenterten Schiffes. In der Mitte der Decke, wo sich die Balken trafen, befand sich eine kunstvolle Schnitzerei. Köpfe von Bären, Hirschen und Elchen, dem Aussehen nach viele Jahrzehnte alt, hingen an den Wänden, neben Plaketten mit ausgestopften Preisfischen, alten Fotografien des Parks und Gemälden aus der Hudson-River-Schule.

Logan sprach eine Gruppe Gäste an und erkundigte sich nach dem Weg zum Speisesaal. Er wollte schon weitergehen, als hinter ihm eine fragende Stimme erklang: «Dr. Logan?»

Logan drehte sich um und erblickte einen großen, stämmigen Mann Anfang siebzig mit rotem Gesicht und einer schneeweißen Löwenmähne. Er lächelte und streckte Logan die Hand entgegen. «Ich bin Greg Hartshorn.»

Logan schüttelte ihm die Hand. «Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Sir.»

Natürlich hatte er bereits von Gregory Hartshorn gehört. Hartshorn war ein bekannter Maler aus der Schule der lyrischen Abstraktion gewesen. Mitte der 1960er Jahre hatte er in New York eine eigene Galerie gegründet und mit dem Verkauf seiner eigenen Bilder und der Gemälde anderer Künstler ein Vermögen gemacht. Dreißig Jahre später hatte er die Malerei an den Nagel gehängt und war Direktor von Cloudwater geworden.

«Ich bin gerade auf dem Weg zum Essen», sagte Logan.

«Ich bin sicher, Sie werden es ausgezeichnet finden. Hätten Sie vorher vielleicht ein oder zwei Minuten Zeit für mich?»

Ohne auf eine Antwort zu warten, führte Hartshorn seinen neuen Gast durch die Lobby und durch eine Tür ohne Namensschild in ein gemütliches Büro, dessen Wände mit Skizzen, Aquarellen und Holzschnitten übersät waren – darunter nicht ein einziges von Hartshorns eigenen Werken, wie Logan bemerkte.

«Machen Sie es sich bequem, Dr. Logan», sagte Hartshorn und deutete auf ein Sofa neben einem mit Papieren übersäten Schreibtisch.

«Haben Sie die Malerei endgültig aufgegeben?», fragte Logan mit einem Nicken in Richtung der mit Kunstwerken bedeckten Wände.

Hartshorn kicherte. «Ich mache gelegentlich noch die eine oder andere Studie. Aber sie werden irgendwie nie fertig. Es ist erstaunlich, wie viel Verwaltungsarbeit ein Ort wie Cloudwater verursacht.»

Logan nickte. Er hatte eine Ahnung, warum Hartshorn ihn um ein Gespräch gebeten hatte, doch er wollte abwarten, bis der Direktor selbst auf das Thema zu sprechen kam.

Hartshorn nahm hinter dem Schreibtisch Platz, legte die Hände auf die zerschrammte Holzoberfläche, verschränkte die Finger und beugte sich vor. «Ich will es kurz machen, Jeremy – ich darf doch Jeremy sagen?»

«Bitte.»

«Ich weiß, Ihr Lebenslauf besagt, dass Sie Professor für Geschichte an der Yale sind. Ich weiß auch, dass Sie sich hier als Historiker angemeldet haben. Allerdings … In den vergangenen Jahren sind Sie wegen einer, wie soll ich es nennen, aufsehenerregenderen Art von Forschung berühmt geworden.»

Logan schwieg.

«Ich will nicht neugierig erscheinen, bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich habe mich gefragt, wie Sie Ihre Zeit hier in Cloudwater zu verbringen gedenken.»

«Sie meinen, ob ich vorhabe, mich mit irgendetwas Aufsehenerregendem zu beschäftigen?»

Hartshorn lachte ein wenig verlegen. «Offen gestanden, ja. Wie Sie wissen, ist Cloudwater trotz all seines rustikalen Charmes ein Ort kreativer Arbeit. Ob es sich nun um Stipendiaten handelt oder ob die Leute für den Aufenthalt hier ziemlich viel Geld zahlen, sie kommen aus einem einzigen Grund hierher – um so ungestört wie nur irgend möglich ihrer kreativen Tätigkeit nachzugehen. Ich betrachte die Zeit, die unsere Gäste bei uns verbringen, gerne als eine Art von luxuriösem Mönchtum.»

Logan hatte vorgehabt, dem Direktor dafür zu danken, dass er ihm das Thomas-Cole-Blockhaus gegeben hatte. In diesem Moment jedoch wurde ihm klar, dass dies nicht aus Freundlichkeit geschehen war, sondern einzig aus dem Grund, um ihn von den übrigen Gästen der Anlage fernzuhalten.

«Wenn Sie sich fragen, ob demnächst Zombies über das Gelände laufen oder des Nachts geisterhaftes Kettengerassel zu vernehmen ist, dann haben Sie nichts zu befürchten», erwiderte er gleichmütig.

«Das erleichtert mich. Aber ich gestehe, dass mich die Aussicht auf Journalisten und Reporterteams mit Kameras weit mehr beunruhigt.»

«Falls welche auftauchen sollten, dann bestimmt nicht wegen mir», sagte Logan. «Ich bin genau aus dem Grund hier, den ich bei meiner Buchung angegeben habe: Ich versuche seit Jahren, eine Monographie über Häresie im Mittelalter fertigzustellen. Meine Alltagsarbeit und verschiedene andere Projekte sind immer wieder dazwischengekommen. Ich hoffe, der Frieden und die Abgeschiedenheit von Cloudwater ermöglichen mir, dem Buch endlich den letzten Schliff zu geben.»

Hartshorns verschränkte Finger schienen sich ein wenig zu entkrampfen. «Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit. Ehrlich gesagt, Ihre Anfrage nach einem Aufenthalt bei uns war Gegenstand einer Diskussion im Vorstand unserer Institution. Ich habe mich für Sie eingesetzt. Ich bin froh, zu hören, dass ich dies nicht bedauern werde.»

Logan nickte.

«Aber Sie werden meine Nervosität sicher verstehen. Nur ein Beispiel – kennen Sie einen gewissen Randall Jessup?»

«Randall Jessup?» Logan runzelte die Stirn. «Ich habe an der Yale University mit jemandem studiert, der so hieß.»

«Randall Jessup ist mittlerweile Lieutenant Ranger bei der New York Division of Forest Protection, der staatlichen Waldschutzbehörde. Und er war heute bei uns, um sich zu erkundigen, um welche Uhrzeit wir Sie erwarten.»

«Woher weiß er denn, dass ich nach Cloudwater komme? Ich habe seit Jahren nichts mehr von ihm gesehen oder gehört.»

«Genau deshalb mache ich mir Sorgen, Jeremy. Ich weiß nicht, wie Jessup davon erfahren hat. Aber Ihr Besuch in Cloudwater war den lokalen Medien eine Schlagzeile wert. Trotz ihrer Weitläufigkeit sind die Adirondacks manchmal wie ein kleines Dorf. Irgendeiner unserer Angestellten muss Ihren Namen erkannt und jemandem davon erzählt haben, der es wiederum jemandem erzählt hat … Sie wissen selbst, wie schnell sich derartige Neuigkeiten verbreiten.»

Logan wusste es.

«Wie dem auch sei, reden wir nicht mehr darüber. Ich bin beruhigt, dass Sie in Ihrer Eigenschaft als Wissenschaftler und Historiker hier sind – und ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei der Fertigstellung Ihrer Monographie. Falls es irgendetwas gibt, womit wir Ihren Aufenthalt bei uns komfortabler gestalten können, lassen Sie es mich bitte wissen. Aber jetzt will ich Sie nicht länger aufhalten. Die Küche schließt in Kürze.»

Und mit diesen Worten erhob sich Hartshorn hinter seinem Schreibtisch und streckte Logan ein weiteres Mal die Hand hin.

4

Der Speisesaal war in etwa das, was Logan von einem einstigen «Adirondack Great Camp» erwartet hatte – ausstaffiert mit Mobiliar im Missionsstil, japanischen Paravents, Kronleuchtern aus geflochtenem Birkenholz, Vitrinen voll Kristalldrusen und indianischem Kunsthandwerk sowie einem Kamin, der groß genug war, um ein Pferd zu grillen. In gewisser Weise wirkte der riesige Raum gleichzeitig rustikal und opulent. Eingedenk dessen, was Hartshorn ihm gesagt hatte, wählte Logan einen unauffälligen Tisch in einer ruhigen Ecke und zog nur wenige neugierige Blicke auf sich. Das Essen erwies sich als ausgezeichnet – geschmorte Rippchen und Lauchgemüse, dazu ein großartiger Châteauneuf du Pape. Lediglich der Service war ein wenig überhastet, verständlich angesichts der späten Stunde.

Es war kurz vor zehn, als er fertig gegessen hatte. Er verließ den Speisesaal, durchquerte die Lobby und trat auf die breite, weitläufige Veranda hinaus, um für einen Moment den Sternenhimmel zu bewundern und dem leisen Plätschern des Sees am anderen Ende der weiten Rasenfläche zu lauschen.

Plötzlich bewegte sich jemand in einem der Sessel, die entlang der Hauswand aufgereiht standen. «Jeremy?»

Logan drehte sich um, ein Mann erhob sich und kam näher. In einer Hand trug er einen abgewetzten ledernen Rucksack. Als er ins Licht trat, durchfuhr Logan ein leicht verspäteter Schock des Wiedererkennens. «Randall!»

Der Mann lächelte und schüttelte Logan die Hand. «Freut mich, dass du mich noch erkennst.»

«Du hast dich kaum verändert.» Es stimmte – obwohl Logan seinen Freund seit zwanzig Jahren nicht gesehen hatte, sah Randall Jessup nicht viel anders aus als während der Studienzeit an der Yale. Das sandbraune Haar war ein wenig schütterer, und Krähenfüße in den Augenwinkeln verrieten, dass sein Leben größtenteils draußen unter freiem Himmel stattfand, doch ansonsten hatte der große, schlanke Mann etwas sehr Jugendliches an sich, wäre da nicht seine nachdenkliche und besorgte Miene gewesen.

«Sie haben mir gesagt, dass du da bist, wollten mir aber nicht verraten, wo ich dich finden kann», sagte Randall Jessup. Er trug die olivgrüne Kleidung der Ranger und den dazugehörigen beigefarbenen Hut, und um seine Hüften hing ein schwerer Dienstgürtel mit einem Holster. «Nur, dass du in einem der Blockhäuser untergebracht bist. Die haben hier eine Sicherheitsstufe wie in Camp David.»

«Es ist nicht weit. Komm mit, wir können bei mir weiterreden.»

Logan führte den Besucher über den Rasen und durch den Wald zu seinem Blockhaus. Er öffnete die Tür und lud Jessup mit einer Handbewegung zum Eintreten ein.

«Nette Hütte», sagte Jessup nach einem kurzen Rundumblick, als Logan die Beleuchtung eingeschaltet hatte.

Luxuriöses Mönchtum, dachte Logan. «Ich habe noch nicht ausgepackt und keine Ahnung, wo alles ist. Aber glücklicherweise war ich so vorausschauend, eine Flasche Wodka mitzubringen. Trinkst du ein Glas mit?»

«Liebend gern», erwiderte Jessup und ließ seinen Rucksack zu Boden gleiten.

Logan kramte die Flasche Belvedere aus seinem kleinen Gepäckstapel am Fuß der Treppe und ging damit in die Küche. Er suchte die Schränke nach Gläsern ab, bis er zwei Tumbler aus Kristallglas gefunden hatte, füllte jeden mit einer Handvoll Eis aus dem Gefrierfach und schenkte Wodka ein. Mit den Gläsern kehrte er ins Wohnzimmer zurück und reichte eins davon Jessup. Dann öffnete er ein Fenster, und sie nahmen auf dem ledernen Sofa in der Ecke Platz. Eine Lampe mit einem Schirm aus bemalter Birkenrinde stand daneben, Logan zog an der Kette, und gemütliches Licht erhellte die Sitzecke.

Während sie an ihren Drinks nippten, dachte Logan an die gemeinsame Zeit mit Jessup zurück. Sie hatten sich im ersten Jahr an der Universität ziemlich nahegestanden. Logan hatte Geschichte studiert, Jessup war Philosophiestudent gewesen und hatte sich selbst, wie das bei angehenden Philosophen oft der Fall ist, ziemlich ernst genommen. In jenem Jahr hatte er eine bestimmte Schriftstellerschule entdeckt – Thoreau, Emerson, Octavius Brooks Frothingham – und sich stark für Transzendentalismus interessiert. Einen Teil des letzten Studienjahrs verbrachte er dann außerhalb der Universität, um an einem recht ungewöhnlichen Programm am Yukon teilzunehmen. Als er sich nach seiner Rückkehr am Institut für Forstwirtschaft und Umweltstudien der Universität eingeschrieben hatte, verloren die beiden sich aus den Augen.

«Erzähl mir von dir», sagte Logan. «Bist du verheiratet?»

«Ja. Wir haben zwei Kinder. Franklin ist zwölf und Hannah neun.»

Logan lächelte innerlich. Selbst die Kinder waren nach Philosophen benannt.

«Wie steht es mit dir?», wollte Jessup wissen.

«Ich war verheiratet.»

«Geschieden?»

Logan schüttelte den Kopf. «Sie ist vor ein paar Jahren gestorben.»

«O Gott. Das tut mir leid.»

«Es ist okay.» Logan nickte in Richtung der Uniform seines Freundes. «Ich hätte mir denken können, dass du als Ranger endest. Weit weg von den Menschenmassen und so. Hast du gleich nach der Yale angefangen?»

«Nein.» Jessup setzte den Hut ab und legte ihn zwischen sich und Logan auf das Sofa. «Ich bin zunächst ein oder zwei Jahre durch die Welt gebummelt. Indien, Tibet, Burma, Nepal, Brasilien. Bin durch viele Wälder gewandert, hab eine Menge Berge bestiegen. Viel gelesen, viel nachgedacht. Dann kam ich zurück nach Hause. Ich bin keine hundert Kilometer von hier aufgewachsen, in Plattsburgh, wusstest du das? Ich kannte die Adirondacks ziemlich gut. Hab als Kind ein halbes Dutzend Sommerlager in einem Camp am Tupper Lake mitgemacht. Also bin ich zu den Forest Rangers gegangen.» Er grinste Logan eigenartig selbstironisch an.

«Und du hast es zum Lieutenant gebracht, wie man sieht.»

Jessup lachte. «Klingt bedeutsamer, als es ist. Tatsächlich bin ich erst auf der halben Höhe der Leiter. Technisch betrachtet, bin ich Supervisor von Zone fünf A, Region fünf, und habe sechs Ranger unter mir.» Er stockte. «Ich kann mir denken, was du davon hältst. Ich müsste inzwischen längst Captain sein, richtig? Ich meine, ich bin seit mehr als fünfzehn Jahren dabei. Okay, ich hatte die Gelegenheit dazu. Aber ich habe einfach keine Lust, hinter einem Schreibtisch zu sitzen. Wir leben außerhalb von Saranac Lake, das zu meinem Bereich gehört. Unser Haus habe ich selbst gebaut. Man braucht hier nicht viel Geld, um gut zu leben. Suzanne und die Kinder sind glücklich.»

Logan nickte. Das klang ganz nach dem unabhängigen, selbstbewussten Jessup, den er in Erinnerung hatte.

Er wusste, dass seinem alten Freund etwas auf der Seele lag – die Tatsache, dass er an diesem Tag zweimal hergekommen war, um Logan zu treffen, verriet es mehr als deutlich. Logan hatte eine besondere Gabe, ein instinktives Einfühlungsvermögen, das ihn, wenn er wollte, in die Lage versetzte, die Gefühle und Gedanken seines Gegenübers mehr oder weniger deutlich nachzuvollziehen. Doch er entschied sich dagegen, es einzusetzen; er wusste, Jessup würde schon mit seinem Problem herausrücken, wenn er so weit war.

Stattdessen nahm er einen weiteren Schluck von seinem Drink. «Wie sind wir überhaupt Freunde geworden?», fragte er. «Ich erinnere mich nicht mehr.»

«Wir waren Rivalen, bevor wir Freunde wurden. Anne Brannigan – du erinnerst dich an sie?»

«Nein. Ja, doch. Sie hatte einen Mond und einen Stern auf ihren Rucksack gestickt und war Veganerin, noch bevor das Wort erfunden wurde.»

Jessup lachte erneut. «Das stimmt, genau die.» Er trank einen Schluck. «Du bist also an der Yale geblieben.»

«Meine Doktorarbeit habe ich am Magdalen College in Oxford geschrieben. Anschließend bin ich ebenfalls ein paar Jahre durch die Welt gereist, allerdings nicht an so exotische Orte wie Burma oder Nepal – stattdessen alte Bibliotheken, Klöster und natürlich Kirchen in England und Europa. Dann kam ich zurück, um ein Kolloquium über den Schwarzen Tod zu halten, weil der Professor, der eigentlich dafür vorgesehen war, erkrankt war.» Er zuckte die Schultern. «Ich bin nie wieder weggegangen.»

«Da habe ich aber etwas anderes gehört», sagte Jessup mit leiser Stimme.

«Du meinst meine … äh … Nebentätigkeit.»

Jessup nickte.

«Die merkwürdige Nebentätigkeit. Die dafür sorgt, dass mein Bild gelegentlich in den Nachrichten oder der Zeitung ist.»

Jessup nickte erneut. «Das hast du schon damals gemacht. Ich erinnere mich an unser Abschlussjahr, als du bewiesen hast, dass dieser Geist, der angeblich in Saybrook spukte, nichts weiter als eine geheime Tradition war, weitergereicht von einem Studenten zum nächsten.» Er stockte. «Ich habe vor ein oder zwei Jahren den Artikel im People Magazine gelesen.»

«Ein schreckliches Foto. Ich sehe richtig fett aus.»

«Und du nennst dich …?»

«Enigmatologe. Den Begriff hat jemand anders erfunden, aber er ist hängengeblieben.»

«Ich erinnere mich, was in dem Artikel stand. Dort hieß es, du würdest Phänomene jenseits der Grenzen regulärer Wissenschaft studieren, das Unerklärliche und Mysteriöse untersuchen und Dinge beweisen, die die meisten Menschen als okkult oder übernatürlich abtun.»

«Oder sie widerlegen – wie beispielsweise den Geist von Saybrook.»

«Ja, richtig.» Jessup zögerte einen Moment, dann schien er sich zu einem Entschluss durchzuringen. «Hör zu, Jeremy, du hast dir wahrscheinlich schon gedacht, dass ich nicht allein deshalb hergekommen bin, um unsere alte Freundschaft aufzufrischen.»

«Auch wenn es schön ist, dich wiederzusehen – der Gedanke ist mir gekommen, ja.»

«Hättest du etwas dagegen, wenn ich dir etwas anvertraue? Es muss allerdings unter uns bleiben, für den Moment jedenfalls.»

«Selbstverständlich nicht. Schieß los.»

Jessup schüttelte das Eis in seinem leeren Glas. «Könnte ich vorher noch einen Schluck von dem da haben?»

«Wie nachlässig von mir.» Logan erhob sich und ging mit dem Glas in die Küche, um nachzuschenken. Er reichte Jessup den Wodka. Der Ranger trank, zögerte kurz, sah sich im Zimmer um und fing – nachdem er einmal tief durchgeatmet hatte – zu reden an.

5

«Innerhalb der letzten drei Monate wurden nicht weit von hier zwei Wanderer – Bergwanderer – getötet», begann Jessup.

Logan wartete.