Hüter des Todes - Lincoln Child - E-Book
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Hüter des Todes E-Book

Lincoln Child

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Beschreibung

Der Sudd, das Sumpfgebiet an der Grenze zu Ägypten, ist eine lebensfeindliche Welt. In seinen undurchdringlichen Tiefen vermutet der Forscher und Multimillionär Porter Stone das Grab des legendären ersten ägyptischen Pharaos Narmer, der das zweigeteilte Reich am Nil einte. Auf einer riesigen Forschungsplattform schart Stone hochkarätige Wissenschaftler um sich, darunter Techniker, Chemiker, Biologen und Nahtodforscher, aber auch den Enigmatologen Jeremy Logan. Doch dann stirbt der erste Taucher im schlammigen Sumpf. Ein Mitarbeiter nach dem anderen kommt bei unerklärlichen Zwischenfällen ums Leben; das Grab scheint mit allen Mitteln der uralten ägyptischen Hochkultur gesichert zu sein. Bald muss Logan erfahren, dass die Grenze zwischen Leben und Tod durchlässig ist …

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Seitenzahl: 444

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Lincoln Child

Hüter des Todes

Thriller

Aus dem Englischen von Axel Merz

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

WidmungProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. KapitelAnmerkungen des Autors
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Für Luchie

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Prolog

Der Arzt schenkte sich im Pausenraum einen Becher Kaffee ein, griff nach dem Kaffeeweißer, der auf dem Tresen stand, entschied sich aber schließlich für einen Schuss Sojamilch aus dem alten Laborkühlschrank. Er rührte den Kaffee mit einem Plastikstäbchen um, während er über den hellen Linoleumboden schlurfte und auf eine Sitzgruppe zuging. Durch die Tür drangen die üblichen Geräusche – das Klappern von Rollstühlen und Tragen, das Piepsen und Meckern von Apparaturen, das eintönige Geleier aus der Gegensprechanlage des Krankenhauses.

Deguello, ein Assistenzarzt im dritten Jahr, hatte seine schlaksigen Gliedmaßen über zwei der fadenscheinigen Sessel ausgestreckt. Typisch für einen Assistenzarzt, dachte der Doktor, diese Fähigkeit, augenblicklich in Schlaf zu fallen, sei es im Stehen oder Liegen, egal, wie unbequem die Haltung auch sein mochte. Als er sich in einen freien Sessel daneben sinken ließ, unterbrach der Assistenzarzt sein leises Schnarchen und öffnete ein einzelnes Auge.

«Hey, Doc», murmelte er. «Wie spät ist es?»

Der Doktor warf einen Blick auf die Industrieuhr an der gegenüberliegenden Wand über einer Reihe von Spinden. «Viertel vor elf», sagte er.

«Gütiger», stöhnte Deguello. «Das bedeutet, ich habe nur zehn Minuten geschlafen.»

«Immerhin zehn Minuten», erwiderte der Doktor und trank einen Schluck Kaffee. «Es ist eine ruhige Nacht.»

Deguello schloss das Auge wieder. «Zwei Herzinfarkte, ein offener Schädelbruch, ein Not-Kaiserschnitt, zwei Schussverletzungen, eine davon schwer. Eine Verbrennung dritten Grades. Ein Messerstich mit Nierenpenetration. Ein einfacher und ein mehrfacher Knochenbruch. Ein alter Mann mit Schlaganfall. Eine Oxycodon-Vergiftung. Eine Überdosis Meth. Eine Überdosis Amphetamin. Und alles innerhalb der …» Er rechnete kurz nach. «Alles innerhalb der letzten neunzig Minuten.»

Der Arzt nahm einen weiteren Schluck von seinem Kaffee. «Wie ich bereits sagte – eine ruhige Nacht. Sehen Sie es positiv. Wenigstens hängen Sie nicht mehr am Mass General in der Weiterbildung fest.»

Der Assistenzarzt schwieg für einen Moment. «Ich verstehe das einfach nicht, Doc», murmelte er dann. «Warum machen Sie das? Warum opfern Sie jeden zweiten Freitag für die Notaufnahme? Ich meine, hey, ich habe keine andere Wahl. Aber Sie sind ein fertig ausgebildeter Anästhesist.»

Der Arzt leerte seinen Becher und warf ihn in den Abfalleimer. «Etwas weniger Neugier in Gegenwart Ihrer Vorgesetzten, bitte sehr.» Er schob sich aus dem Sessel. «Zurück ins Gefecht.»

Draußen auf dem Gang blickte er sich um. Es war tatsächlich relativ ruhig. Er wollte gerade auf den zentralen Aufnahmeschalter am anderen Ende zusteuern, als es unvermittelt laut und hektisch wurde. Die Oberschwester kam ihm im Laufschritt entgegen. «Ein Autounfall», rief sie ihm zu. «Ein Opfer, kommt gerade herein. Ich habe Schockraum Zwo reserviert.»

Der Arzt wandte sich sofort in Richtung des genannten Saals. Im gleichen Moment glitten die Türen surrend auseinander, und ein Team von Sanitätern rollte eine Trage herein, gefolgt von zwei Polizeibeamten. Der Arzt sah sofort, dass es ernst war – die Gesichter der Sanitäter, das Blut auf ihren Kitteln, die Dringlichkeit ihrer Bewegungen – all das sprach eine deutliche Sprache.

«Weiblich, Anfang dreißig!», bellte einer der Sanitäter. «Reagiert nicht mehr!»

Der Doktor winkte sie zu sich herein und wandte sich an einen Arzt im Praktikum, der neben ihm auf Anweisung wartete. «Wir brauchen Nahtbestecke.» Der AiP nickte und joggte los.

«Und holen Sie Deguello und Corbin!», rief der Doktor ihm hinterher.

Die Sanitäter rollten die Trage bereits in Schockraum Zwo und neben den Operationstisch. «Auf mein Kommando», sagte eine Schwester. «Vorsicht mit der Halskrause. Eins, zwei, drei!»

Die bewusstlose Patientin wurde auf den Tisch gehievt und die Trage weggeschoben. Der Doktor erhaschte einen flüchtigen Blick auf blasse weiße Haut, zimtfarbenes Haar, eine Bluse, früher weiß, jetzt blutgetränkt. Auch auf dem Boden war Blut, eine rote Tropfspur führte bis in den Gang nach draußen.

Im Kopf des Arztes begann eine Alarmglocke zu schrillen, etwas durchzuckte ihn wie ein kalter elektrischer Strom.

«Ein betrunkener Fahrer hat sie voll an der Seite erwischt», sagte einer der Sanitäter neben ihm. «Wir haben sie auf dem Weg hierher kodiert.»

Assistenzärzte strömten herein, gefolgt von Deguello. «Haben Sie eine Blutgruppe?», fragte der Doktor.

Der Sanitäter nickte. «Null negativ.»

Es wurde fieberhaft gearbeitet, Infusionsschläuche wurden gelegt, Monitore angeschlossen, ein Reanimationswagen rollte herbei. Der Arzt wandte sich an einen Assistenten. «Rufen Sie die Blutbank an. Drei Einheiten.» Er dachte an die Blutspur auf dem Linoleum. «Nein, verlangen Sie vier.»

«O-zwei ist voll!», rief eine der Schwestern, als Corbin dazukam.

Deguello trat an den Kopfteil des Tisches und musterte mit zusammengekniffenen Augen das bewusstlose Opfer. «Sieht zyanotisch aus», bemerkte er.

«Schaffen Sie eine Blutgas-Maschine her», drängte der Doktor. Seine Aufmerksamkeit war auf den Unterleib der Frau gerichtet, inzwischen entblößt und glänzend nass vor Blut. Hastig zog er den notdürftigen Verband beiseite. Eine grässliche offene Wunde, hastig vernäht von den Sanitätern. Sie blutete unablässig weiter. Der Doktor drehte sich zu einer Schwester um und gab ihr ein Zeichen. Sie tupfte das Blut weg, und er untersuchte die Stelle erneut.

«Massives Abdominaltrauma», sagte er. «Möglicherweise supiner subpulmonaler Pneumothorax. Wir müssen eine perikardiale Punktion vornehmen.»

Er wandte sich dem Sanitäter zu. «Wie zum Teufel ist das passiert? Hatte das Auto keinen Airbag?»

«Untendurch gerutscht», antwortete der Mann. «Das Armaturenbrett ist in der Mitte durchgebrochen wie ein dürrer Zweig und hat sie aufgespießt. Sie mussten sie von oben mit den Klauen befreien. Ein schlimmer Anblick, Doc – ihr Porsche war total zerquetscht vom SUV dieses besoffenen Bastards.»

Porsche. Der kleine kalte Strom in seinem Hinterkopf wurde stärker. Er richtete sich auf, versuchte einen Blick auf das Gesicht des Opfers zu erhaschen, doch Deguello war im Weg. «Signifikantes stumpfes Trauma», sagte Deguello. «Wir brauchen eine CT vom Schädel.»

«Blutdruck ist runter auf achtzig zu fünfunddreißig!», sagte eine Schwester. «Pulsoxymetrie neunundsiebzig.»

«Druck aufrechterhalten!», befahl Deguello.

Der Blutverlust war zu groß, die Verletzungen zu schwer: Sie hatten eine Minute, höchstens zwei, um die Verwundete zu retten. Eine weitere Schwester kam mit Blutbeuteln herein und hängte sie sofort an das Infusionsgestell.

«Das wird nicht reichen», sagte der Doktor. «Wir brauchen einen größeren Infusionstropf. Sie blutet zu schnell aus.»

«Ein Milligramm Epi», sagte Corbin zu einem Assistenten.

Die Schwester drehte sich zum Nähwagen um, packte eine größere Infusionsnadel, zog die schlaffe Hand der Bewusstlosen zu sich, um die Nadel einzuführen. Dabei fiel der Blick des Doktors auf die Hand: schlank, sehr blass, mit einem einfachen Ring – einem Platin-Ehering mit einem wunderschönen Sternsaphir, whiskeyfarben auf schwarzem Grund. Aus Sri Lanka und sehr teuer. Er wusste es, weil er ihn gekauft hatte.

Unvermittelt übertönte ein scharfer Alarm alle Geräusche im Schockraum. «Herzstillstand!», rief eine Schwester.

Für einen Moment stand der Doktor nur reglos da, paralysiert von Entsetzen und Ungläubigkeit. Deguello wandte sich an einen der Assistenten, und jetzt konnte der Doktor auch das Gesicht der Frau sehen. Die Haare verfilzt und durcheinander, die Augen offen und ins Leere starrend, Mund und Nase vom Beatmungsgerät verdeckt.

Sein Mund war trocken. «Jennifer …», krächzte er.

«Lebenszeichen werden schwächer!», rief die Schwester.

«Wir brauchen Lidocain!», rief Corbin. «Lido! Sofort!»

Und dann, so schnell wie sie gekommen war, wich die Erstarrung wieder von ihm. Der Doktor drehte sich zu einer der Notfallschwestern um. «Defibrillator!», rief er.

Sie rannte in eine Ecke des Raums und rollte den Wagen herbei. «Lädt auf!»

Ein Assistent trat an den Tisch, injizierte der Bewusstlosen das Lidocain, trat zurück. Der Doktor packte die Paddles, kaum imstande, die eigenen zitternden Hände zu kontrollieren. Das konnte nicht sein. Das musste ein Albtraum sein, nur ein schlimmer Traum, nichts weiter. Er würde aufwachen und sich im Pausenraum wiederfinden, zusammengesunken, mit Deguello im Sessel nebenan.

«Geladen!», rief die Schwester.

«Zurücktreten!» Der Doktor hörte die verzweifelte Schärfe in seiner Stimme. Während die anderen zurücktraten, platzierte er die Paddles auf ihrer nackten, blutüberströmten Brust und löste den Stromstoß aus. Jennifers Körper bäumte sich auf und fiel auf den Tisch zurück.

«Nichts», rief die Schwester am Monitor.

«Neu laden!», befahl der Doktor. Ein neues Signal, ein dunkles, beharrliches Piepen, legte sich über die Kakophonie von Geräuschen.

«Hypovolämischer Schock …», murmelte Deguello. «Wir hatten von Anfang an keine Chance.»

Sie haben keine Ahnung, dachte der Doktor, und es klang wie aus einer Entfernung von einer Million Meilen. Sie verstehen nicht. Er spürte, wie sich eine einzelne Träne im Augenwinkel sammelte und über seine Wange rann.

«Geladen!», meldete die Schwester am Defibrillator.

Er setzte die Paddles auf. Jennifer bäumte sich ein weiteres Mal auf, lag dann wieder still.

«Keine Reaktion», sagte der Assistenzarzt neben ihm.

«Das war’s», sagte Corbin mit einem Seufzer. «Schätze, Sie haben alles in Ihrer Macht Stehende getan, Ethan.»

Der Arzt ignorierte ihn, warf die Paddles beiseite und begann mit einer Herzmassage. Er spürte ihren Körper, unempfänglich und kalt unter den hektischen Bewegungen seiner Hände.

«Pupillen geweitet und ohne Reaktion», meldete die zuständige Schwester.

Doch der Doktor achtete nicht auf sie, während seine Herzmassage zunehmend schneller und verzweifelter wurde.

Die Geräusche im Schockraum, eben noch hektisch und laut, erstarben nun nach und nach. «Keinerlei Herzaktivität», sagte die Schwester.

«Sie sollten sie für tot erklären», sagte Corbin.

«Nein!», schrie der Doktor schrill.

Der ganze Raum bemerkte den Schmerz und die Verzweiflung in seiner Stimme.

«Ethan?», fragte Corbin unsicher.

Statt einer Antwort fing der Doktor an zu weinen.

Alle rings um ihn verstummten. Einige starrten ihn verständnislos an, andere sahen verlegen zur Seite. Alle, bis auf einen der Assistenten, der zur Tür und leise den Korridor hinunter ging. Der Doktor weinte weiter. Er wusste, wohin der Mann wollte. Er ging ein Leichentuch holen.

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1

Drei Jahre später

Jeremy Logan war in Westport aufgewachsen, unterrichtete gegenwärtig an der Yale University und hatte eigentlich geglaubt, sich einigermaßen auszukennen in seinem Heimatstaat Connecticut. Doch er war sich sicher, die Landschaft, die er nun durchfuhr, zum ersten Mal zu sehen. Sie war eine Offenbarung. Er war von Groton aus nach Osten gefahren – genau wie es in der gemailten Wegbeschreibung stand –, dann auf die US 1 abgebogen und schließlich kurz hinter Stonington auf die US 1 Alternate. Immer entlang der grauen Atlantikküste hatte er Wequetequock passiert, war über eine Brücke gefahren, die aussah, als wäre sie so alt wie New England, und dann scharf nach rechts auf eine asphaltierte, jedoch nicht ausgeschilderte Straße eingebogen. Augenblicklich hatte er die Mini-Malls und die Touristenmotels hinter sich gelassen. Er fuhr an einer verträumten Bucht vorbei, in der Fischerboote vor Anker tanzten, und erreichte ein verschlafenes Dorf. Es verfügte über einen Gemischtwarenladen und einen Shop für Fischereigeräte, außerdem gab es eine Episkopalkirche, deren Kirchturm drei Nummern zu groß war, und grau geschieferte Häuser mit ordentlichen, weiß gestrichenen Jägerzäunen davor. Es waren weder überdimensionierte SUVs noch ortsfremde Nummernschilder zu sehen, und die Menschen auf den Bänken oder an den Fenstern ihrer Häuser winkten Jeremy zu, als er an ihnen vorüberfuhr. Die Aprilsonne war stark, und die Seeluft hatte einen frischen, sauberen Biss. Ein Schild über dem Eingang zum Postamt informierte ihn darüber, dass er in Pevensey Point angekommen war, einhundertzweiundachtzig Einwohner. Irgendetwas an der kleinen Ortschaft ließ ihn an Herman Melville denken.

«Karen», murmelte er. «Wenn du dieses Dorf gesehen hättest, du hättest im Leben nicht zugelassen, dass wir uns dieses Sommercottage in Hyannis kaufen.»

Obwohl seine Frau Jahre zuvor an Krebs gestorben war, unterhielt sich Logan auch heute noch gelegentlich mit ihr. Natürlich war es üblicherweise mehr Monolog als Dialog – wenn auch nicht immer. Zuerst hatte er darauf geachtet, es nur zu tun, wenn er sicher war, dass ihn niemand hörte. Doch dann – als das, was zunächst als eine Art intellektuelles Hobby angefangen hatte, zunehmend zu seinem Beruf wurde – hatte er sich nicht mehr so sehr um Diskretion bemüht. Dieser Tage, und seinem Broterwerb nach zu urteilen, erwarteten die Leute geradezu, dass er ein wenig eigenartig war.

Drei Kilometer hinter dem Ort zweigte rechts eine schmale Straße ab, genau wie in der Wegbeschreibung angegeben. Logan fand sich in einem spärlichen Wald aus Strauchkiefern wieder, mit sandigem Untergrund, der bald gelbbraunen Dünen wich. Die Dünen endeten an einer Stahlbrücke, die zu einer niedrigen, langgestreckten Insel führte. Selbst aus dieser Entfernung konnte Logan erkennen, dass auf der Insel im Fishers Island Sound wenigstens ein Dutzend Gebäude standen, alle errichtet aus dem gleichen rötlich braunen Sandstein. Im Zentrum erhoben sich parallel wie Dominosteine drei große fünfstöckige Gebäude, die an Schlafhäuser erinnerten. Am Ende der Insel, und teilweise durch andere Gebäude verdeckt, befand sich eine verlassene Landepiste. Und hinter allem lag der Ozean. Am Horizont war Rhode Island als dunkelgrüne Linie zu erkennen.

Logan fuhr den letzten Kilometer und hielt an einem Torhaus vor der Brücke. Er zeigte dem Wachmann die ausgedruckte E-Mail, und der Wachmann lächelte und winkte ihn durch. Auf einem einzelnen, ebenso hochwertigen wie dezenten Schild neben dem Torhaus prangte die Aufschrift «CTS».

Er überquerte die Brücke, passierte ein Außengebäude und lenkte den Wagen auf einen überraschend großen Parkplatz. Dort standen mindestens einhundert Fahrzeuge, und es gab Platz für noch einmal die gleiche Anzahl. Er steuerte seinen Wagen in eine freie Parklücke und schaltete den Motor ab. Anstatt auszusteigen, hielt er jedoch inne und nahm noch einmal die E-Mail zur Hand.

Jeremy,

ich freue mich – und bin erleichtert –, dass du zugesagt hast. Ich weiß deine Flexibilität zu schätzen, denn wie ich bereits erwähnte, kann niemand sagen, wie lang deine Untersuchungen dauern werden. Wie dem auch sei, du erhältst eine Mindestvergütung von zwei Wochensätzen, zum von dir genannten Tarif. Bitte entschuldige, dass ich zum jetzigen Zeitpunkt keine weiteren Details verraten kann, aber das bist du wahrscheinlich gewohnt. Und ich muss gestehen, ich kann es kaum erwarten, dich nach all der Zeit wiederzusehen.

Im Anhang findest du die Wegbeschreibung zum Center. Ich erwarte dich am Morgen des 18., irgendwann zwischen zehn Uhr und mittags wäre prima. Noch eine Sache: Sobald du beim Projekt mit an Bord bist, wirst du feststellen, dass es schwierig ist, Anrufe nach draußen zu tätigen, also solltest du alle wichtigen Angelegenheiten erledigt haben, bevor du losfährst.

Ich freue mich auf den 18.!

Liebe Grüße,

E. R.

Logan warf einen Blick auf seine Armbanduhr: halb zwölf. Er drehte die E-Mail in den Händen. Du wirst feststellen, dass es schwierig ist, Anrufe nach draußen zu tätigen … Warum denn das? Gab es etwa jenseits der malerischen Ortschaft von Pevensey Point keine Mobilfunkmasten mehr? Wie auch immer, es stimmte, was in der E-Mail stand: Er war «daran gewöhnt».

Er hievte den Seesack vom Beifahrersitz, steckte die E-Mail ein und stieg aus.

Der Empfangsbereich war in einem der zentralen, schlafhausähnlichen Gebäude untergebracht und erinnerte Logan an das Wartezimmer einer Arztpraxis: ein halbes Dutzend leere Sessel, Tische voller Magazine und Zeitungen, ein Sammelsurium anonymer Ölgemälde an beigefarbenen Wänden, ein einzelner Empfangstresen, besetzt mit einer Frau Mitte dreißig. Hinter ihr an der Wand prangten die drei Buchstaben CTS, immer noch ohne jeden Hinweis, wofür sie standen.

Logan nannte der Frau seinen Namen, und sie musterte ihn im Gegenzug mit einer Mischung aus Neugier und Unbehagen. Er rechnete mit einer längeren Wartezeit und setzte sich in einen der freien Sessel, doch kaum hatte er eine aktuelle Ausgabe der Harvard Medical Review zur Hand genommen, öffnete sich gegenüber dem Empfang bereits eine Tür, und Ethan Rush kam zum Vorschein.

«Jeremy!», sagte er mit breitem Grinsen und streckte Logan die Hand entgegen. «Ich bin dir ja so dankbar, dass du gekommen bist.»

«Hallo, Ethan», erwiderte Logan und schüttelte seinem Gegenüber die Hand. «Schön, dich mal wieder zu sehen.»

Er hatte Rush seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen, seit ihrer gemeinsamen Zeit an der Johns Hopkins. Rush hatte damals an der medizinischen Fakultät studiert, er selbst war bereits im Hauptstudium gewesen. Doch der Mann, der nun vor ihm stand, hatte sich eine bemerkenswerte Jugendlichkeit bewahrt – lediglich ein filigranes Fältchenmuster in den Augenwinkeln verriet sein fortgeschrittenes Alter. Und doch schien es Logan, als würde der simple Akt des Händeschüttelns zwei wesentliche Dinge über Rush preisgeben: ein erschütterndes, das ganze Leben verändernde Ereignis und eine unbeirrbare, beinahe besessene Hingabe an eine Sache.

Dr. Rush blickte auf Logans Seesack. «Hast du nicht mehr Gepäck dabei?»

«Im Kofferraum.»

«Gib mir die Schlüssel. Ich sorge dafür, dass jemand es für dich holen geht.»

«Es ist ein Lotus Elan S4.»

Rush stieß einen Pfiff aus. «Der Roadster? Welches Baujahr?»

«1968.»

«Sehr chic. Ich werde sicherstellen, dass sie ihn mit Samthandschuhen anfassen.»

Logan kramte in seiner Tasche und gab Rush die Schlüssel, der sie seinerseits mit ein paar geflüsterten Instruktionen an die Rezeptionistin weiterreichte. Dann wandte er sich um und bedeutete Logan, ihm durch die offene Tür zu folgen.

Sie stiegen in einen Aufzug und fuhren in das oberste Stockwerk. Rush führte ihn durch einen langen Korridor, in dem der schwache Geruch von Reinigungsmitteln und Chemikalien hing. Erneut fühlte sich Logan an eine Arztpraxis erinnert – und doch schien es keine Patienten zu geben. Die wenigen Personen, denen sie begegneten, trugen gewöhnliche Straßenkleidung und erfreuten sich offensichtlich bester Gesundheit. Im Vorbeigehen spähte Logan neugierig durch offene Türen in die dahinterliegenden Zimmer. Er sah Konferenzräume, einen großen, leeren Vorlesungssaal mit Sitzplätzen für mindestens hundert Personen, Labors voller Apparaturen und Computer, eine Präsenzbibliothek mit gebundenen Zeitschriften und diversen Leseplätzen. Außerdem bemerkte er mehrere seltsame, auf den ersten Blick identische Räume, jeder ausgestattet mit einem einzelnen schmalen Bett und Hunderten, wenn nicht Tausenden dünner Drähte, die in Überwachungsmonitoren endeten. Andere Türen waren geschlossen und die kleinen eingelassenen Fenster mit Vorhängen bedeckt. Sie begegneten einer Gruppe von Männern und Frauen in weißen Laborkitteln, die Rush zunickten und Logan neugierig anstarrten.

Vor einer Tür mit der Aufschrift «Direktor» blieben sie stehen. Rush öffnete die Tür und winkte Logan durch ein Vorzimmer mit zwei Sekretärinnen und überquellenden Bücherregalen in ein kleines Büro dahinter. Es war geschmackvoll eingerichtet und genauso minimalistisch, wie das Vorzimmer überfrachtet war. An drei der vier Wände hingen postmoderne Gemälde in kühlen Blau- und Grautönen. Die vierte Wand bestand wohl aus einer großen Fensterfront, gegenwärtig verdeckt durch Jalousien.

In der Mitte des Zimmers stand ein auf Hochglanz polierter Tisch aus Teak, flankiert von zwei hohen Ledersesseln. Rush setzte sich in einen davon und lud Logan ein, im anderen Platz zu nehmen.

«Kann ich dir irgendetwas anbieten?», fragte der Direktor. «Kaffee, Tee, Limonade?»

Logan schüttelte den Kopf.

Rush schlug ein Bein über das andere. «Jeremy, ich möchte offen zu dir sein. Ich war nicht sicher, ob du bereit wärst, diesen Auftrag zu übernehmen, wenn man bedenkt, wie beschäftigt du bist … und wie verschwiegen ich war in Bezug auf die Details.»

«Du warst nicht sicher … nicht mal angesichts des Honorars, das ich verlangt habe?»

Rush lächelte. «Es stimmt – dein Honorar ist sicherlich ziemlich beachtlich. Doch deine Arbeit war in letzter Zeit auch relativ, wie soll ich es sagen … spektakulär.» Er zögerte erneut. «Wie genau nennst du das, was du machst?», fragte er dann.

«Ich bin Enigmatologe.»

«Richtig. Ein Enigmatologe.» Rush musterte Logan neugierig. «Und stimmt es, dass du die Existenz des Monsters von Loch Ness nachgewiesen hast?»

«Diese Frage solltest du meinem Klienten stellen, der mich für diesen speziellen Auftrag engagiert hat, die Universität von Edinburgh.»

«Geschieht mir recht – was bin ich auch so neugierig.» Rush zögerte. «Wo wir von Universität reden – du bist Professor, richtig?»

«Mittelalterliche Geschichte. An der Yale.»

«Und was halten sie an der Yale von der Tätigkeit, mit der du dich in deiner Freizeit, äh, beschäftigst?»

«Im Rampenlicht zu stehen ist kein Problem. Es verschafft dir einen großen Pool von Bewerbern.» Logan blickte sich im Büro um. Er hatte festgestellt, dass neue Klienten es häufig vorzogen, über Logans vergangene Leistungen zu sprechen. Auf diese Weise konnten sie die Diskussion ihres eigenen Anliegens ein wenig hinauszögern.

«Ich erinnere mich an deine … Nachforschungen am Peabody Institute und an der Fakultät für Angewandte Physik, damals an der Universität», sagte Rush. «Wer hätte gedacht, wohin dich das alles führt?»

«Ich jedenfalls nicht», erwiderte Logan und rührte sich in seinem Sessel. «Also – würdest du mir vielleicht verraten, wofür CTS steht? Nichts in dieser Umgebung lässt den kleinsten Rückschluss zu.»

«Wir lassen uns nicht gern in die Karten blicken», antwortete Rush. «CTS steht für ‹Center für Transmortale Studien›.»

«Transmortale Studien», wiederholte Logan.

Rush nickte. «Ganz recht. Ich habe CTS vor zwei Jahren gegründet.»

Logan sah ihn überrascht an. «Du hast CTS gegründet?»

Rush holte tief Luft, und auf seinem Gesicht erschien ein grimmiger Ausdruck. «Verstehst du, Jeremy, es ist so. Vor etwas mehr als drei Jahren hatte ich Schicht in der Notaufnahme, als meine Frau eingeliefert wurde. Sie hatte einen furchtbaren Autounfall gehabt und war vollkommen weggetreten. Wir versuchten alles – Herzmassage, Defibrillator – es war hoffnungslos. Es war der schlimmste Augenblick meines Lebens. Da stand ich, nicht nur außerstande, meine eigene Frau zu retten … ich selbst sollte sie für tot erklären.»

Logan schüttelte mitfühlend den Kopf.

«Nur, dass ich das nicht konnte. Ich brachte es nicht über mich. Gegen den Rat der assistierenden Ärzte setzte ich meine Rettungsmaßnahmen fort. Und was soll ich sagen? Sie kam durch. Jeremy, sie kam durch! Ich konnte sie wiederbeleben, volle vierzehn Minuten, nachdem jegliche Hirnfunktion ausgesetzt hatte.»

«Wie?»

Rush breitete die Hände aus. «Es war ein Wunder. Oder zumindest schien es damals so. Es war die erstaunlichste Erfahrung, die ich je erlebt habe. Es war eine Offenbarung. Lebensverändernd. Sie zurückzuholen von der Schwelle …» Er verstummte kurz. «In diesem Moment fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Meine Bestimmung stand plötzlich klar und deutlich vor mir. Ich verließ das Rhode Island Hospital, gab meine Stelle als Anästhesist auf und widme mich seither dem Studium von Nahtod-Erfahrungen.»

Eine Offenbarung. Lebensverändernd, dachte Logan. «Transmortale Studien», wiederholte er laut.

«Genau. Ich dokumentiere die zahlreichen Manifestationen der Nahtod-Erlebnisse und versuche das Phänomen zu analysieren und zu kategorisieren. Du wärst überrascht, Jeremy, wie viele Menschen schon einmal eine Nahtod-Erfahrung gemacht haben und insbesondere, wie viele Ähnlichkeiten es gibt. Wenn man an der Schwelle war und zurückgekehrt ist, dann ist man nicht mehr der gleiche Mensch wie vorher. Da ist etwas, das bei dir bleibt – bei dir und deinen Angehörigen. Es war überraschend einfach, das Geld für das Center zusammenzukriegen.» Er machte eine ausladende Handbewegung. «All das hier. Viele Menschen mit Nahtod-Erfahrungen sind daran interessiert, diese Erfahrungen zu teilen und mehr über das zu erfahren, was möglicherweise dahintersteckt.»

«Und was genau macht ihr hier im Center?», fragte Logan.

«Im Grunde genommen sind wir eine kleine Gemeinschaft von Ärzten und Forschern – die meisten davon mit Verwandten oder Freunden, die von der Schwelle zurückgekehrt sind. Wir laden Überlebende von Nahtod-Erfahrungen für ein paar Wochen oder Monate hierher ein, um genau zu dokumentieren, was ihnen widerfahren ist, und um sie verschiedenen Tests zu unterziehen.»

«Tests?», fragte Logan.

Rush nickte. «Wir sind erst seit achtzehn Monaten in Betrieb, aber wir haben bereits ein großes Stück Forschungsarbeit geleistet – und eine beachtliche Anzahl von Entdeckungen gemacht.»

«Aber wie du sagst, haltet ihr alles mehr oder weniger unter Verschluss.»

Rush lächelte. «Kannst du dir vorstellen, wie die guten Einwohner von Pevensey Point reagieren würden, wenn sie wüssten, wer die alte Trainingsbasis der Küstenwache übernommen hat und was wir hier treiben?»

«Kann ich, ziemlich gut sogar.» Sie würden sagen, dass ihr dem Schicksal in die Arbeit pfuscht, dachte Logan. Mit Leuten herummurkst, die von den Toten zurückgekehrt sind. Allmählich dämmerte ihm, warum seine Expertise gefragt war. «Und was genau ist hier passiert, wobei ich euch helfen kann?»

Ein Ausdruck von Überraschung huschte über Rushs Gesicht. «Oh, du verstehst da etwas falsch. Hier ist gar nichts passiert.»

Logan zögerte. «Du hast recht – ich habe wohl tatsächlich etwas falsch verstanden. Wenn das Problem, dem ihr euch gegenüberseht, nicht hier ist, warum hast du mich dann hierher bestellt?»

«Tut mir leid, wenn ich dir darauf keine direkte Antwort geben kann, Jeremy. Ich darf dir erst mehr sagen, wenn du an Bord bist.»

«Aber ich bin an Bord. Deswegen bin ich hier.»

Statt einer Antwort erhob sich Rush und trat an die gegenüberliegende Wand. «Nein, bist du nicht.» Mit einer fließenden Bewegung zog er die Jalousien hoch und gab den Blick auf ein Fenster frei, das vom Boden bis zur Decke und von einer Wand bis zur anderen reichte. Dahinter lag die Landepiste, die Logan auf dem Weg hierher bemerkt hatte. Und von seinem Aussichtspunkt hier oben konnte er noch mehr sehen: Die Piste lag nicht mehr verlassen da.

Ein schlanker, glänzender Learjet 85 stand dort in der Mittagssonne.

Rush zeigte mit dem Finger auf den Jet.

«Wenn du an Bord von dem da bist», sagte er.

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2

Fünf Personen befanden sich in der Maschine: Eine Zwei-Mann-Crew, dazu Logan, Rush und ein Mitarbeiter von CTS, der zwei Laptops und mehrere Ordner voller Laborergebnisse im Gepäck hatte. Nachdem der Jet gestartet war, entschuldigte sich Ethan Rush bei Logan und ging nach hinten, um sich mit seinem Mitarbeiter zu besprechen. Logan angelte die neueste Ausgabe von Nature aus seinem Seesack und blätterte sie durch, auf der Suche nach neuen Entdeckungen – oder Anomalien –, die vielleicht von beruflichem Interesse für ihn sein konnten. Dann wurde er schläfrig, legte das Magazin zur Seite und schloss die Augen. Er wollte nur fünf oder zehn Minuten dösen, doch als er erwachte, war es draußen dunkel, und Logan verspürte den desorientierten Schleier eines langen, tiefen Schlafes. Rush beobachtete ihn von seinem Platz gegenüber.

«Wo sind wir?», fragte Logan.

«Im Landeanflug auf Heathrow.» Er nickte in Richtung seines Mitarbeiters, der immer noch hinten saß. «Sorry deswegen – ich weiß wie du nicht genau, wie lange ich weg sein werde, und es gibt ein paar Dinge zu regeln, die nicht auf meine Rückkehr warten können.»

«Kein Problem.» Logan spähte aus dem Fenster auf die Lichter von London, die unter ihnen ausgebreitet lagen wie ein gigantischer gelb gesprenkelter Teppich. «Ist London das Ziel unserer Reise?»

Rush schüttelte den Kopf und lächelte. «Weißt du, ich fand es ziemlich merkwürdig, dass du, ohne zu fragen, in das Flugzeug gestiegen bist. Ich dachte, du würdest zumindest zweimal hingucken.»

«In meinem Job ist man sehr viel unterwegs. Ich habe immer einen Reisepass dabei.»

«Ja, das habe ich in einem Artikel über dich gelesen. Deswegen habe ich dich auch nicht extra gebeten, einen mitzubringen.»

«In den vergangenen sechs Monaten war ich ständig in anderen Ländern. Sri Lanka, Irland, Monaco, Peru, Atlantic City …»

«Atlantic City ist kein anderes Land», sagte Rush lachend.

«Hat sich aber so angefühlt.»

Sie landeten und rollten zu einem privaten Hangar, wo der CTS-Mitarbeiter mit den beiden Laptops und den Ordnern ausstieg, um einen Linienflug zurück nach New York zu nehmen. Rush und Logan aßen eine Kleinigkeit zu Abend, während der Jet betankt wurde. Als sie erneut in der Luft waren, setzte sich Rush neben Logan, auf dem Schoß eine schwarze Ledertasche.

«Ich werde dir jetzt ein Bild zeigen», sagte er. «Ich glaube, danach wirst du die Notwendigkeit der Geheimhaltung verstehen.» Er öffnete die Tasche und kramte ein wenig darin, dann zog er eine Ausgabe von Fortune hervor und hielt sie Logan hin.

Auf dem Titelblatt war ein Porträt eines Mannes Mitte fünfzig zu sehen. Das dichte, vorzeitig schneeweiß gewordene Haar war in der Mitte gescheitelt – eine eigenartig anachronistische Frisur, die Logan an einen Internatsschüler einer teuren Privatschule aus der viktorianischen Epoche erinnerte, Eton oder Harrow oder Rugby. Er sah dünn aus, was durch die starke Hintergrundbeleuchtung noch betont wurde, und die weichen, beinahe weiblichen Züge seines Gesichts standen in scharfem Kontrast zu der ungewöhnlich verwitterten Haut, gegerbt von zu viel Sonne oder Wind oder beidem. Obwohl der Mann auf dem Foto nicht lächelte, lag ein amüsiertes Glitzern in seinen blauen Augen, als würde er über einen heimlichen Scherz schmunzeln, den mit der Welt zu teilen er nicht die geringste Neigung verspürte.

Logan erkannte den Mann wieder – und wie Rush versprochen hatte, wurde die Heimlichtuerei plötzlich verständlich. Das Gesicht war das von H. Porter Stone, ohne jeden Zweifel der berühmteste – und mit weitem Abstand reichste – Schatzsucher der Welt. Auch wenn die Bezeichnung ihm wahrscheinlich nicht gerecht wurde – Stone war studierter Archäologe und hatte an der UCLA unterrichtet, bevor er die beiden Schiffe der Spanischen Armada entdeckt hatte, gesunken 1648 in internationalen Gewässern.

Die Schiffe – überreich beladen mit Gold und Silber und Juwelen und auf dem Rückweg von den Kolonien nach Spanien – machten Stone nicht nur auf einen Schlag steinreich, sondern auch berühmt, um nicht zu sagen berüchtigt. Dieser Ruhm wuchs noch mit den nachfolgenden Entdeckungen: einem Mausoleum und Schatzhaus der Inka, verborgen in einem Berggipfel dreißig Kilometer von Machu Picchu entfernt, einem riesigen Versteck von Specksteinfiguren – Vögeln, Tieren, Menschen – unter einem Hügelkomplex in den urzeitlichen Ruinen von Alt-Simbabwe. Weitere Funde hatten sich in schneller Folge angeschlossen. Welche antike Zivilisation wird er als Nächstes beklauen?, lautete die Bildunterschrift.

«Das ist es also?», fragte Logan ungläubig. «Wir gehen auf Schatzsuche? Eine archäologische Grabung?»

Rush nickte. «Genau genommen ein wenig von beidem. Stones jüngstes Projekt.»

«Und was ist es?»

«Du wirst nicht mehr lange im Dunkeln tappen.» Rush öffnete die Tasche erneut und schob das Magazin unter einen dünnen Stapel Papiere. Logan warf nur einen flüchtigen Blick darauf, doch er bemerkte, dass die Blätter mit Schriftzeichen vollgeschrieben waren, die aussahen wie Hieroglyphen.

Rush schloss die Tasche. «Ich kann dir so viel verraten: Es ist seine bisher größte Expedition. Und die geheimste. Zusätzlich zu der üblichen Erfordernis, im Verborgenen zu operieren, gibt es diesmal gewisse … unübliche logistische Probleme.»

Logan nickte. Er war nicht weiter überrascht. Stones Expeditionen waren zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit geraten. Sie zogen eine Menge Aufmerksamkeit an, sowohl von Seiten der Presse als auch von neugierigen Geschäftsleuten. In der Folge hatte sich Stone völlig zurückgezogen; er leitete seine Expeditionen nicht mehr selbst, sondern dirigierte sie aus der Ferne, nicht selten von der anderen Seite der Welt. «Ich muss dich fragen: Was hast du für Aktien in dieser Sache? Es kann nichts mit deinem Center zu tun haben – Stone interessiert sich doch nur für endgültige Tote. Lange Zeit tote Tote.»

«Ich bin quasi der leitende Arzt der Expedition. Aber ich habe auch andere, persönlichere Gründe.» Rush zögerte. «Hör mal, ich will mich wirklich nicht zieren oder so, aber es gibt ein paar Dinge, die kannst du erst begreifen, wenn du vor Ort bist. Ich kann dir so viel verraten: Es gibt gewisse, eigenartige Aspekte bei dieser Grabung, die sich erst in der letzten Woche ergeben haben. An dieser Stelle kommst du ins Spiel.»

«Okay. Dann habe ich hier eine Frage, die du vielleicht ausnahmsweise beantworten kannst. Heute Morgen in deinem Büro hast du erwähnt, dass du Narkosearzt warst, bevor du das Center gegründet hast. Wenn dem so war, wieso hattest du Schichtdienst in der Notaufnahme an dem Tag, an dem deine Frau eingeliefert wurde? Das hättest du als Anästhesist doch normalerweise seit Jahren hinter dir gehabt.»

Das Lächeln auf Rushs Gesicht erlosch. «Das ist eine Frage, die ich mir damals ständig anhören musste. Vor Jennifers Nahtod-Erfahrung, meine ich. Ich gab immer schnippische Antworten. Tatsache ist, ich hatte ursprünglich eine Ausbildung als Notarzt und Unfallspezialist, aber irgendwie konnte ich mich nicht an den Tod gewöhnen.» Er schüttelte den Kopf. «Ironie des Schicksals, oder? Oh, ich konnte mit natürlichen Todesursachen umgehen, kein Problem, mit Krebs und Lungenentzündung und Nierenversagen und allem. Aber plötzlicher, gewaltsamer Tod …»

«Für einen Notarzt ein ziemlicher Mühlstein», sagte Logan.

«Du sagst es. Die Angst vor dem plötzlichen Tod – oder der Konfrontation damit – war der Grund, aus dem ich das Fach gewechselt hatte und Anästhesist wurde statt Notarzt. Doch meine Angst verfolgte mich. Wegzulaufen half nicht weiter – ich musste imstande sein, dem Tod ins Auge zu sehen. Also machte ich alle zwei Wochen Dienst in der Unfallstation, um quasi in Kontakt zu bleiben, die Hand im Spiel zu behalten. Eine Art Buße.»

«Wie Mithridates», sagte Logan.

«Wer?»

«Mithridates VI., König von Pontos. Er lebte in ständiger Angst davor, vergiftet zu werden. Also versuchte er, sich zu immunisieren, indem er tagein, tagaus subletale Dosen einnahm, bis er tatsächlich immun wurde.»

«Gift nehmen, um immun zu werden», sinnierte Rush. «Klingt tatsächlich nach dem, was ich getan habe. Nun ja, nach dem Erlebnis mit meiner Frau gab ich das Praktizieren vollkommen auf und gründete die Klinik. Ich hörte auf, meine Angst vor dem Tod zu bekämpfen. Stattdessen zog ich einen positiven Nutzen daraus: Ich begann mit dem Studium derer, die der Umarmung des Todes entkommen konnten.»

«Warum eigens eine eigene Klinik gründen? Ich meine, soweit ich weiß, gibt es bereits eine Reihe von Organisationen, die sich mit Nahtod-Erfahrungen befassen. Es gibt ganze Studiengänge, die nichts anderes untersuchen.»

«Das ist richtig. Doch keine dieser Organisationen ist so groß und zentralisiert und konzentriert wie CTS. Abgesehen davon sind die Wege, die wir bei unseren Studien beschreiten, einzigartig.»

Rush erhob sich, und Logan drehte sich zum Fenster und blickte hinaus in die Nacht. Der Himmel war klar, und ein kurzes Studium der Sternbilder verriet ihm, dass sie nach Osten flogen. Doch wohin genau? Porter Stone hatte Expeditionen in jede Ecke der Welt geführt: Peru, Tibet, Kambodscha, Marokko … Der Mann hatte, was die Zeitungen und Nachrichtensendungen gerne die «Midas-Gabe» nannten. Es schien, als verwandelte sich alles, was er in Angriff nahm, in reines Gold.

Logan dachte an die Aktentasche und die Blätter voller Hieroglyphen. Dann schloss er die Augen.

Als er wieder erwachte, war es Morgen. Er streckte sich, rührte sich in seinem Sitz und spähte aus dem Fenster. Unter sich konnte er einen breiten, braunen Fluss erkennen mit einem schmalen Streifen Grün entlang der Ufer. Dahinter lag Wüste, nichts als Wüste. Logan erstarrte. Dort am Horizont erhob sich eine unverwechselbare, monolithische Silhouette – eine Pyramide.

«Ich wusste es», flüsterte er.

Rush saß ihm gegenüber. Als er Logan hörte, hob er den Kopf.

«Wir sind in Ägypten», sagte Logan.

Rush nickte.

Trotz eines sorgfältig kultivierten Stoizismus spürte Logan, wie ihn ein aufgeregtes Erschauern ergriff. «Ich wollte schon immer mal in Ägypten arbeiten!»

Rush seufzte halb amüsiert, halb bedauernd. «Ich muss dich enttäuschen, Jeremy. So einfach ist es nicht. Ägypten ist noch nicht das endgültige Ziel unserer Reise.»

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3

Logan war erst einmal in Kairo gewesen. Damals hatte er als Doktorand die Bewegungen der friesischen Soldaten im Verlauf des Fünften Kreuzzugs erforscht. Als sie nun vom Cairo International Airport über die Schnellstraße in Richtung Zentrum fuhren, gewann er den Eindruck, als wären die gleichen Fahrzeuge, die er schon vor zwanzig Jahren gesehen hatte, immer noch auf den Straßen. Uralte Fiats und Mercedes Benz voller Beulen und mit defekten Scheinwerfern rangelten hektisch um ihre Position und schufen sich ihre eigenen improvisierten Fahrbahnen – und das mit neunzig Stundenkilometern. Sie überholten altersschwache, rostige und überfüllte Busse; Menschentrauben hingen an den Seiten, wo sich vermutlich die Ein- und Ausstiege befanden. Hin und wieder erhaschte Logan einen Blick auf eine neue europäische Limousine, auf Hochglanz poliert und nahezu ausnahmslos schwarz, doch abgesehen von diesen wenigen Ausnahmen wirkte der gesamte Verkehr auf der Schnellstraße wie ein einziger fiebriger Anachronismus, eine Zeitkapsel aus einer früheren Epoche.

Logan und Rush saßen im Fond des Wagens und ließen den Anblick schweigend auf sich wirken. Logans Gepäck war an Bord des Flugzeugs geblieben. Ihr einheimischer Fahrer hatte seinen alten Renault geschickt durch das Labyrinth von Zubringerstraßen gesteuert und brachte sie nun ins Zentrum von Kairo. Logan sah Block auf Block nahezu identischer Betonbauten, senffarben gestrichen und ein halbes Dutzend Stockwerke hoch. Auf Balkonen trocknete Kleidung, über Schaufenstern spannten sich Markisen mit einer verwirrenden Vielfalt von Werbung. Auf den Flachdächern wimmelte es von Satellitenschüsseln, und zwischen den einzelnen Gebäuden spannten sich unzählige Kabel. Über allem hing eine schwach orangefarbene Dunstglocke. Die Sonne brannte erbarmungslos, die Hitze war unerträglich. Logan lehnte sich aus dem weit offenen Fenster und hechelte in der dieselschwangeren Luft.

«Vierzehn Millionen Menschen», sagte Ethan Rush mit einem Seitenblick auf Logan. «Zusammengepfercht auf einer Fläche von fünfhundert Quadratkilometern Stadt.»

«Wenn Ägypten nicht unser Ziel ist, was machen wir dann hier?»

«Nur ein kurzer Zwischenstopp. Wir sind noch vor Mittag wieder in der Luft.»

Als sie sich dem Stadtzentrum näherten und schließlich von der Schnellstraße abfuhren, wurde der Verkehr noch dichter. Bei jeder Annäherung an eine Kreuzung fühlte sich Logan an die Zufahrt zum Lincoln Tunnel erinnert, wenn Dutzende von Fahrzeugen sich auf ein oder zwei Spuren drängten. Fußgänger nutzten das Gedrängel aus und strömten kreuz und quer über die Straßen, manchmal nur um Millimeter von den Wagen verfehlt. Erstaunlicherweise kam es trotzdem zu keinen schwereren Unfällen.

In der Innenstadt waren die Gebäude nicht größer, doch die Architektur war abwechslungsreicher und erinnerte Logan an das Pariser Rive Gauche. Sicherheitskräfte traten zunehmend in Erscheinung: Schwarz uniformierte Polizisten standen in Wachhäuschen an Straßenkreuzungen, vor Hotels und Kaufhäusern blockierten massive Betonsperren die Eingänge, um Autobomben zu verhindern. Sie passierten die amerikanische Botschaft, eine Festung mit schweren Kaliber .50 Maschinengewehren auf den Türmen.

Einige Minuten später hielt der Wagen abrupt am Bürgersteig an. «Wir sind da», sagte Rush und öffnete seine Tür.

«Wo genau?», fragte Logan.

«Beim Ägyptischen Museum.» Rush stieg aus.

Logan folgte ihm, wobei er sorgfältig darauf achtete, das Gedränge zu meiden und die Fahrzeuge, die so nah an ihm vorbeifuhren, dass ihr Luftzug am Stoff seines Hemds zerrte. Er blickte hinauf zu der beeindrucken Rosenquarz-Fassade auf der anderen Seite der Plaza. Er hatte das Museum schon einmal während seines Forschungsaufenthalts besucht. Das aufgeregte Kitzeln, das er erstmalig an Bord des Flugzeugs verspürt hatte, wurde stärker.

Sie überquerten die Plaza und wehrten Talisman- und Souvenirverkäufer ab, die ihnen Leucht-Pyramiden und batteriebetriebene Kamele feilboten. Salven von Hochgeschwindigkeitsarabisch prasselten von allen Seiten auf Logan ein. Sie passierten eine Gruppe von Wachleuten, die den Haupteingang flankierten. Unmittelbar vor dem Eintreten hörte Logan, wie die elektronisch verstärkte Stimme eines Muezzin in der Moschee am Tahrir-Platz die Gläubigen zum Gebet rief und dabei den Lärm der Touristen und des Verkehrs mühelos übertönte. Während Logan innehielt, um zu lauschen, nahm ein anderer Muezzin in einer weiter entfernten Moschee den Ruf auf, dann ein dritter, ein vierter, und der Singsang entfernte sich dopplerartig weiter und weiter, bis er über der ganzen Stadt zu schweben schien.

Er spürte, wie ihn jemand am Ellbogen berührte. Es war Rush. Logan wandte sich um und betrat das Gebäude.

Der klassische Bau war selbst um diese frühe Stunde bereits überfüllt, auch wenn die verschwitzten Menschenmassen die steinernen Galerien bis jetzt noch nicht aufgewärmt hatten. Nach dem grellen Sonnenschein draußen wirkte das Innere des Museums außerordentlich dunkel. Logan und Rush durchquerten das Erdgeschoss und passierten zahllose Statuen und Steintafeln. Logan bemerkte, dass zahlreiche Ausstellungsstücke statt hermetisch versiegelt völlig ungeschützt präsentiert wurden. Trotz Dutzender Warntafeln, die den Gebrauch von Kameras untersagten und ausdrücklich verboten, die Artefakte anzufassen, trugen diese Spuren von zahlreichen Berührungen.

Sie gingen durch die letzte der Galerien und stiegen eine breite Treppe zur ersten Etage hinauf. Hier stand ein Sarkophag neben dem nächsten, ausgerichtet auf steinernen Sockeln wie Wächter der Schattenwelt. Entlang der Wände waren Vitrinenschränke aufgereiht mit Grabbeigaben aus Gold und Fayence. Die Schränke waren mit einfachen Drähten und Plomben aus Blei gesichert.

«Hättest du was dagegen, wenn ich mir für einen Moment die Grabbeigaben von Ramses III. ansehe?», fragte Logan und deutete auf eine Tür. «Ich glaube, sie liegen in dieser Richtung. Ich habe erst kürzlich im Journal of Antiquarian Studys von einem bestimmten Kanopenkrug aus Alabaster gelesen, den man dazu verwenden konnte, eine …»

Doch Rush unterbrach ihn, lächelte bedauernd, deutete auf seine Uhr und drängte Logan weiter.

Sie erreichten eine weitere Treppe, schmaler diesmal, ohne Brüstung, und erreichten die nächste Etage. Hier oben war es um einiges stiller, die Galerien mehr den Sammlungen für Gelehrte gewidmet: Stelen mit Inschriften, verwitterte, zerfallende Fragmente von Papyri. Die Beleuchtung war trüb und die Steinwände schmutzig. Einmal blieb Rush stehen, um sich auf einem winzigen, handgezeichneten Plan zu orientieren, den er aus der Tasche zog.

Logan spähte neugierig durch halb offene Türen. Er sah Berge von Papyri in Regalen, die vom Boden bis zur Decke reichten. Die Rollen waren übereinandergestapelt wie Weinflaschen im Gewölbe eines Sommeliers. Ein anderer Raum enthielt eine Sammlung von Masken alter ägyptischer Götter: Seth, Osiris, Thot. Logan fühlte sich geradezu erdrückt von der schieren Masse an Artefakten und unvergleichlichen Schätzen, vom Gewicht so vieler Antiquitäten auf allen Seiten.

Sie umrundeten eine Ecke, schließlich blieb Rush vor einer geschlossenen Holztür stehen. Auf der Tür stand in verblichenen, kaum noch lesbaren goldenen Lettern Archive III: Tanis-Sehel-Fayum. Rush bedachte Logan mit einem kurzen Blick, dann sah er rasch über die Schulter den Gang hinauf und hinunter, bevor er die Tür öffnete und Logan bedeutete einzutreten.

Im Raum dahinter war es noch dunkler als im Gang draußen. Eine Reihe von kleinen Fenstern direkt unter der hohen Decke ließ schmale Streifen von Sonnenlicht herein, stark gefiltert durch Dreck, der sich im Verlauf zahlloser Jahre ungehindert auf den Scheiben angesammelt hatte. Eine andere Beleuchtung gab es nicht.

Alle vier Wände waren vollgestellt mit Bücherschränken, angefüllt bis zum Bersten mit antiken Dokumenten, gebundenen Manuskripten, in Leder eingeschlagenen Notizbüchern und dicken Bündeln von Papyri, zusammengebunden mit vertrocknetem Leder und anscheinend ohne erkennbare Ordnung abgelegt.

Während Rush hinter sich die Tür schloss, trat Logan in den Raum hinein. Es roch stark nach Wachs und verwitterndem Papier. Das hier war ganz genau die Sorte von Raum, in der er sich wohl und in seinem Element fühlte, ein Archiv der fernen Vergangenheit, ein Ort, an dem Geheimnisse und Rätsel und seltsame Chroniken verwahrt wurden und geduldig darauf warteten, wiederentdeckt und ans Tageslicht zurückgeholt zu werden. Logan hatte mehr als genug Zeit in derartigen Räumen verbracht – und doch beschränkten sich seine Kenntnisse mehr oder weniger auf mittelalterliche Abteien und die Krypten von Kathedralen sowie die nicht öffentlich zugänglichen Sammlungen von Universitätsbibliotheken. Die Artefakte hier in diesem Raum – die Geschichten und Berichte und die tote Sprache, in der die meisten davon verfasst waren –, sie waren viel, viel älter.

In der Mitte des Raums stand ein langer und schmaler Tisch, umgeben von einem halben Dutzend Stühlen. Der Raum hatte so dunkel und still gelegen, dass Logan angenommen hatte, sie wären allein. Doch jetzt, nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bemerkte er einen Mann in arabischer Kleidung, der mit dem Rücken zu ihnen über eine antike Schriftrolle gebeugt am Tisch saß. Er hatte sich bei ihrem Eintreten nicht gerührt und rührte sich auch jetzt nicht. Offensichtlich war er vollkommen versunken in das, was er dort las.

Rush trat an Logans Seite. Er räusperte sich leise.

Noch immer rührte sich die Gestalt nicht. Schließlich drehte sie sich leicht in ihre Richtung. Der alte Mann – es war für Logan klar, dass es sich um einen älteren Gelehrten handeln musste – bemühte sich nicht, Augenkontakt zu ihnen herzustellen; stattdessen gab er mit einem leichten Nicken zu erkennen, dass er die Neuankömmlinge bemerkt hatte.

Er trug einen formellen, wenngleich recht fadenscheinigen grauen Thawb, dazu verblichene Baumwollhosen und ein Gewand mit Kapuze, die die einfache, schwarz-weiß gemusterte Ghutra um seine Stirn halb verbarg. Neben ihm stand eine winzige Tasse mit türkischem Kaffee auf einem abgewetzten Untersetzer aus Ton.

Logan verspürte einen unerklärlichen Anflug von Verärgerung wegen der Anwesenheit des Fremden. Rush war zweifellos hergekommen, um ein vertrauliches Dokument zu studieren – wie sollten sie ihre Angelegenheiten vor einem älteren Gelehrten verbergen, selbst wenn er so überheblich war, dass er sie kaum gegrüßt hatte?

Doch dann schob der Alte zu Logans Überraschung seinen Stuhl zurück und erhob sich behutsam, um sich zu ihnen umzudrehen. Er trug eine alte Lesebrille mit einem gesprungenen Glas, und sein zerfurchtes Gesicht war größtenteils unter dem Schatten der Kapuze verborgen. Er stand reglos da und musterte die Neuankömmlinge. Die Augen hinter der alten Brille waren nicht zu erkennen.

«Bitte entschuldigen Sie unsere Verspätung», sagte Rush.

Der Mann nickte. «Schon gut. Diese Schriftrolle wurde gerade richtig interessant.»

Logan starrte verwirrt von einem zum anderen. Der Fremde vor ihnen hatte in perfektem Englisch gesprochen – amerikanischem Englisch, um genau zu sein, mit einem leichten Bostoner Akzent.

Jetzt schlug er langsam und bedächtig seine Kapuze zurück und enthüllte einen üppigen Schopf schlohweißer Haare, sorgsam unter die Ghutra gekämmt. Er setzte die Brille ab, faltete sie und schob sie in eine Tasche seines Gewands. Der Mann musterte Logan. Selbst im schwachen Licht des Archivs war nicht zu übersehen, dass die Augen so blau waren wie das Wasser im Schwimmbad am ersten Tag der Sommerferien.

Plötzlich fiel es Logan wie Schuppen von den Augen.

Der Mann, den er vor sich sah, war niemand anderes als Porter Stone.

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4

Logan wich einen Schritt zurück. Rush wollte mit der Hand nach seinem Ellbogen greifen, doch Logan streifte sie mit einer instinktiven Bewegung ab. Die Überraschung verebbte bereits wieder und wich zunehmend Neugier.

«Dr. Logan», sagte Stone. «Es tut mir leid, Sie so zu überrumpeln. Aber wie Sie sich ohne Zweifel denken können, bin ich gezwungen, so wenig aufzufallen wie möglich.»

Er lächelte, doch seine Augen lächelten nicht mit. Augen, die weitaus durchbohrender, weitaus strahlender waren, als das Foto auf dem Titelblatt der Fortune vermittelt hatte. Hinter diesen Augen brannte nicht nur unübersehbar ein wacher Intellekt, sondern ein unstillbarer Hunger – ob nach Antiquitäten, Reichtum oder schierem Wissen, vermochte Logan nicht zu sagen. Der Mann war größer, als er erwartet hatte, doch seine Gestalt unter der arabischen Kleidung war von oben bis unten genauso hager wie auf den zahlreichen Fotos in der Presse.

Stone nickte Rush zu. Als Rush sich umwandte, um die Tür von innen zu verschließen, schüttelte Stone Logans Hand und bedeutete ihm, am Tisch Platz zu nehmen. Logan gewann keinen neuen Eindruck aus dem Händeschütteln – er spürte nur eine wilde, ungebändigte Energie, die überhaupt nicht zu der hageren Gestalt mit den beinahe weiblichen Gesichtszügen passen wollte.

«Ich hatte nicht erwartet, Sie hier anzutreffen, Dr. Stone», sagte Logan, als er sich setzte. «Ich dachte, Sie würden Ihre Projekte heutzutage nur noch aus der Ferne leiten.»

«Genau das sollen die Menschen glauben», entgegnete Stone. «Meistens stimmt es auch, aber alte Angewohnheiten sind schwer abzulegen. Es gibt selbst heute noch Augenblicke, da kann ich nicht widerstehen, selbst ein wenig zu graben und mir die Hände schmutzig zu machen.»

Logan nickte. Er konnte das sehr gut verstehen.

«Abgesehen davon ziehe ich es vor, wann immer möglich persönlich mit wichtigen Mitgliedern eines neuen Teams zu reden – insbesondere bei einem Projekt von solch immenser Bedeutung wie dem aktuellen. Und natürlich war ich sehr neugierig darauf, Sie kennenzulernen.»

Logan war bewusst, dass die blauen Augen ihn immer noch aufmerksam musterten. In ihrer Intensität lag etwas beinahe Erbarmungsloses – dort vor ihm stand ein Mann, dem man so leicht nichts vormachen konnte.

«Also bin ich Teil des Teams?», fragte Logan.

Stone nickte. «Selbstverständlich. Obwohl, um ehrlich zu sein, ich hatte eigentlich nicht damit gerechnet. Sie sind praktisch so etwas wie das Sahnehäubchen in letzter Minute.»

Rush nahm ihnen gegenüber am Tisch Platz. Stone schob die Schriftrolle beiseite, in der er gelesen hatte. Darunter kam ein dünner Hefter zum Vorschein. «Ich bin natürlich über Ihre Arbeiten im Bilde. Ich habe Ihre Monographie über den Wandelnden Draugen von Trondheim gelesen.»

«Das war ein interessanter Fall. Und es war schön, dass ich ihn publizieren durfte – das ist mir nur selten gestattet.»

Stone lächelte verständnisvoll. «Und es scheint, wir haben bereits eine Gemeinsamkeit gefunden, Dr. Logan.»

«Nennen Sie mich doch bitte Jeremy. Was für eine Gemeinsamkeit mag das sein?»

«Pembridge Barrow.»

Logan setzte sich überrascht auf. «Wollen Sie damit sagen, Sie haben …»

«In der Tat, das habe ich», erwiderte Stone.

Logan musterte den Schatzsucher mit neu erwachtem Respekt. Pembridge Barrow war eine von Stones kleineren, gleichwohl historisch bedeutsameren Entdeckungen gewesen. Ein Grab in Wales, das nach übereinstimmender Meinung der meisten Gelehrten die sterblichen Überreste Boadiceas, der englischen Königin des ersten nachchristlichen Jahrhunderts enthielt. Sie war in einem Streitwagen beigesetzt worden, umgeben von Waffen, Goldarmbändern und anderem Schmuck. Mit der Entdeckung des Grabes hatte Stone ein Rätsel gelöst, das die englischen Historiker jahrhundertelang beschäftigt hatte.

«Wie Sie wissen, hat die gelehrte Elite stets behauptet, Boadicea hätte den Tod durch römische Legionen gefunden, entweder in Exeter oder vielleicht auch in Warwickshire. Aber es war Ihre Dissertation – in welcher Sie argumentieren, dass sie diese Schlachten überlebte und mit vollen Ehren bestattet wurde –, die mich nach Pembridge führte», berichtete Stone weiter.

«Basierend auf den mutmaßlichen Bewegungen römischer Suchtrupps weit abseits der Watling Road», ergänzte Logan. «Nun, ich schätze, ich sollte mich geehrt fühlen.» Er war beeindruckt von Stones Gründlichkeit.

«Aber ich habe Sie nicht hergebeten, um über Pembroke zu reden. Ich wollte lediglich, dass Sie begreifen, worauf Sie sich einlassen.» Stone beugte sich vor. «Ich habe nicht vor, Sie einen blutigen Eid schwören zu lassen oder etwas ähnlich Melodramatisches.»

«Das freut mich zu hören.»

«Abgesehen davon, gehe ich natürlich davon aus, dass jemand, der auf Ihrem Gebiet arbeitet, vertrauenswürdig und verschwiegen ist.» Stone lehnte sich wieder zurück. «Haben Sie schon einmal den Namen Flinders Petrie gehört?»

«Sie meinen den Ägyptologen? Er hat das Neue Königreich bei Tell el-Amarna entdeckt, richtig? Und unter anderem auch die Merenptah-Stele.»

«Das ist richtig. Sehr gut.» Stone und Rush wechselten einen bedeutsamen Blick. «Dann wissen Sie wahrscheinlich auch, dass er zu der seltensten Sorte von Ägyptologen gehörte. Er war ein wahrer Gelehrter, gesegnet mit einem grenzenlosen Wissensdurst. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts, als alle anderen hektisch nach Schätzen gruben, suchte er nach etwas Beständigerem: Wissen. Er liebte es, von den bekannten Grabungsstellen – den Pyramiden und den Tempeln – abzuschweifen und weit nilaufwärts nach Tonscherben und Stücken von Piktogrammen zu suchen. Er machte die Ägyptologie in vielerlei Hinsicht zu einer respektablen Wissenschaft und sprach sich entschieden gegen Plünderungen und schludrige Dokumentation aus.»

Logan nickte. Bis jetzt hatte Stone ihm nichts Neues erzählt.

«Im Jahre 1933 war Sir Flinders Petrie der Grandseigneur der britischen Archäologie, geadelt vom König. Er hatte angeboten, dem Royal College of Surgeons seinen Kopf zu vermachen, sodass sein einzigartiges Genie bis in alle Ewigkeit studiert werden konnte. Als er in den Ruhestand ging, zogen er und seine Frau nach Jerusalem, wo er seine letzten Jahre zwischen den alten Ruinen verbringen konnte, die er so sehr liebte. Damit endet die Geschichte.»

Für einen kurzen Moment kehrte Stille ein. Dann zog Stone die schmuddelige Brille hervor, fummelte einen Moment daran herum und legte sie auf den Tisch.

«Nur dass sie in Wirklichkeit nicht damit endet. Weil Petrie im Jahr 1941 – nach Jahren des beschaulichen Ruhestands – Jerusalem ganz abrupt in Richtung Kairo verließ. Er informierte keinen seiner früheren Kollegen an der British School of Archeology über seine neue Expedition – und es besteht nicht der geringste Zweifel, dass es eine Expedition war. Er engagierte nur das absolute Minimum an Mitarbeitern – zwei oder höchstens drei, und auch das vermutlich nur wegen seines fortgeschrittenen Alters und seiner Gebrechlichkeit. Er stellte keinerlei Anträge auf Fördermittel – wie es scheint, hat er mehrere seiner wertvollsten Artefakte verkauft, um die Reise zu finanzieren. Nichts von alledem war typisch für Petrie – am merkwürdigsten von allem jedoch war seine große Eile. Er war stets für seine besonnene, vorsichtige und wissenschaftliche Arbeit bekannt gewesen. Doch diese Expedition nach Ägypten, während Nordafrika tief in den Wirren des Krieges steckte, war das genaue Gegenteil von Besonnenheit. Die Reise erscheint im Rückblick eher überstürzt, ja geradezu verzweifelt.»

Stone verstummte, um einen Schluck aus der winzigen Kaffeetasse zu nehmen. Für einen Moment schwebte das Aroma von qahwa sada in der Luft.

«Wohin genau Petrie reiste – und warum –, wurde nie bekannt. Bekannt wurde, dass er fünf Monate später nach Jerusalem zurückkehrte. Allein, alle Mittel erschöpft. Er wollte nicht verraten, wo er gewesen war. Die Aura von Verzweiflung blieb, doch die Reise hatte seinen bereits gebrechlichen Leib noch mehr geschwächt. 1942, nicht lange nach seiner Rückkehr, starb er in Jerusalem, allem Anschein nach, während er Geld für eine weitere Expedition nach Ägypten aufzutreiben versuchte.»

Stone stellte die Tasse auf den Tonuntersetzer und sah Logan an.

«Nichts davon steht in den historischen Aufzeichnungen», erwiderte Logan. «Wie haben Sie das alles herausgefunden?»

«Wie ich Sachen herausfinde, Dr. Logan?» Stone breitete die Hände aus. «Ich suche in den dunklen Ecken, in die zu blicken sich andere nicht die Mühe machen. Ich suche in öffentlichen und privaten Aufzeichnungen, immer auf der Suche nach jenem einen verlorenen Dokument, das versehentlich unter die anderen gerutscht ist und dort vergessen wurde. Ich lese alles und jedes, was ich in die Finger kriege – einschließlich, wie ich hinzufügen darf, obskurer Doktorarbeiten.»

Logan legte eine Hand auf die Brust und verneigte sich spöttisch.