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Beschreibung

Fear Base, eine verlassene Militärstation in Alaska. Ein kleines Team von Klimaforschern untersucht einen Berg, der den einheimischen Tunit heilig ist. Da bricht ein riesiges Stück vom Gletscher ab und legt eine Höhle frei. Im Eis entdecken die Forscher eine merkwürdige Kreatur, deren gelbe Augen sie feindselig anblicken. Als der Tunit-Schamane, einer der letzten Überlebenden des Stammes, erfährt, was die Männer entdeckt haben, warnt er sie: Es ist tödlich, dem Berg sein Geheimnis zu entreißen. Doch es ist bereits zu spät. Sully, der Leiter der Expedition, hat die Entdeckung einem Dokumentarfilmsender mitgeteilt. Ein ehrgeiziges Filmteam fällt in die Station ein. Zum Entsetzen der Wissenschaftler sägen die Dokumentarfilmer das Monstrum aus dem Eis, um es vor laufenden Filmkameras aufzutauen. Über Nacht verschwindet die Kreatur aus dem Tiefkühlcontainer. Am Morgen findet man ihr erstes Opfer – oder das, was von ihm übrig geblieben ist ...

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Lincoln Child

Nullpunkt

Thriller

 

 

 

Über dieses Buch

Fear Base, eine verlassene Militärstation in Alaska. Ein kleines Team von Klimaforschern untersucht einen Berg, der den einheimischen Tunit heilig ist.

Da bricht ein riesiges Stück vom Gletscher ab und legt eine Höhle frei. Im Eis entdecken die Forscher eine merkwürdige Kreatur, deren gelbe Augen sie feindselig anblicken.

Als der Tunit-Schamane, einer der letzten Überlebenden des Stammes, erfährt, was die Männer entdeckt haben, warnt er sie: Es ist tödlich, dem Berg sein Geheimnis zu entreißen.

Doch es ist bereits zu spät. Sully, der Leiter der Expedition, hat die Entdeckung einem Dokumentarfilmsender mitgeteilt. Ein ehrgeiziges Filmteam fällt in die Station ein. Zum Entsetzen der Wissenschaftler sägen die Dokumentarfilmer das Monstrum aus dem Eis, um es vor laufenden Filmkameras aufzutauen.

Über Nacht verschwindet die Kreatur aus dem Tiefkühlcontainer. Am Morgen findet man ihr erstes Opfer – oder das, was von ihm übrig geblieben ist …

Vita

Lincoln Child studierte Literatur und arbeitete viele Jahre als Lektor bei St. Martin’s Press. Gemeinsam mit seinem Freund Douglas Preston entwickelte er 1995 den Roman «Das Relikt», der innerhalb kürzester Zeit ein Millionenpublikum begeisterte. Sein erstes Soloprojekt war das Buch «Wächter der Tiefe», das 2008 mit großem Erfolg bei Wunderlich erschien. Heute lebt Child mit Frau und Tochter in Morristown, New Jersey.

Für Veronica

Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts wurde der Kadaver des Beresowka-Mammuts im östlichen Sibirien entdeckt. Das Tier war nahezu unverwest und wurde aufrecht sitzend aus dem Kiesschlamm ausgegraben. Es hatte ein gebrochenes Vorderbein, zweifellos verursacht durch einen Sturz von einer nahe gelegenen Klippe vor zehntausend Jahren. Der Mageninhalt war erhalten, und zwischen den Zähnen fand man Gräser und Butterblumen. Das Fleisch war noch essbar, doch, wie verlautbart, nicht wohlschmeckend.

Niemand hat je zufriedenstellend zu erklären vermocht, wie das Beresowka-Mammut und andere Tiere, die man in der Subarktis fand, einfrieren konnten, bevor sie von den Raubtieren und Aasfressern jener Zeit vertilgt wurden.

 

J. Holland, Alaska Science Forum

Dramatis Personae

Evan Marshall

Paläoökologe, Northern Massachusetts University

Wright Faraday

Evolutionsbiologe, NMU

Gerard Sully

Klimatologe, NMU

Ang Chen

Aufbaustudent, NMU

Penny Barbour

Computerwissenschaftlerin, NMU

Jeremy Logan

Historiker, «Enigmaloge»

Carradine

Ice Road Trucker, Fahrer von Ashleigh Davis

Usuguk

Schamane des aussterbenden Volkes der Tunit

Sergeant Paul Gonzalez

kommandierender Offizier, Fear Base, U.S. Army

Corporal Tad Phillips

Fear Base, U.S. Army

Corporal Marcelin

Fear Base, U.S. Army

Private First Class Donovan Fluke

Fear Base, U.S. Army

Wolff

Repräsentant von Terra Prime TV und Blackpool Enterprises

Emilio Conti

Regisseur und Produktionschef, Terra Prime TV

Kari Ekberg

Field Producer, Terra Prime TV

Ashleigh Davis

Starmoderatorin, Terra Prime TV

Jimmy Fortnum

Erster Kameramann, Terra Prime TV

Ken Toussaint

Zweiter Kameramann, Terra Prime TV

Hulce

Filmtechniker, Terra Prime TV

Neiman

Produktionsassistent, Terra Prime TV

George Creel

Vorarbeiter am Set, Terra Prime TV

Josh Peters

Produktionsassistent, Terra Prime TV

Percy Hunt

Historiker, Old Rag Lodge

Prolog

In der Abenddämmerung, als die Sterne einer nach dem anderen in den gefrorenen Himmel stiegen, näherte sich Usuguk dem Schneehaus so leise wie ein Fuchs. Am Morgen war frischer Schnee gefallen, und der Dorfälteste starrte hinaus über die grau-weiße arktische Ödnis, die sich endlos in alle Richtungen erstreckte bis hin zu einem bleichen, eisigen Horizont. Hier und da ragten Stücke von dunklem Permaeis aus der Schneedecke wie die Knochen prähistorischer Tiere. Der Wind wurde stärker und zerrte am Fell seiner Parkakapuze, und Eiskristalle brannten auf seinen Wangen. Ringsum stand eine Ansammlung kleinerer Iglus, unbeleuchtet und dunkel wie Gräber.

Usuguk schenkte alldem keine Aufmerksamkeit. Er spürte nichts außer dem rasenden Hämmern in seiner Brust und einer überwältigenden Angst.

Als er das Schneehaus betrat, blickte die kleine Gruppe von Frauen, die sich um das Moosfeuer drängten, zu ihm auf. In ihren Gesichtern stand Anspannung und Sorge.

«Moktok e inkarrtok», sagte er. «Es ist Zeit.»

Wortlos und mit zitternden Händen sammelten sie ihre wenigen Habseligkeiten ein. Sie legten Knochennadeln in Kästchen zurück und schoben Fellschaber und Flensmesser – Ulus – in ihre Parkas. Eine der Frauen, die auf Robbenfellstiefeln gekaut hatte, um sie weich zu machen, bündelte die Stiefel sorgfältig und wickelte sie in ein fadenscheiniges Tuch. Dann erhoben sich alle nacheinander und schlüpften durch die roh behauene Öffnung, die als Eingang diente. Nulathe begab sich als Letzte hinaus. Sie hielt den Kopf gebeugt vor Angst und Scham.

Usuguk wartete, bis das Karibufell wieder über die Öffnung gefallen war und den Blick nach draußen versperrte: das einsame Wirrwarr von Iglus, die trostlose eisige Landschaft, die sich über den gefrorenen See in Richtung der untergehenden Sonne erstreckte. Einen Augenblick lang stand er nur da. Er versuchte, die Beklemmung zu vertreiben, die sich auf ihn herabgesenkt hatte wie ein schwerer Umhang.

Dann wandte er sich ab. Es gab viel zu tun – und er hatte nur wenig Zeit.

Der Schamane bewegte sich behutsam in den hinteren Teil des Schneehauses, wo er eine Decke von einem kleinen Haufen Felle zog. Darunter kam eine Schachtel aus poliertem schwarzem Holz zum Vorschein. Vorsichtig nahm er sie in die Hand und stellte sie vor das Feuer. Als Nächstes zog er einen zeremoniellen, mit ritueller Sorgfalt zusammengelegten Amauti zwischen den Fellen hervor. Er streifte den Kapuzenparka über den Kopf, legte ihn zur Seite und zog den Amauti unter leisem Klimpern der kunstvollen Perlenbehänge an, bevor er sich im Schneidersitz vor der Schachtel niederließ.

Er saß eine Minute lang da und streichelte das Holz mit seinen alten, im Kampf gegen eine feindselige Umwelt krumm gewordenen Fingern. Dann öffnete er das Kästchen, entnahm ihm einen der Gegenstände, drehte ihn in den Händen und spürte seine Macht, lauschte, ob er ihm etwas zu erzählen hatte, um ihn anschließend wieder zurückzulegen. Das tat er der Reihe nach mit allen Objekten aus dem Kästchen. Er spürte die Angst in sich. Sie ruhte tief und schwer in seinem Innern wie unverdauter Tran. Er wusste nur allzu genau, was dieses Ding, das sie gesehen hatten, dieses grauenvolle Omen, zu bedeuten hatte. Es war erst ein einziges Mal vorher geschehen in der lebendigen Erinnerung des Volkes, vor vielen, vielen Generationen, obwohl das Geschehen, vor dem wärmenden Feuer im Schneehaus weitererzählt von Vater zu Sohn, so unheilvoll klang, als hätte es sich erst gestern ereignet.

Und doch – diesmal schien es in einem beängstigenden Missverhältnis zu stehen zu dem geringfügigen Vergehen, das es hervorgerufen hatte …

Der Schamane atmete tief durch. Sie alle vertrauten darauf, dass er den Frieden wiederherstellen und die natürliche Ordnung der Dinge wieder ins Gleichgewicht rücken würde. Doch es war eine erdrückende Aufgabe. Das Volk war inzwischen so geschrumpft, dass nur eine Handvoll von den Seinen übrig gewesen war, um ihn in das geheime Wissen der Vorfahren einzuweihen. Und selbst sie waren jetzt gegangen, übergetreten in die Geisterwelt. Er war der Einzige, der noch übrig war vom geheimen Orden der Natur.

Er griff unter den Amauti und zog eine Handvoll getrockneter Kräuter und Pflanzenteile hervor, die sorgfältig mit Fasern von arktischem Springkraut zusammengebunden waren. Er nahm das Büschel in beide Hände, hob es hoch und legte es auf das Feuer. Wolken aus grauem Qualm stiegen auf und erfüllten das Schneehaus mit dem Geruch nach Wald. Langsam und ehrfürchtig nahm er die Gegenstände aus dem Kästchen und arrangierte sie vor dem Feuer in einem Halbkreis: die Stoßzahnspitze eines seltenen weißen Walrosses, das sein Urururgroßvater gejagt und getötet hatte. Einen Stein in der Farbe des Sommersonnenlichts, geformt wie der Kopf eines Vielfraßes. Ein Karibugeweih, feierlich zersägt in einundzwanzig Teile, verziert mit kunstvollen Mustern aus winzigen, eingestanzten Löchern, jedes einzelne gefüllt mit Ocker.

Als letzten Gegenstand nahm er die winzige Figur eines Mannes hervor, erschaffen aus Rentierhaut, Elfenbein und Stoff. Er legte die Figur in die Mitte des Halbkreises. Dann, indem er seine Handflächen flach auf den Boden des Iglus presste und das Kinn auf die Brust sinken ließ, verneigte er sich tief vor den Symbolen.

«Mächtiger Kuuk’juag», inkantierte er. «Jäger der Gefrorenen Wüste, Beschützer des Volkes. Nimm deinen Zorn von uns. Gehe dahin im Mondlicht. Kehre zu den Wegen des Friedens zurück.»

Er setzte sich aufrecht hin. Dann streckte er die Hand nach dem ersten Gegenstand des Halbkreises aus, dem Walross-Stoßzahn, und drehte ihn im Uhrzeigersinn, bis er der kleinen Figur in der Mitte zugewandt war. Mit der Hand auf dem Stoßzahn sang er halb, halb betete er das Sühnegebet und flehte Kuuk’juag an, sich zu erbarmen und zu vergeben.

Die Verfehlung hatte sich am vorangegangenen Morgen ereignet. Während ihrer täglichen Arbeit hatte Nulathe unabsichtlich die Sehnen eines Karibus mit dem Fleisch einer Robbe in Berührung gebracht. Sie war müde gewesen und krank – nur so konnte man einen solchen Fehler erklären. Dennoch war die verbotene Tat begangen, das uralte Gesetz gebrochen. Die Seelen der toten Tiere, die in spirituellem Gegensatz zueinander standen, waren besudelt worden. Und Kuuk’juag der Jäger hatte ihren Zorn gespürt. Das erklärte, was Usuguks winzige Gruppe in der Nacht zuvor in der gefrorenen Ödnis gesehen hatte.

Das Gebet währte zehn Minuten. Dann – langsam, vorsichtig – bewegte Usuguk seine runzlige Hand zum nächsten Gegenstand und begann seinen Sprechgesang von neuem.

Die vollständige Zeremonie dauerte zwei Stunden. Endlich, nachdem sich der alte Mann ein letztes Mal vor der Figur verneigt hatte, sprach er einen Abschiedssegen, bevor er die Beine unter dem Körper hervorzog und sich unter Schmerzen aufrichtete. Wenn alles gutgegangen war, wenn er das Gebet richtig aufgesagt hatte, in der Weise seiner Vorfahren, würde der Makel von ihnen gehen, und der Jäger würde seine Wut bezähmen. Der Schamane umrundete das Feuer, zuerst im Uhrzeigersinn, dann entgegengesetzt. Dann kniete er vor dem Kästchen nieder und legte die Gegenstände, beginnend mit der kleinen Figur, einen nach dem anderen zurück.

Während er dies tat, vernahm er von draußen Lärm: Schreie, Schluchzen, Stimmen, die vor Verzweiflung und Schmerz laut klagten.

Rasch erhob er sich, und Angst umklammerte seine Brust. Er schlüpfte in seinen Parka, schlug das Karibufell zurück und trat hinaus ins Freie. Dort waren die Frauen, rauften sich die Haare und zeigten hinauf zum Himmel.

Er hob den Blick nach oben und stöhnte auf. Die Angst und die Beklemmung, die während des beruhigenden Rituals ein wenig abgeklungen waren, überwältigten ihn nun aufs Neue und mit verdoppelter Wucht. Sie waren zurück – und schlimmer als in der Nacht zuvor. Sehr viel schlimmer.

Die Zeremonie hatte nichts genutzt.

In diesem Augenblick erkannte Usuguk mit einer schauerlichen Gewissheit noch etwas: Dies war nicht das Resultat von etwas, das Nulathe oder eine der anderen Frauen angerichtet hatte. Es war nicht der bloße Zorn von Kuuk’juag oder eine versehentliche Entweihung. Nur ein Bruch des größten aller Tabus konnte diese Art von spiritueller Wut erzeugen, die er nun mit ansehen musste. Und Usuguk war gewarnt gewesen – wie die zahllosen Generationen vor ihm auch –, was für ein Tabu das war.

Nicht nur gewarnt gewesen – er hatte es gewusst. Usuguk hatte es gesehen …

Er starrte die Frauen an, die seinen Blick aus geweiteten Augen angstvoll erwiderten. «Packt zusammen, was ihr braucht», befahl er ihnen. «Morgen brechen wir nach Süden auf. Wir gehen zum Berg.»

1

«Hey, Evan. Mittagessen?»

Evan Marshall legte den Ziploc-Beutel zur Seite, erhob sich und massierte seinen Rücken. Die letzten neunzig Minuten hatte er mit dem Gesicht nur wenige Zentimeter über dem Boden verbracht und Proben des glazialen Sediments gesammelt. Es dauerte einen Moment, bis sich seine Augen wieder an die Umgebung gewöhnt hatten. Die Stimme, die ihn angesprochen hatte, war die von Sully, und jetzt konnte Marshall ihn auch erkennen: eine breite, leicht korpulente Gestalt in einem fellbesetzten Parka, die mit verschränkten Armen dreißig Meter weiter oben in dem steilen Tal stand. Hinter ihm erhob sich die Endzunge des Fear-Gletschers, ein sattes, mysteriöses Blau, durchzogen von zahlreichen weißen Bruchlinien. Große Eisbrocken lagen verstreut entlang der Basis wie monströse Diamanten, zusammen mit messerscharfen Splittern alter Lava. Marshall öffnete den Mund, um Sully zu warnen: Der Gletscher war genauso gefährlich wie schön, es war wärmer geworden, und die Eisfront kalbte mit ungeheurer Geschwindigkeit. Gewaltige Brocken lösten sich und stürzten herab, um alles unter sich zu begraben. Doch dann überlegte er es sich anders. Gerard Sully war stolz auf seine Position als nomineller Leiter der Expedition und mochte es überhaupt nicht, wenn ihm jemand sagte, was er tun sollte und was nicht. Also schüttelte Marshall nur den Kopf. «Ich denke, ich verzichte, danke.»

«Wie Sie meinen.» Sully wandte sich an Wright Faraday, den Evolutionsbiologen der Gruppe, der ein wenig weiter den Hang hinunter vor sich hin arbeitete. «Wie steht’s mit Ihnen, Wright?»

Faraday blickte auf, und seine wässrigblauen Augen wirkten unheimlich vergrößert hinter der Schildpattbrille. Er trug eine Digitalkamera an einem breiten Trageriemen um den Hals. «Nein danke», sagte er stirnrunzelnd, als wäre der bloße Gedanke, mitten während der Arbeit eine Essenspause einzulegen, eine unerhörte Häresie.

«Verhungert meinetwegen, wenn ihr es so wollt. Verlangt bloß nicht von mir, irgendetwas wieder mit zurückzunehmen.»

«Nicht mal einen Eiszapfen?», fragte Marshall.

Sully lächelte dünn. Er war ungefähr so klein wie Napoleon und eine Kombination aus Egoismus und Unsicherheit, die Marshall als ganz besonders ärgerlich empfand. An der Universität, wo Sully nur einer von vielen arroganten Wissenschaftlern war, hatte Marshall ihn noch ertragen, doch hier draußen auf dem Eis – ohne jede Fluchtmöglichkeit – war er absolut lästig geworden. Vielleicht, sinnierte er, vielleicht war es ja doch eine Erleichterung, dass ihre Expedition nur noch wenige Wochen dauern sollte.

«Sie sehen müde aus», stellte Sully fest. «Waren Sie gestern Nacht wieder unterwegs?»

Marshall nickte.

«Passen Sie lieber auf. Sie könnten in eine Lavaröhre fallen und erfrieren.»

«Schon gut, Mutter. Ich werde vorsichtig sein, versprochen.»

«Oder Sie laufen einem Polarbären über den Weg oder sonst irgendwas.»

«Kein Problem – ich sehne mich geradezu nach geistreicher Konversation.»

«Das ist kein Witz! Wenn Sie sich wenigstens nicht weigern würden, eine Pistole zu tragen!»

Marshall gefiel die Richtung nicht, die ihre Unterhaltung nahm. «Hören Sie, wenn Sie Ang begegnen, sagen Sie ihm, ich habe ein paar Proben fertig für den Transport ins Labor.»

«Mache ich. Wahrscheinlich ist er ganz außer sich vor Aufregung.»

Marshall sah dem Klimaforscher hinterher, wie er vorsichtig den Hang hinunter in Richtung der Basis am Fuß des Hügels kletterte. Er nannte sie «ihre» Basis, doch in Wirklichkeit gehörte sie natürlich der Regierung der Vereinigten Staaten und hieß offiziell «Mount Fear Remote Sensing Installation». Sie war vor beinahe fünfzig Jahren in Betrieb genommen worden und bestand im Wesentlichen aus einem niedrigen, grauen, institutionell aussehenden Gebäude, auf dem es von Radarkuppeln und anderen Überbleibseln des Kalten Krieges nur so wimmelte. Hinter dem Camp lag eine eisige Landschaft aus Permafrost und Lavaablagerungen, die der Berg vor Ewigkeiten aus seinen Eingeweiden gespien hatte, von Gräben durchzogen und aufgebrochen, als hätte die Erde sich selbst in geologischer Agonie zerrissen. An vielen Stellen war die Oberfläche unter ausgedehnten Schneefeldern verborgen. Es gab keine Straßen, keine anderen Gebäude, keine Lebewesen. Die Umgebung war so feindselig, so abgelegen und so fremdartig wie der Mond.

Marshall streckte sich und ließ den Blick über die unwirkliche Landschaft schweifen. Selbst nach vier Wochen vor Ort fiel es ihm noch schwer, zu glauben, dass eine Gegend so karg und öde sein konnte. Andererseits hatte die ganze Expedition von Anfang an etwas Unwirkliches gehabt. Unwirklich die Tatsache, dass ein Medienriese wie Terra Prime ausgerechnet ihre Anträge auf Bezuschussung bewilligt hatte: vier Wissenschaftler von der Northern Massachusetts University mit keinerlei Gemeinsamkeit außer dem Interesse an der globalen Erwärmung. Unwirklich, dass die Regierung ihnen die Genehmigung zur Nutzung der Fear Base erteilt hatte, wenn auch für einen stattlichen Mietpreis und mit strikten Beschränkungen. Und unwirklich, dass die Erwärmung selbst mit solch atemberaubender, geradezu furchteinflößender Geschwindigkeit vor sich ging.

Er wandte sich mit einem Seufzer ab. Seine Knie schmerzten vom stundenlangen Kauern über der Endmoräne, in der er seine Proben gesammelt hatte. Fingerspitzen und Nase waren halb erfroren. Und um das Fass voll zu machen, war der Schnee einem Schneeregen gewichen, ungemütlicher Nässe, die langsam durch drei Lagen Kleidung zu seinen intimsten Stellen drang. Doch Tageslicht war rar in dieser Jahreszeit, und das Forschungsfenster schloss sich rasch. Er war sich sehr deutlich bewusst, wie wenig Zeit ihm noch blieb. Daheim in Woburn, Massachusetts, würde es mehr als genug zu essen geben, und dort würde er auch mehr als genug Zeit haben zum Essen.

Als er sich umwandte, um die Probenbeutel aufzuheben, hörte er Faraday sagen: «Vor fünf Jahren, ach, was sage ich – vor zwei Jahren hätte ich so etwas nicht für möglich gehalten. Regen!»

«Das ist kein Regen, Wright. Es ist Schneeregen.»

«Meinetwegen, dann eben Schneeregen. In der Zone, meine Güte, obwohl der Winter vor der Tür steht? Unglaublich!»

Die «Zone» war ein ausgedehntes Gebiet im nordöstlichen Alaska, am Arktischen Ozean, eingekeilt zwischen dem Arctic National Wildlife Refuge auf der einen Seite und dem Yukon Ivvavik National Park auf der anderen. Es war eine so trostlose und kalte Gegend, dass niemand etwas mit ihr zu tun haben wollte. Die Temperaturen schafften es nur an wenigen Monaten im Jahr, null Grad zu übersteigen. Vor Jahren hatte die Regierung die Gegend zur Federal Wilderness Zone erklärt und in der Folge prompt vergessen, dass sie überhaupt existierte. Es gab, sinnierte Marshall, wahrscheinlich nicht mehr als zwei Dutzend Leute in dem achttausend Quadratkilometer großen Gebiet: ihr eigenes wissenschaftliches Team, bestehend aus fünf Personen, die Rumpfbesatzung der Station, vier Mann, eine kleine Gruppe eingeborener Amerikaner im Norden und ein paar Rucksacktouristen und Einzelgänger, die zu exzentrisch oder zu hart waren, um sich mit irgendetwas außer der abgelegensten Gegend der Welt zufriedenzugeben. Wie eigenartig der Gedanke doch war, dass sich kaum ein Mensch weiter nördlich auf dem Planeten aufhielt als ihre Gruppe.

Ein plötzlicher, gewaltiger Knall wie ein Kanonenschlag ließ das Gletschertal mit der Wucht eines Erdbebens erzittern. Das Geräusch hallte über die Tundra unter ihnen und erschütterte die tiefe Stille. Es wurde wie ein Tennisball hin und her geworfen und dann immer leiser, bis es in der endlosen Ferne verhallte.

Über ihnen hatte der Gletscher erneut gekalbt. Tonnen von Eis und Schnee waren herabgestürzt auf den gefrorenen Haufen Geröll entlang der vorderen Gletscherkante. Marshall spürte, wie sein Herz einen erschrockenen Satz machte. Ganz gleich, wie oft er das Geräusch auch hörte, seine schiere Wucht war jedes Mal ein Schock.

Faraday zeigte darauf. «Sehen Sie? Das ist genau, was ich meine. Ein Talgletscher wie der Fear sollte in einer hübschen, dünnen Gletscherzunge auslaufen, mit einem Minimum an Schmelzwasser und einer gesunden Perkolationszone, in der nur im Sommer vereinzelt Schmelzen auftreten. Aber das hier – als würde ein Wassergletscher kalben. Ich habe die basale Schmelze gemessen …»

«Das ist Sullys Job, nicht Ihrer.»

«Ich habe die basale Schmelze gemessen, und sie sprengt jede Vorstellung.» Faraday schüttelte den Kopf. «Regen, eine beispiellose Gletscherschmelze … und das ist noch längst nicht alles. Beispielsweise die Nordlichter in den vergangenen Nächten. Haben Sie sie auch bemerkt?»

«Selbstverständlich. Eine einzige Farbe – es war spektakulär. Und ungewöhnlich.»

«Ungewöhnlich …», wiederholte Faraday nachdenklich.

Marshall sagte nichts. Seiner Erfahrung nach hatte jede wissenschaftliche Expedition, selbst eine so kleine wie die ihre, ihre ganz persönliche Kassandra. Wright Faraday mit seinem ungeheuren Lernvermögen, seinem pessimistischen Ausblick auf das Leben, seinen dunklen Theorien und seinen ungeheuerlichen Vorhersagen spielte die Rolle meisterhaft. Marshall warf einen verstohlenen Blick auf den Biologen. Obwohl er ihn von der Universität her flüchtig als einen Kollegen kannte, wurde er doch nicht schlau aus dem Mann.

Trotzdem, dachte Marshall, während er einen neuen Beutel füllte und verschloss und die Probennummer in einem Notizbuch vermerkte, trotzdem hatte Faraday nicht ganz unrecht. Und das war ein Grund, warum Marshall selbst mit beinahe panischem Fleiß Proben sammelte. Ein Gletscher bildete den perfekten Ort für seine Art von Forschung. Während seiner Entstehung, während er Schnee akkumulierte, fing der Gletscher zugleich organische Überreste ein: Pollen, Pflanzenfasern, Überreste von Tieren. Später, viel später, wenn der Gletscher sich wieder zurückzog und langsam schmolz, entließ er all seine Geheimnisse wieder in die Freiheit. Ein Paradies für einen Paläoökologen, eine Fundgrube aus der Vergangenheit.

Nur dass am Rückzug dieses Gletschers nichts langsam oder graziös war. Er fiel praktisch auseinander, mit erschreckender Geschwindigkeit – und riss dabei seine Geheimnisse mit sich.

Wie auf ein Stichwort hin gab es eine weitere ohrenbetäubende Explosion an der Gletscherfront. Eine zitternde Kaskade aus Eis regnete ins Meer. Marshall wandte den Kopf in Richtung des Geräuschs und verspürte eine Mischung aus Verärgerung und Ungeduld. Diesmal war eine viel größere Sektion des Gletschers heruntergebrochen. Mit einem Seufzer beugte er sich hinunter zu seinen Proben und starrte dann wieder zum Gletscher. Zwischen den geborstenen Eisbrocken an seiner Basis konnte er sehen, dass durch das Kalben ein Teil der Bergflanke unter der Eisdecke freigelegt worden war.

Er blinzelte einen Moment. Dann rief er Faraday zu: «Sie haben doch den Feldstecher dabei, oder?»

«Hier bei mir.»

Der Biologe zog den Feldstecher aus der Tasche und hielt ihn mit schwerer behandschuhter Hand. Marshall nahm das Fernglas, hauchte die Okulare an, um sie aufzuwärmen, dann wischte er die Kondensation ab und hob den Feldstecher an die Augen, um den Gletscher genauer zu inspizieren.

«Was gibt es denn?», fragte Faraday. Die Aufregung ließ seine Stimme zittern. «Was sehen Sie?»

Marshall leckte sich über die Lippen, während er auf das starrte, was das herabstürzende Eis freigegeben hatte. «Eine Höhle», antwortete er. «Es ist eine Höhle.»

2

Eine Stunde später standen sie vor den Eistrümmern am Fuß der Gletscherfront. Der gefrierende Regen hatte aufgehört, und eine schwache Sonne kämpfte darum, die metallgrauen Wolken zu durchdringen. Marshall rieb sich zitternd die Arme in dem Versuch, sich zu wärmen. Er blickte sich zu der versammelten Gruppe um. Sully war zurückgekehrt und hatte Ang Chen mitgebracht, den Aufbaustudenten des Teams. Mit Ausnahme von Penny Barbour, ihrer Computerspezialistin, war die gesamte Expedition vor dem Gletscherabbruch versammelt.

Die Höhle lag direkt vor ihnen. Die schwarze Öffnung des Eingangs hob sich deutlich ab vom klaren Blau des Gletschereises. Es kam Marshall so vor, als blickte er in den Lauf einer gigantischen Kanone. Sully starrte hinein und kaute geistesabwesend auf der Unterlippe.

«Ein beinahe perfekter Zylinder», bemerkte er.

«Ohne Zweifel ein Abzweigkanal», sagte Faraday. «Der gesamte Mount Fear ist durchlöchert von diesen Kanälen.»

«Die Basis vielleicht», verbesserte Marshall ihn. «Aber in dieser Höhe sind sie doch sehr ungewöhnlich.»

Unvermittelt brach eine weitere Sektion des blauen Eises etwa einen Kilometer weiter im Süden von der Gletscherwand ab und stürzte in hausgroßen Brocken auf die Trümmerwüste darunter. Eine Wolke aus Eissplittern stob auf. Chen zuckte heftig zusammen, und Faraday hielt sich die Ohren zu. Marshall schnitt eine Grimasse, als der Berg unter seinen Füßen erzitterte.

Es dauerte einige Minuten, bis das rollende Echo verklungen war. Als endlich wieder Stille herrschte, stieß Sully ein Grunzen aus. Er blickte von der Eiswand zum Höhleneingang zu Chen. «Haben Sie die Videokamera dabei?», fragte er.

Chen nickte und klopfte auf die Ausrüstungstasche, die er über der Schulter trug.

«Dann schalten Sie sie ein.»

«Sie haben doch wohl nicht vor reinzugehen, oder etwa doch?», fragte Faraday.

Anstelle einer Antwort richtete sich Sully zu seinen vollen eins fünfundsechzig auf, zog den Wanst ein und richtete die Kapuze seines Parkas, um sich für die Kamera bereit zu machen.

«Das ist keine gute Idee», fuhr Faraday fort. «Sie wissen selbst, wie brüchig diese Lavaformationen sind.»

«Das ist noch nicht alles», fügte Marshall hinzu. «Haben Sie nicht bemerkt, was gerade passiert ist? Jeden Augenblick könnte weiteres Eis herunterbrechen und den Eingang zur Höhle verschütten.»

Sully starrte unentschlossen zum Höhleneingang. «Sie würden es bestimmt wollen.»

Mit «sie» war Terra Prime gemeint, der Kabelsender, der sich Wissenschaft und Natur verschrieben hatte und die Expedition finanzierte.

Sully rieb sich mit einer behandschuhten Hand das Kinn. «Evan, Wright, Sie können meinetwegen draußen bleiben. Ang wird mich mit der Kamera begleiten. Wenn irgendwas passiert, sollen die Jungs von der Armee uns im Helikopter rausholen.»

«Zum Teufel damit!», sagte Marshall, ohne zu überlegen, und grinste. «Wenn Sie vergrabene Schätze entdecken, will ich meinen Anteil daran.»

«Sie haben es selbst gesagt – es ist nicht ungefährlich.»

«Umso mehr Grund, dass Sie Hilfe brauchen», entgegnete Marshall.

Sully schob aufsässig die Unterlippe vor, und Marshall wartete schweigend. Dann gab der Klimatologe nach. «Also schön, meinetwegen. Wir beeilen uns, so gut wir können, Wright.»

Faraday blinzelte mit seinen wässrig blauen Augen und schwieg.

Sully wischte ein paar Schneeflocken von seinem Parka und räusperte sich. Er warf einen vorsichtigen Blick die steile Eisfront hinauf, dann postierte er sich vor der Kamera. «Wir stehen hier vor der Gletscherzunge», sagte er in gedämpftem, melodramatischem Tonfall. «Das zurückweichende Eis hat eine Höhle freigelegt, die sich in die Flanke des Berges schmiegt, und wir machen uns nun daran, sie zu erkunden.» Er legte eine dramatische Pause ein, dann signalisierte er Chen, die Aufzeichnung zu unterbrechen.

«Haben Sie gerade wirklich ‹schmiegt› gesagt?», fragte Marshall.

Sully ignorierte die Bemerkung. «Los, gehen wir.» Er zog eine große Taschenlampe aus seinem Parka. «Ang, halten Sie die Kamera auf mich gerichtet, während wir hineingehen.»

Er setzte sich in Bewegung, und der schlaksige Chen folgte ihm gehorsam auf dem Fuß. Einen Augenblick später zog Marshall seine eigene Taschenlampe hervor und schloss sich den beiden Männern an.

Sie bahnten sich langsam und vorsichtig einen Weg durch das Trümmerfeld aus Eis und Schnee. Manche Eisbrocken waren faustgroß, andere so gewaltig wie ein ganzes Haus. Im schwachen Tageslicht leuchteten sie so blassblau wie der Oktoberhimmel. Rinnsale aus Schmelzwasser plätscherten. Die drei Männer näherten sich der Eiswand und traten in den Schatten des Gletschers. Marshall blickte nervös zu der gewaltigen Mauer aus Eis hinauf, doch er sagte nichts.

Aus der Nähe sah der Höhleneingang noch schwärzer aus. Ein kalter Lufthauch schlug ihnen entgegen. Marshalls halb erfrorene Nase zwickte. Wie Sully bereits gesagt hatte, war der Querschnitt ziemlich rund: der typische Sekundärschlot eines nicht mehr aktiven Vulkans. Der Gletscher hatte den umgebenden Fels beinahe spiegelglatt geschliffen. Sully zeigte mit seiner Taschenlampe auf den Eingang, bevor er sich zu Chen umdrehte. «Schalten Sie die mal für einen Moment aus.»

«Okay.» Der Student senkte die Kamera.

Sully zögerte, dann sah er zu Marshall. «Faraday hat keine Witze gemacht. Dieser ganze Berg ist ein großer Haufen instabiler Lava. Halten Sie Ausschau nach Rissen. Sollte die Röhre instabil erscheinen, kehren wir augenblicklich um.»

Er wandte sich zu Chen um und bedeutete ihm, wieder mit Filmen anzufangen. «Wir gehen hinein», sagte er, an die Kamera gewandt, dann drehte er sich um und betrat die Höhle.

Die Decke war nicht sehr niedrig – mindestens drei Meter hoch –, und trotzdem duckte sich Marshall instinktiv, als er Chen ins Innere folgte. Die Höhle führte geradewegs ins Innere des Berges und fiel dabei sanft nach unten ab. Vorsichtig tasteten sie sich voran und leuchteten mit ihren Taschenlampen die Lavawände ab. Im Innern der Höhle war es noch kälter als draußen auf dem Eisfeld, und Marshall zog die Kapuzenschnur seines Parkas eng zusammen.

«Warten Sie», sagte er. Der Strahl seiner Taschenlampe war auf einen Haarriss in der Lava gefallen. Er ließ das Licht über seine gesamte Länge wandern, dann betastete er ihn vorsichtig mit der freien Hand.

«Sieht fest aus», sagte er.

«Dann gehen wir weiter», erwiderte Sully. «Vorsichtig.»

«Ich finde es erstaunlich, dass dieser Schlot nicht längst unter dem Gewicht des Gletschers eingestürzt ist», sagte Chen.

Schritt für Schritt drangen sie tiefer in die Höhle ein. Wenn sie sprachen, dann ganz leise, beinahe im Flüsterton.

«Der Boden unter dem Schnee hier ist von einer Eisschicht bedeckt», sagte Sully nach einer Weile. «Sie zieht sich über die gesamte Breite und ist bemerkenswert eben.»

«Und die Höhle führt immer tiefer in den Berg hinein», sagte Marshall. «Irgendwann einmal muss dieser Schlot mit Wasser gefüllt gewesen sein.»

«Und es muss mit bemerkenswerter Geschwindigkeit gefroren sein», sagte Sully. «Weil …» In diesem Moment rutschte der Klimatologe aus. Er stieß einen Schreckenslaut aus und fiel der Länge nach schwer auf das Eis.

Marshall zuckte zusammen. Das Herz rutschte ihm fast in die Hose, und er wartete darauf, dass die Decke ringsum einstürzte. Als nichts geschah und er sah, dass Sully unverletzt war, wich sein Erschrecken Verwirrung. «Das haben Sie doch gefilmt, Ang, oder?»

Der Aufbaustudent war totenblass geworden, aber jetzt grinste er. «Sicher, hab ich.»

Sully erhob sich mühselig, verzog das Gesicht und wischte sich mürrisch den Schnee von der Kleidung. «Das ist ein ernster Moment, Evan. Bitte vergessen Sie das nicht.»

Sie kamen noch langsamer voran als zuvor. Es war unheimlich still in der Höhle; das einzige Geräusch war das Knirschen ihrer Schritte auf der dünnen Schneeschicht. Die Lavawände rechts und links waren fast schwarz. Sully führte die Gruppe behutsam tiefer, wobei er den Schnee mit den Stiefeln zur Seite wischte und den Lichtkegel seiner Taschenlampe immer wieder über den vor ihnen liegenden Pfad schwenkte.

Chen spähte in die Dunkelheit vor ihnen. «Sieht aus, als weite sich die Höhle weiter vorn …», sagte er.

«Das ist gut», erwiderte Sully. «Weil die Eisschicht dicker wird und …»

In diesem Moment fiel er erneut, doch nicht aus Unbeholfenheit: Marshall erkannte augenblicklich, dass der Wissenschaftler diesmal vor schierer Überraschung zu Boden gegangen war. Hektisch wischte Sully den Schnee von der Eisschicht und leuchtete mit seiner Taschenlampe auf das Eis darunter. Chen ließ sich neben ihm auf die Knie nieder. Er schien die Kamera vergessen zu haben. Rasch trat Marshall zu den beiden und spähte ihnen über die Schulter auf das Eis vor ihnen.

Mit einem Frösteln, das nichts mit der Kälte in der Höhle zu tun hatte, sah Marshall, was Sully entdeckt hatte. Dort, im Eis unter ihren Füßen, starrten zwei faustgroße Augen – gelb mit schwarzen, ovalen Pupillen – feindselig zu ihnen hinauf.

3

Den Weg den Berg hinunter legten sie schweigend zurück. Die Entdeckung würde grundlegend verändern, was bis zu diesem Augenblick eine unauffällige, unglamouröse, ja monotone wissenschaftliche Expedition gewesen war. Was all dies bedeutete, vermochte keiner der Teilnehmer zu sagen. Doch von diesem Moment an war nichts mehr wie vorher.

Zur gleichen Zeit stellte sich jeder Einzelne insgeheim die Frage: Was zum Teufel ist das für ein Ding?

Sully brach das Schweigen. «Wir hätten einen Eiskern zum Testen mitnehmen sollen.»

«Wie lange ist es schon dort, was schätzen Sie?», fragte Chen.

«Der Fear ist ein Gletscher aus der letzten Kaltzeit, aus dem marinen Sauerstoff-Isotopenstadium zwei», erwiderte Marshall. «Diese Höhle muss also seit mindestens zwölftausend Jahren verschüttet sein. Vielleicht auch schon viel länger.»

Erneut senkte sich Schweigen über die Gruppe. Die Sonne hatte sich endlich ihren Weg durch die tiefhängenden Wolken gebrannt. Während sie dem Horizont entgegensank, ließ sie die Schneedecke in den leuchtendsten Farben glänzen.

Geistesabwesend nahm Marshall eine Schneebrille aus der Tasche und setzte sie auf. Er musste ständig an die unergründlichen toten Augen unter dem Eis denken.

«Wie spät ist es in New York?», fragte Sully nach einer Weile.

«Halb acht vorbei», antwortete Faraday.

«Dann sind wahrscheinlich längst alle zu Hause. Wir versuchen es gleich morgen früh. Ang, sorgen Sie bitte dafür, dass das Satellitentelefon noch vor dem Frühstück einsatzbereit ist?»

«Sicher. Aber ich werde Gonzalez um neue Batterien bitten müssen, weil …» Chen verstummte mitten im Satz. Marshall blickte auf und sah, was den Aufbaustudenten zum Schweigen gebracht hatte.

Die Basis lag mehrere Hundert Meter unterhalb. Das lange, niedrige Bauwerk wirkte rostig und abweisend im Licht der untergehenden Sonne. Sie waren dem Gletschertal in einem sanften Bogen gefolgt, und der Haupteingang der Basis war hinter dem Sicherheitszaun in Sicht gekommen. Die Computerspezialistin der Expedition, Penny Barbour, stand in Jeans und einem karierten Flanellhemd auf dem betonierten Vorfeld zwischen dem Wachhaus und der ins Gebäudeinnere führenden Doppeltür. Ihre kurzen, mausbraunen Haare hingen ihr schlaff in die Stirn. Neben ihr stand Paul Gonzalez, der diensthabende Sergeant des winzigen Außenpostens, der die Fear Base einsatzfähig hielt.

Vier Gestalten in schweren Parkas mit Hosen aus Polarbärenfell und Mukluks aus Tierhaut umringten die beiden. Eine der Gestalten hielt ein Gewehr, die anderen trugen Speere oder Bögen auf dem Rücken. Obwohl ihre Gesichter nicht zu sehen waren, war Marshall sicher, dass sie amerikanische Ureinwohner aus dem kleinen Lager weiter im Norden waren.

Marshall war nicht sicher, ob er Neugier oder Besorgnis empfinden sollte. Die Gruppe beschleunigte ihre Schritte. Schon seit einem Monat waren die Wissenschaftler vor Ort, ohne bisher Kontakt mit den Indianern gehabt zu haben. Tatsächlich wussten sie nur deswegen von ihrer Existenz, weil die Soldaten in der Basis sie einmal erwähnt hatten. Warum sollten sie ausgerechnet den heutigen Tag ausgewählt haben, um der Station einen Besuch abzustatten?

Als die Wissenschaftler den Zaun und das leerstehende Wachhaus passierten, wandte sich die Gruppe auf dem Vorplatz zu ihnen um. «Diese Bande hier hat vor nicht mal zwei Minuten angeklopft», sagte Barbour in ihrem breiten Nordlondoner Akzent. «Der Sergeant und ich sind rausgegangen, um sie zu begrüßen.» Ihr freundliches Gesicht wirkte ein wenig verkniffen und besorgt.

Sully sah Gonzalez an. «Hat es so etwas schon einmal gegeben?», fragte er.

Gonzalez war Mitte fünfzig und stämmig und strahlte den scharfsichtigen Fatalismus eines Berufssoldaten aus. «Noch nie», antwortete er. Er hakte sein Funkgerät vom Gürtel, um die übrigen Soldaten zu alarmieren, doch Sully schüttelte den Kopf.

«Das wird nicht nötig sein, Sergeant», sagte er, dann wandte er sich an Barbour: «Sie machen besser, dass Sie ins Warme kommen.» Er sah ihr hinterher, bis sie hinter der Tür verschwunden war, dann räusperte er sich und drehte sich zu den Gästen um. «Möchten Sie hereinkommen?», fragte er, indem er jedes Wort sehr langsam und deutlich aussprach und zur Tür deutete.

Die Ureinwohner antworteten nicht. Es waren drei Frauen und ein Mann, bemerkte Marshall, und der Mann war sehr viel älter als die Frauen. Sein Gesicht war von den vielen Jahren in Kälte und Sonne verschrumpelt, und die Haut sah ledrig aus. Seine Augen aber waren von einem klaren, tiefen Braun. Er trug große Ohrringe aus Tierknochen, wunderbar detailliert geschnitzte Stücke, und im Fell seines Kragens steckten Federn. Seine Wangenknochen waren tätowiert, also musste er ein Schamane sein. Gonzalez hatte ihnen erzählt, dass die Gruppe ein Leben in ungewöhnlicher Einfachheit führte. Marshall warf einen Blick auf die Speere und Tierhäute. So einfach hatte er es sich nicht vorgestellt.

Für einige Sekunden senkte sich ein unbehagliches Schweigen über die Gruppe. Nur das Brummen der Generatoren ganz in der Nähe war zu hören. Dann sprach Sully erneut: «Sie kommen aus der Siedlung im Norden, richtig? Das ist ein weiter Weg, und Sie sind sicherlich müde. Können wir irgendetwas für Sie tun? Möchten Sie etwas zu trinken oder zu essen?»

Keine Antwort. Sully wiederholte seine Worte, langsam und nachdrücklich, als spräche er zu einem Schwachkopf. «Ihr mögen essen? Trinken?»

Als keine Antwort kam, wandte sich Sully mit einem Seufzer ab. «Wir kommen nicht weiter.»

«Diese Eingeborenen verstehen wahrscheinlich kein Wort von dem, was Sie sagen», meinte Gonzalez.

Sully nickte. «Und ich spreche kein Inuit.»

«Tunit», sagte der alte Mann.

Sully drehte sich hastig zu ihm um. «Wie bitte?»

«Nicht Inuit. Tunit.»

«Es tut mir sehr leid, aber ich habe noch nie von den Tunit gehört.» Sully klopfte sich leicht auf die Brust. «Mein Name ist Sully.» Er stellte Gonzalez und die Wissenschaftler ebenfalls mit Namen vor. «Die Frau von eben ist Penny Barbour.»

Der alte Mann berührte seine eigene Brust. «Usuguk.» Er sprach es U-suuuu-guhk aus. Die Frauen stellte er nicht vor.

«Erfreut, Sie kennenzulernen», sagte Sully. «Möchten Sie vielleicht hereinkommen?»

«Sie haben gefragt, ob Sie etwas tun können für uns», sagte Usuguk, und Marshall stellte überrascht fest, dass der Alte ohne den geringsten Akzent sprach.

«Ja», antwortete Sully genauso überrascht.

«Es gibt etwas, das Sie tun können. Etwas sehr Wichtiges. Sie können von hier fortgehen. Heute noch. Und kommen Sie nicht wieder.»

Diese Antwort machte Sully sprachlos.

«Aber warum?», fragte Marshall nach einigen Sekunden.

Der alte Schamane deutete auf den Mount Fear. «Das dort ist ein Ort des Bösen. Ihre Anwesenheit hier ist eine Gefahr für uns alle.»

«Ein Ort des Bösen?», fragte Sully, nachdem er sich von seiner Überraschung erholt hatte. «Sie meinen den Vulkan? Er ist erloschen, tot.»

Der alte Tuniq[*] sah ihn an. Die schräg einfallende Sonne hob die zahllosen Runzeln seines Gesichts scharf hervor. Es war eine Maske bitterer Angst.

«Was für ein Böses?», fragte Marshall.

Usuguk verzichtete darauf, deutlicher zu werden. «Sie sollten nicht hier sein», sagte er. «Sie sind Eindringlinge, die hier nichts zu suchen haben. Und Sie haben die Alten wütend gemacht. Sehr wütend sogar.»

«Welche Alten?», fragte Sully.

«Normalerweise sind sie …», Usuguk suchte nach dem richtigen Wort. «Normalerweise sind sie gutmütig.» Er beschrieb eine halbkreisförmige Bewegung mit der Hand, die Handfläche nach oben. «In den alten Tagen blieben die Männer hier, all die Männer mit den Uniformen und den Waffen, innerhalb der Metallwände, die sie errichteten. Selbst heute noch dringen die Soldaten niemals an den verbotenen Ort vor.»

«Ich weiß nichts von einem verbotenen Ort», brummte Gonzalez. «Aber ich bleib mit meinem Hintern hübsch hier in der Basis, wo es warm und freundlich ist.»

Usuguk schien ihn nicht zu hören. Er starrte unverwandt Sully an. «Ihr seid anders. Ihr habt Boden betreten, den kein lebender Mann betreten darf. Und jetzt sind die Alten wütend, wütender als jemals zuvor in der Erinnerung meines Volkes. Ihr Zorn malt den Himmel blutig rot. Der Himmel schreit vor Schmerz wie eine Frau in den Wehen.»

«Ich bin nicht sicher, was Sie damit meinen», entgegnete Sully, «aber die eigenartige Farbe des Nachthimmels verursacht die Aurora borealis. Das Nordlicht. Es sind Sonnenwinde, die in das Magnetfeld der Erde eintreten. Ich räume ein, dass die Farbe recht ungewöhnlich ist, aber Sie werden das sicher schon früher hin und wieder gesehen haben?» Sully gab sich freundlich und familiär, lächelte, war gutmütig und geduldig, wie ein Mann, der versucht, einem kleinen Kind etwas zu erklären. «Atmosphärische Gase geben überschüssige Energie in Form von Licht ab. Unterschiedliche Gase emittieren Photonen unterschiedlicher Wellenlänge.»

Wenn diese Erklärung für Usuguk Sinn ergab, dann zeigte er es nicht. «Sobald wir sahen, wie zornig das Geistervolk ist, machten wir uns auf den Weg hierher. Seit jenem Augenblick sind wir unterwegs, ohne Pause und ohne Nahrung.»

«Ein Grund mehr, hineinzugehen», sagte Sully. «Wir geben euch zu essen und etwas Warmes zu trinken.»

«Warum ist der Berg verboten?», wollte Marshall wissen.

Der Schamane sah ihn an. «Verstehen Sie denn nicht? Sie alle haben meine Warnung gehört, und trotzdem weigern Sie sich, darauf zu hören? Der Berg ist ein Ort der Dunkelheit. Sie müssen von hier weggehen.»

«Wir können nicht von hier weg», sagte Sully. «Noch nicht. Aber in zwei oder drei Wochen … werden wir abgeholt. Ich gebe Ihnen mein Wort, dass wir bis dahin …»

Doch der Schamane hatte sich bereits abgewandt. Er ging zu den drei Tunit-Frauen. «Anyok lubyar tussarnek», sagte er. Eine der Frauen begann laut zu weinen. Usuguk drehte sich ein letztes Mal um und sah die vier Wissenschaftler der Reihe nach an. Sein Gesicht war erfüllt von einer Mischung aus Sorge und Angst, die Marshall die Nackenhaare zu Berge stehen ließen. Dann zog er einen kleinen Beutel aus seinem Parka, tauchte den Finger hinein und kleckste mit einer dunklen Flüssigkeit, die zu viskos war, um etwas anderes zu sein als Blut, eine Reihe von Zeichen auf den gefrorenen Boden der Tundra. Dann verfiel er in einen leisen, gebetsartigen Singsang, richtete sich auf und schloss sich den anderen Mitgliedern seiner Gruppe an, die sich bereits durch die eisige Abenddämmerung entfernten.

4

Während der beiden folgenden Tage wehte ein frischer Wind aus Norden, der einen klaren Himmel und bitterkalte Temperaturen brachte. Am dritten Tag um elf Uhr morgens verließen Marshall, Sully und Faraday die Basis und wanderten über die gefrorene Ebene, die sich vom Mount Fear aus endlos nach Süden erstreckte. Es war ein perfekter Morgen, der Himmel eine Kuppel aus arktischem Blau ohne jede Wolke. Der Permafrost unter ihren Füßen war so hart wie Beton. Die Temperaturen bewegten sich im Bereich um zehn Grad unter null, und zumindest vorläufig war die knallende, stöhnende, knackende Zerstörung des Gletschers aufgehalten.

Plötzlich ertönte ein dumpfes Dröhnen, das in der arktischen Kälte rasch lauter wurde. Am Horizont im Süden erschien ein dunkler Punkt. Langsam wuchs er zu einem Helikopter, der in geringer Höhe direkt auf sie zukam.

Faraday schniefte missvergnügt. «Ich denke immer noch, wir hätten ein paar Tage abwarten sollen. Warum mussten wir so schnell anrufen?»

«Weil das die Abmachung war», entgegnete Sully und beobachtete den sich nähernden Helikopter aus zusammengekniffenen Augen. «Sie hätten schnell herausgefunden, wenn wir die Sache verzögert hätten.»

Faraday murmelte etwas Unverständliches. Er war eindeutig immer noch nicht überzeugt.

Sully sah den Biologen stirnrunzelnd an. «Wie ich schon sagte – wenn du einen Handel mit dem Teufel machst, darfst du dich nicht über die Konsequenzen wundern.»

Niemand antwortete. Es war auch nicht nötig.

Die Northern Massachusetts University versuchte nicht, so zu tun, als gehörte sie zur ersten Liga der Forschungs- und Bildungseinrichtungen des Landes. Weil Forschungsmittel knapp waren, hatte sie sich eine relativ neue Masche einfallen lassen: die Finanzierung ihrer Feldforschung durch Mediengesellschaften. Als Gegenleistung dafür bot sie ihnen exklusive Rechte und Zugang zu ihren Ergebnissen. Die globale Erwärmung war zwar kein besonders aufregendes Thema, doch sie war aktuell. Terra Prime hatte das Team finanziert, genau wie ein halbes Dutzend andere zuvor – eine Gruppe, die Eingeborenenmedizin im Amazonasdschungel studierte, eine weitere Gruppe, die das potenzielle Grab von König Arthur ausgegraben hatte –, alles in der Hoffnung, dass sich daraus wenigstens eine Wissenschaftsdokumentation ergab, die das Drehen wert war. Wochenlang hatte Marshall die Daumen gedrückt und gehofft, sie könnten ihre Arbeiten abschließen und verschwinden, ohne Terra Primes Aufmerksamkeit zu erregen. Diese Hoffnungen waren nun schlagartig zunichte gemacht.

Die Wissenschaftler drängten sich zusammen, als der Helikopter näher kam, das Lager einmal umrundete und schließlich mit laut schlagenden Rotoren auf einem relativ ebenen Abschnitt nur fünfzig Meter entfernt landete. Die Passagiertür öffnete sich, und eine Frau sprang heraus. Sie trug eine Lederjacke und Jeans. Langes schwarzes Haar floss über ihre Schultern und tanzte leicht im Luftzug der Rotoren. Sie war schlank, vermutlich etwa dreißig. Als sie sich umwandte und nach ihrem Gepäck griff, bemerkte Marshall eine ausgesprochen wohlgeformte Rückansicht.

«Was für ein hübscher kleiner Teufel», murmelte er.

Die Frau schulterte ihr Gepäck, duckte sich unter den Rotoren hinweg und kam ihnen entgegen. Sie drehte sich ein letztes Mal um und winkte dem Piloten. Er antwortete mit in die Höhe gerecktem Daumen, die Turbinen heulten auf, und der Helikopter stieg rasch in die Höhe. Er legte sich in eine scharfe Kurve und jagte auf dem gleichen Weg davon, auf dem er hergekommen war.

Die Wissenschaftler traten vor, um den Neuankömmling zu begrüßen. Sully zog den Handschuh aus und streckte ihr die Hand entgegen. «Ich bin Gerard Sully», sagte er. «Klimatologe und Leiter des Teams. Das dort sind Evan Marshall und Wright Faraday.»

Die Frau schüttelte jedem die Hand. Sie hatte einen professionellen, festen Händedruck. «Mein Name ist Kari Ekberg. Ich arbeite als Field Producer für Terra Prime TV. Meinen Glückwunsch zu Ihrer erstaunlichen Entdeckung.»

Sully nahm eine Tasche, Marshall die andere. «Producer?», fragte Sully. «Dann haben Sie das Kommando?»

Ekberg lachte. «Wohl kaum. Sie werden bald feststellen, dass auf einem Set wie diesem jeder mit einem Klemmbrett unter dem Arm ein Producer ist.»

«Set?», wiederholte Marshall.

«Das ist es für uns, ganz recht.» Sie blieb stehen, um sich aufmerksam umzusehen, als würde sie die Landschaft auf ihre Tauglichkeit für die Dramaturgie hin untersuchen.

«Sie sind ein wenig zu dünn angezogen für die Federal Wilderness Zone», wandte Marshall ein.

«Das merke ich auch gerade. Ich habe den größten Teil meines Lebens in Savannah verbracht. Der kälteste Ort, an dem ich jemals gewesen bin, war New York City im Februar. Ich lasse mir von der Crew ein paar Sachen von Mountain Hardwear mitbringen.»

«Zu dünn angezogen oder nicht – Sie sind das bestaussehende Ding, das dieser Basis je begegnet ist», bemerkte Sully süffisant.

Kari Ekberg unterbrach ihr Studium der Umgebung, um Sully von Kopf bis Fuß zu mustern. Sie antwortete nicht, doch sie lächelte leicht, so als durchschaute sie seine Persönlichkeit mit diesem einen Blick.

Sully errötete und räusperte sich. «Sollen wir in die Basis, ins Warme? Passen Sie auf, wo Sie hintreten – der Untergrund hier ist durchsetzt von alten Lavaröhren.»

Er führte den Tross an, während er mit Faraday über die morgendlichen Forschungsergebnisse sprach. Ekberg war nicht die Leiterin der Produktion, und sie war offensichtlich nicht empfänglich für seine plumpe Art zu flirten – das brachte sein Interesse an ihr zum Erliegen.

Ekberg und Marshall bildeten den Schluss.

«Sie haben mich neugierig gemacht mit dem, was Sie da gerade gesagt haben», sagte Marshall. «Dass unsere Entdeckung nur ein Set ist.»

«Ich wollte nicht gefühllos erscheinen. Für Sie ist dies Ihr Arbeitsplatz. Es ist eben nur so, dass bei einer Produktion wie dieser Zeit alles ist. Wir haben nicht viel davon. Abgesehen davon denke ich, dass Ihre Gruppe uns so schnell wie möglich wieder los sein möchte, richtig? Und das ist mein Job. Die Gig voranbringen.»

«Die Gig voranbringen?»

«Locations erkunden und einen Zeitplan erstellen. Praktisch den Weg vorzeichnen, sodass alles vorbereitet ist, wenn Aufnahmeteam und Schauspieler eintreffen.»

Marshall war überrascht von ihren Antworten. Aufnahmeteam, Schauspieler! Er hatte angenommen, dass Terra Prime TV eine Person schicken würde, bestenfalls zwei: jemanden, der die Kamera hielt, und jemanden, der sich hin und wieder davor stellte und die Bilder kommentierte. «Dann machen Sie also im Grunde genommen die ganze Arbeit, bis die wichtigen Leute kommen und den Ruhm für sich beanspruchen?»

Ekberg lachte mit einer klaren, vollen Altstimme, die über den Permafrost hallte. «Ich schätze, das bringt es so ungefähr auf den Punkt, ja.»

Sie hatten den längst nicht mehr benutzten Sicherheits-Kontrollpunkt erreicht, und Ekberg starrte in unverhülltem Staunen nach vorn. «Mein Gott! Ich hatte ja keine Ahnung, wie groß diese Basis ist!»

«Was hatten Sie denn erwartet?», fragte Sully säuerlich. «Iglus und kleine Schutzzelte?»

«Eigentlich befindet sich der größten Teil der Basis unter der Erde», erklärte Marshall, als sie die Einzäunung passierten und den betonierten Vorplatz betraten. «Die Station wurde in eine natürliche Senke gebaut. Man hat vorfabrizierte Sektionen herbeigeschafft und den freien Raum dazwischen mit gefrorenem Erdreich und Lava aufgefüllt. Die meisten der sichtbaren Bauten enthalten mechanische oder technische Systeme: Energieerzeugung, Radarkuppeln und so weiter. Die Erbauer wollten so wenig wie möglich in Erscheinung treten. Aus dem gleichen Grund wurde die Station im Schatten des einzigen Berges im Umkreis von Dutzenden von Meilen errichtet.»

«Wie lange ist es her, dass die Basis aktiv war?»

«Fast fünfzig Jahre», antwortete Marshall. «Eine lange Zeit.»

«Mein Gott. Und wer kümmert sich darum? Sie wissen schon, wer sorgt dafür, dass die Toiletten weiter funktionieren, dass die Glühbirnen ausgewechselt werden und so weiter?»

«Es ist eine Minimalwartungsanlage, wie es offiziell heißt. Es gibt ein kleines Kommando von Soldaten, die die Anlage betriebsbereit halten, drei Mann vom Ingenieurkorps unter dem Befehl von Paul Gonzalez. Sergeant Paul Gonzalez, um genau zu sein. Sie kümmern sich um die Generatoren und die Stromversorgung, sie warten die Heizanlage, wechseln Glühlampen, kontrollieren den Wasserstand in den Zisternen … und betätigen sich nebenbei als unsere Babysitter.»

«Fünfzig Jahre …» Ekberg schüttelte den Kopf. «Schätze, deswegen haben sie auch nichts dagegen, ihre Basis an uns weiterzuvermieten.»

Marshall nickte.

«Auch wenn Uncle Sam nicht gerade ein billiger Vermieter ist. Wir zahlen hunderttausend Dollar Aufschlag für eine Woche Unterbringung unserer Filmcrew.»

«Der Lebensunterhalt ist kostspielig hier oben im Norden», sagte Sully.

Ekberg sah sich erneut um. «Und die Soldaten müssen die ganze Zeit hier wohnen?»

«Sie werden alle sechs Monate abgelöst. Das heißt, die drei Mannschaftsdienstgrade. Der Sergeant, Gonzalez – ihm scheint es hier zu gefallen.»

Ekberg schüttelte den Kopf. «Wenn das nicht ein Mann ist, der vor etwas davonläuft, dann weiß ich es nicht.»

Sie traten durch die doppelte Außentür und durchquerten einen Warte- und Aufenthaltsbereich sowie einen langen Ankleideraum mit Spinden zu beiden Seiten für Parkas und Schneeausrüstung, bevor es durch eine weitere Tür in die eigentliche Basis ging.

Obwohl die Fear Base seit einem halben Jahrhundert nicht mehr in Betrieb war, herrschte hier immer noch eine militärische Atmosphäre: amerikanische Flaggen, Stahlwände, zweckmäßiges Mobiliar. Verblichene Poster an den Wänden listeten Verhaltensmaßregeln auf und warnten vor Sicherheitslücken. Rechts und links von der Eingangshalle erstreckte sich ein breiter Korridor, der rasch im Dunkeln versank. Der unmittelbare Eingang war erleuchtet, aber weiter entfernt brannte nur hin und wieder eine einzelne Glühlampe. Auf der anderen Seite der Eingangshalle saß ein Mann in einer militärischen Uniform hinter einem gläsernen Schalter und las in einem Taschenbuch.

Marshall bemerkte, wie Ekberg die Nase rümpfte. «Tut mir leid», sagte er lachend. «Ich hab auch eine Woche gebraucht, um mich an den Geruch zu gewöhnen. Wer hätte auch damit gerechnet, dass es in einer arktischen Station riechen könnte wie in der Bilge eines Schlachtschiffs? Kommen Sie, tragen wir Sie in die Gästeliste ein.»

Sie durchquerten die Halle und traten vor den Schalter. «Hallo Tad», sagte Marshall zur Begrüßung.

Der Mann hinter dem Paneel erwiderte den Gruß. «Hallo Dr. Marshall.» Er war jung und groß gewachsen und trug das karottenfarbene Haar in einem Bürstenschnitt. Auf seiner Uniform leuchteten die Streifen eines Corporals im Ingenieurkorps der U.S. Army.

«Das hier ist Kari Ekberg, die Vorhut des Dokumentarfilmteams.» Marshall wandte sich zu Ekberg um. «Darf ich vorstellen – Tad Phillips.»

Phillips musterte die Besucherin mit unverhohlenem Interesse. «Wir wurden erst heute Morgen informiert, Miss Ekberg. Wenn Sie sich bitte eintragen würden?» Durch einen Schlitz am Fuß der Glasscheibe schob er ihr ein Klemmbrett hin.

Sie unterschrieb auf der gezeigten Linie und gab es zurück. Phillips notierte Zeit und Datum, dann legte er das Klemmbrett beiseite. «Sie führen unseren Besuch herum und zeigen ihr die zugelassenen Bereiche?»

«Sicher», antwortete Marshall.

Phillips nickte und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Buch, in dem er gelesen hatte. Sully führte die Gruppe zu einem Treppenhaus, und sie stiegen in die Tiefe.

«Wenigstens ist es warm hier drin», bemerkte Ekberg.

«Die oberen Etagen sind es zumindest», erwiderte Sully. «Der Rest wird nur gerade so weit beheizt, dass er frostsicher ist.»

«Was hat er mit ‹zugelassenen Bereichen› gemeint?», fragte sie.

«Diese zentrale Sektion der Basis, wo die Offiziere untergebracht waren und ein Großteil der Überwachungsaktivitäten stattfand, ist zugelassen», erklärte Marshall. «Wir haben unbeschränkten Zugang zu diesem Teil – nicht dass irgendeiner von uns bisher Zeit oder Lust gehabt hätte, sich genauer umzusehen. Darüber hinaus haben wir beschränkten Zugang zum südlichen Flügel, wo Computer und andere Ausrüstung gelagert und gewartet wurden. Die aktuelle Besatzung wohnt dort. Wir sind nicht autorisiert, den nördlichen Flügel zu betreten.»

«Was befindet sich in diesem Flügel?»

Marshall zuckte die Schultern. «Keine Ahnung.»

Sie erreichten einen weiteren Korridor, länger und heller erleuchtet als der vorhergehende. Entlang den Wänden lagerten alle möglichen alten Apparate und Ausrüstungsteile, als wäre die Station in großer Hast verlassen worden. Es gab noch weitere Spinde, zusammen mit offiziell aussehenden Wegweisern zu den Einrichtungen der Anlage: Radar-Mapping, RASP Command Post, Recording-Monitoring. Türen mit kleinen vergitterten Fenstern säumten beide Seiten der Gänge. Sie waren nicht mit Namensschildern versehen, sondern mit Reihen von Buchstaben und Ziffern. «Wir haben unser provisorisches Labor hier auf der B-Ebene eingerichtet», sagte Sully und zeigte mit dem Daumen auf die entsprechenden Türen. «Voraus liegen die Kombüse, die Offiziersmesse und ein Besprechungszimmer, das wir in einen provisorischen Gemeinschaftsraum umfunktioniert haben. Hinter der Biegung im Korridor liegen die Schlafsäle. Wir haben einen für Sie hergerichtet.»

Ekberg murmelte ein Dankeschön. «Ich verstehe immer noch nicht, warum man überhaupt eine Basis wie diese braucht», sagte sie. «Ich meine, so weit oben im Norden und alles.»

«Sie gehörte zum ursprünglichen Frühwarnsystem», erklärte Marshall. «Haben Sie schon mal von der Pinetree Line gehört oder der DEW?»

Kari Ekberg schüttelte den Kopf.

«Im Jahr 1949 führten die Sowjets ihren ersten Atomtest durch. Die Bombe funktionierte, und das trieb uns fast in den Wahnsinn. Wir haten gedacht, wir hätten mindestens fünf weitere Jahre, um uns vorzubereiten. Stattdessen sagten unsere Eierköpfe voraus, dass die Sowjets innerhalb weniger Jahre über genügend Bomben verfügen würden, um die Vereinigten Staaten vollständig in Schach zu halten. Also gab es gewaltige Aufrüstungsbemühungen – Waffen, Flugzeuge, Soldaten – einschließlich eines Notprogramms zur Entwicklung eines Grenzverteidigungssystems. Die atlantische und die pazifische Küste waren damit abgesichert, und es wurde rasch klar, dass die größte Bedrohung in Form von feindlichen Bombern über den Pol hereinkommen würde. Das Radar damals war noch ziemlich primitiv und konnte keine niedrig fliegenden Maschinen orten oder etwas hinter dem Horizont erkennen.»

«Also mussten sie ihre Augen und Ohren so nah an die Bedrohung bringen wie möglich», folgte Ekberg.

«Ganz genau. Die Militärs steckten die Köpfe zusammen und rechneten die drei wahrscheinlichsten Routen aus, die die russischen Bomber im Fall eines Angriffs nehmen würden. Sie errichteten ihre Frühwarnstationen so weit nördlich entlang dieser Routen wie nur irgend möglich. Das hier ist eine davon.» Marshall schüttelte nachdenklich den Kopf. «Die Ironie daran ist: Bis sie endlich fertiggestellt war gegen Ende der fünfziger Jahre, war sie bereits überflüssig. Raketen ersetzten Bomber als Trägersysteme für Atomwaffen, und wir brauchten ein schnelles, zentralisiertes Netzwerk, um dieser Art von Bedrohung zu begegnen. Also wurde ein neues System unter dem Namen SAGE errichtet. Diese Stationen wurde eingemottet.»

Sie hatten die Biegung umrundet und bewegten sich durch einen kasernenartigen Flur. Vor einer der Türen blieb Sully stehen, drehte den Knauf und drückte sie auf. Dahinter befand sich ein spartanisches Zimmer, ausgestattet mit einer Pritsche, einem Schreibtisch, einem Kleiderschrank und einem Spiegel. Chen, der Aufbaustudent, hatte am Morgen den gröbsten Staub beseitigt. «Das hier ist Ihr Quartier», sagte Sully.

Ekberg warf einen raschen Blick hinein und nickte Sully und Marshall dankend zu, die ihre Taschen auf die Pritsche stellten.

«Es war eine lange Reise von New York hierher», sagte Sully. «Und wenn es Ihnen ebenso geht wie uns, dann haben Sie unterwegs wahrscheinlich nicht viel geschlafen. Wenn Sie sich also ein wenig ausruhen oder erfrischen wollen: nur zu! Die Duschen und Toiletten sind geradeaus den Gang hinunter.»

«Danke für das Angebot, aber ich schätze, ich fange besser sofort mit der Arbeit an.»

«Anfangen?» Sully starrte sie verwirrt an.

Marshall begriff etwas schneller. «Sie meinen, Sie wollen es sehen.»

«Selbstverständlich! Das ist der Grund, aus dem ich hier bin!» Sie blickte sich zu den Männern um. «Das heißt, wenn Sie kein Problem haben damit.»

«Ich fürchte, so einfach ist das nicht», sagte Sully. «In den letzten Wochen wurden mehrere Polarbären gesichtet. Und diese Lavaschlote sind extrem gefährlich. Trotzdem dürfen Sie natürlich gerne alles aus sicherer Entfernung verfolgen, denke ich.»

Ekberg schien darüber nachzudenken. Dann nickte sie zögernd. «Also schön.»

«Evan wird Sie hinbringen – nicht wahr, Evan? Wenn Sie mich jetzt entschuldigen, ich muss noch eine Reihe von Tests abschließen.» Mit diesen Worten schenkte er ihr ein knappes Lächeln, nickte Marshall zu, wandte sich um und ging zurück in Richtung der provisorischen Labors.

5

«Erstaunlich!», sagte Kari Ekberg, und ihr Atem kondensierte in der Luft. «Ich glaube nicht, dass ich jemals einen so klaren, intensiv blauen Himmel gesehen habe.»

Sie stiegen in strahlendem Sonnenschein das Gletschertal hinauf. Trotz verärgerter Hinweise auf die dringende Natur seiner Arbeiten hatte sich Faraday entschieden, sie zu begleiten, und er schnaufte und ächzte, je höher sie kamen. Faraday hatte diesen Weg seit einem Monat jeden Tag mindestens einmal zurückgelegt – die Tatsache, dass er ihm immer noch zu schaffen machte, verriet die vielen in Labors verbrachten Jahre in sitzender Haltung und ohne Bewegung. Ekberg auf der anderen Seite marschierte voran mit der mühelosen Leichtigkeit einer leidenschaftlichen Läuferin. Ihre Augen waren ununterbrochen in Bewegung und übersahen nichts. Hin und wieder murmelte sie ein paar Worte in einen digitalen Recorder. Sie trug Penny Barbours Reserveparka über ihrer Lederjacke.

«Ich weiß genau, was Sie meinen», sagte Marshall. «Ich wünschte nur, es gäbe mehr davon.»

«Bitte was?»

«Die Tage werden schnell kürzer. Wir haben noch zwei, vielleicht drei Wochen mit brauchbarem Tageslicht, mehr nicht. Danach herrscht hier oben ewige Nacht, zwanzig Stunden am Tag und mehr, und wir sind dann nicht mehr da.»

«Kein Wunder, dass Sie es so eilig haben. Wie dem auch sei, Jimmy wird seine helle Freude haben mit diesem Himmel.»

«Jimmy?»

«Jimmy Fortnum. Unser Erster Kameramann.» Sie sah nach vorn zum Gletscher, der sich tiefblau vom strahlenden Azur des Himmels abhob. «Woher hat der Mount Fear eigentlich seinen Namen?»

«Von Wilberforce Fear, dem Forscher, der ihn entdeckt hat.»