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Lincoln Child

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Beschreibung

In der Zentrale von «Lux» in Newport, Rhode Island, dem ältesten und berühmtesten Thinktank der USA, dreht der angesehene Wissenschaftler Willard Strachey plötzlich durch und enthauptet sich mit einem Schiebefenster. Niemand kann sich erklären, was den bisher so bedächtigen Mann in den Wahnsinn getrieben hat. Enigmatologe Jeremy Logan, der zu Hilfe gerufen wird, findet in einem stillgelegten Flügel des Anwesens einen vergessenen Raum. Bizarre Gerätschaften aus dem vorigen Jahrhundert stehen darin, die einem hochgeheimen Projekt namens «Sin» dienten. Offenbar gibt es in der Zentrale von «Lux» jemanden, der genau weiß, was es damit auf sich hatte. Und dieser Jemand verfolgt ein zerstörerisches Ziel. Bald hat er auch Logan im Visier …

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Lincoln Child

Frequenz

Thriller

Aus dem Englischen von Axel Merz

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

In der Zentrale von «Lux» in Newport, Rhode Island, dem ältesten und berühmtesten Thinktank der USA, dreht der angesehene Wissenschaftler Willard Strachey plötzlich durch und enthauptet sich mit einem Schiebefenster. Niemand kann sich erklären, was den bisher so bedächtigen Mann in den Wahnsinn getrieben hat.

Enigmatologe Jeremy Logan, der zu Hilfe gerufen wird, findet in einem stillgelegten Flügel des Anwesens einen vergessenen Raum. Bizarre Gerätschaften aus dem vorigen Jahrhundert stehen darin, die einem hochgeheimen Projekt namens «Sin» dienten. Offenbar gibt es in der Zentrale von «Lux» jemanden, der genau weiß, was es damit auf sich hatte. Und dieser Jemand verfolgt ein zerstörerisches Ziel. Bald hat er auch Logan im Visier …

Über Lincoln Child

Lincoln Child studierte Literatur und arbeitete viele Jahre als Lektor bei St. Martin’s Press. Gemeinsam mit seinem Freund Douglas Preston entwickelte er mehrere Romanprojekte, die ein Millionenpublikum begeistern. Auch mit seinen Soloprojekten «Wächter der Tiefe», «Nullpunkt» und «Hüter des Todes» hat Child großen Erfolg. Child lebt mit Frau und Tochter in New Jersey.

1

Es war vielleicht der ungewöhnlichste Anblick, der sich je auf dem erhabenen und altehrwürdigen Gelände des im Jahre 1761 von Georg dem Dritten gegründeten Glasgow Institute of Science dargeboten hat. Ein großes Podium, gespickt mit Mikrophonen, war auf dem Great Lawn errichtet worden, der weitläufigen Rasenfläche direkt vor dem Verwaltungsgebäude. Vor dem Podium reihten sich mehrere Dutzend Klappstühle, auf denen Reporter von lokalen Zeitungen, der Londoner Times, dem Nature Magazine, von Oceanography, Time und noch einigen anderen Platz genommen hatten. Zur Rechten des Podiums befanden sich zwei Fernsehkameras, die eine von BBC und die andere von CNN. Auf der Linken stand ein Gestell aus Holz, auf dem eine merkwürdige große Maschine aus dunklem Metall ruhte, die aussah wie eine Kreuzung zwischen einer Zigarrenhülle und einem Nadelkissen, ungefähr zehn Meter lang und mit einem ausladenden Aufbau auf der Oberseite.

Das unaufhörliche Geschnatter unter den Reportern verstummte, als sich die großen Eingangstüren des Verwaltungsgebäudes öffneten und zwei Männer in das Licht der nachmittäglichen Septembersonne hinaustraten. Der ältere der beiden war klein und dick und hatte einen dichten Schopf weißer Haare. Er steckte in einem warmen Tweedmantel. Der andere war groß und ziemlich dünn, mit ernsten Gesichtszügen, hellbraunem Haar und wachen grauen Augen. Anders als sein Begleiter trug er einen konservativen dunklen Anzug.

Die beiden Männer erklommen das Podium, und der Ältere räusperte sich. «Meine Damen und Herren von der Presse», begann er. «Ich danke Ihnen für Ihr Kommen. Mein Name ist Colin Reed, und ich bin der Verwaltungsdirektor des Glasgow Institute of Science. Zu meiner Rechten sehen Sie Dr. Jeremy Logan.»

Reed nahm einen Schluck aus einem Glas Wasser, das am Rand des Rednerpults bereitstand, und räusperte sich ein weiteres Mal. «Sie haben sicherlich alle von Dr. Logans Arbeiten gehört. Er ist vielleicht nicht der einzige, aber mit Sicherheit derzeit der weltweit führende Enigmatologe. Seine Arbeit besteht darin, das – in Ermangelung eines besseren Wortes – Unerklärliche zu untersuchen, zu analysieren, zu interpretieren und zu erklären. Er klärt Rätsel der Geschichte auf, er trennt Mythen von Wahrheit und das Natürliche vom Übernatürlichen.»

Neben ihm runzelte Logan leicht die Stirn, als fühle er sich unbehaglich angesichts Reeds Lobrede.

«Vor etwa zwei Monaten haben wir Dr. Logan an seiner Heimatuniversität in Yale kontaktiert und ihn gebeten, einen Auftrag für uns zu übernehmen. Dieser Auftrag ist schnell beschrieben: Er sollte die Existenz einer Kreatur beweisen oder widerlegen, die gemeinhin als das Monster von Loch Ness bezeichnet wird – und das endgültig. Dr. Logan hat die vergangenen sechs Wochen in Inverness verbracht und genau dies getan. Ich bitte ihn nun, seine Erkenntnisse mit Ihnen zu teilen.»

Reed entfernte sich von den Mikrophonen, und Logan trat vor. Für einen Moment musterte er die versammelte Menge Reporter, dann fing er an zu sprechen. Seine Stimme klang sanft und leise, und sein amerikanischer Akzent stand in starkem Kontrast zu Reeds schottischem Rollen.

«Das Monster von Loch Ness ist das berühmteste aller mutmaßlichen schottischen Seemonster», begann er. «Vielleicht sogar der berühmteste aller Kryptiden. Das Ziel des Instituts, als es mich mit dieser speziellen Mission betraut hatte, lag nicht darin, die einheimische Tourismusindustrie zu kastrieren oder die ansässigen Souvenirhändler aus dem Geschäft zu drängen. Stattdessen sollte den amateurhaften und fehlgeleiteten Suchaktionen nach der Kreatur ein für alle Mal ein Ende bereitet werden – Unternehmungen, die in letzter Zeit immer mehr zugenommen und im vergangenen Jahr zu zwei Todesfällen durch Ertrinken geführt haben.»

Er nahm einen Schluck Wasser aus seinem Glas.

«Mir wurde sehr rasch klar: Um die Existenz der Kreatur zu beweisen, ist es lediglich erforderlich, dass man sie in ihrem Element beobachtet. Um jedoch zu beweisen, dass sie nicht existiert, wäre sehr viel mehr Arbeit nötig. Dies würde vor allem jede Menge Technik erfordern. Also überredete ich die US Navy, deren Angehöriger ich früher einmal war, mir eins von ihren Ein-Mann-U-Booten zur Verfügung zu stellen.»

Logan deutete auf den merkwürdigen Apparat auf dem Holzgestell zu seiner Rechten. «Das U-Boot ist mit einem Dopplerradar ausgestattet, einem synthetischen Apertursonar, einem Pulskompressionsecholot sowie zahlreichen anderen Technologien für Unterwasserkartographie und -zielerfassung. Zwei weitere wichtige Faktoren waren zu berücksichtigen: Erstens ist der See ziemlich lang und ungewöhnlich tief – stellenweise bis zu zweihundertdreißig Meter. Zweitens legten die sogenannten Sichtungen der Kreatur eine Morphologie ähnlich einem Plesiosaurus nahe, womit sie zwischen sechs und zwölf Meter lang wäre. Es gab mehrere Unbekannte, die berücksichtigt werden mussten, beispielsweise den Bewegungsradius der Kreatur und ihre Präferenzen in Bezug auf ihren Lebensraum, aber die konnten nicht bestimmt werden, bevor die Kreatur nicht lokalisiert war.

Ich fing damit an, dass ich mich mit dem U-Boot und seiner Technik sowie mit der Topographie des Sees vertraut machte, sowohl über als auch unter Wasser. Meine zuvor erwähnte Dienstzeit bei der Navy vereinfachte diese Aufgabe. Ich verbrachte eine Woche mit Testfahrten, ohne auf eine Spur der Kreatur zu stoßen. Als Nächstes ließ ich mir vom Institut Netze liefern – eine ganze Menge Netze, um genau zu sein. Unter Verwendung von militärspezifischem Nylon setzten wir daraus ein Netz von dreitausend Metern Länge und zweihundertfünfzig Metern Höhe zusammen.»

Diese Worte riefen überraschtes Gemurmel hervor.

«Was dann kam, war ziemlich langweilig, doch nach den ersten paar Versuchen recht einfach zu bewerkstelligen. Mir kam der glückliche Umstand entgegen, dass der See, obwohl er über zweiunddreißig Kilometer lang ist, an seiner breitesten Stelle keine drei Kilometer misst. Wir fingen am nördlichsten Punkt des Sees an und arbeiteten uns nach Süden vor. Ich hatte zwei Forschungsassistenten vom Institut und zwei Motorbarkassen aus Inverness zur Unterstützung. Jeden Tag durchkämmte ich mit dem U-Boot einen gut eineinhalb Kilometer großen Abschnitt. Sozusagen eine Scheibe des Sees von etwa 1,5 Kilometer Länge entlang der X-, Y- und Z-Achsen. Für jede dieser Scheiben machte ich drei separate Durchgänge in unterschiedlichen Tiefen und suchte mit Hilfe der Instrumente des U-Boots nach jedweden Objekten in der vermuteten Größe der Kreatur. Die Instrumente des U-Boots haben eine große Reichweite und sind extrem präzise – ein Objekt in der fraglichen Größe wäre nicht unentdeckt geblieben. Am Ende eines jeden Tages versetzte ich das Netz mit Hilfe meiner Assistenten an den beiden Seeufern und den Barkassen auf dem Wasser 1,5 Kilometer weiter, bis zum Endpunkt meiner Suche. Das Netz riegelte den See lateral vollständig ab, wie ein Anti-U-Boot-Netz vor einer Hafeneinfahrt. Die Maschen waren so groß, dass jeder normale Fisch ohne Mühe hindurchpasste, solange er nicht dicker als vierzig Zentimeter war. Wasserfahrzeuge wurden einzeln abgefertigt.

Jeden Tag erkundete ich auf diese Weise einen weiteren Abschnitt des Sees. Und am Ende eines jeden Tages zogen wir das Netz ein Stück vor. Nach zwanzig Tagen erreichten wir das südliche Ende von Loch Ness – ohne Resultat. Und daher, Ladys und Gentlemen, dürfen Sie die drei Worte, die ich Ihnen jetzt sagen werde, ruhig als Tatsache betrachten, auch wenn ich sie mit einigem Bedauern ausspreche – ich erfreue mich genau wie jeder andere auch an kryptozoologischen Legenden, aber: Nessie existiert nicht.»

Logans Worte wurden mit Applaus begrüßt, vereinzelt Gelächter.

In der Ferne wurde ein dumpfes Geräusch hörbar, ein dröhnendes, repetitives Klopfen. Es kam näher und entpuppte sich als das Schlagen von Rotorblättern. Im nächsten Moment tauchte ein fetter Helikopter mit militärischen Abzeichen über einem von Reihenhäusern aus rotem Backstein gesäumten Hügel auf und schwebte rasch heran. Der Hubschrauber der US Navy ging tiefer, bis er direkt über dem Rasen und dem grauen U-Boot schwebte. Der Wind der Rotoren drückt das Gras in einer runden Scheibe flach, und die Reporter mussten Hüte, Mützen und Papiere festhalten, damit sie nicht weggeweht wurden. Ein Techniker in einem Overall kam durch eine Nebentür des Verwaltungsgebäudes, stieg auf das Holzgerüst und befestigte zwei mächtige Haken, die sich aus dem Bauch des Helikopters senkten, an entsprechenden Ösen auf der Oberseite des kleinen U-Boots. Er kletterte wieder herunter, zeigte dem Piloten die erhobenen Daumen, und der Helikopter stieg behutsam in die Höhe, zusammen mit dem schwankenden U-Boot unter dem Rumpf. Höher und höher ging es hinauf, dann nahm er langsam Geschwindigkeit auf und begab sich mit seiner ungewöhnlichen Fracht auf Ostkurs. Sechzig Sekunden später war er verschwunden, und wenig später war nichts mehr zu hören. Die gesamte Operation hatte keine fünf Minuten beansprucht.

Logan starrte noch für ein paar Augenblicke zum fernen Horizont, bevor er sich wieder den Medienvertretern zuwandte. «Und jetzt beantworte ich Ihnen mit Freude Ihre Fragen, so gut ich es vermag», sagte er.

 

Drei Stunden später, in einer behaglichen Bar aus der Zeit Eduards VII. im opulentesten Hotel von ganz Glasgow, prosteten sich dieselben beiden Personen – Colin Reed und Jeremy Logan – über zwei Gläser eines torfigen Single Malt Scotch, unverdünnt und ohne Eis, hinweg zu.

«Eine wunderbare Leistung», sagte Reed. «Und damit meine ich nicht nur die Pressekonferenz heute, sondern die gesamte Arbeit, von Anfang bis Ende.»

«Schauspielern ist neu für mich», erwiderte Logan. «Aber es ist gut zu wissen, dass ich, sollte das Geisterjägergeschäft je einbrechen, mein Salär von der Yale dadurch aufbessern könnte, dass ich mich auf die Bühne stelle.»

«‹Und jetzt beantworte ich Ihnen mit Freude Ihre Fragen, so gut ich es vermag›», sagte Reed kichernd. «Was für eine wunderbare Verdrehung der Tatsachen.» Er nahm einen Schluck von seinem Scotch. «Nun ja. Ich denke, wir können mit einiger Zuversicht sagen, dass nach der heutigen Bekanntmachung – zusammen mit den neuen gesetzlichen Vorschriften in Bezug auf Wasserfahrzeuge auf dem See – die wilde Jagd nach dem Monster von Loch Ness aufhören wird.»

«Das war der Plan.»

Reed zuckte zusammen, als hätte er etwas vergessen. «Oh, richtig.» Er griff in seine Tasche und zog einen schlanken Umschlag hervor. «Bitte sehr. Ihr Salär.»

«Ich fühle mich immer noch nicht gut dabei, Geld vom Institut anzunehmen», sagte Logan, als er den Umschlag einsteckte. «Aber ich tröste mich mit dem Gedanken, dass es als Kompensation gedacht ist für den Schaden, den mein Ruf nehmen könnte, sollte die Wahrheit jemals ans Licht kommen.»

«Wir danken Ihnen – und wichtiger noch, ich bin sicher, Nessie dankt Ihnen.» Der Direktor zögerte. «Sie haben die, äh, Daten bei sich?»

Logan nickte.

«Und Sie glauben immer noch, es wäre am besten, sie zu vernichten?»

«Es ist die einzige Option. Was, wenn diese Aufnahmen an die Öffentlichkeit gelangen, oder noch schlimmer, viral ins Internet gehen? Es würde alles zunichtemachen, was wir erreicht haben. Nein, ich verbrenne sie, sobald ich auf meinem Zimmer bin.»

«Selbstverständlich. Sie haben recht.» Reed zögerte. «Dürfte ich … dürfte ich vielleicht einen letzten Blick darauf werfen?»

«Natürlich.» Logan sah sich in der Bar um, dann sperrte er den Zero-Halliburton-Attachékoffer auf, der neben ihm auf der Bank lag, zog einen Hefter hervor und reichte ihn Reed.

Der Direktor des Instituts nahm ihn und blätterte durch die Seiten. Seine Augen glitzerten vor hungriger Faszination. Die Seiten enthielten Bildmaterial aus einer Vielzahl verschiedener technischer Quellen: akustische Rückstreuung, synthetische Aperturpulse, aktives Richtstrahlsonar. Die Bilder zeigten ausnahmslos dasselbe Objekt, in unterschiedlichen Positionen und aus unterschiedlichen Winkeln: eine Kreatur mit einem massigen ovoiden Rumpf, seitlichen Finnen und einem langen, schlanken Hals. Reed verweilte für einen langen Moment über den Bildern, bevor er den Hefter mit einem betrübten Seufzer zuklappte und Logan zurückgab.

Als Logan den Hefter gerade wieder in den Attachékoffer legen wollte, kam ein Mann in der Uniform des Hotels zu ihnen an den Tisch. «Dr. Logan?», fragte er.

Logan nickte.

«Ein Anruf für Sie, Sir. Vorne beim Empfang.»

Logan runzelte die Stirn. «Ich bin mitten in einer Besprechung. Kann das nicht warten?»

Der Mann schüttelte den Kopf. «Ich fürchte nein, Sir. Der Anrufer sagte, die Angelegenheit sei dringlich. Höchst dringlich.»

2

Wenn man sich der Jamestown Verrazzano Bridge von Westen her über die Rhode Island Route 138 näherte, bot die vierspurige Hohlkastenkonstruktion aus Beton einen gefälligen, wenn auch alarmierend schrägen Anblick. Es war Mittag und außerhalb der Saison, dementsprechend dünn war der Verkehr. Dr. Jeremy Logan tippte das Gaspedal seines 68er Lotus Elan nur leicht an, und der Roadster gehorchte, glitt mühelos die weite Rampe hinauf und über die Brücke hinweg. Ein schmaler Streifen Land flog unter ihnen vorbei, dann folgte ein Stück voraus die nächste Brücke: die Claiborne Pell. Diese Brücke war sowohl länger als auch deutlich höher. Logan wusste genug über Baustatik, um Tragseilbrücken beunruhigend zu finden, und er trat das Gaspedal ein Stück tiefer durch. Der Wagen rauschte die Anhöhe hinauf, überwand den Apex des Brückenbogens, und dann vertrieb die sich darbietende Aussicht jeden Gedanken an Resonanzfrequenzen aus Logans Kopf.

Vor ihm lag Newport, Rhode Island: ein glitzerndes Juwel in der frühherbstlichen Sonne wie Oz am Ende der gelben Straße. Kleine Buchten, Marinas, Häfen, Werften und schimmernde Gebäude aus Stein oder weiß gestrichenen Schindeln – kaum zu unterscheiden auf diese Entfernung – erstreckten sich nach rechts und links. In mittlerer Distanz kreuzte eine Handvoll Slups und Catboote durch das Wasser, stark krängend im Wind, die weißen Segel straff und voll. Es war ein Anblick, der niemals langweilig wurde, und Logan genoss ihn in vollen Zügen.

Er reichte beinahe aus, um ihn das bohrende Geheimnis vergessen zu machen, dessentwegen er eigentlich hergekommen war.

Am Ende der Brücke bog er – wie fast alle Touristen – nach rechts ab in die Farewell Street und durchquerte die schmalen, in dichtem Verkehr erstickenden Straßen der Altstadt bis zum Memorial Boulevard. Dort angekommen bog er allerdings nicht nach links ab, in Richtung Cliff Walk und der makellos gepflegten Fassaden von «Cottages» wie Marble House oder Breakers, sondern nach Südwesten bis zur Ocean Avenue. Er passierte eine Reihe kleiner Strände, einen Country Club und die unvermeidlichen Sommerresidenzen. Einige Kilometer weiter erreichte er einen schmalen gepflasterten Weg, der von der Hauptstraße nach Süden abzweigte. Auf dem Straßenschild stand lediglich PRIVAT und kein Name.

Er bog in den Weg ein. Einhundert Meter weiter erreichte er eine Mauer aus alten, verwitterten Ziegeln, die sich zu beiden Seiten erstreckte, so weit das Auge reichte. Direkt vor ihm befand sich eine Schranke. Ein schiefergedecktes Gebäude diente als Wache. Logan hielt, um seine Papiere zu zeigen. Der Sicherheitsbedienstete in dem Wachhäuschen warf einen kurzen Blick darauf, nickte und gab sie zurück. Die Schranke über dem Weg hob sich, Logan winkte kurz und fuhr weiter.

Die schmale gewundene Straße führte durch einen kleinen Wald, über eine Erhebung und noch eine weitere. Schließlich umrundete Logan eine letzte Biegung und hielt an, als er zum ersten Mal seit zehn Jahren das Lux erblickte.

Es war noch größer, als er es in Erinnerung hatte. Es war dem Knebworth House im Südosten Englands nachempfunden, jedoch in einem weit größeren Maßstab. Das sandfarbene Bauwerk erstreckte sich nach beiden Seiten scheinbar kilometerweit, bevor es in Ost- und Westflügeln endete. Mit seiner eigentümlichen Mischung aus Renaissance, Klassizismus und Spätgotik und den in der Sonne glitzernden Bleiglasfenstern erinnerte die Villa Logan noch mehr an das Wunderland Oz als Newport selbst – bis auf die Tatsache, dass die dunklen Ranken von Efeu an der Fassade, die Zinnen entlang des Dachs und die Türmchen und Giebel mit den Spitzdächern dem Gebäude eine kampfbereite, bedrohliche Aura verliehen. Nein, nicht bedrohlich, dieser Ausdruck war zu stark. Beunruhigend, hatte Logan es beim ersten Anblick genannt, und bei diesem Ausdruck beließ er es auch dieses Mal.

Die hohe Mauer, die er auf dem Weg hierher passiert hatte, war zu beiden Seiten in der Ferne zu sehen. Sie zog sich über das grasbewachsene Gelände und endete auf beiden Seiten an den steilen, felsigen Klippen oberhalb des Atlantiks. Entlang der Flanken des Hauptgebäudes verteilt lagen mindestens ein Dutzend Nebengebäude unterschiedlicher Form und Größe: ein Kraftwerk, ein Treibhaus, Lagerhäuser und eine Reihe fensterloser flacher Bauten, von denen Logan wusste, dass es sich um Labore handelte. Alles zusammen bildete einen Campus von nahezu vierzig Hektar.

Im Schritttempo ließ er den Wagen die langgezogene Auffahrt hinauf zu einem Parkplatz vor dem Westflügel rollen – der Haupteingang mit seinen vier massiven spiralförmigen Säulen unter einem marmornen Giebeldreieck war viel zu prunkvoll, um für irgendetwas genutzt zu werden außer zu Dekorationszwecken. Er stieg aus dem Wagen und ging den kurzen, von Bäumen gesäumten Weg hinunter zu einer Doppeltür. Erst hier, festgeschraubt an der Fassade neben dem Eingang auf einer dunkel verwitterten Bronzeplakette, verriet die Örtlichkeit dem Besucher ihren Namen: LUX.

Auf der anderen Seite des Eingangs befanden sich mehrere Vorrichtungen: ein numerisches Tastenfeld, eine Gegensprechanlage mit Summer sowie ein weiteres technisches Ding, das Logan nicht identifizieren konnte. Ein Schild über allen dreien verkündete:

BEWOHNER UND GÄSTE: AUSSERHALB DER

ÖFFNUNGSZEITEN TASTENFELD BENUTZEN

Logan war weder das eine noch das andere, und weil Mittag war, betätigte er den Summer.

Einen Moment später krächzte eine Frauenstimme durch den Lautsprecher: «Sie wünschen?»

«Mein Name ist Dr. Jeremy Logan», antwortete Logan, indem er sich vorbeugte und in das Mikrophon sprach.

Eine kurze Pause, dann: «Bitte treten Sie ein.»

Ein Summen erklang, und die Doppeltüren sprangen auf. Logan betrat das Gebäude.

Vor ihm lag der lange, breite Korridor, an den er sich erinnerte. Er vermittelte recht deutlich den doppelten Zweck des gewaltigen Anwesens. Während die Wände und Decken mit elegantem, an das Rokoko erinnerndem Stuck verziert waren – was auf die palastartige Residenz eines Räuberbarons aus einem früheren Jahrhundert hindeutete –, ließen die von Büchern übersäten Tische, die von Wand zu Wand reichenden Teppichböden, die Türschilder und die auffälligen roten Wegweiser zu den Ausgängen einen zweiten, völlig anderen Verwendungszweck erkennen.

Logan ging ungefähr zehn Meter den Korridor hinunter, dann trat er durch eine mit «Rezeption» gekennzeichnete Tür. Telefone summten, Finger tippten geschäftig auf Tastaturen, und trotzdem hing eine merkwürdig gedämpfte Stimmung in der Luft, die Logan sofort bemerkte – eine Stimmung, die nach Logans Empfinden so überhaupt nicht zum normalen, professionellen Alltag eines geschäftigen Büros passen wollte.

Hinter einem langen Schreibtisch saß eine Frau, die ihn eintreten sah. «Dr. Logan?», fragte sie.

«Das ist richtig.»

«Ich habe den Direktor informiert. Er wird jeden Moment hier sein.»

Logan nickte. «Danke sehr.»

Er wandte sich zu den ledergepolsterten Ohrensesseln und Sofas um, die den Wartebereich bildeten, entschied sich für einen und wollte sich eben setzen, als die vertraute Gestalt von Gregory Olafson im Eingang der Rezeption auftauchte. Er war älter geworden – das dichte schwarze Haar war schlohweiß, und die Falten um seine Augen herum waren nicht mehr nur Lachfalten –, doch das war nicht alles. Irgendetwas, das nichts mit den Jahren zu tun hatte, hatte sein Gesicht zusätzlich altern lassen. Er lächelte beim Anblick von Logan, aber es war ein kurzes Lächeln, sogleich wieder verschwunden.

«Jeremy», sagte er, als er vortrat und Logans Hand ergriff. «Schön, Sie wiederzusehen.»

«Hallo, Gregory», erwiderte Logan.

«Sie fragen sich bestimmt, was das alles soll. Kommen Sie doch bitte mit in mein Büro, und ich erkläre Ihnen alles dort.»

Er führte Logan aus dem Zimmer.

3

Olafsons Büro war fast genau so, wie Logan es in Erinnerung hatte. Dunkle Holzpaneele im Edwardischen Barock, Lampen aus poliertem Messing, dazu die anachronistischen kritzeligen Gemälde an den Wänden – Olafson bevorzugte den abstrakten Expressionismus. An einer Wand boten hohe Fenster mit massiven Rahmen einen Ausblick auf die gepflegte Landschaft draußen: grüne Vegetation, die sich bis zu den felsigen Klippen über einem aufgewühlten Ozean hinzog. Die unteren Schieberahmen der Bleiglasfenster waren ein wenig hochgeschoben, und Logan konnte sowohl das ferne Krachen der Wellen gegen die Felsen hören als auch die salzige Seeluft riechen.

Der Direktor bot Logan einen Platz an, dann setzte er sich zu ihm. «Ich weiß es zu schätzen, dass Sie so schnell gekommen sind.»

«Sie sagten, die Angelegenheit sei dringend.»

«Und das ist sie, in der Tat. Aber ich bin in großer Verlegenheit, Ihnen den genauen Grund zu erklären. Das …», Olafson zögerte einen Moment. «Das ist nämlich der Punkt, an dem Sie ins Spiel kommen. Ich wollte mich Ihrer Dienste versichern, bevor ein anderer Auftrag in die Quere kommt.»

Olafson verstummte, und die beiden Männer blickten sich für einen langen Moment schweigend an.

«Bevor ich weiterspreche, muss ich wissen, ob Sie bereit sind, jedes Vorurteil und jeden alten Groll aus dem Spiel zu lassen, der möglicherweise aus früheren, äh, Differenzen resultiert», fuhr Olafson schließlich fort.

Wieder Stille. Logan musterte sein Gegenüber. Er hatte hier in diesem Sessel gesessen, als er das letzte Mal mit Olafson gesprochen hatte, vor ziemlich genau einer Dekade. Es war ungefähr die gleiche Jahreszeit gewesen, und der Direktor hatte den gleichen Ausdruck im Gesicht wie heute, nervös und angespannt. Fragmente von Olafsons kurzer Ansprache kamen Logan in den Sinn, gefiltert durch einen Schleier aus Zeit und Erinnerung. Gewisse Mitglieder sind ausgesprochen besorgt … vermeintlicher Mangel an akademischer Sorgfalt … Interessen des ältesten und renommiertesten Forschungsinstituts müssen an erster Stelle stehen …

Logan verlagerte sein Gewicht im Sessel. «Da wird es kein Problem geben.»

Der Direktor nickte. «Und ich darf mir Ihrer völligen Diskretion sicher sein? Vieles von dem, was ich Ihnen erzählen werde, ist streng geheim, selbst vor den anderen Mitgliedern der Fakultät, dem Personal und den Kollegen.»

«Das gehört zu meiner Arbeit. Sie brauchen eine solche Frage nicht zu stellen.»

«Ja. Aber ich musste, verstehen Sie? Danke sehr.» Olafsons Blick huschte kurz nach draußen zum Meer, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder auf Logan richtete. «Erinnern Sie sich an Dr. Strachey?»

Logan überlegte. «Willard Strachey?»

Olafson nickte.

«Er war ein Computerwissenschaftler, richtig?»

«Stimmt. Strachey war kürzlich im Brennpunkt einer … sehr traurigen Begebenheit, die sich hier im Lux zugetragen hat.»

Logan erinnerte sich an die bedrückte Atmosphäre, die er während seiner kurzen Wartezeit in der Rezeption bemerkt hatte. «Erzählen Sie.»

Der Blick des Direktors wanderte ein weiteres Mal nach draußen und auf das Meer, bevor er antwortete. «Strachey war während der letzten ein oder zwei Wochen nicht er selbst.»

«Könnten Sie ein wenig deutlicher werden?», fragte Logan.

«Rastlos. Allem Anschein nach schlief er nicht, oder nur sehr wenig. Äußerst reizbar – wenn Sie sich an ihn erinnern, werden Sie wissen, dass das völlig untypisch für ihn war. Und er …», Olafson zögerte erneut. «Er hatte angefangen, Selbstgespräche zu führen.»

«Tatsächlich?»

«So habe ich mir sagen lassen. Leise, aber ausgiebig, und manchmal sogar lebhaft und erregt. Dann, vor vier Tagen, kam es zu einem plötzlichen Zusammenbruch.»

«Sprechen Sie weiter», sagte Logan.

«Er wurde gewalttätig. Griff seine Assistentin an.» Olafson schluckte. «Wie Sie wissen, haben wir nur einen rudimentären Sicherheitsdienst hier … wir sind nicht ausgerüstet für … für derartige Vorfälle. Wir überwältigten ihn, so gut es ging, und sperrten ihn in die Besucherbibliothek im ersten Stock, dann riefen wir die Rettung.»

Logan wartete, dass der Direktor fortfuhr. Olafson erhob sich jedoch und trat zu einer Wand. Er schob einen dekorativen Vorhang beiseite, und dahinter erschien eine Projektionsfläche. Er öffnete eine Schublade in der gleichen Wand, zog einen Digitalprojektor hervor, verband ihn mit der Steckdose und richtete ihn auf die Projektionswand.

«Es ist einfacher – für Sie und ganz sicher auch für mich –, wenn Sie sich das hier selbst ansehen», sagte er. Dann ging er zur Tür, schaltete das Licht aus und startete den Projektor.

Zuerst blieb die Bildfläche leer. Dann lief eine Serie von Zahlen vorbei, und schließlich erschien ein Gesicht, schwarzweiß und leicht körnig wegen der starken Vergrößerung: das Videosignal einer Sicherheitskamera. Am unteren Rand waren Datum und Uhrzeit eingeblendet. Logan erkannte den Raum wieder: Es war, wie Olafson gesagt hatte, die Besucherbibliothek des Instituts, ein überladener Raum mit schwülstigen Wandleuchtern und einer Kassettendecke. Drei der Wände waren vom Boden bis zur Decke mit Büchern zugestellt, in der vierten waren mehrere große Fenster, so massiv wie die in Olafsons Büro. Ohrensessel, Ottomanen und Sitzbänke standen überall in dem großzügigen Raum verteilt. Es war keine Arbeitsbibliothek – diese befand sich in anderen Räumlichkeiten des riesigen Gebäudes, und sie war viel besser ausgestattet –, sondern dazu gedacht, Gäste und potenzielle Klienten zu beeindrucken.

Aus der Vogelperspektive der Sicherheitskamera konnte Logan einen Mann erkennen, der auf dem kostbaren Teppich auf und ab ging, ohne Frage in einem Zustand extremer Erregung. Er zerrte an seiner Kleidung, zupfte an seinen Haaren. Logan erkannte in ihm die zehn Jahre ältere Version von Dr. Strachey, vielleicht sechzig oder fünfundsechzig. Gelegentlich hielt der Wissenschaftler inne und beugte sich vornüber, wobei er die Hände wie zum Schutz vor einem unerträglichen Geräusch auf die Ohren presste.

«Wir haben ihn dorthin gebracht», sagte Olafson, «damit er nicht sich oder jemand anderen verletzte, bevor Hilfe kam.»

Logan sah, wie Strachey zur Tür ging und unter lautem Schreien wie wild am Knauf zerrte.

«Was brüllt er?», wollte Logan wissen.

«Das kann ich nicht sagen», antwortete Olafson. «Ich fürchte, es war nur ein Tobsuchtsanfall. Die Tonqualität ist sehr schlecht – nur ein paar unserer Sicherheitskameras verfügen über integrierte Mikrophone.»

Stracheys Erregung nahm nun sichtlich zu. Er hämmerte gegen die Wände, riss Bücher aus den Regalen und schleuderte sie durch den Raum. Wieder und wieder verharrte er, um sich die Ohren zuzuhalten und den Kopf zu schütteln wie ein Hund, der eine Ratte im Maul hin und her schüttelt. Er ging zu den Fenstern und schlug mit den geballten Fäusten dagegen, doch das Bleiglas war zu dick, als dass es so leicht zu brechen wäre. Strachey fing an zu torkeln und mit den Armen zu rudern, als wäre er blind. Er rannte gegen Wände und kippte Tische um. Er stolperte in Richtung der Kamera, und für einen kurzen Moment wurde seine Stimme klarer. Schließlich wandte er sich gehetzt und nach Luft ringend wieder ab und blickte sich suchend um. Und dann, urplötzlich, wurde er ruhig.

Aus den Augenwinkeln sah Logan, wie Olafson sich abwandte. «Ich muss Sie warnen, Jeremy – ich fürchte, was jetzt kommt, ist furchtbar verstörend.»

Unter den Augen der Kamera wandte sich Strachey in Richtung der Fenster. Zuerst bewegte er sich langsam und zögernd, dann wurde er schneller und zuversichtlicher. Er erreichte das erste Fenster und versuchte den unteren Teil hochzuschieben, aber der schwere alte Rahmen bewegte sich nur wenige Zentimeter.

Strachey ging zum nächsten Fenster und zerrte mit wilden, ruckenden Bewegungen am Rahmen. Auch er ließ sich nur ein paar Zentimeter hochschieben. Die alten, metallbeschlagenen Schiebefenster waren für sich genommen schon extrem schwer, wie Logan wusste, und sie waren sicher seit Jahrzehnten nicht gereinigt und geölt worden.

Strachey näherte sich dem dritten Fenster, zerrte erneut am unteren Rahmen. Dieser ließ sich leichter bewegen. Logan verfolgte, wie Strachey das Fenster höherschob, zuerst mit beiden Händen, dann mit der Schulter. Logan konnte das angestrengte Stöhnen des Mannes hören. Schließlich hatte er das Fenster ganz oben, gut einen Meter über der unteren Schwelle.

Draußen befand sich kein Gitter oder Geländer – die Bibliothek lag im Erdgeschoss des Gebäudes, und durch das weitgeöffnete Fenster würde Strachey ungehindert in die Freiheit gelangen. In der nächsten Minute wäre er durch das offene Fenster und verschwunden. Worin also bestand die außergewöhnliche Tragik dieses einzelnen durchgedrehten Wissenschaftlers?, fragte sich Logan.

Nur, dass Strachey nicht durch das Fenster flüchtete. Stattdessen bückte er sich davor, hantierte in der rechten Ecke herum, fummelte an der Nut des Rahmens. Es war die Kette, begriff Logan, an der der Schieberahmen des Fensters geführt wurde. Er kniff verblüfft die Augen zusammen und starrte auf die Bildfläche. Strachey hielt die Kette jetzt in einer Hand. Mit der anderen führte er eine Art Drehbewegung an einem Gegenstand aus, den sein Körper vor der Kamera verbarg.

Dann zog er die Hand weg. Er hielt das eiserne Gegengewicht des Schiebefensters in der Hand, ungefähr fünfundzwanzig Zentimeter lang und dem Aussehen nach schwer. Strachey hatte es von der Fensterkette losgeschraubt. Er ließ das Metallstück zu Boden fallen. Mit der anderen Hand hielt er weiter die Kette gepackt. Nur sein Griff um die Kette verhinderte nun, dass der Schieberahmen nach unten krachte.

Plötzlich hatte Logan eine grausige Vorahnung.

Mit der Kette fest in der Hand kniete sich Strachey vor das Fenster und legte den Hals auf die untere Schwelle. Für einen Moment geschah nichts, während Logan, erstarrt in seinem Sessel, hörte, wie der Mann mehrere Male zitternd nach Atem rang.

Dann ließ Strachey die Kette los.

Mit einem scharfen Kreischen wie die Pfeife eines Zugs rauschte das schwere Schiebefenster in seiner Führung nach unten. Das Knirschen der brechenden Knochen war entsetzlich, hörbar selbst über den Lärm des Fensters hinweg, und Stracheys Körper bäumte sich auf, als stünde er unter Starkstrom.

Logan wandte hastig den Blick zur Seite, doch nicht ohne aus den Augenwinkeln zu sehen, wie Stracheys Kopf hinunterfiel in die Blumenbeete draußen vor der Bibliothek und wie ein Schwall von Blut, pechschwarz im mitleidlosen Auge der Sicherheitskamera, aus dem enthaupteten Leichnam spritzte.

4

Eine ganze Minute lang rührte sich keiner der beiden Männer. Dann stand der Direktor wortlos auf, schaltete das Licht wieder ein, verstaute den Projektor, schob den Vorhang vor die Projektionswand und kehrte an seinen Platz zurück.

«Mein Gott …», murmelte Logan.

«Wir konnten die Tatsache nicht geheim halten, dass Strachey sich das Leben genommen hat», sagte Olafson. «Allerdings haben wir uns aus offensichtlichen Gründen bemüht, die Einzelheiten auf ein Minimum zu beschränken. Nichtsdestotrotz zirkulieren im Haus Gerüchte.» Er hob den Kopf und sah Logan an. «Ich muss Sie fragen – was ist Ihr erster Gedanke?»

«Mein Gott», sagte Logan erneut. Er war geschockt. Er versuchte eine Erinnerung an Willard Strachey aus seiner eigenen Zeit am Lux heraufzubeschwören, doch alles, was er sah, war das Bild eines stillen, relativ scheuen Mannes mit dünnem, mausgrauem Haar. Sie hatten sich zugelächelt und genickt, aber nie miteinander gesprochen.

Er drängte den Schock zurück und versuchte Olafsons Frage zu beantworten. «Ich denke …», begann er langsam, «… sich auf solch eine Weise selbst das Leben zu nehmen … Es kann eigentlich nur bedeuten, dass dieser Mann es nicht ertragen konnte, auch nur eine Minute länger am Leben zu bleiben. Er konnte nicht warten, bis er Zugang zu Tabletten, einer Waffe, einem Wagen, dem Dach eines Gebäudes hatte … er musste sterben, und zwar auf der Stelle.»

Der Direktor nickte. Er beugte sich vor. «Ich beschäftige mich normalerweise nicht mit den alltäglichen Angelegenheiten am Lux, das überlasse ich Perry Maynard. Aber ich kannte Will Strachey seit dreißig Jahren. Er war der stabilste, freundlichste, vernünftigste Mann von allen. Er war außerdem einer meiner besten Freunde. Er war Trauzeuge bei meiner Hochzeit! Es ist unvorstellbar, dass er jemanden körperlich angreift. Niemals, nie im Leben hätte er sich selbst getötet – und ganz gewiss nicht auf so eine Weise. Will verabscheute Hässlichkeiten und Szenen. Ein Akt wie dieser ist komplett wider seine Natur.»

Olafson beugte sich noch ein Stück weiter vor. «Die Behörden haben es, wie nicht anders zu erwarten war, als Selbstmord aufgenommen und fertig. Es scheint, sie haben keine besonders hohe Meinung von Forschungsinstituten und den dort tätigen Wissenschaftlern. Und der Polizeipsychologe hat es, wenn ich mich recht entsinne, als eine ‹kurze reaktive Psychose aufgrund einer Bewusstseinsstörung› abgetan», schloss der Direktor verächtlich. «Aber ich weiß, dass das nicht der Fall war. Und ich weiß noch etwas: Der Mann in diesem Video ist nicht der Mann, den ich kannte. Es ist ganz einfach – und völlig rätselhaft zugleich. Und genau das ist der Grund, aus dem ich Sie hergebeten habe.»

«Das ist nicht gerade mein spezielles Arbeitsgebiet», sagte Logan. «Ich bin kein Privatdetektiv. Ich bin Enigmatologe.»

«Und ist das hier etwa kein Rätsel?», fragte Olafson leidenschaftlich mit einem Zittern in der Stimme. «Ich sagte Ihnen doch gerade: Der Mann dort auf dem Video, das war nicht Will Strachey. Er hätte so etwas niemals getan. Und doch kann man nicht bestreiten, dass er sich selbst umgebracht hat. Sie haben das Video gesehen. Ich habe seine Leiche gesehen.» Er hielt inne und strich sich mit der Hand über die Stirn. «Wir müssen herausfinden, was ihm zugestoßen ist. Nicht für mich, sondern für das Lux.»

«Sie sagen, Sie seien einer seiner besten Freunde gewesen», sagte Logan. «Gab es etwas, das ihm Sorgen bereitete? Irgendetwas in seinem beruflichen oder privaten Umfeld?»

«Ich habe ihn in den letzten ein, zwei Jahren nicht mehr so oft gesehen, wie mir lieb gewesen wäre.» Olafson deutete mit der Hand auf seinen Schreibtisch, als wolle er «die viele Arbeit» sagen. «Aber ich bin sicher, es gab nichts. Er hat nie geheiratet, blieb lieber allein. Er war wohlhabend und unabhängig. Er hatte keine gesundheitlichen Probleme – jährliche ärztliche Untersuchungen gehören bei uns dazu; jedenfalls förderte sein Medizincheck vor zwei Monaten nichts zutage. Ich habe nachgesehen. Ich glaube, er war dabei, seine Arbeit abzuschließen; seine Assistentin Kim Mykolos oder Dr. Maynard können Ihnen sicherlich mehr darüber erzählen. Ich darf Ihnen allerdings versichern, dass ihm die Aussicht auf den Ruhestand keine Probleme gemacht hat. Will Strachey war einer der Partner hier am Institut, er hat einen bleibenden Beitrag auf seinem Forschungsgebiet geleistet. Es gab eine Menge, worauf er stolz sein konnte – und eine Menge, für die es sich zu leben lohnte. Als wir das letzte Mal zusammen zu Mittag gegessen haben, hat er von all den Dingen gesprochen, auf die er sich im Ruhestand freute. Die Kathedralen in Europa besichtigen – er war ein großer Fan von Architektur und architektonischem Design und wusste eine ganze Menge darüber. Er wollte wieder Klavier spielen – wussten Sie, dass er ein talentierter Pianist war, mit einer klassischen Ausbildung? Er musste seine musikalischen Ambitionen vor Jahren beiseiteschieben, als seine Arbeit an der Datenbank zu aufzehrend wurde. Das Mittelmeer auf dem Segelboot erleben – er war ein begeisterter Segler. Will war ein Mann mit vielen Plänen. Er hatte nicht den geringsten Grund, sterben zu wollen. Nicht den geringsten.»

Schweigen senkte sich auf die beiden Männer. Nach knapp einer Minute nickte Logan. «Also gut. Unter einer Bedingung: Ich benötige uneingeschränkten Zugang zu den Büros und den Labors des Lux sowie zu sämtlichen Unterlagen und Aufzeichnungen.»

Der Direktor zögerte nur eine Sekunde. «Einverstanden.»

«Brauche ich eine offizielle Agenda? Einen Grund für mein Hiersein, dafür, dass ich Fragen stelle und herumschnüffele? Immerhin wäre meine, sagen wir, Vergangenheit beim Lux zu berücksichtigen.»

Auf Olafsons Gesicht erschien ein gequälter Ausdruck. «Daran habe ich auch gedacht. Viele der Leute, die Sie vor zehn Jahren hier kannten, sind immer noch bei uns. Und Sie selbst sind natürlich einigermaßen bekannt geworden seit damals. Aber wenn Sie ungehindert operieren wollen, wüsste ich nicht, wie falsche Schüchternheit oder Heuchelei weiterhelfen sollte. Sie sind auf Bitte des Vorstands hier, um die mysteriösen Umstände zu untersuchen, die zu Dr. Stracheys Tod geführt haben, ganz einfach. Ich würde gar nicht weiter ins Detail gehen.»

«Bestens. Sonst noch etwas, das ich wissen sollte, bevor ich mich an die Arbeit mache?»

«Ja.» Der Direktor zögerte kurz. «Ich schätze, es ist nur fair, Sie zu warnen. Nicht jeder wird sich darüber freuen, Sie zu sehen. Ich spreche nicht nur von Ihrer Vergangenheit am Institut. Seit damals ist viel frisches Blut zu uns gekommen, aber im Grunde genommen sind wir immer noch ein äußerst konservativer Verein. Manch einer wird Ihre Motive in Frage stellen. Man wird Ihnen vielleicht misstrauen. Sie sollten auch wissen, dass der Vorstand uneins war, was Ihre Hinzuziehung betrifft. Drei gegen drei Stimmen. Meine Stimme war die ausschlaggebende.»

Logan lächelte matt. «Oh, daran bin ich gewöhnt. Das scheint leider das Wissenschaftsgebiet mit sich zu bringen.»

«Sie gehören immer noch der Fakultät der Yale an, ist das richtig?»

«Korrekt.»

«Das kann nur hilfreich sein.» Olafson erhob sich. «Kommen Sie, bringen wir die Formalitäten hinter uns.»

5

Um halb vier am Nachmittag desselben Tages stand Logan in seinem neuen Büro im zweiten Stock des weitläufigen Gebäudes und blickte gedankenverloren aus dem Fenster. Es war von der gleichen schweren, bleiverglasten, metallbeschlagenen Sorte wie das Fenster, das Strachey benutzt hatte, um sich das Leben zu nehmen. Logan wusste, dass er diese Art von Fenstern nie wieder mit den gleichen Augen sehen würde wie zuvor. Das Fenster war geschlossen, nichtsdestotrotz konnte er das ferne Brüllen der Brecher hören, wenn der Atlantik gegen die Felsen und Steine tief unterhalb der Klippe brandete.

Logan hob eine Hand und strich mit dem Finger behutsam über den Fensterrahmen. Die Wurzeln des Lux lagen in einem privaten Club, zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts von sechs Harvard-Professoren gegründet mit dem Ziel, Fragen der Kunst und der Philosophie zu debattieren. Im Lauf der Jahre hatten sich sowohl Ambitionen als auch Aufgabenstellung stetig erweitert, bis im Jahre 1892 das Lux daraus entstand, mit einem offiziellen Status und einer beeindruckenden Ausstattung. Damit war das Lux das älteste Institut des Landes – vulgär ausgedrückt: ein «Think Tank» – und mehr als zwei Jahrzehnte älter als die bekannte Brookings Institution. Es erzielte bereits in seinen frühen Jahren unvergleichliche Erfolge und wuchs bald aus seinen Räumlichkeiten in Cambridge heraus, sodass es zunächst nach Boston umzog und später – in den 1920er Jahren – nach Newport, wo es seine endgültige Heimat in der Villa fand, die man aus dem Nachlass eines exzentrischen Millionärs erstanden hatte. Über die Jahre hatte das Lux auf seinen diversen Fachgebieten wie Ökonomie, Politik, angewandte Mathematik, Physik und in jüngerer Zeit auch Computerwissenschaften weitere Erfolge erzielt. Das Einzige, was laut Gründungscharta ausdrücklich verboten war, war jede Form von militärischer Anwendung – womit sich das Lux von allen anderen Think Tanks abgrenzte, die allzu bereitwillig derart lukrativen Forschungsaufträgen nachgingen.

Logan trat vom Fenster zurück und sah sich in seinem Büro um. Es war wie alle anderen Räume des Gebäudes opulent, geräumig, voller Zierrat. Zusätzlich zum Büro verfügte er über ein kleines Wohnzimmer, ein Schlafzimmer und ein Bad. Logans Blick blieb auf dem Schreibtisch haften, wo er bereits einen Teil seiner Arbeitsmaterialien ausgebreitet hatte: einen Laptop, einen Camcorder, einen digitalen Stimmenrecorder, einen EMF-Detektor, ein Infrarot-Thermometer sowie etwa ein Dutzend Bücher, die meisten in Leder gebunden, viele davon mehrere hundert Jahre alt.

Ein sachtes Klopfen an der Tür unterbrach ihn bei seiner Begutachtung. Logan erhob sich, um aufzumachen, und vor ihm stand ein junger Mann in einem gedeckten Geschäftsanzug.

«Bitte entschuldigen Sie», sagte er, während er Logan eine versiegelte Mappe mit der Aufschrift PRIVAT und VERTRAULICH reichte. «Dr. Olafson hat mich gebeten, Ihnen das hier persönlich zu überbringen.»

«Danke sehr», erwiderte Logan mit einem Nicken. Der junge Mann entfernte sich durch den mit dickem Teppichboden ausgelegten Korridor, und Logan schloss die Tür mit der Schulter, zugleich entsiegelte er die Mappe. Darin fand er eine einzelne unbeschriftete DVD.

Er ging zu seinem Schreibtisch zurück, setzte sich, startete den Laptop und wartete, bis er fertig gebootet hatte, dann schob er die DVD ins Laufwerk. Augenblicke später öffnete sich der Media Player auf dem Bildschirm, und ein Video wurde abgespielt. Logan erkannte es sofort als die Aufzeichnung der Sicherheitskamera, die er gemeinsam mit Olafson in dessen Büro angesehen hatte – das körnige schwarzweiße Bild eines Mannes in einer elegant ausgestatteten Bibliothek, der rastlos auf und ab ging und sich die Haare raufte.

Logan hielt die Wiedergabe an. Er wollte sich das nicht noch einmal ansehen. Nachdenklich starrte er auf das eingefrorene Bild von Will Strachey. Olafsons Worte kamen ihm in den Sinn: Ich kannte Will Strachey seit dreißig Jahren. Er war der stabilste, freundlichste, vernünftigste Mann von allen. Will war ein Mann mit vielen Plänen, für die es sich zu leben lohnte. Der Mann in diesem Video ist nicht der Mann, den ich kannte.

Logan schloss den Media Player und startete ein Programm, um die Audiospur aus der DVD zu extrahieren. Als er damit fertig war, öffnete er die kreierte Datei in einem forensischen Audio-Editierprogramm und spielte sie in ihrer Gänze ab. Sie war nur vier Minuten und zwanzig Sekunden lang. Nachdem Logan sie einmal angehört hatte, löschte er die letzten dreißig Sekunden: Das Quietschen des herabsausenden Schiebefensters und die beiden darauf folgenden dumpfen Schläge waren fast genauso grauenvoll anzuhören, wie die Bildaufzeichnung zuvor anzusehen gewesen war.

Erneut lauschte Logan der Audioaufzeichnung. Die ersten fünfundvierzig Sekunden bestanden lediglich aus schweren Schritten und röchelndem Atmen, und er löschte sie ebenfalls. Zurück blieb eine Audiodatei von ungefähr drei Minuten Länge und schlechter Qualität, voll mit Nebengeräuschen, Summen und Rauschen, und digitalen Artefakten.

Im Hauptfenster des Editors wurde die Audiodatei in Wellenform angezeigt – eine dicke gezackte Linie von links nach rechts, durchsetzt von spitzen Ausschlägen nach oben und unten. Logan öffnete ein weiteres Fenster und instruierte das Programm, eine spektrale Analyse der Audiodatei durchzuführen. Er beobachtete, was auf Anzeige erschien, und justierte die Amplituden- und Frequenzwerte. Dann ließ er ein Makro laufen, das Störimpulse filterte, und stellte den Schwellenwert auf ein aggressiveres Niveau. Schließlich führte er einen Offset-Abgleich durch, erhöhte die Verstärkung und ließ sie durch einen parametrischen Equalizer mit einem angeschlossenen Hochpassfilter laufen.

Jetzt war die Aufnahme klarer und lauter, und das Summen war größtenteils verschwunden. Stracheys Stimme war zwar besser zu hören, doch sie war immer noch schwierig zu verstehen – zum Teil wegen der schlechten Aufnahmequalität, zum anderen, weil Strachey abwechselnd ächzte oder undeutlich murmelte. Dennoch fertigte Logan, so gut es eben ging, ein Transskript an, indem er die schwierigen Passagen wieder und wieder abspielte und genau hinhörte. Er versuchte sich in Stracheys Lage zu versetzen, soweit das möglich war, stellte sich vor, was der Mann fühlen musste, und fügte seine Schlussfolgerungen hinzu.

«Nein … nein, ich kann nicht. Ich kann nicht.»

Diesen Worten folgte eine kurze Passage schnellen Atmens, beinahe Hyperventilation.

«Helft mir. Bitte helft mir. Es folgt mir überallhin! Ich kann nicht, ich kann ihm nicht entkommen!»

Logan hörte, wie am Türknauf gerüttelt wurde und wie Bücher aus den Regalen flogen.

«Es kommt aus dem [unverständlich]. Ich weiß, dass es kommt.»

Verschiedene krachende Geräusche, ein umgestoßener Tisch. Für einen kurzen Moment wurde die Stimme klarer.

«Die Stimmen … sie sind zu nah. Sie schmecken wie Gift. Ich muss hier weg.»

Dann entfernte sich die Stimme, als Strachey von der Kamera wegstolperte.

«Es ist bei mir. Sie sind bei mir. In der Dunkelheit. Nein, Gott, nein …»

Das war’s. Mit einem Mal verebbte die zitternde Aufgewühltheit in der Stimme. Der Atem verlangsamte sich, wurde beinahe ruhig. Logan hielt die Wiedergabe an – er wusste, was als Nächstes kam.

Er speicherte sein Transskript als Textdatei, klappte den Laptop zu und erhob sich, um zu dem Fenster und dem Ausblick auf den grauen Atlantik zurückzugehen. Er hatte versucht, sich in Stracheys Lage zu versetzen, um die Audiodatei besser zu verstehen. Jetzt wünschte er, er hätte es nicht getan. Dort war nichts als unerklärlicher, plötzlicher Wahnsinn – Wahnsinn und Tod.

Sie sind bei mir. In der Dunkelheit.

Die Sonne schien über dem Rasen, der sich vom Haus bis zu den Klippen zog. Es war warm in dem eichengetäfelten Büro, doch trotz der Wärme spürte Logan, wie ihn ein Schauer durchlief.

6

Es war halb acht, als Logan seine Räumlichkeiten verließ, die ausladende zentrale Treppe hinunterstieg und den Speisesaal betrat. Dark Gables, so der Name des Anwesens, in dem das Lux zu Hause war, war das Produkt der fiebrigen Phantasie des exzentrischen Multimillionärs Edward Delaveaux gewesen. Während des Baus hatte der zurückgezogen lebende Delaveaux ein altes französisches Kloster gekauft und Stein für Stein abtragen lassen, um ganze Teile davon in sein neues Domizil auf Rhode Island zu integrieren. Der Speisesaal war das einstige Refektorium des Klosters. Es war ein großer gotischer Raum mit mächtigen Holzbalken, die eine Gewölbedecke formten, und dekorativen Bögen entlang der mit Gobelins behangenen Wände. Einzig die beiden spiralförmigen Säulen, ähnlich jenen am Haupteingang, störten die Illusion. Derartige Säulen waren die primären tragenden Strukturen des gesamten Gebäudes und überall in unterschiedlichen Größen zu finden.

Logan blieb für einen Moment im Eingang stehen und blickte sich um, überflog die Tische mit den Menschen, die dort zu Abend aßen, den schwarz befrackten Kellnern, die aufmerksam hier und da warteten. Er entdeckte mehrere vage bekannte Gesichter, doch die meisten waren ihm fremd. Die Tische waren alle identisch, rund, mit sechs Sitzplätzen und gedeckt mit frischgestärktem weißem Leinen.

Einer der am nächsten stehenden Tische war beinahe leer. Lediglich zwei Personen saßen dort, ein Mann und eine Frau, und ein dritter Platz sah aus, als sei er besetzt und als habe die dort sitzende Person ihren Platz nur vorübergehend verlassen.

Logan erkannte den Mann wieder. Es war Jonathan King, ein Spezialist für Spieltheorie. Logan war zwar nicht mit King befreundet gewesen während seiner Zeit am Lux, doch man hatte sich stets gegrüßt. Er setzte sich in Richtung des Tisches in Bewegung. Eine Reihe von Leuten glotzte, als er vorbeikam. Sein Konterfei war auf genügend Magazinen abgebildet gewesen, sodass er inzwischen daran gewöhnt war.

King sah auf, als sich Logan näherte. Für einen Moment schien er nicht zu wissen, wen er vor sich hatte, doch dann lächelte er erfreut. «Jeremy!», sagte er, indem er aufstand und Logan die Hand schüttelte. «Welche eine Überraschung! Und eine Freude.»

«Hi, Jonathan», sagte Logan. «Darf ich mich zu Ihnen setzen?»

«Aber selbstverständlich!» King drehte sich zu der Frau um, die neben ihm saß. Sie war vielleicht dreißig Jahre alt, mit schwarzen Haaren und hellen, wissbegierigen Augen. «Das ist Zoë Dempster», sagte King. «Sie ist vor sechs Monaten zu uns gekommen, als Junior Partner. Spezialistin für Grenzwerte und multivariable Infinitesimalrechnung.»

Als er dies hörte, erinnerte sich Logan, dass hier am Lux die Leute einander nicht nur mit Namen, sondern auch mit ihren jeweiligen Fachgebieten vorgestellt wurden. «Hallo», sagte er lächelnd.

«Hallo.» Dempster runzelte die Stirn. «Sind wir uns schon einmal begegnet?»

«Das ist Jeremy Logan», sagte King.

Das Stirnrunzeln verharrte noch einen Moment. Dann ging ihr offensichtlich ein Licht auf. «Oh. Logan. Sie sind der …» Sie unterbrach sich hastig.

«Der Geisterdetektiv», sagte Logan. «Ganz genau.»

Dempster lachte, und es klang erleichtert. «Das haben Sie gesagt, nicht ich.»

Logan erhaschte einen Blick von Olafson. Der Direktor saß an einem Tisch im hinteren Teil des Saals, zusammen mit dem Stellvertretenden Direktor Perry Maynard und mehreren anderen Personen. Als sich ihre Blicke begegneten, nickte Olafson ihm zu.

«Jeremy war ein halbes Jahr lang hier am Lux», sagte King taktvoll. «Das ist … wie lang ist es her, Jeremy?»

«Fast zehn Jahre.»

«Zehn Jahre. Schwer zu glauben.» King schüttelte den Kopf. «Sind Sie hier, um weiterzuforschen?»

Logan bemerkte den eigenartigen Blick, mit dem die beiden ihn musterten. Er wusste, dass sie neugierig waren, und er überlegte noch, wie er am besten antworten sollte, als jemand vor dem dritten Gedeck Platz nahm: ein Mann Ende fünfzig, mit kurzgeschnittenem graumeliertem Haar und einem herrlich zurechtgestutzten Bart, der Sigmund Freud stolz gemacht hätte. Er stellte eine volle Tasse schwarzen Kaffees neben seinem Teller ab, dann sah er Logan mit einem Ausdruck von theatralischer Überraschung an. «Na, so was!», sagte er. «Ich hatte mich schon gefragt, ob Sie nicht ungefähr jetzt hier auftauchen würden.»

«Hallo, Roger», sagte Logan.

«Selber hallo.» Roger Carbon redete mit einem honigsüßen englischen Akzent, der irgendwie alles, was er sagte, ein wenig naserümpfend klingen ließ. Carbon wandte sich an die beiden anderen. «Jonathan, Sie erinnern sich zweifelsohne an Jeremy Logan. Zoë, Sie nicht. Allenfalls aus dem Fernsehen. Ich habe Sie zufällig gestern Abend auf CNN gesehen. ‹Nessie existiert nicht.› Wirklich drollig.»

Logan nickte nur. Roger Carbon, Spezialist für evolutionäre Psychologie, war Logans Nemesis gewesen während seiner Zeit im Lux. Er hatte Logans Arbeiten über Rätsel und übernatürliche Phänomene als sensationslüstern abgetan, unterhalb der Würde des Instituts. Carbon hatte zu jener kleinen Gruppe von Leuten gehört, die entscheidend darauf hingewirkt hatten, dass Logan der Abschied vom Lux nahelegt worden war.

Ein Kellner erschien neben Logan mit einer kleinen gedruckten Speisekarte. Logan überflog sie, nannte seine Wahl und gab sie dem Kellner zurück, der rasch verschwand.

«Ich muss sagen, der von Ihnen beschriebene Modus Operandi klang bemerkenswert wissenschaftlich», fuhr Carbon beiläufig fort. «Und Sie haben inzwischen sogar einen Namen für Ihre, äh, Disziplin, stimmt’s?»

«Enigmatologie», sagte Logan.

«Ja, richtig. Enigmatologie. Wenn ich mich recht entsinne, waren Sie noch nicht bei einem Namen angelangt während Ihrer Zeit hier am Lux.»

«Bemerkenswert, was in einem Jahrzehnt so alles passieren kann», erwiderte Logan, ohne auf den Unterton des Mannes einzugehen.

«In der Tat. Darf ich annehmen, dass Sie dieses neue Forschungsgebiet kodifiziert haben? Eine Systematik eingeführt? Prinzipien etabliert? Können wir demnächst mit einem Lehrbuch rechnen? Einmaleins der Gespensterjagd vielleicht? Oder nein, besser noch, Spuk für Dummys.»

«Roger», warnte Jonathan King.

«Auch für altertümliche Flüche bin ich mittlerweile ein Experte», entgegnete Logan mit ausgewählter Freundlichkeit. «Heute habe ich sogar ein Sonderangebot für Sie: Ich verfluche zwei Leute Ihrer Wahl zum Preis von einem.»

Zoë Dempster kicherte und hielt sich eine Hand vor den Mund. King grinste. Carbon trank einen Schluck von seinem Kaffee und ignorierte Logans Retourkutsche.