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Lincoln Child

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Beschreibung

Chrysalis, ein mächtiger, milliardenschwerer Tech-Konzern, ist weltweit führend in der Entwicklung von Robotik und Unterhaltungstechnologie. Als der Medienmogul Russel Spearman während einer Aufsichtsratssitzung plötzlich verstirbt, glaubt man zunächst an einen Herzanfall. Doch innerhalb weniger Tage sterben zwei weitere Geschäftsführer unter mysteriösen Umständen. Jeremy Logan, Experte für unerklärliche Phänomene, wird beauftragt, den rätselhaften Todesfällen auf den Grund zu gehen. In der Firmenzentrale von Chrysalis, abgeschieden in den Wäldern Neuenglands gelegen, erfährt Logan, dass ein spektakulärer Launch bevorsteht: Die Weiterentwicklung der neuen «Omega»-Technologie soll die User tiefer in virtuelle Welten eintauchen lassen, als es jemals zuvor möglich war. Doch offenbar will jemand mit allen Mitteln verhindern, dass das Gerät auf den Markt kommt. Als Logan bei seinen Ermittlungen herausfindet, was sich wirklich hinter Omega verbirgt, wird ihm klar, welche Gefahren die neue Technologie birgt … Der sechste Fall für Jeremy Logan: ein hochspannender Thriller über virtuelle Realität und die Schattenseiten moderner Technologie.

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Seitenzahl: 434

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Lincoln Child

Omega

Das System kontrolliert dich

Thriller

 

 

Übersetzt von Axel Merz

 

Über dieses Buch

Hast du manchmal auch das Gefühl, dein Smart Device führt ein Eigenleben?

 

Chrysalis, ein milliardenschwerer Mega-Konzern, ist weltweit führend auf dem Gebiet der Unterhaltungselektronik. Als innerhalb einer Woche drei Geschäftsführer unter mysteriösen Umständen sterben, wird der Enigmatologe Jeremy Logan zu Hilfe gerufen. Offenbar haben die Todesfälle mit dem bevorstehenden Launch eines neuen Virtual-Reality-Geräts zu tun: Die Weiterentwicklung der innovativen «Omega»-Technologie soll es Usern ermöglichen, tiefer in virtuelle Welten einzutauchen als je zuvor. Als Logan bei seinen Ermittlungen herausfindet, was sich wirklich hinter Omega verbirgt, wird ihm klar, welche Gefahren die neue Technologie birgt …

Ein packender Thriller von New-York-Times-Bestsellerautor Lincoln Child über die Schattenseiten moderner Technologien.

Vita

Lincoln Child studierte Literatur und arbeitete viele Jahre als Lektor bei St. Martin’s Press. Gemeinsam mit seinem Freund Douglas Preston schrieb er mehrere Romane, die ein Millionenpublikum begeisterten. Auch mit seinen Soloprojekten «Wächter der Tiefe», «Nullpunkt», «Hüter des Todes», «Frequenz» und «Der Luna-Effekt» feierte Child große Erfolge. Er lebt mit Frau und Tochter in New Jersey.

 

Axel Merz, geboren 1957, Studium der Archäologie und der Naturwissenschaften, Übersetzer von u.a. Dan Brown, Lincoln Child sowie Philip Kerr. Lebt mit seiner Frau zurückgezogen bei Bonn und Heidelberg.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel «Chrysalis» bei Doubleday/Penguin Random House LLC, New York.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Januar 2023

Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Chrysalis» Copyright © 2022 by Lincoln Child

Redaktion Elisabeth Mahler

Covergestaltung und -abbildung Hafen Werbeagentur

ISBN 978-3-644-01553-1

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für Veronica

Technologie ist ein nützlicher Diener – und ein gefährlicher Meister.

Christian Lous Lange

1

Randall Pike kauerte in seinem Zelt, zerlegte seine Vermessungsausrüstung – Transit-Theodolit und Retroreflektor – und schob die empfindlichen Geräte in schaumstoffgefütterte Koffer. Er hatte fast jede wache Minute der letzten beiden Wochen mit den Apparaturen verbracht und kannte jedes Lot und jedes Fadenkreuz in- und auswendig, doch jetzt war die Zeit gekommen einzupacken.

«Randy!», rief eine weibliche Stimme von draußen. «Der Heli ist in fünf Minuten hier!»

«Ich weiß!», rief er lauter als nötig zurück. Dann, mit ruhigerer Stimme: «Ich bin gleich fertig.»

Er hätte damit rechnen müssen – er war verärgert. Wie immer am letzten Tag der jährlichen Pilgerreise zum Kalimatsu-Gletscher.

Mit geübten Handgriffen rollte er seinen Schlafsack zusammen, stopfte ihn in die Hülle und zog die Schnur fest. Er blickte sich um. Rucksack, wissenschaftliche Ausrüstung, Laptop, Notizbuch, Toilettenbeutel – alles war bereit. Die Kernbohr-Ausrüstung war verschnürt. Einzig das Zelt musste noch abgebaut werden, und das schaffte er in sechzig Sekunden. Er schob sämtliche Ausrüstung vor sich her nach draußen, dann duckte er sich durch den Eingang ins Freie.

Obwohl er sich kaum länger als eine Viertelstunde im Zelt aufgehalten hatte, war er für einen Moment geblendet von der grellen Helligkeit des Gletschers. Als sich seine Augen angepasst hatten, konnte er seine einzige Begleiterin sehen, Wing Kaupei. Sie stand dreißig Meter entfernt vor ihrer eigenen Ausrüstung. Natürlich hatte sie alles längst ordentlich aufgestapelt, und lediglich ein paar Habseligkeiten lagen noch neben ihr herum.

Fünf Minuten. Er atmete einen tiefen Zug der eisigen Luft und wandte sich langsam um, die Stiefel knirschten im festgetretenen Schnee. Ein letzter Blick in die Runde, bevor sie aufbrachen. Wie jedes Mal war die raue, majestätische Schönheit dieser Gegend überwältigend. Seine Verärgerung verflog, und Ehrfurcht machte sich in ihm breit. Im Norden glitzerten die Gipfel der Alaskakette wie Diamanten in der arktischen Sonne, und Denali erhob sich wie ein König unter Prinzen. Die weiße Decke des Gletschers lief an seiner Flanke herab, und die glatte Oberfläche wurde rauer, je näher sie der Akkumulationszone kam. Mit Ausnahme des leisen Windes war nicht ein Geräusch zu hören. Die nächstgelegene menschliche Siedlung lag gute sechzig Kilometer entfernt, die nächste Stadt sechzig Minuten mit dem Helikopter. Anchorage. In einer Stunde würde er dort sein. Weitere vierundzwanzig Stunden, und er wäre zurück in Neuengland.

«Möchten Sie, dass ich ein Foto mache?», fragte Wing, während sie ihre Ausrüstung kontrollierte. «Sie wissen ja, wie schlecht Ihre Selfies sind.»

«Nein. Trotzdem danke.» Es war eine aufmerksame Geste, doch ein Foto war das Letzte, was er wollte. Er hatte wenig Interesse daran, sich an diesen Ort so zu erinnern, wie er heute aussah. Im nächsten Jahr, wenn er hierher zurückkehrte, würde sich alles verändert haben – und zwar keineswegs zum Besseren.

In den vergangenen zehn Jahren – seit er hierherkam – war der Kalimatsu auf dramatische Weise geschrumpft. Die Ablationszone um die Bohrstelle herum hatte sich allein in den vergangenen zwölf Monaten um dreißig Zentimeter gesenkt. Im Verlauf der letzten zehn Jahre hatte die Dicke um fast zwei Meter abgenommen. Der Gletscher alterte vorzeitig, im Tempo eines hektischen, klamaukigen Stummfilms. Tag für Tag kalbten Eisberge so groß wie Hochhäuser ins Meer, und der Endpunkt wurde zunehmend instabiler. Je weiter sich der Gletscher zurückzog, desto häufiger kamen Kuriositäten unter dem Eis zum Vorschein: Uralte Samen, Nüsse, begraben seit zahllosen Millennien, erblickten lange vor der eigentlich zugedachten Zeit das Licht der Sonne.

Und genau dies war ironischerweise ein Nutzen des zurückweichenden Gletschers: die vorzeitlichen Naturschätze, die unter ihm begraben gelegen hatten. Vor zwei Jahren war in der sibirischen Eisschmelze ein Wollmammut freigelegt worden. Das – und ein neuerer Fund – war der Grund für Wings Anwesenheit in diesem Jahr. Unter dem Eis, auf dem er jetzt stand, war früher Dschungel gewesen. Eines Tages würde auch dieser Boden wieder ans Sonnenlicht kommen. Pike grinste freudlos. Bis dahin hätte die globale Erwärmung den Meeresspiegel um zwanzig Meter ansteigen lassen – die Menschheit hätte dann ganz andere Sorgen als geologische Forschung.

Dieses Jahr hatte er zum ersten Mal tatsächlich gespürt, wie sich der Gletscher bewegte. Nachts im Bett, als er Messergebnisse in sein Tablet getippt hatte, hatte der Kalimatsu unter ihm gestöhnt und geächzt wie ein lebendiges Wesen. Kurz nach ihrer Ankunft hatte sich unter ohrenbetäubendem Knall eine Spalte im Eis aufgetan, nur wenige Meter von Wings Zelt entfernt, fünfzig Meter lang, mit messerscharfen Kanten, die in unergründliche Tiefen führte. Pike hatte ihr seine Hilfe angeboten, um zu einer sichereren Stelle umzuziehen, doch Wing hatte sich mit der gleichen stoischen Ruhe geweigert, die sie bei allen Dingen an den Tag legte. Sie hatte nichts erklärt, doch er meinte, sie dennoch zu verstehen: Wing war überzeugt, dass das Schicksal eines jeden vorbestimmt war und der Mensch nicht das Geringste tun konnte, um etwas daran zu ändern.

Er sah erneut zu ihr. In den vergangenen zwei Wochen hatte er sie kaum kennengelernt – sie war damit beschäftigt gewesen, die Bohrkerne zu katalogisieren, die er nach oben gebracht hatte, und Tests an ihnen durchzuführen –, doch sie hatte sich als einigermaßen anständige Kollegin erwiesen. Sie schien seinen Kummer über die Art und Weise zu teilen, wie der Kalimatsu rings um sie herum starb, auch wenn offensichtlich war, dass sie sich mehr für die Entdeckung interessierte, die er im vergangenen Jahr gemacht hatte – und für seine Theorien darüber. Er hatte vermutlich mehr geredet, als er es hätte tun sollen: Immerhin gehörte sie quasi zum Management. Doch es war einsam hier draußen, und Wing war eine gute Zuhörerin. Abgesehen davon, am Ende des Tages spielten sie beide im gleichen Team.

Er ging zu ihr und stieß einen Seufzer aus, als er um die Spalte herumnavigierte. Dieser innere Ärger – er kochte jedes Mal aufs Neue in ihm hoch, wenn er den Gletscher verließ. Innerhalb von ein oder zwei Wochen würde er alles vergessen haben, während er sich mit den Probendaten beschäftigte. Letztlich musste er sich eingestehen, dass es eine scheinheilige Geste war. Etwas, das seine Schuldgefühle darüber abmilderte, dass er sich nicht schuldig genug fühlte. Weil die Entdeckungen, die der zurückweichende Gletscher möglich machte, in den Fokus gerückt waren. Die Messung der Schmelzgeschwindigkeit und des Rückzugs war fast zur Nebensache geworden.

Zumal sich diese Entdeckungen als vielversprechender erwiesen hatten, als er je zu hoffen gewagt hatte.

Da war es: ein Gedanke, der ihn aufmunterte. Er zog sein Tablet aus einer Tasche seines Parkas, verband es mit dem Satphone und schickte eine kurze Nachricht ab. Die Vorschriften von Carewell verlangten zwar Funkstille während einer Expedition – man konnte schließlich nie wissen, welcher Konkurrent eine Möglichkeit gefunden hatte mitzuhören –, doch die Expedition war vorüber, und er konnte wenigstens ein «Daumen hoch» an den Komplex schicken, ohne sich in Einzelheiten zu ergehen.

Wing stopfte ihre letzten paar Siebensachen in eine Stofftasche. «Hören Sie», begann er, als er sich näherte. «Ich wollte Ihnen nur danken …» Er brach ab und runzelte die Stirn. «Sind das etwa Bohrproben?»

Sie wandte sich abrupt zu ihm um, und ihre Finger strichen über einen kleinen Leberfleck genau in der Mitte ihres Halses. Es war eine unbewusste Geste, die er schon früher bei ihr beobachtet hatte. Offensichtlich hatte sie ihn in dem weichen Schnee nicht kommen hören.

«Jepp», sagte sie nach kurzem Zögern. Sie stopfte das letzte von einem halben Dutzend gefrorener Röhrchen in die Tasche, zog den Reißverschluss forsch zu und stellte die Tasche zum Rest ihrer Ausrüstung. Eigenartig, dass er die Proben nicht früher bei ihr gesehen hatte.

«Mir war nicht bewusst, dass Ihre Arbeit die Entnahme vollständiger Proben beinhaltet», sagte er. «Ich hatte angenommen, sie wäre minimalinvasiv.»

«Das zeigt lediglich, wie wenig Aufmerksamkeit Sie mir in den letzten Wochen geschenkt haben», erwiderte Wing kichernd. «Sie waren immer so beschäftigt mit Ihren Instrumenten, als wären Sie in Ihrer eigenen Welt.»

Pike schüttelte beschämt den Kopf. «Da haben Sie recht. Ich schätze, ich war keine allzu gute Gesellschaft.»

Wing Kaupei winkte ab. Sie stützte sich auf einen Eispickel, neigte den Kopf und lauschte. Pike konnte es ebenfalls hören: das dumpfe Dröhnen eines Helikopters, weit entfernt, doch es kam näher.

«Sehen Sie», sagte sie in gespieltem Tadel. «Unsere Mitfahrgelegenheit kommt endlich, und Sie tippen immer noch auf Ihrem Tablet herum, anstatt Ihr Zelt abzubauen. Kommen Sie, ich helfe Ihnen.» Sie stapfte in Richtung von Pikes Zelt.

Pike eilte ihr verlegen hinterher.

«Haben Sie schon einen Bericht nach Hause geschickt?», wollte sie von ihm wissen. «Vorzeitig?»

«Nur um die guten Neuigkeiten zu melden.» Der Helikopter war noch ein paar Minuten entfernt, damit blieb ihm genügend Zeit, um …

«Böser Junge», sagte Wing hinter ihm.

Plötzlich hörte er ein angestrengtes Ächzen, gefolgt von einem scharfen, tiefen Schmerz zwischen seinen Schulterblättern. Er fuhr geschockt herum und sah Wing einen halben Meter hinter sich, den Eispickel erhoben, die scharfe Spitze nass und glänzend rot.

Sie schlug erneut zu. Diesmal zertrümmerte sie Pikes Brustbein, und er schrie auf, als der Schmerz in ihm explodierte. Er stolperte rückwärts, ruderte mit Händen und Füßen in der Luft. Wing sah ihn eigenartig entschlossen an, während sie ihn mit dem Eispickel weiter zurückdrängte. Dabei sah sie immer wieder zu Boden. Trotz seiner Todesangst und des Schocks wurde Pike klar, dass sie nach Blutflecken Ausschau hielt.

Und dann fiel er rückwärts in die Tiefe. Hilflos mit Armen und Beinen um sich schlagend, stürzte er in die Gletscherspalte, die sich bei Wings Zelt geöffnet hatte. Über sich sah er einen Spalt des zurückweichenden blauen Himmels und – für einen Moment – Wings Stiefel, als sie sein Satphone und das Tablet hinter ihm hertrat.

Es kam ihm vor, als fiele er bis in alle Ewigkeit, aus vollem Halse schreiend. Dann prallte er mit solcher Wucht gegen eine Eiswand, dass ihm die Rippen brachen und ihm die Luft und mit ihr die Stimme wegblieben. Doch er fiel immer weiter, und während sich das Weiß des Eises in Blau und dann in Schwarz verwandelte, hörte er noch die leisen Geräusche des Hubschraubers und Wings Stimme, die klang, als würde sie verzweifelt um Hilfe rufen.

2

Acht Monate später – Montag, 2. Oktober

Als Susan Chambers den Konferenzraum des Vorstands betrat, erfasste sie ein vertrautes Gefühl von Beklemmung. Der strenge, postmoderne Raum war makellos: die drei Gemälde von Rothko an der Innenwand perfekt ausgerichtet, der lange gläserne Konferenztisch bis fast zur Unsichtbarkeit poliert, die deckenhohen Fenster in der gegenüberliegenden Außenwand frisch gereinigt, um sicherzustellen, dass nicht einmal der kleinste Taubendreck die atemberaubende Aussicht auf den Central Park von Manhattan beeinträchtigte. Doch nichts von alledem war verantwortlich für ihre Beklemmung: Es waren die gekühlten Flaschen Tasmanian Rain, die Verschlüsse bereits geöffnet, kondensierende Wassertropfen auf dem Glas, auf Untersetzern und zusammen mit jeweils einem leeren Kristallglas vor jedem der Sessel, die dafür sorgten, dass ihr Mund trocken wurde. Tasmanian Rain war eines der reinsten, gesündesten, teuersten Flaschenwässer auf der ganzen Welt – aufgefangene Regentropfen, die niemals den Boden berührt hatten. Außerdem war es die einzige Sorte, die J. Russell Spearman trank.

Also kam Spearman persönlich zu diesem Meeting. Shit.

Susans Boss, Art Wegler, saß bereits am Tisch und bedachte sie mit einem matten Lächeln, als sie neben ihm Platz nahm. Sosehr sie auch neidisch war auf seinen Ruf in der Unterhaltungsindustrie, so froh war sie, in diesem Moment nicht in seiner Haut zu stecken. Es wäre beinahe lustig, wäre es nicht so beunruhigend gewesen. Art Wegler, einer der vielversprechendsten Regisseure der letzten Jahrzehnte, ein Mann, der bereits einen Oscar gewonnen hatte und für einen zweiten nominiert gewesen war, sah aus wie ein Schuljunge, der im Begriff stand, einen Satz Stockhiebe zu beziehen. Das war – in ihrer Branche – die Wirkung, die Mr. Spearman hatte.

Die Chrysalis Studios waren ein Mediengigant des einundzwanzigsten Jahrhunderts, ein Zusammenschluss einer Reihe kleinerer Filmgesellschaften und Fernsehsender. Doch wie jeder andere Medienriese hatten die Chrysalis Studios eine Achillesferse: Sein Prestige und sein Börsenwert waren nur so gut wie die Einnahmen des vergangenen Jahres. Ein oder – Gott behüte! – zwei weitere Flops an der Kinokasse, und die Reputation des neuen Studios – ein Aktivposten, der mit Geld nicht zu bezahlen war – würde in Zweifel gezogen.

Die Chrysalis Studios hatten bereits eine erste Schlappe für dieses Jahr verkraften müssen. Stone Cold in Love, eine romantische Komödie mit Topbesetzung und einem Ausnahmetalent hinter der Kamera, ein Film, der unmöglich floppen konnte, hatte genau das getan. Was bedeutete, dass die weiteren Produktionen des Jahres – insbesondere die für die Weihnachtszeit angekündigten – unbedingt ihr Soll zu erfüllen hatten.

Crystal Champions an Weihnachten vor zwei Jahren war ein Megahit gewesen, einer der wenigen Superheldenfilme, die weltweit mehr als zwei Milliarden eingespielt hatten. Das unternehmenseigene Comic-Publikum hatte geholfen, den Streifen in die Stratosphäre zu hieven. Doch das lag zwanzig Monate zurück, eine ganze Ewigkeit in der schnelllebigen Unterhaltungsindustrie. An Crystal Champions II: The Dark Matrix wurde unter Hochdruck gearbeitet, damit der Streifen im Dezember in die Kinos kommen konnte – mit Art Wegler als Regisseur. Massive Probleme hatten die Arbeiten immer wieder verzögert. Die Integration der digitalen Kameras mit der neuen, geheimnisumwitterten virtuellen Technologie namens Omega, bereitgestellt von der Muttergesellschaft der Chrysalis Studios, erwies sich als unerwartet schwierig. Genauso besorgniserregend waren die Meinungsverschiedenheiten über das Drehbuch. Die Dreharbeiten waren bereits weit fortgeschritten, obwohl sie bis heute kein endgültiges Go für ein Drehbuch hatten. Das war auch der Grund für dieses Meeting.

Und für die Anwesenheit von Russell Spearman.

Chambers blickte sich am Konferenztisch um. Inzwischen hatten alle Platz genommen – alle mit einer Ausnahme. Das Meeting hätte vor fünf Minuten anfangen sollen, doch der Sessel am Kopfende des Tisches war leer. Auch das war nicht anders zu erwarten gewesen.

Das Kräftegleichgewicht hatte sich signifikant verändert, seit Chaplin, Pickford und all die anderen sich zu United Artists zusammengeschlossen hatten, um dafür zu sorgen, dass kreatives Talent ein Mitspracherecht beim Filmemachen bekam. Dieser Tage waren es die Regisseure, die Einfluss hatten, nicht die alten Moguln wie Sam Goldwyn oder Louis B. Meyer. Mit einer Ausnahme: Chrysalis Studios und Russell Spearman.

Spearman war ein Produzent, der selbst dem tapfersten Enfant terrible von Regisseur immer noch Gottesfurcht einbläuen konnte – ein Mann, der durch seinen Einfluss und die schiere Breite seiner Verbindungen in der Branche einen Film noch vor dessen Start in den Kinos zum Erfolg machen oder ihn zerstören konnte. Genau wie viele andere mächtige Leute hatte er seine Exzentrizitäten – nachdem er ein Projekt einmal gutgeheißen hatte, war seine Entscheidung unumstößlich. Doch es war der Weg bis zu diesem Okay, der übersät war mit den Leichen von Kameraleuten, Regisseuren und Autoren. Wie abgenagte Knochen vor dem Bau eines Ogers.

Plötzlich entstand Bewegung am Eingang. Chambers blickte auf und bemerkte eine junge Frau, die mit schnellen Schritten den Tisch umrundete und vor jedem Teilnehmer eine Mappe ablegte: die jüngste Revision des Drehbuchs. Aus jeder einzelnen ragten ein halbes Dutzend gelber Notizzettel. Sie markierten die Streitfragen, die verhinderten, dass es mit der Produktion voranging – und Russell Spearman würde jede einzelne davon angehen, auf die eine oder andere Weise.

Ein kurzes kollektives Erschauern ging durch den Raum und verkündete das Erscheinen des Produzenten. Russell Spearman war Mitte siebzig, doch er sah zehn Jahre jünger aus, braun gebrannt wie Cary Grant und mit einem dichten Schopf platinweißer Haare. Er war schlank und fit für sein Alter, und er trug einen schicken maßgeschneiderten Anzug, der im Kunstlicht seidig glänzte.

Für einen Augenblick fühlte es sich für Chambers an, als wäre die Luft aus dem Raum gesaugt worden. Erst als Spearman sich räusperte und die vor ihm liegende Mappe aufschlug, konnte sie wieder atmen.

Ohne weitere Umschweife blätterte der Produzent zur ersten gelb markierten Seite. Leises Papierrascheln, als sich alle Anwesenden beeilten, seinem Beispiel zu folgen.

«Szene zweiundzwanzig», begann Spearman und blickte auf den Text. Er überflog ein paar an den Rand gekritzelte Notizen. «Wo genau liegt hier das Problem?»

Colin Wriston, der Kreativchef, meldete sich zu Wort: «Melissa, Sir. Die Darstellerin der Galaxielle.»

«Ich weiß verdammt noch mal, wer Melissa ist. Ich will wissen, was das Problem ist!»

Wriston erbleichte ein wenig. «Es ist die Art und Weise, wie – also, es ist ihre Todesszene. Sie meint, es wäre zu früh. Sie will warten bis zum Höhepunkt im zweiten Akt.»

«Sie will warten?» Spearman funkelte Wriston an, als wäre es seine Schuld.

«Sie sagt, sie weigert sich, die Szene zu spielen, wenn wir ihre Rolle nicht umschreiben.»

Spearman starrte für eine Minute auf die vor ihm liegende Seite. Dann explodierte er. «Aber sie ist entscheidend für diesen Film! Sie hatte die letzten Worte in Crystal Champions!»

«Das weiß ich, Sir. Das Problem ist, sie weiß es ebenfalls. Ihr gefällt die Richtung nicht, die wir mit ihrer Figur einschlagen, und sie will, dass ihre Rolle ausgeweitet wird und …»

«Dieses undankbare Miststück!», grollte Spearman mit dunkler Stimme. «Sie hat Crystal Champions alles zu verdanken!» Er riss die Seite aus seiner Mappe und fuchtelte damit vor den Versammelten herum. «Die Antwort ist einfach. Die Art und Weise, wie sie hier stirbt – zerfetzt beim Zusammenstoß zweier Kampfdrohnen –, die ist Bullshit. Sie braucht einen besseren Tod, weiter nichts.»

Susan Chambers wusste, wie viel Arbeit bereits in die Szene geflossen war: die zahllosen Stunden, um eine Weltraumschlacht zu choreografieren, die CGI-Vorbereitungen, an denen sie seit Anfang des Monats getüftelt hatten.

«Bitte entschuldigen Sie, Mr. Spearman», sagte Wriston. «Aber ich denke, ganz so einfach ist es nicht. Melissa besteht wirklich darauf, und …»

«Und ich will kein Gejammer mehr hören! So einfach ist das! Keine Schauspielerin kann einer Todesszene widerstehen – wenn sie gut genug ist. Setzen Sie die Autoren daran, eine zu schreiben. Die Art von Szene, über die das Publikum hinterher redet. Nicht diesen Mist hier!» Er warf die Seite nach dem Kreativchef. «Aber nicht mehr als anderthalb Seiten. Und bieten Sie Melissa eine halbe Million zusätzlich.»

Was Spearman soeben vorgeschlagen hatte, bedeutete das Aus für ein halbes Dutzend Szenen und zusätzliche Vierundzwanzig-Stunden-Tage für die Autorenteams. Doch Wriston nickte nur und kritzelte Notizen in seine Drehbuchmappe.

Spearman schraubte den Verschluss von seiner Flasche Tasmanian Rain und schenkte sich ein halbes Glas ein. Zischen und Gluckern von Kohlensäure erfüllte den Raum, als die Hälfte der Anwesenden seinem Beispiel folgte. Spearman nahm einen großen Schluck und knallte das Glas auf den Tisch, dass er erzitterte. Chambers bemerkte, dass der Produzent noch gereizter wirkte als gewöhnlich. Er zupfte an seinem Kragen und fummelte an seiner perfekt gebundenen Krawatte, als säße sie schief. Er räusperte sich erneut, lauter diesmal, fast ein Bellen. Dann blätterte er in seiner Mappe zur nächsten Notiz. Angespanntes Schweigen herrschte, während er eine Seite las, dann noch eine. «Jenkins!», brüllte er.

Der Chef der Abteilung für digitale Effekte sprang auf. «Mr. Spearman?»

Spearman musterte ihn mit kaum verhohlener Geringschätzung, dann sah er wieder in seine Mappe. «Hier steht, das Kamikaze-Schiff kann nicht explodieren.»

Jenkins schluckte schwer. «Na ja, es ist ein bisschen komplizierter …»

«Komplizierter? Beim Film werden seit mehr als hundert Jahren Modelle in die Luft gejagt! Schieben Sie eine verdammte M-80 in das Ding, zünden Sie die Lunte an und bringen Sie sich in Deckung! Jeder Schimpanse kriegt so was hin.»

«Das Problem ist nicht so sehr die Explosion, Sir, sondern der Auslöser. Laut Drehbuch verfehlt das Schiff sein Ziel, verliert die Kontrolle und stürzt in einen Zwergstern. Wir haben große Probleme, diesen Effekt mit der Omega-Technik zu integrieren. In sechs Monaten ist die Plattform vielleicht robust genug. Aber mit den Werkzeugen, die uns im Moment zur Verfügung stehen, ist diese Szene einfach nicht zu machen. Wir hatten überlegt, dass das Kamikaze-Schiff statt in einen Zwergstern in …»

«Sechs Monate …», sagte Spearman.

Susan hatte diese unerfreuliche Neuigkeit bereits gehört. Weil Omega eine neue VR-Technologie war und ein Lieblingskind des Chrysalis-Konglomerats, den Besitzern der Studios, und weil dieses Konglomerat die einzige weltliche Macht war, vor der sich Spearman verantworten musste, war dies nicht die Nachricht, die er hatte hören wollen.

Jenkins schluckte ein weiteres Mal. «Das sagen unsere Techniker. Und …»

«Und der Zwergstern ist entscheidend für die gesamte verdammte Story!» Spearman war aufgesprungen und schwang das zusammengerollte Drehbuch wie einen Totschläger. «Die Geburtssequenz! Die Transformationssequenz! Wir können keine sechs Monate warten – der Termin ist Weihnachten. Schlagen Sie etwa vor, dass wir diese Sequenzen aus dem Film nehmen?»

«Nein, Mr. Spearman. Selbstverständlich nicht.» Jenkins griff in seine Tasche und zog ein Blatt hervor. «Mein Team hat ein paar Ideen, ausgezeichnete Ideen, die genauso gut funktionieren würden und die existierende Technologie nicht über ihre Grenzen beanspruchen …»

«Raus hier!», rief Spearman mit einer Stimme, die fast hysterisch klang. Sein Gesicht war dunkelrot angelaufen. «Machen Sie, dass Sie verschwinden! Wissen Sie, was Sie mit Ihren guten Ideen machen können? Ich will davon nichts mehr hören oder sehen! Oder von Ihnen – bis Sie einen Weg gefunden haben, dieses Problem zu lösen.»

Spearman ging zu den raumhohen Fenstern und starrte nach draußen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Susan Chambers sah, wie sich der maßgeschneiderte Anzug an den Schultern hob und senkte, während Spearman tief durchatmete und sich bemühte, einen Ärger zu kontrollieren, der allem Anschein nach niemals vollständig gezähmt werden konnte. Jenkins würde nicht zurückkommen. Beim nächsten Meeting würde jemand anderes auf seinem Stuhl sitzen.

Jetzt wandte sich Spearman von den Fenstern ab. Seine Gesichtsfarbe war wieder normal. Er kehrte an den Tisch zurück, setzte sich und strich das Drehbuch glatt. Er blätterte zur nächsten gelben Notiz, riss die Seite heraus und las. «Art?», sagte er schließlich, ohne aufzublicken.

Susan spürte, wie ihr Boss in seinem Sessel erstarrte.

Sie wusste, dass Spearman Art Wegler mochte, wenn überhaupt irgendjemanden. Er bewunderte Weglers Schlagfertigkeit und Mut. Wegler war einer der wenigen Leute, die Spearman beim Vornamen anredeten. Doch nichts von alledem zählte in diesem Moment. Jetzt ging es nur um das Sequel, und jeder war entbehrlich.

Spearman trank einen Schluck von seinem Tasmanian Rain. «Hier steht, dass Sie die Martial-Arts-Sequenz außerhalb des Großkampfschiffs in siebzig Millimetern drehen wollen.»

«Das ist richtig.»

«Genau genommen haben Sie schon angefangen, in siebzig Millimetern zu drehen.»

«Das ist richtig, Sir.»

«Aber die Greenscreen-Effekte funktionieren nicht mit diesem Omega-Scheiß – und Chrysalis kann unmöglich Virtual Reality in den Mainstream bringen, wenn die Filme des eigenen Studios die Technologie nicht beherrschen.» Spearman zupfte wieder an seinem Kragen.

«Diese Vorgehensweise hilft Jenkins möglicherweise mit seinen visuellen Effekten. Es könnte wirklich phänomenal werden. Genau so, wie wir in Crystal I die Traumsequenz montiert haben.»

Spearman nahm einen weiteren Schluck und stellte das Glas ab. «Eine bemerkenswerte Idee. Ehrlich gesagt, ich finde sie richtig gut. Aber wir haben nicht die Zeit dafür. Wir stehen jetzt schon unter Hochdruck in der Postproduktion, wir schaffen es kaum bis zur Deadline.»

«Sir, ich habe ausgerechnet, dass wir …»

«Art!» Spearman erhob sich ein weiteres Mal und starrte seinen Regisseur an. Er räusperte sich, glättete seine Krawatte. Wandte sich ab und ging wieder zu der Fensterwand.

Susan musterte verstohlen ihren Boss. Er wirkte gefasst. Betroffen, jedoch gefasst. Wie der Finalist bei einer Partie Russisches Roulette.

«Sir», sagte Wegler. «Ohne diese Vorgehensweise werden wir es nicht bis zur Deadline schaffen.»

Spearman schien ihn nicht zu hören.

Susan hörte Wegler einatmen, bevor er fortfuhr: «Tatsache ist, wir haben nicht erst angefangen zu filmen. Wir haben die Aufnahmen für die Sequenz gestern abgeschlossen.»

Für einen Augenblick herrschte am gesamten Tisch geschockte Stille. In Spearmans Produktionen kam dies Gotteslästerung gleich, ein nie da gewesener Vorgang: ein Regisseur, der eigenständig eine Entscheidung dieser Tragweite vornahm.

Spearman sah weiter aus dem Fenster. Endlich öffnete er den Mund. «Sie haben die Sequenz abgeschlossen.»

«Ja.»

«In siebzig Millimetern.»

«Ja, Sir.»

«Obwohl Sie genau wussten, dass dieses Thema erst beim heutigen Meeting entschieden werden sollte.»

«Ja», flüsterte Susans Boss.

Abrupt fuhr Spearman herum. Wieder war sein Blick auf Wegler gerichtet, doch sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Anstatt rasender Wut stand dort jetzt etwas wie Panik – flehentliche, beschwörende Panik. Spearman streckte eine Hand nach Wegler aus. Er öffnete den Mund, doch kein Wort kam heraus. Am Tisch wurde Gemurmel laut. Susan sah, wie sich das Weiße in Spearmans Augen plötzlich rot färbte wie in Tinte getauchtes Löschpapier.

Und dann kippte Spearman mit einem unartikulierten Schrei vornüber über den Tisch. Das Glas zersprang in tausend Splitter.

Von einem Augenblick auf den anderen brach ein Pandämonium los. Leute schrien, versuchten auszuweichen, zerrten ihre Smartphones hervor, um den Notarzt zu rufen. Susan glotzte starr vor Entsetzen auf Spearman, aufgespießt und zappelnd wie eine Marionette außer Rand und Band. Dolche aus Glas segelten durch die Luft, vermischt mit Spritzern kostbaren tasmanischen Regenwassers, und dann, unausweichlich, Blut. Blut, das in furchtbaren, regelmäßigen Pulsen in die Höhe spritzte und alles ringsum besudelte, in krassem Kontrast zu den Rothkos, die völlig unbeteiligt an der Wand hingen.

3

Dienstag, 3. Oktober

Jeremy Logan bog auf den Highway ein und tippte auf das Gaspedal. Mit einem tiefen Brummen machte der Lotus Elan einen Satz. Logan war allzu vertraut mit der Route 91 von der Küste Connecticuts nach Hartford – er hatte genügend Konferenzen in der Hauptstadt des Staates besucht, auf ihnen gesprochen und sich dort gelangweilt, dass es für den Rest seines Lebens reichte. Doch die Gegend dahinter – Springfield und Holyoke, Massachusetts – kannte er kaum. Er war nach Westen auf die 44 abgebogen und dann nach Norden auf die 202 und überrascht, wie schnell der dicht besiedelte südliche Teil seines Heimatstaates von winzigen, in der Nachmittagssonne dösenden Dörfern abgelöst wurde, gelegentlichen Boutique-Inns oder Weingütern und malerischen Farmen.

Je weiter er nach Norden gelangte – das Land stieg nach und nach an, Weiden und Felder wichen Wäldern –, desto rarer wurden selbst diese Reste an Zivilisation, bis er schließlich – nachdem auf den letzten fünf Meilen keine Spur mehr von menschlichen Aktivitäten zu sehen gewesen war – zu einer Tankstelle kam. Er lenkte das klassische Coupé auf den Hof. Die Anlage war so alt, dass der Tankwart in Latzhosen nicht nur darauf bestand, persönlich den Tank zu füllen, sondern auch die Windschutzscheibe und die Heckscheibe zu reinigen.

Logans Blick streifte die abgewetzte Straßenkarte von Connecticut, die er stets in seiner Tasche mitführte – heutzutage mehr ein nostalgisches Relikt als ein nützliches Werkzeug –, und dann auf das Display seines Smartphones. Es zeigte leeres grünes Land, durchzogen von wenigen gewundenen Nebenstraßen, die scheinbar nirgendwo hinführten – und natürlich die übliche Nachricht: BITTE OMEGA-INTERFACE AKTIVIEREN.

Er bezahlte den Tankwart und griff dann mit einem Seufzen in seine Jackentasche, um das kleine Gerät hervorzuziehen, das er in den vergangenen sechs Monaten praktisch ständig bei sich geführt hatte. Ursprünglich hatte er ein Vorgängermodell gekauft, doch in regelmäßigen Abständen kamen neuere mit der Post; jedes schicker als das vorhergehende, unauffälliger und schneller bei der Integration mit seinen übrigen Geräten und beim täglichen Gebrauch.

Er startete den Motor und drehte das Gerät in den Händen. Das neueste Modell, das er synchronisiert hatte – das Omega Venture 7A –, war schlank und stylisch. Eine Mischung, hatte er irgendwo gelesen, aus Glas, Silizium und geheimen Kunststoffen. Es sah nach einem überdimensionierten Hörgerät aus, wie es ein italienischer Designer entworfen haben könnte: schöne Proportionen, mit randlosen Gläsern, die an einem Schläfenbügel saßen. Ein winziger eingravierter QR-Code identifizierte Jeremy Logan als den rechtmäßigen Besitzer.

Logan klemmte sich das Gerät hinters Ohr, sodass die Gläser leicht auf seinem Nasenrücken saßen, und es aktivierte sich automatisch. Wenn er in den Rückspiegel blickte, war es kaum zu sehen: Die Designer von Omega wollten nicht nur den Träger vergessen lassen, dass es existierte, sondern auch, dass andere es nicht sogleich wahrnahmen.

Er lenkte den Wagen zurück auf die Straße. «Synchronisiere», meldete die seidige weibliche Stimme und beinahe sofort hinterher: «Synchronisierung abgeschlossen.» Was bedeutete, dass das Venture sich mit seinem Smartphone verbunden hatte.

Logan sah zum Beifahrersitz. «Kit, mir scheint, Arthur C. Clarke hatte recht», sagte er zu seiner Frau. «Jede ausreichend weit fortgeschrittene Technologie ist nicht von Zauberei zu unterscheiden. Meinst du, dass dieses Ding mich vielleicht eines Tages arbeitslos macht?»

Kit antwortete nicht. Natürlich nicht – sie war vor sechs Jahren an Krebs gestorben. Trotzdem sprach Logan gelegentlich gerne mit ihr – wenn er alleine war. Es war in der Regel eine einseitige Konversation; sie antwortete nur selten.

Der Blick nach draußen war der gleiche wie zuvor, doch einige andere Dinge hatten sich drastisch verändert. Das Venture kommunizierte über sämtliche Satelliten im Orbit mit den Serverfarmen, auf denen die Petabytes an Daten seines digitalen Lebens gespeichert waren. Vor seinen Augen entstand eine halbtransparente Überlagerung: Straßenkarte, Höhe, Herzfrequenz sowie ein halbes Dutzend weiterer, weniger nützlicher Informationen. Und für all das musste er nichts weiter tun, als das kleine Gerät aufzusetzen.

Als das Venture vor anderthalb Jahren auf den Markt gekommen war, hatte er es zunächst als ein weiteres überteuertes Nebenprodukt des IOT, des Internet of Things, abgetan, einen vorübergehenden Hype. Doch stattdessen schien es ein Vakuum auszufüllen, von dem niemand gewusst hatte, dass es überhaupt existiert hatte. Als das Gerät endlich verfügbar war, hatte Logans Neugier die Oberhand gewonnen, und er hatte sich – vielleicht gegen besseres Wissen – zu den zwanzig Millionen anderen Amerikanern gesellt, die ein Omega Venture gekauft hatten. Kurz darauf war er angefixt gewesen.

«Pythia», sagte er laut. «Finde die kürzeste Strecke nach Eintausend Moebius Strip.»

Auf was habe ich mich da nur eingelassen?, dachte er gleichzeitig.

«Danke sehr, Jeremy», antwortete die Stimme von irgendwo in der Nähe seines Ohrs. «Ich habe die Route berechnet. Manche Abschnitte der Strecke sind gesichert und nicht auf der Karte verzeichnet. Zielort fünfzehn Komma drei Meilen voraus. Geschätzte Ankunft in einundzwanzig Minuten.»

Ein neues Bild entstand vor seinem Auge: Eine Route über ein Gewirr von Nebenstraßen ähnlich einer Brotkrumenspur durch einen finsteren Wald.

«Sprachführung aktivieren, Pythia», sagte er.

«Danke sehr, Jeremy. Bitte in zwei Meilen abbiegen auf: unbenannte Straße.»

Die Bäume vor ihm wuchsen dichter, und er begriff, dass er die Ausläufer der Berkshires erreicht hatte. Diese Gegend von Neuengland war früher noch von kleinen Farmen bewirtschaftet worden, doch inzwischen hatten Wälder und Hügel das Regiment übernommen, nur vereinzelt gab es Siedlungen mit Ferienhäusern. Und natürlich seinen Zielort, der auf keiner normalen Karte eingezeichnet war.

Nach einer weiteren Ansage von Pythia bog Logan auf die «unbenannte Straße» ab. Die Steigung nahm merklich zu. Es gab keinerlei Beschilderung, und der Wald ragte zu beiden Seiten bis dicht an die Fahrbahn, majestätisch und bemerkenswert unberührt. Die Sonne stand niedrig, zudem beschleunigte der dichte Wald die Dämmerung. Logan bog auf eine weitere namenlose Straße ab. Es ging stetig bergauf, und nicht ein Fahrzeug kam ihm entgegen. Das Land sah aus, als wäre es seit den Tagen der ersten Siedler sich selbst überlassen.

Dann geschah etwas Merkwürdiges. Zuerst vermochte er nicht zu sagen, was es war. Doch plötzlich begriff er: Der Lotus holperte nicht mehr über einen alten, schlaglochübersäten Highway. Die Straße war neu und die Fahrbahn eben. Dann weitete sie sich vor ihm von zwei auf vier Spuren. Der Wald war immer noch da, doch auch er schien kaum merklich verändert. Er sah kultivierter aus, das Unterholz wirkte weniger dicht und undurchdringlich.

«Voraussichtliche Ankunft in sechs Minuten, Jeremy», sagte Pythia. «Bereiten Sie sich darauf vor, bald anzuhalten.»

Der frühabendliche Himmel verwandelte die Wälder ringsum in undeutliche, dunkle Schatten. Logan bog um eine scharfe Kurve und bremste überrascht. Vor ihm, organisch zwischen den Bäumen eingepasst, versperrte ein Bauwerk die Straße. Stahltore blockierten die Fahrbahn auf beiden Seiten. Ein Schild am Straßenrand befahl: Bis zum Tor fahren und halten.

Kein anderes Fahrzeug war vor ihm, also hielt Logan am ersten Fenster des Wachgebäudes. Ein Mann in einer Uniform ohne Abzeichen beugte sich zu ihm herunter und lächelte. «Kann ich Ihnen helfen?»

«Mein Name ist Jeremy Logan.» Er nahm einen dünnen Umschlag vom Beifahrersitz und hielt ihn dem Wachmann hin.

Der Mann öffnete den Umschlag und las den Brief darin. Logan erwartete, dass er als Nächstes nach seinem Führerschein gefragt wurde, doch stattdessen streckte der Wachmann einen kleinen Stab aus dem Fenster und richtete ihn auf Logans Wagen. Ein Zirpen erklang. Der Wachmann lächelte ein weiteres Mal, steckte den Brief zurück in den Umschlag und gab ihn Logan.

«Bitte fahren Sie geradeaus weiter, Dr. Logan», sagte er. «Wenn sich die Straße gabelt, nehmen Sie die rechte Abzweigung zur Abfertigung.»

«Danke», sagte Logan. Etwas, das aussah wie ein Laserstrahl, strich rasch über seinen Wagen hinweg. Dann hob sich das Tor. Zur gleichen Zeit versank eine Nagelsperre, grau getarnt wie der Asphalt, in der Fahrbahnoberfläche. Anscheinend nahm man das Thema Sicherheit nicht ganz so entspannt, wie es ausgesehen hatte.

Vielleicht hätte ich mehr Geld verlangen sollen.

Er fuhr weiter. Die Steigung nahm abrupt zu, als sich die Straße um einen massiven Felsvorsprung aus Granit wand, der durch den dicht belaubten Wald bis an den Rand der Fahrbahn ragte. Und dann hatte Logan unvermittelt den Kamm überwunden.

«Gütiger Himmel!», entfuhr es ihm. Er lenkte den Wagen an den Straßenrand, um eine bessere Sicht zu haben.

Vor ihm im Dämmerlicht lag ein rundes Tal, beinahe vollkommen symmetrisch, als hätte die Hand Gottes es mit einem riesigen Eisportionierer geformt. Der obere Rand des Tals verlief in nahezu gleichmäßiger Höhe wie die Kraterwände eines Vulkans und war in weiches, herbstliches Rot, Gelb und Grün getaucht. In den vier Himmelsrichtungen blinkten rote Luftfahrtbaken, doch ihre Lichter waren nahezu unsichtbar im strahlenden Lichtschein der Gebäude im Tal.

Unten sah Logan eine ausladende ringförmige Struktur, wie aus den Flanken der Hügel herausgehauen, die das gesamte Tal umschloss. Zahllose Lichter erstrahlten aus ebenso zahllosen Fenstern, angeordnet in engen Reihen wie die Bullaugen eines Ozeanliners. Die gesamte Talsohle leuchtete in ihrem Widerschein.

Von der Innenseite der ringförmigen Struktur, den gleichen Stellen, wo die blinkenden Luftfahrtbaken standen, verliefen vier brückenartige Stahlkonstruktionen bis ins Zentrum des Tals, wo sie sich in einem Turm trafen, der wenigstens fünfzig Stockwerke in die Höhe ragte, mehr als die Hälfte der gesamten Höhe des Tals. Logan starrte voller Staunen auf das Bauwerk. Auch der Turm war von zahllosen Fenstern durchsetzt. Hier und da durchbrachen große Balkone die Wand, die sich um die Seiten zogen. Auf manchen waren Menschen zu sehen, aus dieser Entfernung kaum größer als Ameisen. Auf einem besonders großen Balkon schien eine Art Cocktailparty stattzufinden. Logan meinte, Fetzen von Unterhaltungen und Lachen zu hören, und die Klänge einer Jazzband wehten in der abendlichen Brise. An der Basis des Turms, auf einer großen Plaza, war ebenfalls Bewegung. Die Sonne ging inzwischen unter, und die Westseite des Tals wurde rasch dunkler, was die Lichter der großen und geschäftigen Stadt – Logan fand kein anderes Wort, um diesen Ort zu beschreiben – noch heller erstrahlen ließ.

Natürlich hatte er bereits vom «Komplex» gehört. Er hatte verschwommene Darstellungen der Anlage in Online-Magazinen und bei Wikipedia gesehen. Doch diese Darstellungen wurden der Wirklichkeit nicht gerecht. Genau wie das Gerät, das so leicht hinter seinem Ohr und auf dem Nasenrücken saß, wirkte der Chrysalis Tower wie etwas aus der Zeit Gefallenes, wie ein Gebilde aus der Zukunft.

Die E-Mail, die ihn hergeführt hatte, war erst fünf Stunden zuvor eingetroffen, als er von einem frühen Abendessen mit einem Kollegen von Yale zurückgekehrt war. Logan war daran gewöhnt, dass ihn dringende und manchmal durchaus eigenartige Anfragen erreichten. Viele davon waren dumme Witze. Doch diese E-Mail hatte einen beglaubigten Link zu einem sicheren Server enthalten, und der Absender kam geradewegs auf den Punkt:

Dr. Logan, als leitender Syndikus der Chrysalis Corporation bitte ich um Ihre sofortigen Dienste in einer drängenden und höchst vertraulichen Angelegenheit …

«Jeremy», riss Pythia Logan aus seinen Gedanken.

«Ja?», entgegnete Logan, ohne den Blick abzuwenden.

«Es gibt keine Verzögerungen auf dem Weg zu Ihrem Ziel, Eintausend Moebius Strip. Die geschätzte Zeit bis zur Ankunft beträgt weiterhin sechs Minuten.»

«Okay. Mach dir nicht in dein virtuelles Hemd.» Er riss sich vom Anblick los, lenkte den Lotus auf die Straße und machte sich auf den geschwungenen Weg hinunter in ein Tal, das, als es noch einen Namen haben durfte, als Hurricane Valley bekannt gewesen war.

4

Die Ereignisse im Verlauf der nächsten Stunde reihten sich schwindelerregend schnell aneinander. Logan passierte zwei weitere äußere Kontrollpunkte, bevor er den Lotus in eine unterirdische Anlage steuerte, die aussah wie aus nahtlosem Titan gefertigt. Ein bewaffneter Portier öffnete ihm die Tür, nahm ihm mit einem strahlenden Lächeln die Wagenschlüssel ab und übergab Logan in die Obhut eines Pagen. Der Page wiederum führte ihn in die gewaltige Lobby eines Gebäudes, das, wie Logan vermutete, so etwas wie die Gästeunterkunft für Besucher des Chrysalis Advanced Research Center war. Mit dem Empfangstresen aus Marmor, mehreren Springbrunnen und einem Streichquartett, das leise auf einem von Orchideen gerahmten Podium spielte, sah es aus und klang wie ein Vier-Sterne-Hotel.

Der Page führte ihn zum Empfang, von wo aus er diskret durch die Lobby und eine unauffällige Tür in einen kleinen Raum mit einem Tisch und zwei Stühlen gebracht wurde. Auf dem Tisch stand etwas, das aussah wie ein Untersuchungsapparat. Eine lächelnde junge Frau in einem dunklen Geschäftsanzug kam durch die rückwärtige Tür herein und entschuldigte sich wortreich für die Prozedur, während sie einen Scanner über Logan und sein Gepäck führte. Als sie damit fertig war, bat sie ihn um eine Unterschrift unter eine ganze Reihe von Verschwiegenheitserklärungen und anderen Dokumenten, nach deren Inhalt Logan gar nicht erst fragte. Als sie damit fertig waren, führte sie ihn aus dem Zimmer und einen Korridor hinunter. Sie erreichten eine Batterie von Aufzügen und betraten einen freien. Die Frau sagte ein paar Worte in ihr Omega-Modul (ein ganz anderes Modell als das von Logan) und drückte den obersten Knopf. Zwanzig Stockwerke höher traten sie hinaus in eine Sky Lobby, spärlich beleuchtet, vergleichsweise elegant und offensichtlich im zentralen Turm der Anlage gelegen. Eine letzte Fahrt in einem weiteren Aufzug brachte sie noch höher in eine weitläufige Vorstandsetage. Die Frau führte Logan in einen Konferenzraum, bat ihn, es sich bequem zu machen, und ließ ihn dann allein.

Logan stellte seine Tasche auf den langen Tisch, dessen Oberfläche, wie er nun bemerkte, aus charakteristisch gelb-rot gemasertem Tarara bestand. Er nahm sich eine Minute, um zur Ruhe zu kommen. Das Erste, was er empfand, war Erleichterung – er hatte befürchtet, dass als Nächstes eine Untersuchung der Körperöffnungen erfolgen könnte. Dem Gefühl der Erleichterung folgte rasch Neugier. Er ging zu den Fenstern, die eine ganze Seite des riesigen, eleganten Raums einnahmen. Sie folgten der runden Silhouette des Turms und waren mit einem halbtransparenten Material überzogen. Dadurch war der Blick nach unten verzerrt, doch Logan sah immer noch das schwache Funkeln zahlloser Lichter, die sich bis zum Rand des Tals und der ringförmigen Struktur zogen. Inzwischen war die Nacht hereingebrochen.

Die Tür wurde geöffnet, und Logan wandte sich um. Eine Frau – älter und größer gewachsen als seine erste Begleiterin – betrat den Konferenzraum. Logan schätzte sie auf Mitte vierzig, ungefähr in seinem Alter. Sie war konservativ und ziemlich teuer gekleidet und die erste Person, die keinen Ausweis am Revers trug.

«Dr. Logan», sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen. «Willkommen im Chrysalis-Komplex. Ich bin Claire Asperton, leitender Syndikus der Chrysalis Management Group. Wir haben miteinander kommuniziert.» Ihre Haare waren schulterlang, dunkelblond mit vereinzelten grauen Strähnen und zu einer eleganten Föhnfrisur gestylt.

«Freut mich», erwiderte Logan und ergriff die dargebotene Hand. «Es ist erst sechs Stunden her, aber ich habe das Gefühl, als würden wir uns schon eine Ewigkeit kennen.»

«Ich danke Ihnen, dass Sie so schnell gekommen sind», sagte Asperton mit einem gezwungenen Lächeln.

Logan war an Aufträge unter strikter Geheimhaltung und Vertraulichkeit gewöhnt. Woran er nicht gewöhnt war, war eine solche Dringlichkeit; man hatte ihn – höflich zwar, jedoch sehr nachdrücklich – gebeten, alles stehen und liegen zu lassen, unter jeglichen notwendigen Ausreden und Entschuldigungen, und sich noch am gleichen Tag zu diesem abgelegenen Ort zu begeben. Sein großzügiges Beraterhonorar würde die Unannehmlichkeiten und die Eile berücksichtigen.

«Bitte nehmen Sie Platz, Dr. Logan», sagte Asperton. «Ich bitte um Entschuldigung für die Sicherheitskontrollen, die Sie über sich ergehen lassen mussten.»

«Die Versuchung des Rotkreuzritters?»

Die Juristin kicherte. «Und Sie im Glauben zu wiegen, Archimago würde auf Sie warten.»

Logan musste lachen. Es war irgendwie schön zu sehen, dass sein Gegenüber auch andere Bücher als nur Gesetzestexte gelesen hatte. «Offen gestanden, ich bin daran gewöhnt. Ich denke, es hat mit meinem Fachgebiet zu tun.»

«Es ist ein Fachgebiet, das neu für mich ist. Sie nennen sich … Enigmatologe, ist das richtig?»

Logan nickte. «Eigentlich hat es als eine Art Hobby angefangen, wissen Sie? Man kann das nicht studieren. Aber als es zum Beruf wurde, hielt ich es für besser, der Sache einen Namen zu geben.»

«Ich habe Ihr Gesicht auf den Titelblättern mehrerer Magazine gesehen, üblicherweise mit einer etwas reißerischeren Berufsbezeichnung. Beispielsweise Geisterdetektiv oder Monsterjäger.»

«Reißerisch ja. Zutreffend eher nicht.»

«Aber wenn ich es richtig verstanden habe, waren Sie an einer Reihe recht spektakulärer Untersuchungen beteiligt. Stimmt es, dass Sie den Fluch eines ägyptischen Königsgrabs aufgehoben haben?»

«Ich habe mir jedenfalls die größte Mühe gegeben.»

«Und Sie haben das Geheimnis des Taos Hum gelöst.»

«Meistens ist meine Arbeit eher irdischer Natur. Ich ziehe es vor, unter dem Radar zu bleiben, wann immer möglich. Es hilft, die Spinner auszusondern.»

«Trotzdem sind die Fälle, auf die Sie sich spezialisiert haben, in der Regel, wie soll ich es ausdrücken? Eher ungewöhnlich.»

«Das ist korrekt. Ich bin kein Detektiv. Ich untersuche Umstände oder Phänomene, für die sich die Behörden nicht interessieren oder die ihre Möglichkeiten übersteigen. Manchmal liegt es auch daran, dass sie sich weigern, Zeit für etwas in ihren Augen Lächerliches zu verschwenden. Und manchmal haben sie einfach keinen Schimmer, was sie machen sollen.»

«Aber Sie schon.»

«Bisher hatte ich eine exzellente Erfolgsrate.»

Asperton nickte. «Und Sie sind äußerst diskret. Das ist wichtig. Das und die Tatsache, dass Sie den größten Teil Ihrer Arbeit für Organisationen erledigen, nicht für Privatindividuen. Und Sie sind bereit zu reisen.»

«Selbst an Orte, die nicht existieren», erwiderte Logan. «Wie Hurricane Valley.» Chrysalis hatte die Namen der umliegenden Straßen entfernen lassen und vermutlich Kartendienste bezahlt, um die Satellitenbilder des Tals zu verpixeln. Irgendwie erinnerte ihn das an die römische Praxis der damnatio memoriae, die vollständige Tilgung des Andenkens, ein Ausradieren aus der Geschichte – wie es beispielsweise dem Usurpator Magnus Maximus hatte widerfahren sollen.

Asperton nickte. «Die Chrysalis Corporation ist ein Konglomerat aus einer einzigartigen Anzahl von Hightechunternehmen. Verteidigung, Robotik, Medizin, Technologien für den persönlichen Bedarf. Warum die technologischen Ressourcen überall auf der Welt verteilen, wenn man sie an einem einzigen Ort konzentrieren kann?»

«Und sogar an einem wunderschönen, unberührten Ort, frei von jeglichen urbanen Ablenkungen.» Und an dem Sicherheit viel leichter durchzusetzen ist, dachte Logan bei sich.

«Ein abgelegener Ort war nicht nur eine Annehmlichkeit, Dr. Logan. Ob Sie es glauben oder nicht, das war von entscheidender Bedeutung für das Konzept. Wir sind nur hundert Meilen von zwei der kulturellen Zentren dieses Planeten entfernt – Boston und New York –, doch unser Campus ist so eigenständig, dass nur wenige unserer Mitarbeiter das Bedürfnis haben, ihn zu verlassen. Im Gegenteil, es macht die Akquisition hochbegabter Talente sogar einfacher. Bei so vielen verschiedenen Geschäftszweigen an einem einzigen Ort waren wir imstande, unserer Belegschaft ein Dutzend guter Restaurants zur Verfügung zu stellen, dazu vier Sportstudios, zwei Theater, ein Hospital, ein technisches Institut für interdisziplinäre Studien, einen sechs Hektar großen Park sowie geräumige Wohnungen mit hochwertiger Ausstattung. Alles ohne zusätzliche Kosten für die Mitarbeiter. Ganz zu schweigen vom wichtigsten Vorteil: dem psychologischen und professionellen Benefit, mit so vielen anderen Menschen auf so vielen faszinierenden Forschungsgebieten zusammenzuarbeiten und völlig Neues zu erschließen.»

Die Anwältin verstummte für einen Moment. Ihre dunkle Frauenstimme, in der ein leichter Mädchenpensionatstonfall mitschwang, war immer noch freundlich, doch ihr Lächeln verschwand. «Wie dem auch sei, ich wollte mit Ihnen reden, sobald Sie eingetroffen sind, um die Dringlichkeit noch einmal zu verdeutlichen. Wir warten auf Ihre endgültige Freigabe durch die Security, doch wir hoffen, dass wir das noch heute Abend erledigen können. Bis dahin gibt es eine ganze Menge Hintergrundinformationen, über die ich Sie gerne aufklären würde.»

Sie wechselte ihre Sitzposition. «Chrysalis hat einen ziemlich weiten Weg zurückgelegt, seit John Christie mit seiner Manufaktur für Automobile und Farmwerkzeug angefangen hat. Wie andere internationale Konzerne auch haben wir uns in weite Bereiche diversifiziert, beispielsweise medizinisch-technische Apparaturen, Nanotechnologie und sogar das Filmgeschäft. Aber wir haben auch gelernt, dass man nicht Sony, IBM und Exxon gleichzeitig sein kann. Anstatt uns mit der etablierten Konkurrenz auseinanderzusetzen, haben wir unsere Aufmerksamkeit und Forschungsanstrengungen auf gewisse Nischenbereiche gerichtet, die noch nicht völlig erschlossen sind. Die vielversprechendste Entwicklung bis heute – in die wir gewaltige Mengen an Ressourcen gesteckt haben – ist die Entwicklung von Software-Codecs in unserer Entertainmentsparte, die zusammen mit Neurotechnik imstande sein wird, eine vollkommen immersive Telepräsenz zu erschaffen. Ein Ergebnis dieser Arbeiten ist das dort.» Asperton deutete auf das Gerät, das aus Logans Tasche lugte.

«Sie meinen Omega?», fragte Logan.

«Virtuelle Realität wird die Welt revolutionieren. Die Frage lautet nicht ob, sondern wann. Und weil wir bereits seit einer ganzen Weile an der Entwicklung dran sind, ist unsere Technologie inzwischen beinahe ausgereift – während die Konkurrenz erst jetzt zu begreifen beginnt, was sie verpasst hat. Für sie war VR primär eine Technologie für Computerspiele. Aber in ihr steckt viel, viel mehr Potenzial. Was der Grund dafür ist, warum wir Infinium gekauft haben – und das Gehirn dahinter.»

Logan nickte. Er hatte darüber gelesen, natürlich. Infinium war ursprünglich das geistige Kind von Matthew Wrigley gewesen, einem Postdoc vom MIT, der buchstäblich in seiner Studentenbude eine Leidenschaft für 3-D und Augmented Reality entwickelt hatte. Die Presse war voll gewesen mit Geschichten darüber, dass Chrysalis mit dem Kauf von Infinium viel zu viel Geld für eine vorübergehende Mode ausgegeben hatte – und mit Matthew Wrigley für einen Wissenschaftler, der als extrem schwierige Person berüchtigt war. Doch die Vereinigung von Wrigleys Vision und Chrysalis’ finanziellen Mitteln hatte Omega hervorgebracht: eine Technologie, die allmählich den Weg in den Alltag der Menschen fand.

«Das Gerät dort in Ihrer Tasche und all die anderen, die hinter den Ohren der Leute überall auf der Welt stecken», fuhr Asperton fort. «Die Dinger sind fantastisch, aber das ist erst der Anfang. Die erste Phase unseres Plans. Die zweite ist sehr viel weiter gesteckt … und sie wird im Stillen bereits umgesetzt, jetzt, während wir uns hier unterhalten. Die Infrastruktur für die neue Inkarnation von Omega ist vorbereitet. Der Voyager geht nächste Woche live. Wir haben Hunderte Millionen investiert, Dr. Logan. Weil wir an Omega glauben.»

Sie beugte sich abrupt vor, und ihr Gesichtsausdruck wurde ernst. «Aber wir sind auf ein Thema gestoßen. Das ist der Grund, warum Sie – Sie ganz speziell – so kurzfristig hergebeten wurden. Um sicherzugehen, dass es nur ein Thema ist und kein Problem. Als Syndikus von Chrysalis ist Paranoia Teil meines Jobs. Als Vorsichtsmaßnahme habe ich Sie für eine sechsstellige Summe engagiert. Zu viel hängt vom Rollout von Phase zwei ab. Deshalb ist Ihre Anwesenheit hier eine berufliche Notwendigkeit. Die Entscheidung wurde von der obersten Etage des Konzerns getroffen.»

«Der obersten Etage …», wiederholte Logan leise.

Asperton nickte langsam. Sie drückte einen Knopf auf einer in den Tisch eingelassenen Konsole und sprach leise hinein. Eine Minute verging. Schließlich öffnete sich die Tür auf der anderen Seite des Konferenzraums, und eine Gestalt trat ein.

Logan hatte in seinem Leben eine Menge eigenartiger Dinge gesehen und eigentlich geglaubt, mehr oder weniger immun gegen Überraschungen zu sein. Doch als er die Person erkannte, die nun eingetreten war, erhob er sich staunend. Asperton folgte seinem Beispiel respektvoll.

Am anderen Ende des Konferenztisches stand ein Phantom.

Logan zweifelte nicht daran, dass dieses Phantom real war: Die massige Stirn, die gebogene Nase, die unverwechselbare Narbe über der linken Wange – das Relikt eines Unfalls am Fließband vor mehr als fünfzig Jahren – identifizierten die Person eindeutig als John Christie IV, Nachkomme jenes John Christie, der das Imperium gegründet hatte, welches heute als Chrysalis firmierte. Seit fast zwanzig Jahren hatte ihn niemand mehr außerhalb des Konzerns zu Gesicht bekommen. Es hieß, er wäre längst an den Karzinogenen gestorben, die damals in seiner Fabrik zum Einsatz gekommen waren. Doch hier stand er, ohne jeden Zweifel, in Fleisch und Blut. Er war dünn, beinahe hager, und der maßgeschneiderte Anzug schlackerte an seinen Gliedern. Nach einem kurzen Moment des Schweigens ging er langsam an der Seite des Tischs entlang auf Logan zu.

Die beiden Männer sahen einander an, dann nahm der ältere Logans Hand in seine beiden Hände.

«Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Jeremy», sagte er mit gehauchter Stimme. «Unsere Arbeit hier ist sehr bedeutsam. Es ist die Zukunft der Technologie … die Zukunft der Menschheit. Natürlich untersuchen unsere eigenen Leute diese Tragödie ebenfalls, aber das zeitliche Element ist kritisch. Selbst wenn sich letzten Endes herausstellen sollte, dass es eine Angelegenheit für die Polizei ist, würden die Behörden unseren Fortschritt unnötig behindern. Abgesehen davon haben wir unsere eigene Polizei. Das ist der Grund, aus dem Sie hier sind. Sie sind die einzige Person auf der Welt, der ich in dieser Sache vertrauen kann. Sie sind unsere einzige Chance, Jeremy. Nur für den Fall.»

Während Christie redete, verstärkte sich der Druck seiner Hände stetig. Für einen so alten Mann verfügte er über bemerkenswerte Kräfte. Endlich ließ er los und tätschelte Logans Schulter, bevor er sich abwandte und mit langsamen Schritten zurück zu der Tür ging, durch die er gekommen war. Sie schloss sich mit einem leisen Klicken hinter ihm, und es war, als wäre er nie da gewesen.

Doch er war da gewesen. Und Logan verstand den Grund. Es war die Art des Konzerns, ihm zu sagen, wie ernst man die Sache nahm, was auch immer es war.

Asperton durchbrach das entstandene Schweigen. «Es ist spät geworden. In Ihrer Suite finden Sie eine Broschüre über den Konzern, Organigramme und weiteres Lesematerial. Wir bringen Ihnen das Dinner aufs Zimmer. Akklimatisieren Sie sich, ruhen Sie sich aus. Irgendwann im Verlauf der Nacht werden Sie gecleart, und dann fängt die eigentliche Arbeit an.»

Mit diesen Worten und einem schwachen Lächeln wandte sie sich um und führte Logan aus dem Konferenzraum.

5

Logan betrat die Suite im Hotelbereich des Chrysalis Towers. Sein Gepäck war bereits eingetroffen. Es sah völlig unberührt aus, obwohl das Sicherheitspersonal es ohne jeden Zweifel kurze Zeit zuvor gründlich durchsucht hatte.