Der Mann auf dem blauen Fahrrad. Träume aus einer alten Kamera - Lars Gustafsson - E-Book

Der Mann auf dem blauen Fahrrad. Träume aus einer alten Kamera E-Book

Lars Gustafsson

4,9

Beschreibung

Jan Friberg fährt als Vertreter für Haushaltsgeräte auf seinem blauen Rad durch die Provinz Västmanland. In einem Herrenhaus hofft er ein Geschäft abzuschließen, als er vom Rad stürzt und sich das Handgelenk verstaucht. Jan wird in die Bibliothek gebeten, um sich zu erholen. Dort findet er ein altes Fotoalbum und beginnt zu träumen. Plötzlich kommt die schöne Hausherrin herein, die sich lebhaft für den jungen Mann interessiert. Doch da ist Jan über dem Betrachten der Fotos schon in eine andere Welt eingetaucht. Zehn Fotografien, von seinem Vater in den zwanziger Jahren aufgenommen, haben Lars Gustafsson zu seinem neuen Roman inspiriert - eine Geschichte aus einem vergangenen Schweden zwischen Traum und Wirklichkeit.

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Hanser E-Book

Lars Gustafsson

Der Mannauf dem blauen Fahrrad

Träume aus einer alten Kamera

Roman

Aus dem Schwedischenvon Verena Reichel

Carl Hanser Verlag

Die schwedische Originalausgabe

erschien 2012 unter dem Titel

Mannen på den blå cykeln. Drömmar ur en gammal kamera

bei Atlantis in Stockholm.

ISBN 978-3-446-24438-2

© Lars Gustafsson 2012

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München 2013

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

Schutzumschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München unter Verwendung einer Fotografie © Lars Gustafsson

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Inhalt

Über die Erfahrungen von Radfahrerneiner früheren Generation

Ein Herbstmorgen am Hafen von Västerås

Der Herbst kommt wie eine Reiterschar

Hundejahre

Eine richtige Herrenhausküche

Der Raum mit den Kronleuchtern

Irene geht zum Zug

Der Fotograf

In der zunehmenden Dämmerung des Raums

Die Erzählung des Kanalschiffers

Der Kanalfrachter Färna I

Acht Schläge

Eine Art, eingeschlossen zu sein

Diesmal nicht wegen der Mangelkammer

In verminten Gewässern

Das Geräusch der Treibriemen oben unterm Dach

Das Dunkel in Bo Gryta

Die Uhr, die in Bo Gryta landete

Irene trifft Irgendjemand

Ein kniffliger Tonartwechsel: D-Dur zu c-Moll

Die Kreuzworträtselmädchen

Der Herrscher des weißen Hauses

Endspiel

Wort und Bild. Ein Nachwort

Über die Erfahrungen von Radfahrerneiner früheren Generation

Die Situation ist überhaupt nicht gut.

Im Gegenteil, sie ist an der Grenze zum Unerträglichen. Ein Mann trampelt mühsam auf einem blauen Fahrrad der Marke Svalan vorwärts, das in Nymans Werkstätten in Uppsala hergestellt wurde und solide, aber ziemlich abgewetzte Ballonreifen hat. Er fährt über knirschenden Kies. Auf dem Gepäckträger hat er eine Tasche, mehrfach mit einem verschlissenen Lederriemen umwickelt und ordentlich festgezurrt. Denn hier werden wertvolle Dinge transportiert. Über leere, von Vieh zertrampelte Felder. In einem Wind, der vom Mälaren-See herüberweht, ständig zunimmt und weit vor Einbruch der Nacht zu einem Sturm werden kann. Vermutlich ist es schon zu spät, um es noch nach Kolbäck zu schaffen und den Abendzug zurück in die Stadt zu nehmen. Die in diesem Fall Västerås ist.

Zu dieser Jahreszeit hat die Landschaft all ihren Zauber verloren. Sogar die Düfte haben sich vollkommen verändert. Wo man noch im August frisch gemähtes Heu roch und den speziellen, etwas herben Duft der Espen wahrnahm, wie sie dort an den Stränden stehen und nervös mit ihren empfindlichen, ja überempfindlichen Blättern zittern. Und den Duft von Landstraßenkies. Auch Kies hat seine Gerüche, die erheblich variieren können. Eben noch duftete diese Landschaft nach einem davonziehenden Sommer. In Zersetzung und Zerfall begriffen, aber doch mit einer Erinnerung an den Sommer.

Jetzt ist alles so viel nackter. Und aufrichtiger. Hier gibt es keine Gnade. Von den Feldern steigt ein Hauch von Odel auf, und aus den Ställen der großen Gutshöfe dringt der Geruch von Kuhpisse. Aus den Eichenwäldchen der säuerliche Duft von modrigem Laub. Vom Mälaren, den man von dem gewundenen Kiesweg aus mehr ahnen als sehen kann, ganz neue Düfte: faulende Sumpfbinsen, Altöl von einem vor Almö-Lindö gekenterten alten Kanalschiff, dem Dampfer Färna III. Der im Kanal von Strömholm der so unglücklich gesunkenen Färna I folgte. Und der jetzt wohl kaum in einem besseren Zustand ist als die I, die sich angeblich auf dem Boden des am wenigsten erforschten tiefen Lochs befindet – Bo Gryta. Die III hingegen liegt ganz einfach da draußen in der Werft und rostet. Vielleicht sind die Eigentümerverhältnisse unklar. Oder es gab einen Besitzer, aber einen, der sich nicht kümmerte. Der Radfahrer hat sie schon mehrmals gesehen. Sie liegt auf der Seite. Man kann sich Barsche und Plötzen vorstellen, wie sie dort herumschwimmen, wo einst die Kajüte des Kapitäns und die Logis der Mannschaft waren.

Und jetzt, da der Wind von der großen offenen Bucht her ins Land hineinweht, nimmt man den Geruch von altem ranzigen Maschinenöl wahr, vielleicht Diesel aus dem Tank, und den Geruch von faulendem Tauwerk. Kann Dieselöl wirklich ranzig werden? Kann Hanf verfaulen?

Es gibt so viele Fragen, die man sich stellen kann. Und der Mann auf dem Fahrrad stellt sie. Diese Landschaft passt perfekt zu seinem Gemütszustand. Er ist nicht selten melancholisch. Und gerade heute besonders. Am Morgen ist etwas geschehen, was ihm eigentlich die Lust genommen hat zurückzukehren. Man hat ihm unumwunden gesagt, er sei ein durch und durch untauglicher Mann. Untauglich für das eine wie für das andere. Untauglich für das meiste.

Und während man zwischen diesen leeren Feldern dahinradelt, wo nicht einmal ein vergessener Traktor daran erinnert, dass es dort kürzlich noch Vieh und Menschen gab, kann man die Welt allmählich als eine ziemlich witzlose Geschichte empfinden. Er hat eine vage Erinnerung daran, dass es eine Zeit gegeben haben muss, in der er die Welt auf eine andere Art betrachtete.

Eigentlich ist es viel zu spät, um mit einem völlig überladenen Gepäckträger durch die Dunkelheit und den Regen des Herbstabends zu radeln. Das verfluchte Haushaltsgerät Electrolux Assistent ist es, dessen Gewicht das Fahrrad instabil macht. Da helfen keine Ballonreifen. Auch keine zusätzlichen Befestigungen dahinten. Weiß der Teufel, ob es überhaupt etwas gibt, das hilft.

Ein Herbstmorgen am Hafen von Västerås

Das Vergangene ist ein Traum. Der Hafen von Västerås. An einem frühen Herbstmorgen 1953.

Lange, bis weit in den Oktober hinein, nahm er für gewöhnlich mit seinem schwer beladenen Fahrrad den Weg durch den Hafen zur Eisenbahn und dem Schienenbus, die ihn in die Gegenden bringen sollten, wo sich ihm möglicherweise eine Gelegenheit bieten würde, ein oder zwei Haushaltsgeräte zu verscherbeln. Es war sehr mühsam, sie zu verkaufen, diese Biester, mühsamer, als man es sich vielleicht da oben in Stockholm erwartet hatte. Er wählte diesen Weg nicht, weil es ein bisschen schneller ging, wenn man in der Pistolgatan wohnte und den Djuphamnsvägen nehmen konnte, sondern weil diese Strecke viel schöner ist als die langweilige Stora Gatan. Solange dort die Boote liegen.

An diesem Morgen war es eigentlich schon viel zu spät im Jahr, aber trotzdem hatte er diesen Weg genommen. Die meisten Boote waren schon an Land gezogen worden. Aber die Dampfschiffe lagen natürlich noch vor Anker. Und der eine oder andere Segelfrachter aus dem Kanal.

Dabei kann es an einem frühen Morgen im September so viel schöner sein, wenn fallende Blätter anfangen, auf dem Wasser zu treiben. Es ist so früh am Morgen, dass alles noch ruht. Wir sprechen von dem Hafen für Kleinboote, dem Alten Hafen, nicht von diesem großen neuen mit all den Kohlehaufen und dem Eisen aus dem Norden, die verladen werden sollen. Nicht von dem, der Djuphamnen heißt. Nein, wir sprechen von dem friedlichen Alten Hafen, mit dem einen oder anderen Heringsfrachter von der fernen Westküste, besonders beliebt der von den Klädesholmarna-Inseln. In den sogenannten Krisenjahren bildeten sich vor ihm gewöhnlich lange Schlangen von Heringskäufern. Jeder mit seiner eigenen Kanne aus emailliertem Blech oder seinem Milcheimer, um die fetten Heringe darin nach Hause zu bringen. Jener Hafen, wo die weißen Mälar-Schiffe nach Mariefred und dem fernen Stockholm ablegen und wo alle Kleinboote ankern, keusch wie Konfirmanden unter ihren weißen und grauen Überzügen aus altmodischem Segeltuch über Spannbögen, um den Regen abzuhalten.

Sehr lange, bis in den Oktober hinein, pflegte Janne den Fahrradweg durch den Hafen zum Bahnhof zu nehmen. Jetzt macht es seit einiger Zeit nicht mehr so viel Spaß.

An den Pieren beginnt es sich schon zu lichten. Es ist Herbst. Spätherbst. Da treiben keine Blätter mehr auf dem Wasser.

Eines der Mälar-Schiffe hat offenbar schon den Kessel geheizt, obwohl es erst sechs oder möglicherweise sieben Uhr morgens ist. Weißer Rauch steigt feierlich aus dem Schornstein. Ist es wirklich möglich, dass das Schiff noch so spät im Oktober so zeitig ablegen wird? Und wenn ja, wohin? Kann man es wirklich glauben, dass jemand im Oktober das Schiff nach Stockholm nimmt, nachdem es jetzt bequeme, elektrisch betriebene Schnellzüge gibt? Und das Allerneueste: Jetzt steht der Expresszug Mälardalen mit seinen komfortablen, roten, stromlinienförmigen Wagen jedem zur Verfügung, der unbedingt nach Stockholm fahren will.

Oder ist es nur der Koch, der so früh aufgestanden ist, um die Dampfschiff-Steaks vorzubereiten, die irgendwo da draußen im Björkfjärden oder vielleicht in dem engen Gatt unterhalb des majestätisch steilen Hangs bei Kungshatt aufgetischt werden sollen? Die Dampfschiff-Steaks, die in dem eichengetäfelten Erste-Klasse-Salon serviert werden, zusammen mit Bratkartoffeln und Pils von der Gamla Bryggeriet und OP Andersson. Alles andere wäre unpassend.

Aber wer um Himmels willen hat die Zeit, mit dem Dampfschiff zu dieser Jahreszeit nach Mariefred, Strängnäs und Stockholm zu fahren? Tatsächlich ist es nicht mehr so furchtbar lang hin, bis die Dampfschiffgesellschaft ihren Betrieb einstellen wird. Die Gewässer frieren zu, und Schlittschuhsegler, Schüler aus dem Högre Allmänna Läroverket, strömen auf ihrem Wochenendausflug aufs Eis hinaus, nicht unähnlich den unruhigen Dohlenschwärmen über den großen, weißen, noch schneefreien Buchten im September. Hunderte von Kommas auf einer weißen Seite, Kommas, die nicht wissen, was sie trennen sollen.

Es ist noch nicht lange her, dass die weißen Dampfschiffe des Mälaren unter dem Jubel der Passagiere das Dampfschiff-Steak wieder auf ihre Speisekarte gesetzt haben. Viele Jahre lang war es nur ein Traum, eine Erinnerung an ein verlorenes Paradies gewesen, das man die Vorkriegszeit nannte.

Wie bis vor kurzem die Dampfschiff-Steaks ein Traum aus der Vergangenheit waren, waren das – genau genommen – die Dampfschiffe auch. Sie verbrauchten ein bisschen zu viel von der kostbaren Kohle. Und warum sollten die Menschen in einer schlimmen Zeit das Leben, das Licht über den Buchten und die milden Winde des Sommers genießen?

Der Ersatz – oder, wie es damals hieß, das Surrogat – war Rote-Bete-Steak. Rote Bete, in einem sehr zweifelhaften Fett gebraten, das ein wenig den Eindruck machte, aus der Schmiergrube in einer der wenigen überlebenden Autowerkstätten zu stammen.

Aber jetzt schreiben wir das Jahr 1953 und die Welt ist frei, das heißt, dieser Teil der Welt. Nicht weit entfernt, auf der anderen Seite der Ostsee, herrscht etwas, das am ehesten als ein eben noch glühend heißer, jetzt nur langsam abkühlender Höllenkreis der Volksumsiedlungen und Demütigungen beschrieben werden kann, wie ihn sich die Menschen hier schwer vorstellen können. Hin und wieder zieht Brandgeruch von der Ostsee ins Land. Etwas brennt, aber man weiß nicht, was. Wälder? Gebäude? Oder was?

Kurz gesagt, 1953 ist, was man die Nachkriegszeit nennt.

Eigentlich eine komische Zeit. Natürlich kann man sich fragen: Ist nicht jede Zeit eine Nachkriegszeit? Wenn es, was Gott verhüte, keine Vorkriegszeit ist. So viel Elend ist über die Welt hereingebrochen, und so viele Menschen haben es, falls sie noch leben, so viel schwerer gehabt als dieser Mann in den Vierzigern auf diesem eigentümlich schwer beladenen blauen Fahrrad mit hart aufgepumpten Ballonreifen, der an dem Kleine-Boote-Hafen vorbeiradelt. Er hat es eilig, die Adern an seiner Stirn treten hervor, er will mit dem Fahrrad und der großen Tasche auf dem Gepäckträger den gelben Schienenbus um 7.40 Uhr erreichen, um nach Kolbäck zu gelangen. Und dann hinaus in das laubwaldreiche Mälar-Tal. Wo jedoch die meisten Blätter schon von den Bäumen gefallen sind. Auf die leeren, von Vieh zertrampelten Felder.

Bei solchen Expeditionen gilt es, früh aufzubrechen, wenn man etwas erreichen will. Im Bahnhof von Västerås steht schon eine solide Dampflok und stößt fauchend zwei Wasserdampf-Schnurrbärte aus, die sich über den asphaltierten Bahnsteig ausbreiten, so dass es aussieht, als hätte ein Riese darauf gespuckt. Und hinter der Lok hängt eine lange Reihe brauner Personenwagen, ganz vorn die Erste-Klasse-Abteile, darin Oberingenieure, die zu einer Tagung nach Stockholm wollen, in der zweiten Klasse Damen, die zu einer Konferenz des Roten Kreuzes unterwegs sind, und ein vereinzelter Tourist mit Kamera und Golfhosen, und zuletzt kommen die vielen Dritte-Klasse-Waggons, wo die Reisenden Körbe mit Butterbrotpäckchen und Thermosflaschen dabeihaben. Und einige Flaschen, deren Inhalt wir lieber nicht erforschen wollen.

Jan V. Friberg hat diese kleine Reise schon oft gemacht. Geübt achtet er darauf, dass das blaue Fahrrad mit der großen Demonstrationstasche ordentlich im Gepäckabteil des gelben Schienenbusses verstaut wird. Es gilt, dafür zu sorgen, dass es nicht allzu weit hinten zwischen allen möglichen schweren und unförmigen Dingen landet, die gewisse Menschen unbedingt mitschleppen wollen. Letzte Woche hatten er und Schaffner Jansson, den er gut kennt, eine höllische Mühe, das Fahrrad mit dem Gepäck von einem großen, überflüssigen Rasenmäherungetüm loszubekommen. Wobei Jan es nicht versäumte, diesem einen so nachdrücklichen Abschiedstritt zu verpassen, dass der normalerweise gutmütige Jansson ihn etwas verwundert anschaute.

Obwohl das Fahrrad nur zwei Stationen mit dem Schienenbus befördert werden soll, vorbei an Dingtuna nach Kolbäck, wo der düstere Kolbäcksån und mit ihm der Strömholms-Kanal kurz davor sind, in den Mälaren abzufließen, soll dieses Fahrrad mit einem ordentlich beschrifteten Adresszettel versehen werden, der mit Draht am rechten Lenkergriff befestigt wird. Immer am rechten Lenkergriff. Was würde geschehen, wenn irgend jemand vom Bahnhofspersonal ihn aus Versehen oder Bosheit am linken anbringen würde?

Aus den allzu vielen Taschen der Sportjacke gelingt es ihm schließlich, die zerknautschte Zigarettenschachtel hervorzukramen, die Marke Robin Hood ist es offenbar diesmal, da die Bill zu teuer sind, und er stellt fest, dass eine Zigarette in der Mitte zerbrochen und die andere einigermaßen heil geblieben ist. Sparsam, wie er ist, begnügt Janne sich mit einer abgebrochenen Hälfte.

Dies ist kein richtig guter Morgen in Janne Fribergs Leben. Dinge sind geschehen, die ihm das Gefühl geben, einsam, verlassen und an sich sinnlos zu sein.

Noch gierig das wenige inhalierend, das der abgebrochene Stummel hergibt, setzt sich Janne in das muffige Raucherabteil des Schienenbusses und versucht, durch das beschlagene Fenster hinauszuschauen. Am Hauptbürogebäude von ASEA, einem mächtigen Märchenturm mit Uhren in alle Richtungen, zeigt die große Uhr an, dass noch zwei Minuten bis zur Abfahrt bleiben.

Und für einen Moment fragt er sich, ob etwas von alledem eigentlich sinnvoll ist. Könnte man nicht ebenso gut aus diesem langweiligen Schienenbus aussteigen, der am Anfang eines tristen Tages steht? Das wäre weder mehr noch weniger sinnvoll als das, was er sonst tun könnte. Ist das Leben sinnvoll? Ist das Leben der anderen auch sinnvoll? Wenn Pastor Fors von der Pfingstgemeinde behauptet, der Sinn unseres Lebens sei es, den anderen zu helfen – was um Gottes willen ist dann der Sinn des Lebens der anderen?

Und man muss sich ja fragen: Wenn das Leben sinnlos ist, wie passt das damit zusammen, dass wir immerzu versuchen, sinnvolle Dinge zu tun?

Für einen Augenblick, vielleicht einen Augenblick großartiger Freiheit, zieht Janne in Betracht, ganz einfach aus diesem Schienenbus auszusteigen, der hier steht, mit den dumpfen Paukenschlägen des Dieselmotors schon fahrbereit, und darauf wartet, ihn zu einer beschwerlichen und langweiligen Radtour durch diese schon vom Herbst gezeichnete Landschaft zu bringen.

Diese Freiheit währt nur ein paar kurze Sekunden. Denn das ist Janne klar, es würde nicht gelingen, den Schaffner Jansson dazu zu überreden, das Fahrrad wieder auszuladen.

Das könnte ja eine Verspätung verursachen.

Wie auch immer. Die Erzählung handelt also davon, wie die Schicksale von Radfahrern einer etwas früheren Generation aussehen konnten. Und davon, was einem solchen Mann, unterwegs auf einem blauen Fahrrad, in den südlichen Teilen von Västmanland zustieß, wo das Land flach ist und die Eichen zahlreich sind.

Der Herbst kommt wie eine Reiterschar

Es gibt eine Zeit Anfang September, in der alles reif, golden und abgeklärt wirkt. Ein stiller Hochdruck schwebt über der Gegend und verleiht ihr einen eigentümlich feierlichen Ausdruck. Diese bemerkenswert flache Landschaft mit dicht bewaldeten Inseln kann sich dann sehr idyllisch ausnehmen. Die Haine aus mächtigen Eichen sind noch halbwegs grün und sehen so still, so klug aus. Die Wellen schlagen ruhig gegen den Strand, und die kleinen Geröllsteine kichern unter ihrer sachten Berührung.

Es fehlt nur weidendes Vieh, und das Bild einer sanften Bronzezeitlandschaft wäre vollkommen. War die Bronzezeit eigentlich sanft? Jetzt, im Jahr 1953, steigen hartnäckige Rauchfahnen von einigen Inseln da draußen in der Bucht auf: Es ist ein idealer Tag für die die große Wäsche in den Fässern unten an den Stränden, da es bestes Wetter zum Trocknen ist. Ja, an einem solchen Tag im September kann man sich vorstellen, in einer Art Ideallandschaft zu leben, einem Schweden bevor der böse Sturm von schwarzen Fichtendämonen aus dem Norden herunterfegte.

Aber Ende Oktober sieht es anders aus. Alle Boote, bis auf die, welche aus irgendeinem Grund zurückgelassen wurden, um zu versinken oder im ersten Griff des sich bildenden Eises zertrümmert zu werden, sind an Land gezogen worden. Sie schlafen unter Persenningen, und nur die Mäuse spuken in den Pichten. Die Bäume sind nackt, der Regen hat es sich eingerichtet, als wäre er der natürliche Zustand der Dinge, die Pfade ein einziger Matsch, der große dunkle Mälaren da draußen ein melancholisches Nichts.

Auch der Morgen war eigentlich nicht besonders hoffnungsvoll. Da gab es ebenfalls Unannehmlichkeiten, aber anderer Art.

Nun scheint sich jedoch allmählich ein Ende abzuzeichnen. Von einem Tag, an dem fast alles schiefgegangen ist.

Ein enttäuschter Mann auf einem schwer beladenen Fahrrad kämpft sich durch Herbst und Wind, durch den allzu losen Kies der Herrenhausallee. Das heißt, sie könnte zu einem Herrenhaus führen, aber es ist schon zu dunkel, um es zu erkennen. Es müsste da sein, am Ende der Allee. Falls er von dem Jungen auf dem Pferdekarren mit leeren Milchflaschen nicht völlig in die Irre geführt worden ist, den er zuletzt um Rat gefragt hatte.

Ein Herrenhaus wäre seine letzte Chance. Ein Herrenhaus sollte eine große Küche haben, in der Schweine zerlegt und Würste gestopft werden. Ein richtiges Herrenhaus braucht unbedingt ein Haushaltsgerät. Einen Assistent, von der Marke Electrolux Svenska Försäljningsaktiebolag.

Er hofft jetzt nur, dass er dort Leute antrifft. In diesen Zeiten weiß man ja nie. Dort soll ein alter Dichter gewohnt haben, der jetzt tot ist. Eine Art Poet. Vielleicht wohnte er auch in einem anderen Herrenhaus. Ringsumher gibt es mehrere davon. Unten am Mälaren ist das so, jede zweite Bucht hat ihr eigenes Herrenhaus.

Und die Allee? Zu allem Unglück steigt diese Allee an. In einem nicht unbeträchtlichen Winkel. Sollen Alleen wirklich Steigungen haben? Jeden Moment kann es ernstlich zu regnen beginnen. Die ersten schweren Tropfen sind schon gefallen. Und dieser zu dick gestreute Kies auf der Allee behindert die Reifen immer mehr.

Es ist 1953. Ende Oktober. Oder ist es vielleicht schon November? Der Kalender mit der Aufschrift »Electrolux Svenska Försäljningsaktiebolag« in goldenen Buchstaben auf dem Deckel liegt tief in der Westentasche der blau karierten Jacke. Es ist also nicht leicht, an ihn heranzukommen. Vieles deutet darauf hin, dass der Winter streng werden kann. Jedes Jahr zu dieser Zeit passiert der Planet eine dunkle, gefährliche Stelle auf seiner Bahn durch das leere, kalte und bedrohliche Weltall.

Alle empfindsamen Menschen wissen das. Janne Friberg ist ein empfindsamer Mensch.

Der Kies ist trügerisch, das Wetter abscheulich, der Planet steht falsch. Die falschen Mächte regieren. Die Wolken sind schwarz vor Teufelszeug. Der Wind zieht von den Mälar-Buchten herein, die nach Moder riechen. Und nach Schrecken. Versunkene Boote auf schwarzem Grund.

Als Jan V. Friberg, Vertreter von Electrolux-Haushaltsgeräten in den Bezirken Västerås–Mälaröarna–Hamre, am Ende eines Tages, der allzu lange währte, von der asphaltierten Landstraße auf die vielversprechende Herrenhausallee abbog, war das ein letzter Versuch, etwas aus dem scheinbar Sinnlosen zu machen.

Die unglaublichen Erfindungen der Nachkriegszeit, klimatisierte Autos, Kugelschreiber und all diese modernen Haushaltsgeräte, die so viele Dinge tun konnten, sind in der Provinz Västmanland nicht immer leicht zu verscherbeln. Vielleicht wäre es Richtung Norden leichter gewesen, den Kolbäcksån hinauf, wo es Elche gibt. Aus einem Elch kann man nämlich sehr viel Hackfleisch machen. Und außerdem sind die Leute da oben aufgeschlossener für alles Technische. Das Technische beginnt mit der Papierfabrik von Sörstafors und setzt sich den ganzen Weg entlang des Strömholms-Kanals fort, der Surahammar, Hallstahammar und Virsbo durchquert, bis hinauf nach Fagersta. Überall stehen Menschen an Maschinen, großen, gefährlichen Maschinen, die flüssiges Eisen und feuerrote Materialien behandeln, wie in den Walzwerken von Sura und Ramnäs, oder an kleinen pfiffigen Maschinen, wie in der Uhrenwerkstatt in Trummelsberg. Überall gibt es dort Maschinen, welche die Menschen lehren, den mechanischen Fortschritt zu schätzen. Nördlich davon sind die Wälder und südlich davon diese großen Gutshöfe mit Schweinen und Kühen, wo die Leute eigentlich nicht besonders viel von Technik verstehen. Außer vielleicht die Berufsfischer draußen auf Ridön und Almö-Lindö, die sich immerhin gut genug mit ihren Glühkopfmotoren auskennen, um sie auch bei Wind und Wetter in Gang zu bringen.

Wenn man die Sache so ausdrücken darf. Janne lachte bitter über seinen Scherz, ohne eigentlich zu verstehen, was so lustig daran sein sollte. Aber hier im Süden waren es ja nicht Elche, sondern Schweine, die zerhackt und zu Würsten verarbeitet werden sollten.

Auf diesen großen Höfen, die er heute unten auf der Ebene besucht hatte, den langen Weg vom Bahnhof Kolbäck und immer weiter westwärts fahrend, bis hin zu diesem verdammt beschwerlichen Kieshang, hatte man auf seine beredte Demonstration eines revolutionierenden neuen Küchengeräts nur mit mürrischen Fragen oder dem einen und anderen unverschämten Gelächter reagiert. Besonders über das Wurststopfen hatte man gelacht, von dem alle meinten, sie verstünden mehr davon. Was konnte ein Hausierer aus der Stadt über Wurststopfen, Grützwurst und Schweineinnereien wissen?