Doktor Wassers Rezept - Lars Gustafsson - E-Book

Doktor Wassers Rezept E-Book

Lars Gustafsson

4,8

Beschreibung

Dieser Mann ist ein Gewinner. Deshalb vertreibt er sich, gerade achtzig geworden, die Zeit mit Preisausschreiben. Vor allem aber lebt er in seinen Erinnerungen. Schon in der Schule war seine Liebe zu den Frauen größer als die zur Mathematik. Er arbeitete in einer Reifenwerkstatt und als Fensterputzer, bis er eines Morgens die Papiere eines tödlich verunglückten Motorradfahrers fand. Da verwandelte sich der junge Kent Andersson aus Schweden in Dr. Kurth Wasser, den DDR-Flüchtling und approbierten Arzt. Der ist als Schlafforscher ebenso begabt wie als Womanizer. Irgendwo zwischen Hochstapler und Glückspilz erfindet er sich immer wieder neu – und steht uns dabei vielleicht näher als wir denken.

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Über das Buch

Dieser Mann ist ein Gewinner. Gerade achtzig geworden, vertreibt er sich die Zeit mit Preisausschreiben. Und gewinnt immerzu. Vor allem aber lebt er in seinen Erinnerungen. In der Schule interessierten ihn die blonden Haare der Lehrerin mehr als die Mathematik. Er reparierte Bootsmotoren, arbeitete in einer Reifenwerkstatt und als Fensterputzer, aber das war ihm nicht genug. Als er eines Morgens die Papiere eines tödlich verunglückten Motorradfahrers findet, verwandelt sich der junge Kent Andersson in Dr. Kurth Wasser, den DDR-Flüchtling und approbierten Arzt. Um niemanden mit dem Skalpell zu gefährden, wird er Schlafforscher; mit Schlaflosigkeit hat er Erfahrung. Und auch als Womanizer ist er sehr begabt. Mit jeder Geliebten kann er sich neu erfinden. Und so gelingt es Doktor Wasser auf seine schalkhaft philosophische Art, stets auch ein anderer zu sein als der, der er ist.

Hanser E-Book

Lars Gustafsson

Doktor Wassers Rezept

Roman

Aus dem Schwedischenvon Verena Reichel

Carl Hanser Verlag

Die schwedische Originalausgabeerschien 2015 unter dem TitelDoktor Wassers receptbei Albert BonniersFörlag in Stockholm.

ISBN 978-3-446-25198-4

© Lars Gustafsson 2015

Published by agreement with

agentur literatur Gudrun Hebel, Germany

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München 2016

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München © Malcolm Hanes / Johnér

Satz im Verlag

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

CoubertinsPrinzip

Ich bin ein Gewinner.

Ich bin gerade achtzig geworden. Ein Alter, das man offenbar ohne größere Probleme erreichen kann, wenn man mein Rezept befolgt.

Doktor Kurth W. Wassers Rezept.

Schon seit längerer Zeit verwende ich unverhältnismäßig viel von meiner Zeit darauf, Preisausschreiben zu gewinnen. Es begann vor einigen Jahren, als ich in Pension ging. Ich finde sie überall, in Reklamebroschüren, in mehr oder weniger eleganten Zeitschriften, sogar in den eher unterhaltsamen Teilen der Tageszeitungen. Ja, sie tauchen mittlerweile fast überall auf. Diese seltsamen Aufträge. Um die niemand gebeten hat.

Mal sind es Buchstaben, mit denen man Puzzles legen soll. Mal ist es ein Reklameslogan, der zu erraten ist, will man eine Spanienreise oder ein neues Geschirrspülmittel erhalten. Mal soll man ein Gedicht schreiben und darin einen Markenartikel auf eine pfiffige Weise darstellen. Und manchmal sind es Denksportaufgaben, so infantil und dumm, dass ein Sechsjähriger mit Zugang zum Internet sie im Handumdrehen lösen kann. Wie heißt die Hauptstadt von Portugal? Wie heißt die Uhr am Parlamentsgebäude von London? Ja, wie wohl!

Ich habe einen Verdacht: Diese Wettbewerbe sind für wirklich dumme oder allgemein denkfaule Menschen gedacht, und wenn jemand mit meinen Talenten sich damit abgibt, ist die Partie im Prinzip entschieden.

Ich bin ein Gewinner. Das ist meine hervorstechende Eigenschaft. Daran gibt es keinen Zweifel.

Ich gewinne elektrische Kaffeemaschinen und wochenlange Ferien in irischen Schlössern oder Hotels in Westindien, Kreuzfahrten nach Bali und natürlich kostenlose Aufenthalte in verschiedenen Gesundheits- und Massageinstituten überall zwischen Sunne und Falsterbo. Plötzlich gibt es Ehre und Auszeichnungen ohne Ende.

Und das alles nur, weil ich Zeit für derlei habe. In meinem jetzigen Leben.

Aber ich habe natürlich weder Zeit noch die Möglichkeit, all diese Gewinne wahrzunehmen und die Preise zu nutzen. Einige habe ich tatsächlich verschenken können – an Nachbarn und Bekannte –, und der Rest landet im Papierkorb. In der Regel kommen dann enttäuschte Briefe der Veranstalter. Ich sage indessen wie der Gründer der Olympischen Spiele – wie auch immer er hieß: Das Wichtigste ist nicht zu siegen, sondern gut zu kämpfen.

Nein. Eigentlich möchte ich es umgekehrt sagen: Das Wichtigste ist nicht zu kämpfen. Es kommt darauf an zu gewinnen. Coubertin hieß er übrigens. Pierre Baron de Coubertin, der Gründer der modernen Olympischen Spiele.

Wer ist die alte Frau, die da unten an der Bushaltestelle zögernd zwischen den Schneewehen hindurchschlurft? Kann das wirklich sein? Nein, das ist doch nicht möglich? Nein.

Das war sie nicht.

Ein Ortin der Zeit

Genau hier, in dieser Leere, will ich noch ein wenig verweilen.

Dies ist die Stelle, an der wir uns befinden. Das Unwetter zieht auf. Bei jedem tief empfundenen Liebesakt gibt es einen kurzen Augenblick, einen ultrakurzen, wenn die Gedanken noch frei umherwandern, ja eigentlich ziemlich weit umherschweifen können, über eine flache Landschaft, über die Wolkenschatten rasch hinwegziehen, bis sich all das in der großen, im Grunde unerträglichen Tiefe verliert, bis der weiße Blitz das Ende der Reise anzeigt.

Es begann, ehe es überhaupt begonnen hatte. Erst später, im trüben Licht eines Cafés, entsann ich mich, was ich gesehen hatte: Sie hinkte. Sie musste eine ernsthafte Beschädigung an einer Hüfte haben, hatte ich gedacht.

(Nein, an einem Ganglion in der Halswirbelsäule, Cervix 7. Aber das hat sie mir erst viel später erzählt. Irgendwann im Herbst, während einer Bootstour. Mit dem Dampfschiff vom Stadshus-Kai nach Sigtuna, wenn ich mich recht erinnere.)

Ich sah ihre schlanken, schönen Beine. Sie trug ein schwarzes, gut geschnittenes Kostüm, passend zum Winter, und ihre muskulösen Beine waren deutlich sichtbar.

Als wir dann miteinander sprachen – zu guter Letzt –, merkten wir, dass wir schon die ganze Zeit miteinander geredet hatten. Aber stumm.

Es erinnerte mich stark an jemand anderen, wie sie da saß, ihr Sitzen selbst, an die Hüfte an meiner Seite. Und da gab es diese tiefe Neugier, die man eigentlich nur für einen begehrenswerten, aber unbekannten Körper empfinden kann. Es war ja keine lange Fahrt, sie dauerte vielleicht fünfzehn Minuten. Aber was da alles geschah. Wir waren noch nicht weit vorangekommen im Verkehr, als sie die Hand nahm, meine Hand, und sie zwischen ihre Beine legte, genau auf ihren Venushügel. Und meine Hand, bald an den Innenseiten ihrer Schenkel sehr aktiv, erzeugte diesen leichten, diesen leisen, flüsternden, kratzenden Laut auf den schwarzen Strumpfhosen.

Herrgott! Wir mussten ja auch an den Taxifahrer denken.

Was hätten wir tun sollen? Den Fahrer bitten umzukehren? Oder jeder in seine Richtung gehen, leicht vorgebeugt von einem neuen und unerbittlichen Schmerz, in den Hoden – die, hätte ich sie sehen können, sicherlich die berühmte tiefblaue Farbe angenommen hatten – und einer mir unbekannten Gebärmutter, die etwas Ähnliches empfinden musste.

Schließlich blieben wir einen Augenblick vor dem Gebäude stehen, in dem sich offenbar das Büro befand, zu dem sie wollte. Als Anwältin oder Klientin.

Wir vermieden es, uns in die Augen zu sehen. Ihr Gesicht war eigentlich nicht schön. Auch nicht hässlich, es hatte eine Art straffe und ernste Linienführung, wie bei einem Menschen, der oft enttäuscht worden war und sich dazu gezwungen hatte, auf vieles zu verzichten.

Der Motor lief, der Fahrer fragte. Es war nicht ganz leicht, hier anzuhalten; er musste in der zweiten Reihe parken.

–  Das hier, sagte sie, ist zu gut, zu wichtig, um es zu versäumen.

–  Das glaube ich auch, sagte ich. Wir fahren in ein Hotel.

–  Welches Hotel?

–  Columbus.

Es war das einzige, das mir gerade einfiel. Das Columbus lag in der Tjärhovsgatan. Es dauerte eine Weile, bis wir dort ankamen. Unsere Hände suchten einander unter Schweigen, begannen eine Art Miniatur der Bewegungen beim Liebesakt.

Gefahren,die vor allemMotorradfahrerndrohen

In der Regel verstreicht mein Morgen auf folgende Weise: Ich sitze zeitig am Fenster. Oft schon um sechs Uhr oder früher. Ich sehe eine Mauer und davor eine Bushaltestelle. Als Erstes erscheint eine garstige alte Frau, die sorgfältig alle Gratiszeitungen aus dem Zeitungsständer an der Bushaltestelle an sich nimmt und sie in ihrem leeren Kinderwagen wegbringt. Wozu braucht sie die? Für ihre Katzen? Ich mag keine Katzen. Ich ziehe Hunde vor. Sie lügen nicht so viel.

Wie sieht die Welt oder das, was eben noch meine Welt war, an diesem Morgen aus? Ich stelle mir vor:

Nelly, mit der ich noch hin und wieder telefoniere, wacht im grausamen Coventry auf und weiß, dass sie an diesem Abend in einem fast unbekannten Stück in einem sehr kleinen Theater mit tiefrotem Vorhang und verschlissenen Polsterstühlen auftreten wird.

Sie schaut zwischen schweren Hotelgardinen nach draußen. Die dicken schwarzen Zöpfe liegen wie zwei dunkle Schlangen auf ihrem sehr hellen Rücken. Für einen Augenblick sehe ich vor mir, wie ich hinter ihr stehe, mich so leise nähere, dass sie mich nicht hört. Ich atme auf ihren Hals. Sie dreht langsam den Kopf: Ach, du bist es?

In der Ferne zeichnet sich die leere Hülle der Kathedrale vor einem Regenschleier ab. Ich lege die Hände auf ihre Brüste und fühle, wie die Nippel hart werden.

Und Caroline Sundborn, die Rothaarige, die Starke, siebzehn Jahre älter als ich, sie möchte ich mir nicht als Tote vorstellen. Ich will, dass sie auf irgendeine Weise mit im Bild bleibt. Ich beschließe, dass sie in Berlin im Auto in einem Stau sitzt, der sich unerträglich langsam vorwärtsbewegt und sie daran hindert, nach Tegel zu gelangen, von wo aus sie die Morgenmaschine nach Mailand nehmen will. Wo man sie braucht, um etwas zu verhindern. Eine Katastrophe. Welche Katastrophe? Das hat sie nicht erklärt.

Die meisten Beteiligten der Handlung haben keine Ahnung voneinander. Sind sie wirklich hier zu Hause, in dieser Erzählung? Und wie bin ich selbst da hineingeraten? Das ist auch nicht so leicht zu beantworten.

Aber ich bin hier. Die Erinnerungen steigen auf wie ein herannahendes Unwetter. Kommt nicht hierher! Ich will euch nicht haben! Ich bin ohne eure Mitwirkung vollständig zufrieden.

Anblicke, die ich nur schwer vergessen kann; darunter der Fischhändler, auf der Heimfahrt mit seinem leichten dreirädrigen Motorrad betrunken verunglückt. Blut und Gehirnmasse verspritzt auf dem Eis in den Fischkisten und auf den verbliebenen Fischen in der Fahrerkabine des jetzt vollständig demolierten Gefährts.

Es war schauderhaft. Wir Jungen, die wir ganz in der Nähe in der Kanalschleuse von Semla badeten, hörten das Gerücht, einem Motorradfahrer sei ganz in der Nähe etwas passiert, da oben, auf der neuen Industriestraße – der 65, wenn ich mich recht erinnere –, wir rannten also hin, wie wir waren, in Badehosen und barfüßig. Der Anblick war schier unerträglich, und einige von uns übergaben sich. Rick war schon damals dabei, und ich ahnte nicht, dass er und ich sieben oder acht Jahre später diese Fensterputzerexpedition machen würden.

Der Unfall des Fischhändlers berührte mich viel stärker als dieser andere Unfall in einer Kurve des Ängelsbergsvägen, dessen spät eintreffender Zeuge ich Jahre darauf werden sollte. Oder eigentlich kein richtiger Zeuge. Der Motorradfahrer musste im Winter geradewegs in den dichten Fichtenwald gefahren sein, in eben jenem Winter, der die Kurve so glatt werden ließ, dass es ihn hinaustrug. Bis ich ihn also fand, zum Teil in einen Ameisenhaufen verwandelt. Dass ich diesen Fremdkörper in dem üppigen Grün des Straßengrabens entdeckte, war reiner Zufall.

Aber dieser Zufall sollte für mich von großer Bedeutung sein. Ereignisse können entgegen der Wahrscheinlichkeit eintreffen. Vielleicht kommt das öfter vor, als man denkt?

DieVerführung

Tiefblaue Farbe, tiefblaue Seide – woran erinnert das? Warum ist Tiefblau so wichtig? Das weiß ich ganz genau. Diese Farbe ist eine bedeutsame Farbe. Sie hat mit etwas zu tun, das mein Leben entscheidend geprägt hat. Diese Farbe und die weiße Farbe.

Ich spreche nun von Caroline Sundborn, der Freundin und Forschungspolitikerin, die mir die Chance gab, in die Schlafforschung einzusteigen.

Ich frage mich immer noch, wer hier wen verführte. Gewöhnlich denke ich, dass ich derjenige war, aber ich bin mir dessen nicht ganz sicher.

War das zynisch? Ich weiß nicht. Dieser Besuch dauerte zwei, höchstens zweieinhalb Stunden, aber er hat viel für mein weiteres Leben entschieden. Und, wie ich vermute, eine ganze Menge auch für ihres.

Wusste sie, was geschehen würde? Sie hatte mir listig genug vorgeschlagen, bei ihr in Täby vorbeizuschauen, um ein Buch abzuholen, einen Forschungsbericht, den sie eigentlich auch in ihrer Kanzlei zur Hand hatte. Für einen hoffnungsfrohen jungen Mann war das natürlich vielversprechend, aber es galt, nicht zu viel zu erhoffen.

Ich stieg aus dem Bus, mit trockenem Mund, an einer Haltestelle gleich vor ihrer Hecke. Als ich schließlich das Eingangstor fand, gab es den Blick auf eine Villa aus den dreißiger Jahren frei. Ich musste mehrmals auf die solide Klingel an der Haustür drücken. Dann öffnete sie selbst.

Ich bemerkte, dass sie gerade dabei gewesen war, sich umzuziehen, diesmal in einem anderen Stil. Statt eines dieser dunkelblauen maßgeschneiderten Kostüme – die in ihrer eigentümlich zweideutigen Maskulinität eine doppelte Botschaft auszusenden schienen, eine erregende Mischung aus Drohung und Versprechen – trug sie jetzt einen plissierten Rock und eine Seidenbluse. Und trotz der Jahreszeit: schwarze Strümpfe. War sie schön? Eigentlich … war es nicht mehr wichtig, ob sie schön war.

Sie verschwand und kehrte dann mit dem Buch in der Hand zurück. Statt es mir zu überreichen, legte sie es auf den Sofatisch und lud mich zum Sitzen ein.

–  War es schwierig hierherzufinden? Du hättest ein Taxi nehmen können.

–  Es war gar nicht schwer. Die Busverbindung ist gut. Wenn man vom Hauptbahnhof kommt.

–  Du meinst, du bist aus Uppsala hergefahren?

–  Ich bin ein Landei.

–  Ja, das bist du.

Der Ton überraschte mich. Er war, angesichts unserer unterschiedlichen sozialen und anderen Beziehungen, überraschend intim. Und gleichzeitig ironisch. Gab es – fragte ich mich – möglicherweise einen kleinen, dünnen, aber rasch sich verbreiternden Riss in ihrer breitbeinigen Sicherheit, ihrem Ton der wohlwollenden Beschützerin?

–  Ich bin mit dem Fünf-Uhr-Zug gekommen.

–  Aber du kommst eine Stunde zu spät.

–  Oh, Entschuldigung, haben wir nicht sieben gesagt?

–  Nein, wir haben sechs gesagt. Was willst du also? Meine Zeit ist nicht unbegrenzt. Ich muss zu einer Besprechung. Ich werde erwartet.

Sagte sie die Wahrheit? Eine Besprechung, das konnte ein Liebhaber sein, der Besuch bei einer uralten Tante, das konnte sogar überhaupt nichts bedeuten. Nur eine Art, mich loszuwerden. Aber man weiß ja nie bei Menschen Anfang zwanzig, würde sie viel später sagen.

–  Es tut mir sehr leid.

–  Das sollte es vielleicht.

Ich näherte mich ihrem Hals. Sie schien nicht im Geringsten irritiert, noch nicht. Ich kam ihr so nah, dass sie meinen Atem spüren musste. Dabei schien sie völlig mit einer dünnen Strähne ihrer Haare beschäftigt zu sein, die sie nachdenklich zwischen Daumen und Zeigefinger zwirbelte.

Ich, oder vielleicht sollte ich sagen: meine Lippen fanden eine sehr warme Stelle, genau über dem Schlüsselbein oder der Clavicula, wie die Gelehrten sagen. Um richtig heranzukommen, wollte ich ihren Blusenkragen ein wenig hinabschieben. Ich hatte ja bereits alle Grenzen für den normalen Umgang mit einer mir zumindest prinzipiell Vorgesetzten überschritten.

–  Bitte – sei vorsichtig!

Das ließ mich innehalten.

–  Es ist eine teure Bluse.

–  Ich verstehe.

Ungefragt öffnete ich ein paar Knöpfe, zog den Stoff nach hinten über ihre Schultern, die so kräftig waren, wie ich es mir vorgestellt hatte, und wurde von Schwindel befallen, als ich den oberen Rand der Körbchen erreichte. Dieser Büstenhalter war von edler Art. Dunkelblau. Seide, natürlich.

Hatte sie sich also auf meinen Besuch vorbereitet? Oder trug sie immer solche Büstenhalter? Ich erriet, dass ihr Höschen von derselben Sorte sein musste, wenn der Büstenhalter diese feierliche, fast andächtige Farbe hatte. Ich spürte, wie alles Blut mein Gehirn verließ, in seinem wilden Fluss zu den Stellen, an denen es wirklich gebraucht wurde. Wenn ich hier und jetzt in Ohnmacht falle, mache ich mich lächerlich. Das war der einzige Gedanke, den ich in diesem Moment fassen konnte.

Also wärmte ich ihre Schultern, ihre Clavicula mit meinen Küssen, und sie schien nichts dagegen zu haben.

Das Blut kehrte in meinen Kopf zurück, und ich fühlte mich nicht mehr wie ein Eindringling oder Gewalttäter, sondern wie ein Mann, der willkommen ist. Sie half mir ein wenig bei den Haken, und ihre Nippel waren sehr dunkel. Ich umschloss den einen mit weichen Lippen und hörte sie auf eine Art jammern, die unmissverständlich war.

Ein schwacher, aber deutlicher Strom einer glasklaren Flüssigkeit aus den Tiefen ihres Nippels sagte mir, dass meine Lippen eine viel größere Wirkung ausgeübt hatten als erwartet.

Die Fortsetzung könnt ihr euch denken. Sie hatte überhaupt eine sehr strömende Lebendigkeit. Nicht nur weich und jammernd, sie konnte auch fordernd und herrisch sein:

–  Du kannst es noch viel besser! Härter! Aber nicht so ruckartig! Langsamer jetzt! Nicht so schnell!

Ich umfasste ihre Hinterbacken fest und brutal. Sie gehörten zu einem muskulösen, durchtrainierten Körper mit Substanz. Der jetzt, etwas überraschend, mir zu gehören schien. Oder vielleicht auch nicht.

Ich hatte eine Aufgabe übernommen.

Es endete damit, dass ich sie bat, ins Bad gehen zu dürfen – sie kleidete sich rasch an, ich vermute, wegen dieser Besprechung –, ich fühlte, schweißgebadet, dass ich eine Dusche brauchte. Aber sie machte mir klar, dass dafür keine Zeit blieb.

–  Fährst du mich?

–  Nein. Du nimmst den Bus.

Es wurde, wie alle verstehen werden, der Auftakt zu etwas, das ziemlich lange währte. Was nie aufhörte, mir zu imponieren, war ihr Einfallsreichtum: ein unverschlossener und Gott sei Dank leerer Leichenschuppen bei einer ländlichen Kirche in der Gegend von Enköping, eine Höhlung in einer riesigen, sehr alten Esche in einem Naturschutzgebiet bei Ängsö in der Gegend des Mälarsees. (Ich erinnere mich immer noch daran, wie ihre etwas herben Düfte sich mit Diorissimo und dem Modergeruch des Baums vermischten – das versetzte mich natürlich in eine wahnsinnige Erregung.)

Allmählich wurde mir klar, dass dies die mir zugedachte Rolle war. Dies war meine Aufgabe. Im Leben von Frau Professor Sundborn war ich über ein Jahr lang die wichtigste Medizin. Das Heilmittel gegen Konkurrenten und Bremsklötze im Ministerium und bei den Reichstagsparteien, in Korridoren und auf Konferenzen, gegen schiefes Lächeln und ironisierende alte Herren, die keine Professorinnen mochten. Wir pflegten darüber zu scherzen. Mit einem unterdrückten Lachen in den Augen – glücklich, aber auch ein wenig herablassend, beschützend vielleicht – konnte sie, Caroline, über Doktor Wassers Medizin scherzen.

Hat sie je verstanden, dass es Doktor Wasser eigentlich nicht gab? Dass der Doktor Wasser, der so leidenschaftlich ihren Bauch und ihre Schenkel küsste, tatsächlich weder Doktor noch Wasser war? Wir haben vielleicht nie darüber gesprochen.