Der Mann aus Venedig - oder: Harzblut - Ilka Stitz - E-Book
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Der Mann aus Venedig - oder: Harzblut E-Book

Ilka Stitz

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Beschreibung

Für den Machthunger der Serenissima fließt Blut im Harz: Der historische Roman »Der Mann aus Venedig« von Ilka Stitz jetzt als eBook bei dotbooks. Im Jahre des Herrn 1493. Mit ihren prachtvollen Kirchen und Palazzi verdient keine Stadt den Beinamen »die Durchlauchtigste« so wie Venedig – aber der Reichtum hat Schattenseiten: Unter den Handelsfürsten herrscht erbitterter Wettstreit, und über all dem thront der skrupellose Rat der Zehn, der seine Prospektoren in aller Herren Länder schickt. Federico Manzoni ist froh, der Lagunenstadt so den Rücken kehren zu können und auf der Suche nach neuen Kobalt-Minen in den fernen Harz zu reisen – denn dort lebt die Frau, die er heimlich liebt. Doch die schöne Gasthausbesitzerin Anna ist in heller Aufregung: Ihr Mann ist spurlos verschwunden. Während Federico sich auf die Suche nach ihm machen muss, ahnt er nicht, dass auch ihm Gefahr droht – sein größter Konkurrent, der Ratsherr Pertuzzi, hat nur auf eine günstige Gelegenheit gewartet, das Haus Manzoni endgültig zu vernichten … »Ein historischer Roman mit allem, was ein solcher braucht: Interessante Protagonisten, spürbar gut recherchiert und mit viel Liebe zum Detail geschrieben. Er ist authentisch, bildhaft und es macht einfach Spaß ihn zu lesen.« histo-couch.de Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Der Mann aus Venedig« von Ilka Stitz, auch bekannt unter dem Titel »Harzblut«, verwebt einen historischen Roman mit einer fesselnden Spannungsnote zu einem besonderen Lesevergnügen. Wer liest, hat mehr vom Leben! dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 780

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Über dieses Buch:

Im Jahre des Herrn 1493. Mit ihren prachtvollen Kirchen und Palazzi verdient keine Stadt den Beinamen »die Durchlauchtigste« so wie Venedig – aber der Reichtum hat Schattenseiten: Unter den Handelsfürsten herrscht erbitterter Wettstreit, und über all dem thront der skrupellose Rat der Zehn, der seine Prospektoren in aller Herren Länder schickt. Federico Manzoni ist froh, der Lagunenstadt so den Rücken kehren zu können und auf der Suche nach neuen Kobalt-Minen in den fernen Harz zu reisen – denn dort lebt die Frau, die er heimlich liebt. Doch die schöne Gasthausbesitzerin Anna ist in heller Aufregung: Ihr Mann ist spurlos verschwunden. Während Federico sich auf die Suche nach ihm machen muss, ahnt er nicht, dass auch ihm Gefahr droht – sein größter Konkurrent, der Ratsherr Pertuzzi, hat nur auf eine günstige Gelegenheit gewartet, das Haus Manzoni endgültig zu vernichten …

»Ein historischer Roman mit allem, was ein solcher braucht: Interessante Protagonisten, spürbar gut recherchiert und mit viel Liebe zum Detail geschrieben. Er ist authentisch, bildhaft und es macht einfach Spaß ihn zu lesen.« histo-couch.de

Über die Autorin:

Ilka Stitz, Jahrgang 1960, studierte Kunstgeschichte, Germanistik und klassische Archäologie und arbeitet als freie Journalistin, Autorin und Künstlerin; sie lebt in Köln.

Mehr Informationen über Ilka Stitz finden sich auf der Website www.ilkastitz.de.

Bei dotbooks veröffentlichte Ilka Sitz die gemeinsam mit Karola Hagemann verfassten historischen Kriminalromane »Das Geheimnis des Mithras-Tempels« und »Jung stirbt, wen die Götter lieben«.

Unter dem Autorenpseudonym Malachy Hyde schrieben Ilka Stitz und Karola Hagemann die Krimiserie um Silvanus Rhodius, die Leserinnen und Leser in die Welt des antiken Roms entführt: »Tod und Spiele«, »Eines jeden Kreuz«, »Wisse, dass du sterblich bist« und »Gewinne der Götter Gunst«.

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eBook-Neuausgabe September 2022

Dieses Buch erschien erstmals 2014 unter dem Titel »Harzblut« bei Grafit.

Copyright © der Originalausgabe 2014 by GRAFIT Verlag GmbH, Chemnitzer Str. 31, 44139 Dortmund

Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, Memmingen, unter Verwendung eines Bildmotivs von Shutterstock.com

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-98690-113-4

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Ilka Stitz

Der Mann aus Venedig

Historischer Roman

dotbooks.

Kapitel 1FEDERICO

Venedig, Ende Februar 1493

Aus den Augenwinkeln gewahrte Federico eine Bewegung im Canale. Ja, da schwamm etwas, eine Möwe sicherlich. Nein, es war zu groß für einen Vogel. Schwer zu erkennen, um was es sich handelte, die Mauer des Palazzo Ducale warf auf dieser Seite einen breiten Schatten über den Canale. Mitten auf der Brücke, die den Canale Orfano überspannte, blieb Federico stehen, beugte sich über die Brüstung und starrte hinunter. Etwas Graues schimmerte unter der Wasseroberfläche, näherte sich ihm. Ein Kleidungsstück, das Hemd eines Mannes, der bäuchlings im Wasser lag.

Federico wandte sich ab. Nicht zum ersten Mal sah er in diesem Canale unmittelbar neben dem Dogenpalast einen Leichnam. War es Zufall, dass der Tote in dem Moment vorübertrieb, als er die Brücke überquerte? Pertuzzi – war es möglich, dass er ...? Unsinn, er nahm sich zu wichtig. Andererseits, seit Giovanni Pertuzzi dem Rat der Zehn vorsaß, schien die Luft im Palazzo um einige Grade kälter, wehte ein rauer Wind.

Federico wechselte an das gegenüberliegende Brückengeländer, sah dem Leichnam nach, der gemächlich schaukelnd das offene Wasser des Bacino erreichte, von den Wellen erfasst und vom Ufer des Markusplatzes fortgezogen wurde, immer weiter und weiter hinaus, bis er im Dunst verschwand.

Über ihm strahlte der Himmel in winterlichem Blau. Doch am Horizont zogen dunkle Wolken auf, kündigten Regen an. In der Ferne hörte Federico Donner grollen. Das Wasser in der Lagune kräuselte sich unter dem aufkommenden Wind, die Gondeln zogen als bunte Farbtupfer vorüber, Fischer warfen ihre Netze aus. Eine trügerische Idylle. Federico fröstelte, angesichts des drohenden Unwetters sollte er sich beeilen. Doch er konnte sich nicht losreißen, stützte seine Hände auf die Brüstung der Brücke und blickte auf den Bacino di San Marco. Gischt krönte die Wellen, die sich vor dem Wind aufbäumten. In der Ferne ahnte er die Isola di San Giorgio Maggiore mehr, als dass er sie sah, die Giudecca war schon fast völlig im Dunst versunken. Schwarze Wolken drängten über den Himmel in Richtung Stadt, zwischen ihnen strömten breite Bahnen schwefeligen Sonnenlichtes über die Lagune, deren Wasser jetzt wie geschmolzenes Blei schimmerte. Gondeln und Schiffe flohen vor dem Unwetter an das Ufer. Die dunkle Wolkendecke schluckte das Licht, es war kaum Mittag, und doch schien die Nacht hereinbrechen zu wollen. Eine Windböe ließ seinen Mantel flattern. Jeden Augenblick konnte es beginnen zu regnen.

Federico senkte seinen Blick hinunter auf das Wasser des Canale Orfano, in Gedanken noch immer bei dem treibenden Leichnam. Zweifellos ein Opfer des Rates der Zehn, heimlich verurteilt, erdrosselt und entsorgt, sollte die Leiche den Bürgern der Serenissima das Fürchten lehren. Ein schreckliches Schicksal, im Canale entsorgt zu werden wie Küchenabfall. Federico starrte in die dunstige Dämmerung, die den leblosen Körper verschlungen hatte. Würde er ebenso enden? War es klug, seinen Plan weiterzuverfolgen? War dieser Tote ein Zeichen des Himmels? Eine Warnung? Federico rang den Zweifel nieder. Lange genug hatte er die Risiken abgewogen, die Entscheidung war getroffen, der Leichnam würde daran nichts ändern. Heute endlich wollte er Massimo seinen Plan anvertrauen, der Rat seines Freundes, seine Erfahrung waren ihm wichtig. Und dann wartete ein neues Leben auf ihn.

Tropfen, die in sein Gesicht klatschten, rissen ihn aus den Gedanken. Er flüchtete unter einen Balkon, der nur unzureichend Schutz vor dem Regenguss bot, und hoffte, dass es sich um einen schnell vorüberziehenden Gewitterschauer handelte. Das Wasser rauschte von den Dächern, durchnässte seine Schuhe, Blitze zuckten ringsum, als wollten sie die Stadt in Schutt und Asche legen.

Er hatte sich nicht getäuscht, ebenso plötzlich wie der Regen begonnen hatte, hörte er auf. Es wurde heller, über den Inseln ließ sich bereits blauer Himmel sehen. Ein Regenbogen spannte sich über die Lagune. Die Wintersonne fand hier und da schon wieder den Weg zwischen den Wolken hindurch.

Zügig durchquerte Federico das Viertel von San Marco und lief das letzte Stück am Ufer der größten Wasserstraße Venedigs entlang. Die dunklen Wolken waren längst weitergezogen und die Marmorfassaden der Palazzi glühten im Sonnenlicht. Das Wasser im Canale Grande schimmerte milchig blau.

Was Massimo wohl zu seinen Plänen sagen würde? Ganz sicher hätte er Verständnis. Von allen Mitgliedern des Rates der Zehn war er der Einzige, dem Federico vertraute, von dem er nichts zu befürchten hatte. Dennoch, und da machte sich Federico nichts vor, indem er den Freund ins Vertrauen zog, unternahm er den ersten entscheidenden Schritt auf einem Weg, von dem er nicht wusste, ob er angenehm und sicher oder holprig und gefährlich werden würde. Und für Letzteres standen die Zeichen gut. Er dachte an seinen neuen Vorgesetzten ... und an den unbekannten Toten im grauen Hemd.

Verfolgte ihn jemand? Federico schaute sich um, doch er sah nur Passanten, die nach dem Unwetter ihre Geschäfte wieder aufnahmen. In dieser Stadt beschlich ihn stets das Gefühl, von tausend Augen beobachtet zu werden. Und niemand wusste besser als er, wie berechtigt diese Sorge war. Diese Gewissheit war ebenfalls ein Grund für seinen Entschluss, Venedig den Rücken zu kehren. Um ihn in die Tat umzusetzen, brauchte er Massimos Fürsprache. Reichte dessen Einfluss im Rat der Zehn nicht aus, wäre Federico nie mehr sicher, nirgends auf der Welt. Und dann wären es nicht nur tausend Augen, die ihn beobachteten, sondern Messer, die sich in seinen Rücken bohrten, Schlingen, die sich um seinen Hals zusammenzögen. Noch nie war ihm die Tatsache, künftig jederzeit mit einem Anschlag auf sein Leben rechnen zu müssen, so gegenwärtig gewesen wie jetzt in Venedig. Und nie war die Wahrscheinlichkeit größer als unter seinem Vorgesetzten, dem derzeitigen Vorsitzenden des Rates der Zehn, Giovanni Pertuzzi. Des Rates, der Hochverräter entlarvte und richtete, den Staat schützte, der aber auch Männer wie ihn in die Welt schickte, als Sammler von Erzen, Nachrichten und Geheimnissen.

Federico verlangsamte seinen Schritt, ließ den Blick über die Fassaden schweifen. Der Canale Grande, die schönste Straße der Welt, hieß es, die mit ihren Prachtbauten, mit denen die Nobilität der Stadt sich gegenseitig zu übertreffen versuchte, Einheimische wie Fremde beeindruckte. Auf einer Dachterrasse des gegenüberliegenden Gebäudes bemerkte er eine Dame im Pelz, die schon die Februarsonne nutzte, um ihr Haar zu bleichen. All das würde er nie wiedersehen. Federico konnte es verschmerzen.

Kurz vor der Rialtobrücke wurden die Straßen belebter, die bunten Gondeln schaukelten auf den Wellen kreuz und quer, von Ufer zu Ufer. Am Riva del Ferro entlud ein Dutzend Männer einen Kahn, Eisenerz aus Deutschland, für den benachbarten Fondaco dei Tedeschi bestimmt. Hinter dessen rotbrauner Fassade wohnten die deutschen Kaufleute und trieben ihre Handelsgeschäfte, nur dort war es ihnen gestattet.

Federico beobachtete das Treiben stets mit einer gewissen Wehmut. Es ließ ihn an seine Anfangszeit als Sensal zurückdenken, seine erste Aufgabe in den Diensten der Serenissima. Die bestand zunächst darin, Deutsch zu lernen, um sich im Umgang mit den Nordländern zu üben. Später hatte er die deutschen Händler unterstützt, ihnen Kontakte vermittelt, übersetzt und bei den Zollformalitäten geholfen. Er musste sie und ihre Waren kontrollieren, die Zollabgaben ermitteln, vor allem jedoch sollte er sie bespitzeln.

Er hatte die deutschen Kaufleute schätzen gelernt und soweit er es beurteilen konnte, war auch er bei ihnen beliebt gewesen. Insgesamt hatte er sie als integre, ehrliche Leute erlebt. Einen einzigen Gesetzesverstoß hatte er aufgedeckt. Und so war es gekommen, dass er einem Ballen Seide seinen Aufstieg verdankte. Den hatte ein angesehener deutscher Kaufmann damals am Zoll vorbei gen Norden schmuggeln wollen. Was aus dem Kaufmann geworden war, wusste er nicht, denn kurz darauf bekam er andere Aufgaben zugewiesen.

Eine Windböe fegte am Ufer entlang, wirbelte Stofffetzen und welke Blätter auf. Federico zog seinen Mantel enger, ihn fröstelte. Kurz hinter der Biegung, die der Canale hinter der Rialtobrücke beschrieb, lag der Palazzo seines Freundes Massimo Barbarini. Ebenfalls ein imposantes Bauwerk, mit seinen Arkaden und fünf Stockwerken wohl eines der eindrucksvollsten, was aber nur von der gegenüberliegenden Seite des Canale richtig zur Geltung kam. Dieser Prachtbau war einer von mehreren der Familie Barbarini, die über die Stadt verstreut lagen. Anders als seine eigene Familie war das Geschlecht seines Freundes weitläufig und seit Generationen vermögend und einflussreich. Ein Großteil von Federicos Familie hingegen war der Pest zum Opfer gefallen, nur sein eigener Zweig der Manzonis hatte überlebt, war damals allerdings vollkommen verarmt. Federico dachte an seinen geliebten Großvater, der – immer einen Scherz auf den Lippen – das gesamte Familienvermögen verspekuliert hatte, wodurch die Familie in die Bedeutungslosigkeit gesunken war. Vermutlich hatte diese Schuld und nicht nur das Alter den Großvater kurz darauf ins Grab gebracht. Federicos Vater war ein Neuanfang gelungen, sein Bruder Carlo folgte ihm auf seinem Weg als Kaufmann, während die Serenissima Interesse an Federicos Fähigkeiten zeigte.

Damals betrachteten die Manzonis es als Ehre, dass Federico dem Staat dienen werde, man große Aufgaben für ihn vorsah ... Immerhin, seither verfügte die Familie über ein solides Auskommen, nannte seit Neustem einen Palazzo nahe der Kirche San Polo ihr Eigen und sein Bruder Carlo hatte Aussicht auf ein politisches Amt im Senat. Den hohen Preis dafür hatte, wie sich zeigen sollte, vor allem Federico zu zahlen.

Trotz oder gerade wegen ihrer unterschiedlichen Herkunft hatte seine Freundschaft mit Massimo alle Höhen und Tiefen überdauert. Deswegen sollte er als Erster von Federicos Entschluss erfahren. Obgleich Federico ihm gegenüber mehrfach Andeutungen gemacht hatte und der Freund klug genug war, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Nicht von ungefähr war er ein Teil des Spinnennetzes, das die ganze Stadt überspannte und jede Bewegung darin registrierte. Ohne Wissen und Gunst der Spinnen in diesem Netz konnte in Venedig – und nicht nur dort, sondern weit darüber hinaus – niemand leben. Umso besser, unter diesen Spinnen einen Freund zu wissen, er selbst war ja nur ein dünner Faden in ihrem Netz.

Federico mischte sich unter das Volk, das von der Rialtobrücke auf die Uferstraße drängte, bog in die Gasse ein, die seitlich am Fondaco entlangführte, und näherte sich dem Palazzo seines Freundes von der Rückseite.

In der schmalen Gasse roch es feucht, nach Moos und Pilzen. Die Februarsonne gelangte nicht in diese Häuserschlucht und der Wind erschien hier um einige Grade kälter.

Roberto, Massimos rechte Hand, öffnete die unscheinbare Hintertür, grüßte ihn erfreut und schickte ihn in die zweite Etage, in das Studiolo. Giovanna werde ihm sogleich Wein dorthin bringen und Messer Barbarini käme ebenfalls sofort, erklärte er mit einer seiner ausladenden Gesten, die auf Federico immer ein wenig gekünstelt wirkten.

Federico liebte das kleine Studierzimmer, in das Massimo sich gern allein oder mit engen Freunden zurückzog. Zwei gepolsterte Scherensessel und ein rundes Tischchen bildeten das bescheidene Mobiliar. An den Wänden zeigte sich der wahre Luxus, in dem die Barbarinis lebten. Große und kleine Gemälde hingen dicht an dicht, eines prächtiger als das andere. Massimo war ein großer Förderer der Kunst, vor allem des Nachwuchses.

Ah, das dort mussten seine Neuerwerbungen sein, Massimo hatte ihm von seiner Entdeckung vorgeschwärmt. Ein sehr junger Künstler mit großer Begabung, von dem er zwei kleine Bilder hatte kaufen wollen. Wie hieß der Junge noch? Giorgione oder so ähnlich. Er selbst liebte die Kunst, kannte sich aber nicht sonderlich damit aus. Entweder ein Bild gefiel ihm oder es gefiel ihm nicht. Er betrachtete eine der Neuanschaffungen und erkannte David, der seine Schleuder gegen Goliath erhob, gleich daneben hing eine Darstellung von Judith, in der Hand das Haupt des Holofernes. Wie passend für seine Situation. Er straffte die Schultern.

»Federico, mein Freund. Wie ich sehe, hast du meine neuen Schätze schon entdeckt! Sind sie nicht wundervoll?« Massimo trat neben ihn und betrachtete verzückt die kleinen Bilder, die aus der Nähe ein wenig unfertig auf Federico wirkten. Dennoch, sie gefielen ihm, vor allem von Farben schien dieser Giorgione etwas zu verstehen.

»Es sind Studien für ein Fresko, für das der junge Mann noch Auftraggeber sucht.« Massimo prophezeite dem Künstler gestenreich eine große Zukunft und war untröstlich, dass er in keinem seiner Palazzi eine freie Fläche zur Verfügung hatte.

Federico traute ihm durchaus zu, allein deswegen einen neuen zu bauen, wenn es ihm nicht augenblicklich an Bargeld mangelte. Seine Bauvorhaben hatten ein Vermögen verschlungen, hatte er Federico kürzlich geklagt, und die Geschäfte liefen auch nicht wie gewünscht. Bis zur Jahresmitte müsse er sich gewaltig einschränken, ungewohnt für seinen Freund.

»Aber was ist mit euch? Der neue Manzoni-Palazzo hat doch sicher noch ein freies Plätzchen für meinen lieben Giorgione?«

Federico lächelte und winkte ab. Sie konnten sich derlei erst recht nicht leisten, wie Massimo sehr wohl wusste.

»Was mich vor allem freut, bei dieser Anschaffung«, Massimo lächelte breit und rieb sich die Hände, »war der außerordentlich günstige Preis, zu dem ich ihm die Bildchen abschwatzen konnte. Du weißt ja, eigentlich ... Nun ja, es sind nur Entwürfe, aber dennoch haben sie mich verzaubert. Sie wirken so luftig, so lebendig, findest du nicht?« Massimo legte einen Arm um seine Schulter. »Ins Grab kann ich meinen Reichtum schließlich nicht mitnehmen, nicht wahr?«

Federico lächelte gequält, der Tod war ein Thema, das ihm heute nicht behagte.

»So, mein Lieber, lass uns erst einmal anstoßen, auf meine Neuerwerbungen und auf die Belebung der Geschäfte natürlich, die mir meine Spielereien erst ermöglichen. Salute!«

Der Wein funkelte rubinrot im Glas und rann die Kehle hinab wie Samt. »Schönes Kristall, wie geschaffen für diesen edlen Tropfen!« Sagte Federico das, um sein eigentliches Thema hinauszuzögern?

Massimo hielt den Pokal gegen das Licht und prüfte die Farbe. »Wie geht es Carlo, Laura und Mimmo?«

»Gut, danke.«

»Und deinem Luca?«

»Er macht Carlo und mir viel Freude.«

Massimo nickte zufrieden und stellte sein Glas auf dem runden Tischchen ab, das zwischen ihnen stand. »Also dann, was führt dich zu mir? Wie kann ich dir helfen?«

»Ich komme gerade aus dem Palazzo Ducale.«

»Du hast mit Pertuzzi gesprochen?«

»Nein, nur mit seinem Sekretär, wegen meiner kommenden Reise.« Federico räusperte sich und imitierte Livio Santinis Falsett: »Signore Giovanni Pertuzzi erwartet Euch Ende nächsten Monats zu der üblichen Besprechung.«

Massimo lächelte, wurde aber schnell wieder ernst. »Was ist los, mein Freund? Ich sehe dir doch an, dass dir etwas auf dem Herzen liegt.«

Federico trank einen Schluck. »Du ahnst es doch längst. Nach zwanzig Jahren im Dienst der Republik möchte ich mich zur Ruhe setzen. Lange genug habe ich für Venedig mein Bestes gegeben, den Reichtum der Stadt vermehrt, ihre Macht gefestigt. Ich denke, das genügt.«

Massimo nickte und lehnte sich zurück. »Nicht, dass mich das überrascht. Und nicht, dass ich dich nicht verstehen würde, Federico. Ich verstehe dich sogar sehr gut, wir werden schließlich alle nicht jünger. Und diese Reisen in den Norden ... mir graut es, wenn ich allein daran denke.« Massimo strich sich über das Kinn. »Was erwartest du von mir? Wie du weißt, bin ich nicht derjenige, der dich aus den Diensten Venedigs entlassen kann. Zudem bist du nun einmal der beste Prospektor, den wir je hatten, die Stadt kann nicht auf dich verzichten. Deine Nachrichten und vor allem das Mangan und Kobalt, das du jedes Jahr bringst, sind von bester Qualität und sichern unsere Macht und unseren Wohlstand. Der Reichtum Venedigs beruht nicht zuletzt auf den florierenden Glashütten Muranos und die benötigen diese Erze. Außerdem kennst du den Norden und bist unser einziger Kundschafter in dem Gebiet, das politisch von großer Bedeutung ist, aber das weißt du selbst.«

»Du übertreibst. Seit Jahren habe ich nichts von Wert erfahren. Und du stellst dein Licht unter den Scheffel. Sehr wohl hast du Einfluss auf die Entscheidungen des Rates der Zehn, du kannst ihn überzeugen. Und was das Erz betrifft, so kann Luca meine Arbeit als Prospektor übernehmen. Er weiß alles, was ich weiß, er ist jung und sehr begabt für Mineralien. Er ist ein kluger Kopf, kennt die Region naturgemäß und hat Fähigkeiten, die schon jetzt die meinen weit übertreffen, allein was kaufmännische Belange angeht; und es zeichnet sich ab, dass die immer wichtiger werden.«

»Hm, Luca«, murmelte Massimo.

»Ja, Luca ist nicht nur ein ausgezeichneter Nachfolger, er ist überdies absolut integer. Er wäre eine gute Wahl und ich würde ihn natürlich nach Kräften unterstützen.«

»Ich glaube dir unbesehen, dass er all die Qualitäten besitzt. Vielleicht wäre es tatsächlich eine gute Lösung ...«

»Unbedingt!«, bekräftigte Federico, der nicht auf eine so wohlwollende Entgegnung gehofft hatte. »Und wenn du dich für ihn einsetzt, dann muss der Rat der Zehn mich doch in Ehren entlassen. Ich kann also auf dich zählen?« Federico atmete auf, ihm schien eine Last von den Schultern gefallen zu sein.

»Du kannst immer darauf zählen, dass ich mich für dich einsetze, so ich nur kann. Aber hinsichtlich meiner Möglichkeiten irrst du dich in diesem Fall gewaltig, lieber Freund. Die Zeiten haben sich geändert.«

»Wie meinst du das?« Federicos Last war ihm ebenso schnell wieder aufgebürdet, wie er sie abgeworfen glaubte.

Massimo schnaubte. »Als wüsstest du das nicht. Ich sage nur: Pertuzzi! Er ...«

»... wird meinem Wunsch nicht zustimmen«, ergänzte Federico schärfer als beabsichtigt.

Massimo deutete ein Nicken an. »Es ist ein denkbar schlechter Zeitpunkt, Federico. Warte noch ein Jahr oder zwei, bis jemand anderes den Vorsitz übernimmt oder Pertuzzi die Altersmilde überkommt.«

Federico presste die Lippen aufeinander. Also war es entschieden.

Massimo hob die Hände. »Selbst wenn ich für dich spreche, selbst wenn ich alle anderen überzeugen kann – und dessen bin ich mir sicher –, wegen Pertuzzi werden wir in dieser Sache nicht die erforderliche Einstimmigkeit erreichen.«

»Und wenn ich dafür sorge, dass Pertuzzi zustimmen muss?«

»Wie willst du das anstellen?«

Federico stand auf, ging auf und ab und blieb schließlich vor dem großen Madonnenbild neben der Tür stehen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. »Du weißt doch auch, dass er ein Betrüger ist.«

Massimo sah auf und drohte ihm mit dem Zeigefinger. »Oh, das weiß niemand mit Bestimmtheit. Du, ich, wir beide vermuten es, aber zumindest ich konnte bislang nichts finden, das ihn belastet.«

»Und wenn ich es könnte?« Was sagte er da? Ein Mitglied des Rates auszukundschaften, grenzte an Hochverrat.

»Das wäre ... Nun, ich sehe, du weißt es.« Sein Freund fasste ihn ins Auge, trank einen Schluck und stellte das Glas sacht wieder ab. »Jetzt schau mich nicht so an! Und setz dich wieder hin, ich bekomme einen steifen Hals, wenn ich so zu dir aufsehen muss. Federico, ich mache mir Sorgen um dich! Pertuzzi ist ein unberechenbarer Gegner, ein gefährlicher Gegner. Außerdem solltest du Folgendes bedenken: Falls Pertuzzi als Kaufmann ein Betrüger ist, wird er auch sein Amt skrupellos ausüben. Und du solltest bei deinen Überlegungen einbeziehen, dass er dort viel größere Möglichkeiten hat, dir und deiner Familie zu schaden.«

Das hatte sich auch Federico bereits gedacht. Doch er traute sich zu, es mit Pertuzzi aufzunehmen, wusste er Massimo hinter sich. »Für mich ist nur eines von Bedeutung: Kann ich auf dich vertrauen?«

»Natürlich.« Massimo zögerte. »Ja, natürlich werde ich versuchen, die Stimmung für dich günstig zu beeinflussen – aber nur, wenn du mir schwörst, nichts zu unternehmen. Es wäre für dein Vorhaben nicht nur hinderlich, sondern sogar gefährlich, glaube mir.«

Nicht nur für ihn selbst, auch für Massimo, also nickte Federico, wenngleich widerstrebend. »Ich verspreche es dir.«

»Gut. Ich denke, wenn alle im Rat der Zehn Druck auf Pertuzzi ausüben, muss er schon sehr überzeugende Gründe vorbringen, will er sich gegen uns durchsetzen. Das hoffe ich jedenfalls. Und ich hoffe ebenso, dass mein Wirken dir nicht mehr schadet als nützt. Bei Pertuzzi kann man nie wissen, der zieht an Fäden, von deren Existenz wir gar nichts wissen. Außerdem werde ich meine Nachforschungen über ihn verstärken, diskret.«

»Danke, mein Freund.«

»Mehr kann ich derzeit wirklich nicht für dich tun.«

Warum war Federico jetzt enttäuscht? Hatte er sich den Verlauf des Gesprächs nicht genauso vorgestellt? Wenn er ehrlich war, bot sein Freund mehr an, als er gehofft hatte. Tja, Pertuzzi – seit letztem Jahr war er zwar sein Dienstherr, doch hatte er bis jetzt noch nicht viel mit ihm zu tun gehabt. Seltsam, dass Carlo nicht erwähnt hatte, in welchem Maße Pertuzzis Einfluss in der kurzen Zeit offenbar gewachsen war, denn der Kaufmann war oft genug Gesprächsthema bei ihnen. Seit sie ihn kannten – nunmehr rund zwanzig Jahre –, war Pertuzzi ihnen nicht wohlgesinnt. War es der Neid gegenüber Aufsteigern? Konkurrenten im Geschäft? Damals hätte niemand an den neuerlichen Aufstieg der Manzonis in die bessere Gesellschaft geglaubt. Andererseits war es kaum vorstellbar, dass er ihnen noch immer den Erfolg ihres geschäftstüchtigen Vaters verübelte, der den Pertuzzis ein paar rentable Geschäfte abgejagt hatte, die den neuerlichen Wohlstand der Familie Manzoni begründeten. Oder missgönnte Pertuzzi insbesondere Federico seinen guten Namen und sein Ansehen im Rat der Zehn? Tatsache war jedenfalls, dass Pertuzzi sich stetig in den Ämtern der Stadt emporarbeitete und den Manzoni-Brüdern seit Anbeginn ihrer Bekanntschaft Steine in den Weg legte, wo er nur konnte. Zweifellos würde Pertuzzi die Macht seiner kürzlich erlangten Position erst recht dazu nutzen, dem Hause Manzoni zu schaden. Aber bei Lichte betrachtet, legte Pertuzzi eigentlich jedem gegenüber Missgunst an den Tag, vielleicht entsprach das einfach seiner Natur.

Federico trank seinen Wein aus, versprach Massimo, in den nächsten Tagen zu einer Partie Schach vorbeizukommen und verabschiedete sich.

Die Sonne war ein gutes Stück tiefer gesunken, als er den Rückweg antrat, der Wind hatte weiter aufgefrischt. Dick vermummte Fußgänger kamen ihm in der Gasse entgegen, duckten sich unter der Kälte und eilten an Federico vorbei. Einer grüßte ihn, er erkannte ihn nicht.

Etwas streifte sein Bein, Federico sprang zur Seite und hob die Fäuste zur Abwehr, doch es war nur eine Katze, die in eine Seitengasse huschte und in einem Hauseingang verschwand. Über ihm kreischten ein paar Möwen.

Serenissima, du Prächtige! Federico lachte lautlos.

Kapitel 2ANNA

Harz, Elbingerode, Anfang März

Anna schauderte, die Wärme des gusseisernen Ofens gelangte nicht bis nach oben in ihr Schlafgemach. Aber es war nicht allein die Kälte, die sie tiefer in das Federbett kriechen ließ. Fünf Monate war Paul nun fort ... Manchmal glaubte sie fast, dass ihn wirklich der Wilde Mönch geholt hatte, wie der Kerl von der Köhlerhütte neulich behauptet hatte. Was für einen Unsinn die Leute redeten, wenn sie über Monate einsam im Wald lebten. Der Wilde Mönch, der die bösen Kinder holte ...

Sie schüttelte den Kopf, die Daunen im Kissen raschelten leise. Nein, sie sollte sich damit abfinden, dass Paul sie verlassen hatte. Sie drehte sich um, zog einen Zipfel der Decke unter das Kinn. Paul, der Freund aus Kindertagen, immer war er für sie da gewesen. Als sie ihn brauchte, hatte er sie gegen den Willen seines Vaters geheiratet. Wo steckte er nur?

Das Licht des vollen Mondes fiel durch die Ritzen der Fensterläden. Anna starrte zur Decke. Eine Spinne schien über ihr zu schweben, sank an ihrem seidigen Faden herunter, hielt inne, schaukelte in einem Luftzug. Es musste ihm etwas zugestoßen sein. Ein Unfall ... eine Gewalttat ... Längst gab es Gerüchte. Neulich in der Kirche hatte sie die Blicke der Leute im Rücken gespürt, fragend, vorwurfsvoll. Nein, er hätte sie nie verlassen, trotz allem nicht. Nicht ohne ein Wort.

Wenn nur Federico endlich käme! Er musste etwas wissen, er war mit Paul zusammen gewesen, kurz bevor der verschwand.

»Federico ...« Leise flüsterte sie den Namen und das Bild des Venedigers stieg in ihr auf. Ein wenig kleiner war er als Paul, schmaler, dennoch kräftig; funkelnde, bernsteinfarbene Augen, ein energisches Kinn mit einer kleinen Kerbe. Nur an seinen dichten und noch immer schwarzen Locken verriet sich der Südländer, diese Locken, die immer ein wenig nach Thymian rochen ... Er war ganz das Gegenteil zu dem großen, kräftigen Paul.

Als Fremder wurde Federico im Harz noch immer mit Misstrauen betrachtet, obwohl er sich hier Friedrich nannte und schon seit so vielen Jahren zu ihnen kam. Die Leute nannten ihn Venediger, brachten Geschichten über ihn in Umlauf, eine abenteuerlicher als die andere. Die Harzer verstanden nicht, was der Mann aus dem fernen Italien bei ihnen suchte. Sie hielten ihn für einen Magier, der es verstand, Gold aufzuspüren, der in die Berge schauen konnte, der wusste, wo Schätze schlummerten. So einer war mit dem Teufel im Bunde, schreckte auch vor Mord nicht zurück ...

Anna schloss die Augen und sah ihn vor sich, Kinn und Wangen von einem kurzen Bart überschattet, den er sich hier immer wachsen ließ und der ihm etwas Verwegenes gab. Seine leicht geschwungene Nase, die sich kräuselte, wenn er lachte, das Muttermal unter dem Auge, das Lächeln seiner fein geschwungenen Lippen, und diese Augen, in denen goldene Sprenkel glimmten, wenn er sie ansah ... Wie immer bei diesen Bildern flatterte in ihrem Inneren eine Taube auf, kitzelte sie mit ihren Flügelspitzen. Heilige Mutter Maria, was hatte sie wieder für Gedanken?

Sie riss die Augen wieder auf. Schon war es hell geworden, längst Zeit, aufzustehen. Herr Jesus, so viel gab es zu tun und sie lag im Bett und träumte. Sündige Träume noch dazu! »Muttergottes, bitte für uns!«, betete sie inbrünstig und verscheuchte das Bild des Venedigers.

»Du bist spät«, sagte Berta und streute getrockneten Thymian in den Haferbrei.

Ausgerechnet Thymian! Anna stopfte hastig ihr Haar unter die Haube und warf die Zipfel über die Schultern zurück. »Ich habe schlecht geschlafen.«

Die Magd zog einen Lappen hervor – irgendeinen Stofffetzen hatte sie sich immer unter ihren Gürtel geklemmt – und wischte damit über den Tisch. »Plagten dich wieder üble Träume?«

Nein, die Träume, die Berta meinte, waren diesmal nicht der Grund gewesen. Anna wandte sich ab, sie spürte, wie sich unter dem durchdringenden Blick aus Bertas hellgrauen Augen ihre Wangen röteten, das musste die Magd nicht sehen. Sie setzte sich und aß von dem Brot, das Berta ihr fürsorglich hingestellt hatte.

»Es ist eine harte Zeit für dich.« Die alte Magd nickte schwer, dann drehte sie sich zu Anna um, ihre spitze Nase zuckte. »Hast du Lukas geschrieben?«

Anna schüttelte den Kopf. Bei all den Gedanken, die ihr vorhin durch den Kopf gegangen waren, hatte kein einziger ihrem Sohn gegolten. Sie war lieblos und ungerecht, das wusste sie. Und deswegen quälte sie stets ein schlechtes Gewissen, der Junge konnte schließlich nichts dafür. Er war hübsch, liebenswert, klug, von einnehmendem Wesen, so hatte Federico ihn immer beschrieben und bestimmt hatte er recht damit. Sie war einfach nur froh gewesen, als er ihn mit sich genommen hatte. Froh, erleichtert und tieftraurig zugleich.

Berta schöpfte Brei in eine Schale, die sie Anna reichte. Er roch köstlich, denn Berta würzte ihn mit getrockneten Kräutern, die Federico ihnen immer mitbrachte. Ihre Küche war berühmt, manche Leute kamen allein wegen des guten Essens zu ihnen ins Wirtshaus und wegen des würzigen Bieres, das sie selber brauten.

»Du musst Lukas endlich schreiben.« Bertas beträchtlicher Leibesumfang geriet in Wallung.

»Ja, natürlich.« Aber nicht heute.

»Anna?«

»Hm.«

»Ist der Venediger Lukas’ Vater?«

Anna schreckte hoch und starrte Berta an. »Was?«

Die Magd lächelte. »Nun, wenn ich mich nicht täusche, war er gerade zur fraglichen Zeit hier. Er war doch schon mit deinem Vater gut bekannt und da dachte ich ... Hat Paul es vielleicht herausgefunden und ist deshalb weg?«

Anna schwieg, rührte mit dem Löffel in der schleimigen Masse. Wenn selbst Berta einen Zusammenhang zwischen dem Venediger und Lukas herstellte, dann würden andere das auch. Nicht auszudenken. Heute schmeckte die Grütze bitter, Anna schob die Schale von sich.

»War er deswegen in letzter Zeit so aufbrausend?«

»Nein!« Anna versuchte, ihrer Stimme einen festen Klang zu verleihen.

»Paul hegte keinen Verdacht? Bist du sicher?«

»Federico ist nicht der Vater von Lukas. Paul ist sein Vater.«

»Ist ja gut, ich dachte nur, weil sie sich so ähnlich sehen.«

»Wie bitte?«

Berta nickte und widmete sich den Linsen, die sie vor sich ausgeschüttet hatte, um die Steinchen auszulesen. »Ja, die Locken, der Schnitt des Gesichts, der schlanke Wuchs, sofern man das bei einem Zehnjährigen schon beurteilen kann ... Gott, so lange habe ich den Jungen nicht mehr gesehen. Bestimmt ist die Ähnlichkeit mittlerweile noch größer, jetzt, wo er fast zwanzig ist.«

Anna erschrak. Es stimmte, zwanzig Jahre war ihr Sohn jetzt alt, so wie er damals ...

Lukas – alle hatten gesagt, er ähnele ihr, mit seinen runden, staunenden Augen, den braunen Locken ... Sie erinnerte sich nur an einen Jungen, der mit ernstem Gesicht den Worten des Venedigers lauschte, ihn mit Fragen plagte und oft genug mit ihm durch die Gegend streifte. Immer hatte er etwas für sie mitgebracht, einen schön gemusterten Kiesel, eine seltene Blume.

Irgendwo musste noch dieser golden glänzende Stein sein, den Lukas ihr geschenkt hatte, in jenem Herbst, in dem Federico ihn schließlich mit nach Venedig genommen hatte. Wo war dieser Stein nur geblieben? Nie hatte sie ihn besonders beachtet. Ihr Blick schweifte über das Bord an der Wand, zur Anrichte, zu den Regalen auf der anderen Seite.

Da war er. Sie nahm ihn vom Bord, wog ihn in der Hand. Schwer war er, fast wie richtiges Gold. Lukas hatte damals kein Wort herausgebracht, gekeucht hatte er, war den ganzen Weg zurückgerannt. Sie lächelte bei der Erinnerung.

»Warum war Paul dann so gereizt?« Berta ließ nicht locker.

»Ich denke, es machte ihm zusehends zu schaffen, dass wir auf die Zuwendungen des Venedigers angewiesen waren.«

Berta sah von ihren Linsen auf. »Meinst du?«

Anna nickte. »Er hat es angedeutet. Zuletzt immer häufiger. Er schien darunter zu leiden, dass er als einfacher Köhlergehilfe das Geld für das Lehen niemals aus eigener Kraft hätte aufbringen können. Meinetwegen hat seine Familie ihn enterbt und er nahm das Elend in Kauf. Schließlich hätte er ein ebenso angesehener Zimmermann werden können wie sein Vater.«

»Ach, sein Vater wollte eure Heirat nicht?«, Berta hatte die Hände vor sich gefaltet. Ein ungewohntes Bild der üblicherweise stets beschäftigten Magd.

»Wusstest du das nicht?« Anna hätte schwören können, dass Berta über all das bestens unterrichtet war, sie hatte viele Freunde in Elbingerode und in Wernigerode, wo Paul herkam. Berta schüttelte den Kopf. »Als ich zu euch kam, wart ihr längst verheiratet und Paul sagte, seine Eltern seien gestorben.«

Ja, Paul hatte diese Geschichte erzählt, um unliebsamen Fragen auszuweichen. Tatsächlich wussten sie erst seit dem letzten Jahr, dass seine Eltern an einer Seuche gestorben waren und sein jüngerer Bruder das Erbe innerhalb kürzester Zeit durchgebracht hatte. Er hätte sich deswegen einer Söldnertruppe angeschlossen, hieß es.

»Paul muss dich sehr geliebt haben, wenn er alles für dich aufgab«, sagte Berta mit heiserer Stimme.

»Ja, das hat er.« Anna wurde bewusst, dass sie von Paul wie von einem Toten sprachen.

Berta riss sie aus den Gedanken. »Und dann? In Wernigerode konntet ihr also nicht bleiben.«

»Nein. Wir sind zu meinem Vater gezogen, meine Mutter war ja auch längst tot und Vater war glücklich, Gesellschaft zu haben. Vor allem aber war er glücklich über Pauls Tatkraft und Fleiß. Die schwere Arbeit als Köhler fiel meinem alten Vater zusehends schwerer.«

»Jetzt kommt der Venediger ins Spiel?«, fragte Berta.

»Federico hatte meinen Vater kennengelernt, kurz bevor ich Paul heiratete. Vater kannte den ganzen Oberharz so gut wie den Inhalt seiner Kleidertruhe, konnte Federico viele nützliche Hinweise geben. Sie haben sich von Anfang an gemocht, glaube ich. Paul und ich waren schon über ein Jahr verheiratet, als sich die Gelegenheit bot, das Lehen für das Gasthaus Zum Bären zu bekommen. Der vorige Wirt war ja an der Pest gestorben und niemand wollte das Seuchenhaus übernehmen. So stand es längere Zeit leer. Als Federico davon erfuhr, riet er uns, dem Grafen zusätzlich zu den Abgaben eine gewisse Summe Geldes anzubieten, und schlug vor, den Betrag vorzustrecken. Paul zögerte zuerst, aber mein Vater war gerade gestorben, und Paul hatte nichts als die trübe Aussicht, bis an sein Lebensende als Köhler zu arbeiten.«

Sie waren zunächst zum zuständigen Hauptmann nach Wernigerode gegangen. Der hatte sie angehört und sich schließlich für sie beim Grafen verwendet. Und so waren sie zu ihm nach Stolberg gereist. Anna war das Treffen mit dem Grafen noch gegenwärtig. Ein wenig war sie von ihm enttäuscht gewesen. Aus der Ferne hatte er immer so imposant gewirkt, stattlich, mächtig, ein wahrer Herrscher, aus der Nähe war er nur ein älterer Mann, dem die Jahre auf dem Pferderücken sichtlich zugesetzt hatten. Ihre Begegnung hatte nicht länger als zehn Paternoster gedauert und schon war er wieder fort gewesen. Paul hatte erst seine Hände in die des Grafen gelegt, wie es Brauch war, und anschließend das bedeutend aussehende Pergament entgegengenommen, das ein Gasthaus samt Brauerlaubnis verhieß und damit ein Leben, eine Zukunft. Ein Augenblick, der Glück verheißen hätte, wäre da nicht Federico gewesen, dem sie das alles zu verdanken hatten. Er hatte ihnen das Geld gegeben, aus Zuneigung zu ihrem Vater, so hatte er seine Hilfe damals begründet.

Sie wusste es besser.

Berta räusperte sich in ihre Gedanken hinein. »Lukas muss da ein gutes Jahr alt gewesen sein. Wenn ich mich nicht irre, kam er ja recht bald nach eurer Hochzeit auf die Welt ...«

Anna zog die Breischüssel wieder zu sich heran und stocherte mit dem Löffel darin herum. »Lukas kam zu früh.«

»Hm.« Berta nickte vor sich hin.

Die Magd würde nachfragen und Anna überlegte, was sie ihr antworten sollte.

Berta legte ihre Hand auf Annas. »Paul trug Verantwortung, natürlich nahm er Federicos Geld.«

»Ja.« Anna schwieg ein paar Atemzüge lang und dachte mit aufkeimendem Unbehagen an damals. »Wir schulden Federico viel. Und er entlohnte uns weiterhin für die Unterkunft, für Rat und Hilfe, die ihm zuerst mein Vater, später auch Paul zukommen ließen.«

»Und für Lukas ...«, fügte Berta hinzu.

Anna zog ihre Hand unter Bertas weg. »Was soll das heißen?« In ihr brodelte es. »Lukas hat alles, was er braucht, ihm geht es gut in Italien. In Venedig kann er es weit bringen, dort steht ihm eine Welt offen, von der er hier nicht einmal hätte träumen können.«

»Meinst du nicht, es fehlt ihm dennoch etwas? Die Liebe einer Mutter womöglich?«, fragte Berta leise.

Anna unterdrückte die Tränen, die ihr in die Augen stiegen. »Was weißt du schon von der Liebe einer Mutter? Du hast keine Kinder.«

Ein vermummter Mann trat in die Gaststube. Als er seinen Mantel ablegte, erstarben die Gespräche, unbehagliches Schweigen machte sich breit. Der Neuankömmling grüßte in die Runde und setzte sich. Die Gäste am Nachbartisch warfen hastig ein paar Münzen auf den Tisch und verabschiedeten sich. Hans Wedige war nicht sonderlich beliebt. Mit seiner vorgewölbten Brust wirkte er aufgeblasen, mit schief gelegtem Kopf schien er einen jeden misstrauisch zu begutachten. Beides war zwar nur seinem verwachsenen Rücken geschuldet, entsprach aber durchaus seinem Charakter. Seine langen dünnen Haare ließen ihn älter wirken, als er war, überdies war sich Anna sicher, dass er sie mit Walnusssud und Zwiebelschalen färbte, so gescheckt wie sie aussahen. Zwischen den Strähnen ragten seine Ohren heraus, wie Vogelnetze ausgespannt, fingen sie jeden noch so unbedeutenden Gesprächsfetzen auf.

Hans Wedige sah sich um, niemand erwiderte sein Lächeln. Ein jeder wusste, dass er, der Bote des Grafen, jedes Wort aufsog wie ein Schwamm und wenn möglich zu seinem Vorteil wendete.

Die alte Ida schnalzte abfällig mit der Zunge, als sie ihn erkannte, wandte sich wieder Anna zu und fuhr in ihrer Rede fort. Die Witwe vom Schneider saß wie immer am Ofen und schüttete Anna ihr Herz aus. Nach zwölf Geburten nur noch zwei lebende Kinder, der Sohn in Diensten des Grafen von Schwarzburg, die Tochter in Quedlinburg verheiratet, einzig ein Bruder lebte noch in Schierke. Ida war einsam, alt und krank, das Reißen in den Gliedern, jeder Schritt eine Qual, die Zähne mürbe. Dennoch wusste sie viel, hatte einen klaren Blick auf Land und Leute.

»Du bist die Einzige, die sich das Gackern von einem alten Huhn wie mir noch anhört«, zischte sie und bleckte die Eckzähne für ein Lächeln. »Und weißt du was? Ich glaube, du hörst mir sogar gern zu.« Sie kicherte und tätschelte Anna die Hand.

Ja, es stimmte. Und darum wusste Anna inzwischen so viel, nicht nur über die alte Ida, sondern auch über fast jeden Bewohner dieses Fleckens, der an der befahrenen Hauptstraße, einen kurzen Fußmarsch von dem nahe gelegenen Elbingerode entfernt, um ihr Gasthaus herum entstanden war. Ida kam regelmäßig, saß dann in einer Ecke und freute sich über den Wein, den Anna ihr hin und wieder spendierte, und die Aufmerksamkeit, die sie der Alten schenkte, wenn sie die Zeit dafür fand. Dann erzählte Ida den jüngsten Klatsch über den Schmied, den Bäcker, den Stellmacher.

Es waren solche Abende, die ein wenig Licht in ihren trüben Alltag brachten, versicherte Ida oft. Vielleicht spürte die Alte, dass Anna ihr wirklich zuhörte. Jeder spüre das, hatte ihr Berta versichert und gesagt, dass so mancher Gast nicht wegen des Essens käme, sondern um bei ihr sein Herz zu erleichtern. Und da die Leute gut für Essen und Trinken zahlten, nahm Berta die zusätzliche Arbeit gern in Kauf, wenn Anna wieder von einem Gast aufgehalten wurde.

Anna konnte sich nicht erklären, warum ihr manche Leute schon bei ihrer ersten Begegnung Familiengeheimnisse offenbarten. Das war ihr selbst unheimlich, wenn sie darüber nachdachte, und manche Geheimnisse wollte sie auch gar nicht wissen. Dennoch konnte sie nicht anders, als allen ihr Ohr und ihre Anteilnahme zu schenken, und hin und wieder auch einen Rat.

Es war schon seltsam: Warum sah sie, die sich selbst so wenig verstand, bei anderen so viel klarer?

Heute jedoch mochte sie nichts hören, so schwer war ihr ums Herz. Sie strich Ida liebevoll über die Schulter und zog sich hinter den Ausschank zurück.

Ein Mann betrat die Gaststube. »Was für ein Wetter, und das im März.«

»Gott zum Gruße, Thomas«, rief ihm Anna zu, die ihn erst auf den zweiten Blick erkannte, so vermummt hatte sich der fahrende Händler. Er kehrte auf seinen Wegen regelmäßig in ihrem Gasthof ein.

»Eine Wohltat, endlich im Warmen zu sein. Verfluchte Kälte draußen. Man könnte meinen, es herrschte ewig Winter.« Thomas hielt seine Hände vor den Ofen.

»Was möchtest du trinken?«

»Heißer Most, wenn es nicht zu viel Mühe macht, wäre mir eine Wohltat. Und eine Kleinigkeit zu essen würde ich auch nicht abschlagen.«

Als Anna den heißen Holundermost brachte, saß Thomas bereits mit ein paar anderen Gästen zusammen. Die Füße vor dem Ofen ausgestreckt, genoss er die Fragen nach dem Woher und Wohin. Als fahrender Händler kam er viel herum, erfuhr so dies und das. Gerade im nachrichtenarmen Winter lechzten die Leute nach Neuigkeiten.

Thomas unterbrach sein Gespräch, als Anna wenig später das Holzbrett mit Brot, Schinken, Würsten und Gurkenschnitzen vor ihm abstellte. »Wenn dies eine Kleinigkeit ist, dann wäre ich gern Gast bei deinem nächsten Festmahl!« Mit seinem Messer schnitt er sich ein Stück Schinken ab und stopfte es in den Mund. »Hm, der zergeht auf der Zunge«, nuschelte er kauend.

»Ja, nicht wahr? Der Schinken kommt aus Nordhausen.«

»Nordhausen? Tatsächlich?« Der Mann schluckte. »Daher komme ich gerade. Allerdings bekam ich in dem dortigen Gasthaus kein auch nur annähernd so schmackhaftes Essen.« Er säbelte sich ein weiteres Stück ab. »Ja, ein Segen, dass die Streitigkeiten zwischen dem Stadtrat und dem Grafen beigelegt sind. Es ist eine Schmach, wie die Herrschaften miteinander umgehen. Raubritter allenthalben, da nehme ich die feinen Städter nicht aus«, polterte der Händler.

Anna nickte höflich. Nordhausen war eine Tagesreise entfernt, zumindest bei gutem Wetter, sie war erst einmal dort gewesen. Von den Zänkereien zwischen dem Stolberger Grafen und der Stadt hatte sie nur gehört, weil auch im Gasthaus die Gespräche gelegentlich darum kreisten.

Hans Wedige am Nachbartisch horchte auf. Die ganze Zeit hatte er schweigend vor seinem Becher gesessen, sich hin und wieder das Haar zurückgestrichen. Doch seine Augen huschten emsig von einem zum anderen, nichts schien ihnen zu entgehen.

Anna sollte sich eigentlich freuen, als gräflicher Bote kam Hans Wedige viel herum und kehrte stets bei ihr ein, wenn er in der Gegend war. Nie gab er Grund zu Klagen und seine Zeche bezahlte er reichlich. Allerdings wusste Anna sehr wohl, dass er ebenfalls Anwärter auf ihren Gasthof gewesen war, und empfand seine Besuche oft als eine Art Drohung. Paul hatte darüber gelacht.

»Die Nordhäuser und der Graf haben ihren Streit schon seit Jahren beigelegt«, ließ er nun mit seiner hohen Stimme vernehmen. »Sie halfen dem Grafen sogar kürzlich erst mit einem Turnierpferd aus.«

»Aber gerade gab es doch diesen Zwischenfall«, unterbrach ihn eine Frau, die mit ihrem Mann in Annas Herberge für eine Nacht Obdach gesucht hatte. »Sie haben einen Herumtreiber aufgegriffen, hieß es. Und? Haben sie ihn in ihr Verlies geworfen?«, fragte sie an den Händler Thomas gewandt, ihre Stimme bebte vor wohligem Schaudern.

»Ja, das haben sie.«

Anna stand am Nebentisch und hörte den letzten Teil des Gesprächs. Sie trat näher. »Die Nordhäuser haben einen Gefangenen gemacht? Weißt du etwas über den Mann?« Sie konnte das Zittern in ihrer Stimme nicht verhindern. Ihre Hände krampften sich um das Tuch, mit dem sie eben eine Weinpfütze aufgewischt hatte.

Der Händler wiegte den Kopf. »Nicht viel. Es heißt, er habe sich vor der Stadt herumgetrieben. Zur Sicherheit haben die Nordhäuser ein paar ihrer Ritter losgeschickt, ihn aufzulesen. Das Letzte, was ich hörte, war, dass sie ihn eingesperrt haben.« Er trank einen Schluck. »Unsichere Zeiten sind das. Allerdings ist es schon verwunderlich, dass die Nordhäuser mit dem Mann nicht lange gefackelt haben. Aber falls er ein Stolberger ist, weiß der Graf sicher schon Bescheid und wird ihn auslösen.« Der Händler lächelte wohlwollend und biss in das letzte Würstchen.

War der Gefangene ihr Paul? Hatte die quälende Ungewissheit ein Ende? Anna wrang das Tuch zwischen den Händen. »Weiß man, wie der Mann heißt?«

Der Händler schüttelte den Kopf.

Sie brauchte gar nicht lange zu überlegen, ihr Entschluss stand fest: Sie würde nach Nordhausen fahren.

Berta schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als Anna es ihr in der Küche erzählte. »Du bist verrückt, Anna. Denk an deinen Ruf! Dann dieser weite Weg, allein womöglich, bei der Kälte! Es wird wieder schneien, ich spüre es in den Knochen. Du wirst verunglücken, überfallen, was weiß ich ... Raubritter streunen durch die Gegend, Wölfe sind gesehen worden, Bären ...« Berta schüttelte den Kopf. »Wenn es Paul ist, wirst du früh genug davon erfahren. Ach, du wüsstest es doch längst. Sicher hat sich der Graf bereits des Mannes angenommen.«

Und wenn, Anna wollte nicht warten, bis es dem Grafen einfiel, ihr jemanden zu schicken. Hatte nicht der Herr es gefügt, dass die Nachricht von diesem Gefangenen sie erreichte? Sie musste mit eigenen Augen sehen, ob es Paul war oder nicht. »Ich werde fahren.«

Sie brauchte Gewissheit und würde nicht ruhen, ihn zu finden, das war sie ihm schuldig. Selbst wenn sie begreifen musste, dass er sie verlassen hatte.

Berta schüttelte den Kopf. »Und im Falle, dir stößt etwas zu? Was wird dann aus Lukas?«

»Das wird nicht geschehen. Außerdem ist der Junge alt genug, er wird damit zurechtkommen.«

Berta winkte ab und ging wortlos hinaus.

Kapitel 3LUCA

Venedig, Anfang März

Zwanzig Dukaten fehlten. Luca zählte das Geld in der Schatulle noch einmal. Ja, es war zu wenig. Er knallte den Deckel der Lade zu. Mimmo! Kein Zweifel, dass Carlos Sohn sich schon wieder aus den Einnahmen bedient hatte. Und natürlich würde er ihn, Luca, des Diebstahls bezichtigen. Onkel Carlo hatte Luca beim letzten Mal unter vier Augen versichert, dass er sehr wohl wisse, wer der Schuldige sei. Mimmo betrachte Luca als lästigen Nebenbuhler, als Konkurrenten, und Onkel Carlo hatte versprochen, auf seinen Sohn einzuwirken. Nun, Carlos Bemühungen fruchteten offenkundig nicht.

Luca ging in seine Kammer, die er abschloss, seit er Mimmo einmal dabei erwischt hatte, wie er in seinen Sachen wühlte. Da waren die Pferde mit ihm durchgegangen und er hatte sich mit Mimmo geprügelt. Viel schmerzhafter als die Schläge, die er von Mimmo hatte einstecken müssen, war die Enttäuschung Federicos gewesen, der natürlich davon erfuhr. Der väterliche Freund hatte so viel Zeit darauf verwendet, Luca zu Besonnenheit und Milde anzuhalten. Auf die Macht des Verstandes und der Worte zu setzen, statt auf die der Fäuste. Noch immer schmerzte Luca sein Versagen, wenn er daran dachte, nie wieder wollte er sich derart gehen lassen.

Luca zog ein Kästchen unter dem Bett hervor und öffnete es. Darin befanden sich genau einhundertsechsundachtzig Dukaten. Sein ganzer Besitz, ein Vermögen, angespart in den vergangenen zehn Jahren. Er zählte zwanzig Dukaten ab und verstaute das Kästchen wieder unter dem Bett. Sorgfältig verschloss er die Tür und kehrte zurück in Carlos Arbeitszimmer, um den Fehlbetrag auszugleichen.

Bevor Onkel Carlo zurückkehrte, musste Luca noch die Korrespondenz und anstehende Rechnungen erledigen – deswegen war ihm die Unstimmigkeit in der Kasse überhaupt aufgefallen. Auch Mimmo war heute Vormittag unterwegs. Carlo hatte ihm aufgetragen, sich im Hafenamt nach der nächsten Muda zu erkundigen. Die Stimmung im Hause war merklich gelöster, wenn Mimmo nicht anwesend war.

Wo war die vermaledeite Quittung, die er heraussuchen sollte? Er blätterte durch einen Stapel Unterlagen, sie war nicht darunter. Die Tür öffnete sich und ausgerechnet Susanna störte ihn.

»Ein kleiner Imbiss«, meinte die Magd und streckte die Brüste heraus.

Susanna mochte ihn. Luca hingegen wünschte, die Dienstmagd wäre dem Sohn des Hauses zugeneigter, der dem Mädchen bei jeder Gelegenheit nachstellte. Stattdessen beklagte sie sich ausgerechnet bei ihm über Mimmos Zudringlichkeiten und gab in aller Deutlichkeit zu verstehen, dass eine Annäherung seinerseits hingegen durchaus erwünscht wäre. Luca hielt es für das Beste, ihre Andeutungen und scheinbar zufälligen Berührungen nicht zu bemerken, allein um Mimmo nicht zu weiteren bösen Einfällen anzuspornen. Das fiel ihm wahrhaft nicht leicht, Susanna verfügte über sehr offensichtliche Reize.

Jetzt lächelte sie ihn auf diese gewisse Weise an, Luca senkte den Blick und bemerkte dennoch, dass sie ihr Hemd nachlässig geschnürt hatte. Als sie sich nun vorbeugte, um ihm Wein einzuschenken, starrte er auf ihre Brüste, die ihm entgegenwallten, Himmel, er konnte nicht anders, als sie anstarren. Wundervolle Brüste, ein ähnliches Vorbild musste König Salomo für sein Hohelied vor Augen gehabt haben.

Susanna bemerkte seinen Blick, richtete sich auf und zupfte an ihrem Ausschnitt, der nun noch weniger verbarg. Luca senkte den Kopf tief auf seine Unterlagen, weil er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss.

Kichernd und mit wiegenden Hüften tänzelte Susanna hinaus. Ihr Duft verblieb im Raum. Luca schnupperte ihm mit geschlossenen Augen nach. Nein, er durfte sich nicht gehen lassen, es würde das ohnehin angespannte Verhältnis zwischen Mimmo und ihm nur noch verschlechtern. Er öffnete das Fenster, um jegliche Erinnerung an Susanna zu vertreiben und einen klaren Kopf zu bekommen. Er atmete tief durch.

Nun aber an die Arbeit. Er zog sich noch einmal die Geschäftsunterlagen heran, die er heute Morgen schon studiert hatte, und überflog sie erneut.

Das erhoffte Wunder war ausgeblieben. Dass die letzten Jahre für die Manzonis nicht rosig gewesen waren, war ihm nicht verborgen geblieben. Aber dass sie kurz vor dem Bankrott standen, hatte er bis heute Morgen nicht gewusst.

Luca lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Dieses Schiff, das Onkel Carlo im letzten Sommer gekauft hatte, bedeutete ein großes Risiko. Im letzten Mai hatten sie darüber gesprochen. Luca hatte sich gewundert, dass Carlo ihn bei seinen Überlegungen hinzugezogen hatte. Und Luca, nach seiner Einschätzung gefragt, hatte von dem Erwerb abgeraten. In diesem Jahr ginge es wieder aufwärts, ganz sicher! Doch Carlo hatte die einzigartige Gelegenheit nutzen wollen. Gut, das Schiff war äußerst günstig zu haben gewesen. Luca hatte seinem Onkel letztendlich vertraut, schließlich verfügte der Kaufmann über jahrzehntelange Erfahrung.

Aber das Schiff kehrte nicht zurück, vor Zypern sei es auf Grund gelaufen, hatte Luca gehört. Es wäre schwer beschädigt, zusätzliche, nicht kalkulierte Kosten entstanden durch die Reparaturen und die lange Liegezeit. Stürme hinderten überdies auch die venezianische Handelsflotte am Auslaufen, fest eingeplante Einkünfte der Muda blieben damit ebenfalls aus. Übel kam immer zuhauf.

Er sollte das Unglück nicht berufen. Jetzt war erst Anfang März, nicht mehr lange und die Schiffe konnten wieder auslaufen. Träfen sie erst in Venedig ein, machten die Gewinne den Verlust wieder wett. Sie könnten die Schulden bezahlen und hätten sogar noch einen erklecklichen Betrag übrig. Wenn alles glattlief.

Was war das? Ein Blatt steckte zwischen den Unterlagen, heute Morgen musste er es übersehen haben. Luca zog das Schriftstück heraus, überflog es und hielt den Atem an. Ein Schuldschein, unterzeichnet von Onkel Carlo und einem Stefano Dolceto, über den Betrag von zehntausend Dukaten. Dolceto, Dolceto ... der Name kam Luca bekannt vor. »Zehntausend«, flüsterte er vor sich hin. Eine gewaltige Summe. Carlo hatte ihm nichts von einem weiteren Kredit gesagt. Zehntausend ... Nun, wenn die Schiffe endlich kämen, wäre es nicht schwer, den Betrag zurückzuzahlen.

Luca ließ das Blatt sinken. Hm, Dolceto, wo beim Barte des Herrn hatte er den Namen gehört? Einerlei. Sicher war der Schuldschein nicht dringend, es war keine Frist angegeben, seltsam eigentlich. Ja, ihm fehlte einfach der nötige Überblick, die Erfahrung, um die Lage richtig einzuschätzen.

Ohne sein Zutun pochte sein Zeigefinger auf den Tisch. Carlo würde über Rücklagen verfügen, von denen er nichts wusste. Der Gedanke beruhigte ihn etwas. Und wären die Schiffe erst da ... Er würde einfach mit Carlo sprechen, ja, gleich heute Abend, wenn er ihn denn antraf. In letzter Zeit hatte er ihn kaum zu Gesicht bekommen, ständig war er unterwegs. Angesichts der neuen Erkenntnisse wunderte sich Luca nicht mehr darüber.

Er biss in eines der Brote, die Susanna gebracht hatte, und trank einen Schluck Wein. Warum nur hatte er ein derart schlechtes Gefühl? Nun, eine Schuld von zehntausend Dukaten konnte einem schon auf den Magen schlagen. Liefe jetzt auch nur eine Kleinigkeit schief, bedeutete das den Ruin. Mögen der Himmel und alle Heiligen es verhüten!

Der Wein stieg Luca die Kehle hinauf und brannte. Er sollte sich ein Bild von der Lage am Markt verschaffen, herausfinden, mit welcher Gewinnspanne bei ihren Waren zu rechnen war. Im günstigen Fall hätten sie bei weiteren Krediten eine bessere Verhandlungsposition. Er beschloss, zum Fondaco dei Tedeschi zu gehen, eine ausgezeichnete Quelle für Informationen und Neuigkeiten.

Als er auf der Straße hinter ihrem Palazzo stand, atmete er auf. Draußen in der frischen Brise schienen seine Befürchtungen sogleich zu verfliegen. Das dunkle Arbeitszimmer war ihm aufs Gemüt geschlagen.

Er war schon lange nicht mehr im deutschen Handelshaus gewesen und freute sich, wieder einmal die vertraute Sprache zu hören und zu sprechen. Vielleicht traf er sogar Sandro, seinen Freund, der durch seine weitläufigen Beziehungen stets auf dem Laufenden war.

Auf der Rialtobrücke drängten sich die Passanten, bei diesem schönen Wetter schien Luca das Treiben noch lebhafter als üblich. Wann baute die Stadt endlich weitere Brücken, so dass man sich nicht länger in einer Menschenmenge über diese einzige Verbindung von einem Ufer zum anderen quälen musste oder auf eine der Gondeln angewiesen war? Die Gondoliere machten gute Geschäfte, nicht nur wenn die Brücke gerade abgebrannt war. Abgesehen davon stünde der Stadt gut zu Gesicht, ließe sie endlich ein angemessenes Bauwerk aus Stein errichten, dieses feuergefährdete Holzkonstrukt sah wirklich schäbig aus.

Am Ufer reihte er sich in die Kolonne von Lieferanten ein, die Waren in den Fondaco schafften. Zwei Herren mit schwarzen Baretten und Mänteln mit Pelzkragen schlenderten vor ihm her und hielten den Verkehr auf.

»... völlig überteuert, dieses Tuch von Di Lorenzo ... aber ausgezeichnete Qualität ... höchstens die Hälfte ... einen Schluck Wein ...« Die deutschen Wortfetzen wärmten Luca das Herz. Ein Lastenträger fluchte hinter ihm, Luca ließ den Mann vorbei, der dann laut schimpfend von den Deutschen wieder gebremst wurde, bis die Herren durch das Portal des Fondaco entschwanden.

Luca blieb hinter dem Eingang stehen, beobachtete einen Moment die Betriebsamkeit im Innenhof. Wie in einem Bienenkorb wimmelten die Menschen herum, dennoch ahnte er den Plan hinter dem nur scheinbar wirren Hin und Her.

War das dort nicht Sandro? Tatsächlich. Etwa zehn Schritte entfernt stand sein Freund mit zwei Männern zusammen.

»Salve, Sandro!«, rief Luca zu ihm hinüber und winkte.

Sandro blickte sich suchend um und als er ihn erkannte, zuckten seine Brauen in die Höhe. »Ah, Luca! Salve!« Er redete auf die beiden Herren ein, deutete auf etwas, das Luca nicht sehen konnte. Mit einer Geste hieß er die Männer, an Ort und Stelle zu warten, und kam zu ihm. »Schön dich zu sehen! Aber du kommst leider ein wenig ungelegen. Ich muss eigentlich ...« Er legte ihm einen Arm um die Schultern und raunte ihm ins Ohr: »Ach, weißt du was, die Herren kann auch Silvestre übernehmen, der Faulpelz schuldet mir noch was. Warte hier, ich gebe ihm schnell Bescheid, dann gehen wir etwas trinken. Aber du zahlst!«

Sandros drahtige Gestalt schlängelte sich zwischen den Händlern und Knechten, den Ballen, Kisten und Fässern hindurch. Güter aus Deutschland, die im Fondaco gelagert und gehandelt wurden, unter den wachsamen Augen von Sandro und den anderen Sensalen.

Luca schlenderte derweil durch die Gänge, hielt Ausschau nach bekannten Gesichtern. In den zehn Jahren, die er nun schon bei den Manzonis lebte, hatte ihn Carlo oft mitgenommen, wenn er Verhandlungen mit den Deutschen führte. Zuerst hatte er kontrollieren sollen, ob die Sensalen Carlos Worte richtig übersetzten, später hatte Luca gelegentlich sogar kleine Geschäfte selbstständig abwickeln dürfen. Welch großes Vertrauen Carlo ihm damit bewies, war Luca bewusst.

Eine Weile lauschte Luca dem Gespräch zweier Händler, dem Dialekt nach offenbar aus Süddeutschland. Sie gehörten zu dem bedeutenden Handelsunternehmen der Fugger aus Nürnberg, hörte Luca heraus. Ihr Thema war König Maximilian. Der sollte bald Erzherzog von Österreich werden. Ob das wichtig war? Die Fugger waren ja auch im Bergbau umtriebig, Federico berichtete gelegentlich darüber. Waren die nicht in Polen oder Ungarn zugange?

Luca spitzte die Ohren, ob er mehr aufschnappen konnte. Jetzt ging es um König Karl. Stimmt, der Franzosenkönig hatte einen Anspruch auf Neapel, behauptete er wenigstens. Wollte er den jetzt mit Gewalt durchsetzen? Neapel, das war für die Manzonis ohne Bedeutung, anders Frankreich, da konnten sich Schwierigkeiten auf dem Landweg ergeben, schlecht für den Warentransport nach Flandern ... Hm, falls sich eine Allianz gegen Karl zusammenschloss, wäre vielleicht auch Venedig dabei, dann gäbe es Krieg.

Die Kaufleute redeten jetzt mit gesenkten Stimmen, aber tatsächlich hörte er einmal »Neapel« heraus und »... der Papst verfolgt eigene Interessen, allein wegen ...«

Wäre der Papst an einem Zusammenschluss gegen Frankreich beteiligt, würde es Luca nicht wundern. Schließlich hieße der Heilige Vater nicht von ungefähr nach Alexander dem Großen, hatte Federico neulich gemeint, diese Namenswahl wäre sicher kein Zufall. Dem spanischen Borgia-Papst traute kein Italiener über den Weg. Nicht nur der Orgien wegen, über die hinter vorgehaltener Hand eifrig getuschelt wurde, gelegentlich auch neidvoll, wie Luca bemerkte. Wäre der Papst beteiligt, stünde auch das spanische Königspaar Ferdinand und Isabella an seiner Seite und als Landsleute wurden sie von Alexander begünstigt. Luca fragte sich, auf welcher Seite Venedig stünde, käme es zum Krieg. Wie auch immer, ein Krieg versprach gute Geschäfte.

Bevor Luca mehr über die Pläne des französischen Königs in Erfahrung bringen konnte, wandten die Herren sich ab und gingen getrennte Wege. Bestimmt wusste Sandro mehr darüber. Luca schlängelte sich weiter durch die engen Gassen zwischen den gestapelten Waren in Richtung Treppenhaus. Er stieg die Treppe hoch und trat auf einen der Arkadengänge hinaus, die auf jedem Stockwerk den Innenhof umgaben. Hinter ihm eilte eine Schar Angestellter den Gang entlang, manche mit Unterlagen in den Händen. Einer balancierte ein mit Gläsern und Krügen beladenes Tablett ein Stockwerk höher. Luca stützte seine Ellbogen auf das Geländer und schaute hinunter. Stimmen hallten zu ihm herauf, Träger und Laufburschen riefen und schimpften durcheinander. Irgendwo quietschten die Räder eines Handkarrens. Ballen wurden angeliefert oder abtransportiert. Manchmal logierten bis zu zweihundert Kaufleute hier, so viele waren es aber wohl derzeit nicht.

Luca ließ seine Blicke schweifen und sog die Aromen ein. Er roch das gelagerte Eisenerz, das sogleich die Erinnerung an seine Heimat, den Harz, in ihm wachrief. Mineralien, Steine, Erde, damit hatte Federico ihn von Kindesbeinen an vertraut gemacht. Außer diesen Gerüchen konnten auch der Duft frisch geschlagenen Holzes oder einer gemähten Wiese Heimatgefühle in ihm wecken. Und der Gesang einer Amsel hatte ihn schon zu Tränen gerührt. Wie es seinen Eltern wohl ging? Ob sie sich noch an ihn erinnerten? Ihn vermissten?

Luca presste die Lippen aufeinander und konzentrierte sich wieder auf das Hier und Jetzt. Unten im Getümmel entdeckte er Sandro, der mit wedelnden Händen auf einen untersetzten Jüngling einredete, der ihn mit Kuhaugen anglotzte. Sandro klopfte ihm mit der Hand auf die Schulter, wies dann auf eine Gruppe Männer in dunklen Mänteln, der sich die beiden Herren von eben zugesellt hatten, und schob ihn in deren Richtung.

Luca atmete noch einmal tief ein und ging dann wieder hinunter.

»Da bist du ja!«, rief sein Freund ihm zu und kam ihm entgegen. Sandro war ein Stück kleiner als er, dunkler, mit tiefbraunen Augen und unerschütterlich guter Laune. Vor allem bei den Mädchen war er beliebt, weswegen er auch bei den Jungen Ansehen genoss. In Sandros Kielwasser fiel für jeden eine Eroberung ab. Luca bewunderte den Freund für sein offenes Wesen. Er selbst war ganz anders und manchmal wunderte er sich, dass Sandro sich überhaupt mit ihm abgab.

Der strahlte ihn an. »Komm, lass uns gehen. Madonna, ich bin vielleicht durstig!« Er nahm Luca am Arm und zog ihn mit sich. Kurz hielt er inne und sah über die Schulter zu Silvestre und den Deutschen.

Luca folgte seinem Blick. »Willst du dich doch lieber selbst um die Herren kümmern?«