Der Mann, den niemand sah - Paul Rosenhayn - E-Book

Der Mann, den niemand sah E-Book

Paul Rosenhayn

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Beschreibung

Der gefeierte Musiker Peter van Diemen scheint ein Auge auf die junge Karin Nansen geworfen zu haben. Nach seinem gefeierten Konzert in Kopenhagen folgt er ihr; ja, verfolgt sie förmlich bis zu ihrem Haus, wo es zu einer folgenschweren Begegnung der beiden kommt, denn sie werden von Karins heißblütigem Verlobten Holger Werling beobachtet, der die Sache missversteht, van Diemen zur Rede stellt und schließlich nach kurzem Handgemenge von dem Musiker niedergeschlagen wird. Wutergrimmt folgt er van Diemen zu seinem Hotel. Karin, die Schlimmeres verhindern will, folgt Holger Werling auf dem Fuß. Doch zu spät: Sie findet van Diemen bereits erschossen auf dem Boden seines Hotelzimmers vor. Ihr gelingt es, van Diemens Impresario Jan de Coster von einer Anzeige abzuhalten – mit der Folge, dass sie, nach sofortigem Lösung ihrer Verlobung mit Holger Werling, schließlich gar de Costers Frau wird. Aber Holger Werling ist mit ihnen beiden noch nicht fertig; hat noch weitere Rechnungen zu begleichen. Und „Der Mann, den niemand sah" kündigt weitere Untaten an … Paul Rosenhayn schrieb bereits Anfang des 20. Jahrhunderts atemlos spannende Thriller, wie wir sie heute in Deutschland etwa von Autoren wie Sebastian Fitzek kennen und die es unbedingt wert sind, der Vergessenheit entrissen zu werden.

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Paul Rosenhayn

Der Mann, den niemand sah

Der Mann unterm Bett

© 1964 Paul Rosenhayn

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711592700

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

1.

Die letzten Töne des Allegro moderato von Vieuxtemps zitterten durch den Saal.

Schon bei seinem Auftreten hatte ein begeistertes Händeklatschen dem verwöhnten Meister ein neues Zeichen seiner unerhörten Beliebtheit gegeben, und die seltsam schwüle Stimmung, die über seinem Vortrag lag, hatte sich im Laufe des Abends mehr und mehr verdichtet. Eine gleitende Welle schmeichelnder Erregung wogte und ebbte durch die Lauschenden, und aus flimmernden Blicken und verhaltenen Gesten wob sich ein fühlbarer Kontakt zwischen Podium und Zuhörerraum.

Peter van Diemen hatte geendet. Irgendwo, in einem fernen Winkel, regten sich schüchtern ein paar Hände — zögernd wie in andächtiger Scheu fielen andere ein — und eine Sekunde später brauste ein ohrenbetäubender Beifall durch den Saal.

Karin Nansen erwachte wie aus einem Traum. Sie blickte verwirrt um sich und wie eine ertappte Sünderin auf das blasse Gesicht ihrer Mutter — dann glitten ihre Augen nach rechts hinüber. Dort saß ihr Verlobter, der eifrig in den jubelnden Beifall einstimmte. Ihr Blick irrte zögernd zum Podium. Blumen flogen klatschend auf das Holz nieder. Sie zuckte zusammen. Peter van Diemen wandte langsam den dunklen Kopf, dessen scharfgemeißelte Züge sie in diesem Moment mehr als je an eine antike Statue gemahnten, und plötzlich glitt wieder ein Blick aus dem Auge des Meisters herüber in ihre Loge.

Es war kein Zweifel: er hatte sie bemerkt Mehr als das — er war auf sie aufmerksam geworden. Das lächelnde Glimmen in seinen Augen, die sich wie in nachdenklichem Zögern langsam von ihr lösten, sagte es ihr. Sie hob wie unter einem Zwang die Hände, die nachlässig in ihrem Schoß ruhten. In diesem Augenblick wandte sich Holger Werling zu ihr herum. „Ich weiß nicht,“ sagte er mit einem tiefen Aufatmen, „ich fühle mich wie in einer Kirche.“ Sie nickte mechanisch, dann erhob sie sich.

Ein Scharren von Füßen entstand. Die große Pause hatte eingesetzt. Man drängte ins Foyer.

Karin erschien, zwischen ihrer Mutter und ihrem Verlobten gehend, als eine der letzten. Hie und da grüßte ein Bekannter: Holger Werling blieb einen Augenblick stehen, um ein paar Worte zu tauschen — meist Komplimente, die seiner jungen, schönen Braut galten — Karin hörte lächelnd mit ihrem seltsam abwesenden Gesicht die schmeichelnden Worte, die wie rieselndes Wasser an ihren Ohren vorüberglitten, deren Sinn sie mehr mit dem Gefühl als mit dem Verstand erfaßte.

Sie erkannte sich selbst nicht mehr. Ihre kluge und kühle Art, die Dinge und die Menschen zu betrachten, war von ihr abgefallen — fortgeweht wie ein dünner zweckloser Schleier — nun bebte eine tiefe melancholische Erregung in ihr, über die sich ihr scharfer Verstand vergebens Rechenschaft zu geben suchte.

Irgendwo ging eine Tür. Ein flüsterndes Raunen zitterte durch die Versammelten. Unterdrückte Ausrufe schwirrten herüber. Köpfe wandten sich: Peter van Diemen erschien. Er ging mit ruhigen, sicheren Schritten durch den schmalen Weg, der sich vor ihm bahnte. Man sah ihm an, daß er gewohnt war, der Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit zu sein. Grüßende Zurufe klangen: er nickt ein paarmal mit einer kurzen, leichten Verbeugung, die etwas unendlich Hochmütiges hatte: seine Lippen blieben fest geschlossen. Er hob kaum seine Augen, die kühl und sachlich geradeaus blickten.

Karin hatte den Kopf halb gewandt und sah ihm aus den Augenwinkeln entgegen. Ein Schwirren und Rauschen war um sie her: sie mußte an das Brausen des Meeres denken, dessen rhythmisches Auf und Ab vor ihren Ohren zu schwellen schien.

Plötzlich ging es wie ein siedender Schlag durch ihre Adern: Peter van Diemen hatte ihr ins Gesicht gesehen. Ganz deutlich. Es war kein Zweifel. Sie wandte mit einem Ruck den Kopf: sie fühlte plötzlich, daß ihre Füße schwer und unbeweglich waren, aber mit einem tiefen Aufatmen riß sie sich aus diesem unbegreiflichen Bann und setzte ihren Weg fort. Holger sah sie ein wenig erstaunt an.

„Hast du ihn nicht gesehen?“ fragte er harmlos lächelnd wie immer.

Sie schrak zusammen. Dann, in einer instinktiven Heuchelei, drehte sie sich wie erstaunt und fragend um. Dort ging er. Und plötzlich war wieder das unbegreifliche, heiße Gefühl in ihren Adern. Er wandte sich um, und wieder suchten seine Augen die ihrigen.

„Es ist das Bureau“, erläuterte Holger. Sie zuckte die Achseln und sah ihn fragend an.

„Das Bureau des Konzerthauses“, wiederholte er. „Sieh nur, wie sie alle auf die Tür starren. Ich wette, diese jungen Damen, die nach einem freundlichen Lächeln nach ihm haschen, glauben jetzt wunder, was für unerhörte künstlerische Dinge in jenem Zimmer vor sich gehen mögen. Und dabei wird es die einfachste und banalste Sache von der Welt sein. Irgendeine geschäftliche Angelegenheit — ein Vertragsabschluß oder etwas Ähnliches.“

Der zweite Teil des Konzertes war verhältnismäßig kurz: die Zigeunerweisen von Sarasate, ein paar schwermütige Lieder von Chaminade und zum Schluß Chopins Nocturno in Des-Dur.

„Er muß sich beeilen,“ flüsterte Holger ihr zu, „er fährt noch heute nachts nach dem Süden.“

Sie horchte auf und wunderte sich selbst über den kühlen, gelangweilten Ton, in dem sie ihm zu antworten vermochte: „Woher weißt du das?“

„Ich hörte es von einem Bekannten. Der Portier im Rhodesia-Hotel hat vom Impresario Anweisung bekommen, die Rechnung bereitzuhalten.“

Die herbstliche Abschiedsstimmung, die über dem Saale lag, schluchzte durch die Töne des Nocturnos, das van Diemen mit Absicht gewählt haben mochte. Hier und da schimmerte ein Batisttüchlein — und auch Karin glitt unmerklich in ein seltsam wehmütiges Gefühl, das sie nie an sich gekannt hatte. Was ging sie im Grunde jener Mann an! Sie hörte ihn zum zweitenmal in ihrem Leben: sie hatte nichts mit ihm gemein. Seine Existenz und seine Lebensführung lagen abseits von der ihrigen. In ihrem streng gehüteten Bürgerhause hatte man wenig Verständis und wenig Interesse für reisende Virtuosen. Es war etwas in ihrem gefestigten bürgerlichen Gefühl, das gegen diesen Mann dort oben sprach. Man hatte ihr von wilden und unbegreiflichen Liebesabenteuern erzählt, deren Held er gewesen war. Der Name einer jungen, schönen Prinzessin spielte eine Rolle darin. Er war sichtlich ein Mensch, der auf der Oberfläche der Dinge schwamm, dem der kräuselnde Schaum des Lebens ein angenehmer Sinnenkitzel sein mochte. Seine Unstetheit, sein Wanderleben waren ihr im letzten Grunde unverständlich und antipathisch. „Ein frivoler Genießer, nichts weiter“, und sie sah ihn fest und kühl an.

Und doch — in seinem Gesicht lag mehr als sorgloses Bohèmetum. Seine Augen waren halb geschlossen: erst jetzt sah sie, daß seine Wangen ein wenig eingefallen waren. Das Haar an seinen Schläfen war schon leicht ergraut, und in seinen regelmäßigen Zügen lag der Ausdruck einer fast feindlichen Reserviertheit.

Er hatte geendet. Und wieder erhob sich ein betäubender Beifallssturm, den er mit einem Lächeln quittierte. Seltsam — dieses Lächeln war alles andere als glücklich, eher geringschätzig, fast traurig.

„Willst du nicht applaudieren?“

Sie tat es, und fast in demselben Moment sah er in ihre Loge herüber. Dann verbeugte er sich und trat ab.

Das Auto, das Holger Werling bestellt hatte, stand schon knatternd und fahrbereit. Die drei stiegen ein: die beiden Damen nahmen im Fond Platz und Holger klappte den Rücksitz nieder. Ihre Augen irrten an ihm vorüber und glitten spähend durch die Scheiben — mit einem nachdenklichen, halb erwartungsvollen, halb niedergeschlagenen Ausdruck. Plötzlich zuckte sie zusammen.

Peter van Diemen trat aus dem Seitenportal.

Er sah sich suchend um, grüßte hier und da: dann fühlte sie plötzlich, daß er sie gefunden hatte. Seine Augen wurden einen Augenblick groß und weit, und durch den halbgeöffneten Mund schimmerte es wie das Lächeln eines Erkennens: er winkte einem Auto, das dort drüben am Rande des Bosketts stand und das sich dienstwillig in Bewegung setzte.

Das Fahrzeug der drei zog an und bog um das runde, inselförmige Trottoir. Karin, fast gegen ihren Willen, wandte sich und spähte durch das kleine Fensterchen.

Van Diemens Auto folgte ihnen.

2.

Eine sternenlose Mainacht lag über der Großstadt. Die Konturen der Häuser verschwammen in dem grauen Dämmer, das bleiern und mißmutig auf den dunklen Straßen lastete. Von irgendwo zitterten ein paar verwehte Töne herüber, fingen sich, spielten miteinander und zerflatterten in der schweren Vorfrühlingsluft.

Die Straßen wurden enger und belebter. Hier und da leuchteten Laternen durch den grauen Abend. Ein paar Transparente glühten auf, glitten vorüber und versanken wieder wie Meilensteine an endlosen Landstraßen.

„Du bist so einsilbig, Karin.“

Die Mutter nickte eifrig: „Du sprichst kein Wort. Was ist dir?“

Sie fuhr sich mit einer ungeduldigen Bewegung über die Stirn und schüttelte den Kopf: „Nichts. Was sollte mir wohl sein?“

„Fühlst du dich nicht wohl?“

„Der Abend hat mich ein bißchen angegriffen.“

Das Auto sauste um eine Kurve. Sie warf einen schnellen scheuen Blick durch das rechte Fenster — die unendliche Straße, die hinter ihnen lag, war still und leer. Zögernd atmete sie auf — dann, wie in einem seltsamen Zwiespalt, ging ihr ein nagender Stich durchs Herz.

Holger erhob sich.

„Was willst du?“

„Auf den Ball drücken. Er soll halten.“

„Warum?“

„Wir sind am Weinrestaurant ‚Rokoko‘.“

Sie machte eine ungeduldige Bewegung.

„Ich mag nicht. Geh’ allein. Ich möchte heimfahren.“

Er zuckte mit den Schultern. „Wie du willst.“

„Laß dich nicht stören.“ In ihrer Stimme klang — sie bemerkte es mit unmutigem Staunen — wider ihren Willen eine leise Gereiztheit.

Er gab keine Antwort. Die Helle schwand allmählich. Hier und da noch ein einsames Paar, ein Dreheingang, der in dunst- und lärmerfüllte Räume blicken ließ, und dann wandte sich der Wagen zur Linken und schoß ratternd in eine Seitenstraße.

Wieder wandte sie den Kopf. Im nächsten Augenblick zuckte sie zusammen. Dort hinten, wo sich die drei Alleen kreuzten, tauchte ein Auto auf. Sie kannte es. Diese beiden Scheinwerfer mit ihrem mächtigen Lichtstrahlenbündel waren unverkennbar …

Der Chauffeur stoppte. Die lange dunkle Häuserreihe lag schweigend wie im rechtschaffenen Schlaf gutbürgerlichen Frühzubettgehens. Kaum ein Licht flimmerte noch in den matten Fenstern, in denen dunkel und drohend die Schatten des kleinen Wäldchens irrten, das in fast fühlbarer Stelle gegenüber lag.

Holger lohnte den Chauffeur ab. Er nahm den Schlüssel, den Karins Mutter zog, und öffnete sorglich und galant die Gartentür. Er warf einen forschenden, fast ängstlichen Blick auf seine Braut, die mit schnellen Schritten dem Hause zuging. Dann sagte er, indem er ihr die Hand reichte: „Du bist verstimmt, Karin. Ich sehe morgen früh nach dir. Schlaf’ wohl.“

Sie nickte kurz und wandte sich mit einer halb schuldbewußten, halb unwilligen Gebärde zur Seite, als er sich ihr zögernd nähern wollte.

Einen Atemzug lang blieb er stehen und sah ihr nach. Ihre schlanke Gestalt mit dem seltsam elastischen, kaum hörbaren Gang verschmolz mit der grauen Front des dunklen Hauses. Ein klickendes Geräusch des Schlüssels — und durch die Tür, die sich nun öffnete, quoll es wie tiefe Finsternis hervor. Ein unbehagliches Gefühl legte sich schwer und beklemmend auf den Einsamen, der unwillkürlich die Augen schloß. Dann seufzte er, fast ohne zu wissen warum, wandte sich und ging zur Rechten die Straße hinunter.

In dem grauen Hause flammte schneidend ein Fenster auf. Er blickte verwirrt empor, und ein freundliches Lächeln ging über seine Züge. Er wußte: das war Karins Fenster. Einen Augenblick sah er ihre Silhouette. Dann näherte sie sich dem Fenster, und mit einem Rasseln ging die Jalousie nieder. Das Licht erstarb, und sein geblendeter Blick wanderte einen Moment hilflos durch die dunkle Nacht.

Von der andern Seite, dort, wo die dunkle Allee mündete, kam ein rhythmisches Knattern, das sich schnell näherte. Eine silberne Lichtflut schoß schwankend auf dem feuchten Asphalt voraus, glitt in einer zitternden Kurve spielerisch über die graue Front der Häuser und hielt dann mit einem scharfen Ruck plötzlich an.

Holger Werling ging langsam über die Straße dorthin, wo die undurchdringlichen Schlagschatten der Bäume lagen. Er konnte sich keine Rechenschaft darüber geben, aber er hatte das Gefühl — nein, er wußte, daß irgend etwas Feindliches in diesem Augenblick in sein Leben getreten war. Er starrte auf das schwärzliche Gefährt, dessen lärmendes Knattern wie ein fremder frecher Ton in diesem stillen Dunkel wirkte. Er lehnte sich an einen Baumstamm und beugte sich vor. Dann plötzlich stieß er einen leisen Ruf der grenzenlosen Bestürzung aus. — Aus dem Auto stieg Peter van Diemen. — — —

Karin hatte das Licht gelöscht und stand, durch die halbgeöffnete Jalousie spähend, am Fenster. Der Rhythmus des Viertaktmotors drang wie eine aufreizende Melodie zu ihren Ohren herauf.

„Wie unvorsichtig,“ so dachte sie einen Moment lang, „so fängt man es nicht an, wenn man heimliche Liebeswege geht.“ Sie mußte fast über sich selbst lächeln und über die nüchternen Erwägungen, die ihr durch den Kopf gingen. Dieser Mann war entweder ein Stümper oder aber — ein rücksichtsloser Freibeuter.

Van Diemen ging unhörbar, mit langsamen, zögernden Schritten die Straße hinunter und blickte mit halbgewandtem Gesicht an den Fenstern der Häuserreihe entlang. Im Schein der Laterne sah sie deutlich sein bleiches Gesicht und seine Augen, die nun groß und flackernd waren. Dieser Mann, der dort unten ging — der kannte sie nicht. Er wußte weder ihren Namen noch ihre Wohnung. Die Dinge lagen in ihrer Hand. Wenn dieses Zimmer dunkel blieb, hatte Peter van Diemen ihre Spur verloren. Noch in dieser Nacht sollte er Weiterreisen. Und wenn sie morgen früh erwachen würde, dann wäre alles nur wie ein lächelnder Traum gewesen.

Er kehrte um. Wieder zitterte das blaue Licht über sein Gesicht. Und plötzlich kam es wie ein stockendes Mitleid über sie. Der Mann, der dort unten ging, war ein anderer als der, den man vor einer Stunde auf dem Podium umjubelt hatte. Jener war ein verwöhnter Liebling aller, ein von den Frauen Verhätschelter, von der Natur und vom Schicksal Begnadeter — der hier zu ihren Füßen schritt, war ein heimatloser Wanderer, der von Stadt zu Stadt irrte, wie einer, der etwas suchte und es nie fand. Sie furchte die Stirn. Hinter seinen lächelnden Triumphen ahnte sie die Tragik des Unsteten. Eine plötzliche Angst erfaßte sie. Dort, ganz in der Nähe seines Autos war er wieder angelangt; ein Zeichen von ihm, und im nächsten Moment würde er davonsausen in die weite, lockende, trügerische, unbegreifliche Welt. Das durfte nicht sein. Sie mußte ihn sprechen, ihm irgend etwas sagen, etwas Tröstliches, etwas Klärendes. Sie mußte den Klang seiner Stimme hören. Hastig eilte sie ins Zimmer zurück, fast wie um sich selbst zu überrumpeln, nahm ein Tuch, schlang es um den Kopf und huschte die Treppe hinunter.

Das leise Knicken des Schlosses ging durch die stille Nacht.

Peter van Diemen hielt plötzlich in seiner Wanderung inne, er blickte hinüber, und sie fühlte fast mehr als sie sah: seine Augen weiteten sich und der Ausdruck seines Gesichtes wurde hell, fast glücklich. Er kam mit schnellen Schritten über die Straße, trat auf sie zu und nahm den Hut ab. Sie blickte ihn an, als erwarte sie eine Anrede — ein Wort — eine Erklärung.

Er schwieg.

„Ich bin gekommen,“ sie holte tief Atem, und sie fühlte, wie jedes Wort sich widerwillig, fast schmerzhaft aus ihrer Brust löste, „ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen … um Sie zu bitten …“ und plötzlich fuhr sie ganz schnell und kühn fort: „Um Sie zu bitten, meinen Frieden nicht zu stören.“

Er sah sie unverwandt an, noch immer schweigend, ohne ein Lächeln, ohne eine Bewegung. Endlich nickte er nur langsam. Es war ihr, als ob er eine Schattierung bleicher wurde, aber seine Lippen blieben geschlossen.

Sie fühlte, wie sie unsicher wurde. Ein seltsamer Mensch war das. Die Situation war in seiner Hand. Sie war gekommen — gehorsam wie ein verliebtes Kammerkätzchen, war hinuntergeeilt in dem Moment, da er, der Herrlichste von allen, erschienen war. Nun stand sie vor ihm mit einem innerlichen Zittern, das er ahnen, fühlen, wissen mußte. Ein paar Worte von ihm konnten die Brücke schlagen von der Ungeschicklichkeit dieser Situation hinüber zu irgend etwas bürgerlich Banalem. Er hatte ein Abenteuer gesucht — hier hatte er es — und er schwieg. Dieser Mensch war doch anders als die Männer, die ihr bisher begegnet waren. Anders als Holger …

Holger! Sie atmete tief auf und sagte dann, wieder mit festem, fast hartem Ton:

„Ich bin mit einem andern verlobt …!“

Wieder sah er sie an. Wieder nickte er, und plötzlich hörte sie den Klang seiner Stimme. Sie schrak fast zusammen.

„Einem andern verlobt“, wiederholte er, wie unter dem Bann ihrer Stimme. „Ich dachte mir’s. Denn ich bin es gewohnt, zu spät zu kommen.“

Sie senkte den Kopf. Eine Antwort drängte sich ihr auf die Lippen, aber sie biß die Zähne zusammen, und fast gegen ihren Willen fuhr sie in derselben abweisenden Tonart fort: „Und nun möchte ich gehen.“

Wieder nickte er. Wenn dieser Mann ein Routinier war — hier ließ ihn seine Routine im Stich. Er hätte irgend etwas sagen können, was auf ihr Mitleid, auf ihr weibliches Tröstungsbedürfnis spekulierte — etwas von einem Zaungast des Lebens — eine jener Phrasen, die jedem zu Gebote stehen mochten, der nächtliche Wege ging. Er hatte hundert Möglichkeiten — und er ergriff nicht eine von ihnen.

Sie wandte sich langsam zur Seite. Ihre Augen irrten verstohlen über sein Gesicht. Sie sah, daß er den Blick zu Boden gesenkt hatte. Ein trauriger, fast harter Ausdruck lag auf seinen Zügen, wie eine schmerzhafte Resignation. Und plötzlich wandte sie sich zu ihm herum und sagte leise, mit weicher, mitleidvoller Stimme, indem sie ihm scheu die Hand reichte:

„Es tut mir leid.“

Er hob den Kopf. Ein glückliches Staunen flimmerte in seinen Augen auf. Langsam beugte er sich nieder und küßte ihre Hände. Sie blieb wie gelähmt stehen, unfähig, sich ihm zu entziehen; dann, mehr schuldbewußt als vorwurfsvoll, riß sie ihre Hände zurück und stürzte ins Haus.

Er stand ohne sich zu rühren immer auf demselben Fleck und sah mit seinem seltsam verlorenen Blick auf die dunkle Tür, die sich hinter ihr geschlossen hatte. Dann, nach einer langen Pause, wandte er sich herum— —

„Lump!“

Vor ihm stand Holger Werling.

Der Virtuose sah ihn mit einem abwesenden Blick an — ohne Staunen, ohne Zorn — schweigend, fast als ob er ihn verstanden habe. Dann wollte er seinen Weg fortsetzen. Holger Werling packte ihn beim Handgelenk — er ließ es widerstandslos geschehen.

Außer sich vor Schmerz und Eifersucht griff Holger Werling nach seinem Hals.

Plötzlich straffte sich die Gestalt des Peter van Diemen, er streckte seine rechte Hand aus und schleuderte jenen mit einer einzigen, fast nachlässigen Bewegung zu Boden. Dann ging er mit ruhigen, sicheren Schritten, wie einer, der einen lästigen Störer abgewehrt hat, auf sein Auto zu und rief dem Chauffeur einen Befehl zu.

Gleich darauf sauste der Wagen davon — in der Richtung zur Stadt.

Karin hatte den Kopf an die Stäbe der Jalousie gepreßt und starrte auf die Straße. Was sich dort unten abspielte — sie hatte es verschuldet. Ihr Verlobter mußte an ein geheimes verbrecherisches Einverständnis zwischen ihr und jenem Mann glauben, und er war in seinem guten Recht, wenn er ihn zur Rede stellte. Sie kannte Holgers jähzorniges Temperament. Die Schmach, die ihm hier widerfahren war, würde wie ein Makel auf seiner Seele brennen. Eine Katastrophe, das wußte sie, war unvermeidlich.

Holger hatte sich taumelnd erhoben. Er starrte dem Auto nach, das eben in die lichtlose Allee einbog, dann ging er mit festen, schnellen Schritten in jener Richtung davon, in der das Fahrzeug verschwunden war.

Sie wußte, was das bedeutete. Holger kannte van Diemens Adresse: Rhodesia-Hotel. Er selbst hatte es ihr gesagt. Sie mußte versuchen, das Unglück zu verhüten. Sie konnte nicht untätig in ihrem Zimmer bleiben in dieser stillen und trostlosen Nacht, in der ein furchtbares Ungewitter heraufzog. Holger hatte die Gewohnheit, seinen Browning bei sich zu führen.

Es flimmerte vor ihren Augen. Sie war schuldig — sie mußte handeln, es galt, ein Unglück zu verhindern. Sie war es Holger schuldig, sich selbst — dem andern … Sie mußte irgend etwas tun. Mit fliegenden Pulsen riß sie den Ankleideschrank auf, nahm ihren Hut.

Der verschlafene Kutscher der einzigen Droschke an dem kleinen Vorstadtbahnhof machte ein erstauntes Gesicht. Sie gab ihm eine Banknote, über deren Größe er fast erschrak. „Rhodesia-Hotel,“ rief sie, „so schnell Sie können.“

Der Nachtportier sah sie befremdet an. „Ja, Herr van Diemen ist zu Hause. Aber er hat Besuch.“

„Besuch?“ Sie nickte schwer. „Ich muß zu ihm — auf der Stelle.“

Der Portier zuckte die Achseln und winkte einen Boy herbei. An dessen Seite ging sie über die teppichbelegten Treppen hinauf in die erste Etage. Die schwüle Luft des großen menschenerfüllten Hauses legte sich schwer und drückend auf ihre Lungen. Der Boy mit seinem verschlafenen Kindergesicht, der verdrießlich vorangeschritten war, machte vor Zimmer Nr. 64 halt und klopfte. Dann ging er mit verdrossener Miene den endlosen Korridor zurück und verschwand in die unteren Räume.

Niemand antwortete. Durch die geschlossene Doppeltür kam kein Laut. Man mochte das Klopfen kaum gehört haben. Sie pochte zum zweitenmal, und während sie fiebernd wartete, fühlte sie, wie eine wahnsinnige Angst plötzlich durch ihre Pulse jagte. Sie legte die Hand auf die Klinke Die Tür war unverschlossen.

Die zweite Tür schimmerte weiß im zittrigen Strahl der einsamen Korridorlampe. Sie riß sie auf und trat ein.

Das Zimmer war dunkel. Seltsam — der Portier hatte ihr ausdrücklich gesagt, daß van Diemen Besuch habe. Und wieder schoß ihr das Blut jählings empor. Aus der undurchdringlichen Finsternis schien es wie ein fremder heißer Atem ihr entgegenzuströmen. Eine beklemmende Spannung preßte sich auf ihre Brust. Das Schweigen, das über diesem Zimmer lag, war eisig und unbegreiflich. Nichts rührte sich. Kein Schritt, kein Flüstern, kein Laut kam durch diesen Raum.

Draußen auf dem Korridor huschten hastig leise Tritte vorüber, deren Takt in dem weichen Läufer fast starb. Irgendwo zitterte ein Klingelsignal durch die Luft. Fern klappte eine Tür — dann plötzlich wieder diese entsetzliche Stille, die sich langsam wie die schweren Schwingen eines dunklen Vogels über das Zimmer legte.

Sie tastete mit der zitternden Hand nach dem Schalter, der sich knipsend drehte. Plötzlich stieß sie einen Schrei aus. In der Mitte des Zimmers, die starren Augen auf sie gerichtet, stand ihr Verlobter.

Das Licht schoß schneidend durch den Raum. Sie schloß stumm die Augen und taumelte gegen die Wand, beide Hände wie abwehrend von sich ausgestreckt.

Auf dem Boden lag, tot, mit einer Schußwunde in der Brust, Peter van Diemen. — —

3.

Sie fühlte, wie ihr Atem aussetzte, und einen Moment schien es, als ob alles um sie herum anfing, sich in einem unendlichen Wirbel zu drehen. Sie öffnete erschreckt die Augen. Ganz deutlich sah sie die Bilder an den Wänden, die Verzierungen der Möbel, die schnörkeligen Linien auf dem Teppich — alles zog sich unmerklich zu grinsenden Fratzen zusammen, die mit verkniffenen Augen auf sie starrten. Sie sprang auf und stürzte durch das anliegende Zimmer hinaus auf den Flur.

„Hilfe! Mord!“

Der Ruf gellte schreiend durch die Korridore. Er brandete empor über die hohen Treppen und schlug an das Ohr der Schläfer. In den Winkeln und Ecken verfing er sich — er brach sich Bahn durch die dunklen Säle und die schweigenden Hallen.

„Mord!“

Es wurde lebendig. Ein paar Angestellte vom Nachtdienst, der Portier, ein Kellner erschienen. Karin sah ihnen, blaß und zitternd an die Pfosten gelehnt, entgegen und deutete stumm nach innen. Der Portier sah sie mit einem bedenklichen Blick an und stürzte ins Zimmer. Die anderen folgten ihm.

Plötzlich fiel ihr Holger ein. Er war verloren. Verloren durch ihre Fassungslosigkeit.

Gleichviel — hier gab es keine Rücksichten mehr, keine Bedenken, keine Gefühle. Vor dieser einen grausigen unerhörten Tat schwanden alle menschlichen Beziehungen, vor der nackten Realität dieses Geschehnisses stoben Haß und Liebe davon wie fremde Kleinlichkeiten. Sie ging den anderen nach und trat ins Schlafzimmer. Holger Werling war verschwunden. Sie sah sich erstaunt um und nickte, fast ohne es zu wissen. Das Fenster stand offen.