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Der Leser erfährt durch Darstellung alltäglicher Situationen und Umstände, dass die Handlung in der Zukunft spielt, genauer, im Jahr 2157. Die Menschen gehorchen einer allumfassenden Religion. Was heute noch brutal und unglaublich anmutet, ist 2157 die Normalität. Nur er, der Hauptdarsteller, scheint die gestrigen Werte wieder leben müssen. Er verändert sich radikal und kann nichts dagegen tun. Er flüchtet in die Einsamkeit und entdeckt dort die Liebe zu einem über Einhundert Jahre alten, weiblichen Androiden. Gemeinsam wollen sie die Welt verändern und wieder lebenswert machen. Ein harter Weg liegt vor ihnen und sie erleben gemeinsam ihre Ohnmacht im Kampf gegen unbegreifliche Macht. Gemeinsam mit neuen Freunden, unterstützt durch die ständig wachsende Kraft des Hauptdarstellers und durch seine bedingungslose Ehrlichkeit, entbrennt eine geheime, intrigante Schlacht gegen das unmenschliche Machtmonopol. Werden sie erfolgreich sein? Und, wenn ja, zu welchem Preis?
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Seitenzahl: 699
Veröffentlichungsjahr: 2021
Alexander Gerhard
Der Mann, der niemals log
© 2021 Alexander Gerhard
Verlag und Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-347-28769-3
Hardcover:
978-3-347-28770-9
e-Book:
978-3-347-28771-6
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Alexander Gerhard
Der Mann, der niemals log
Selbst in der lodernden Hölle gibt es den Einen, der das tosende Böse besiegt, weil er nichts ist als die reine Wahrheit.
Für Yasaré
Inhalt
Die Geburt
Das Kind
Die Pubertät
Der Mann
Aufbruch in die Einsamkeit
Transformation des Wesens
Leblose Romantik
Vollkommenes Glück
La Euphoria
Das Desaster
La Euphoria 2
Borsowin
Versuch einer Rettung
Das Blut der armen Seelen
Die wunderschönen Berge von Zermatt
Die Idylle Andorras
Die Weite des trockenen Meeres
Die Erlösung vom Bösen
Eroberung des Paradieses
Nachwort
Vorwort
Wir schreiben das Jahr 2157. Es ist viel passiert in Europa und in der ganzen Welt – zwischen heute und diesem Jahr. Was Europa betrifft, war die Entwicklung eher dramatisch und die radikale Veränderung dessen, was Menschen bisher zu Menschen machte, war Gesetz, Alltag und Religion. Ein unwirkliches Europa in einer unwirklichen Welt.
Die Geburt
Ich saß. Ich schlief nicht, aber ich war auch nicht wach. In mir fremde Gedanken. Um mich herum fremde Menschen. Endlose, klare und verwirrende Gedanken, die sich in mein Hirn bohrten.
Der vor mir liegende Weg entspricht dem ausgetretenen Abbild des hinter mir liegenden Weges, obwohl ich ihn noch nicht beschritten haben kann und er allein, ganz allein mir gehört. So ist er also ausgetreten, ohne schon betreten worden zu sein. Der Grund dafür liegt in mir, in meinem Wesen: In dem, was ich zu sein glaube und in dem, was jeder Mensch, jedes Tier und jede Pflanze aus mir gemacht hat. Der Weg ist ausgetreten, weil es unabdingbar sicher ist, dass ich ihn gehen werde, und der Weg ist ausgetreten, weil ich einerseits nicht anders kann, als ihn zu gehen, und er andererseits nicht wirklich unterschiedlich ist zum bereits gegangenen.
Wie kann es nur sein, dass ich der einzige Mensch auf Erden bin, der weiß, dass ich diesen ausgetretenen und nur diesen Weg gehen werde? Wie kam es dazu, obwohl mich doch auf meinem bisherigen Weg so unzählig viele Wesen begleitet haben?
Ich scheine die Antwort zu kennen, sonst wäre ich sicherlich nicht so gefasst und firm in mir selbst, aber ich kann die Antwort nicht denken, formulieren oder gar aussprechen. Wie sehen mich eigentlich die Menschen, die mich kennen, die, die mich nicht kennen und die, die mich zu kennen glauben oder die, die mich nicht zu kennen glauben? Und warum sind sie nicht in der Lage, irgendwelche Aussagen zu meinem zukünftigen Weg zu machen? Direkt im Anschluss an die Fragen drängt sich die eigentliche Frage auf, warum ich mir selbst bezüglich allem so sicher sein kann – wirklich sicher, was meinen Weg betrifft und absolut überzeugt, was die Einschätzungsmöglichkeit der Menschen in Bezug auf meine Person betrifft?
So gab ich mich, verträumt und abwesend wirkend, die Augen nur sehr verschwommen fokussierend, meinen Gedanken hin, als mein Name durch den Lautsprecher dröhnte und mich zurück in das Wartezimmer des für mich zuständigen Arztes katapultierte. Ich glaubte ein wenig zu erröten, war mir aber nicht sicher.
Die Tatsache, dass es ein paar Sekunden gedauert hatte, bis ich, in meiner Gedankenwelt gefangen, das Schallen meines Namens mit der Aufforderung verband, jetzt sofort aufzustehen, das Wartezimmer zu verlassen und meine Zuteilung zu einem der Sprechzimmer zu registrieren, mochte der Grund für meinen Anflug von Errötung gewesen sein. Sicher wurde der Effekt aber verstärkt dadurch, dass es ungefähr zwei Drittel der mit mir Wartenden nicht lassen konnten, mich während meines gefühlt zu späten Erhebens, mit ihren penetranten Blicken zu durchdringen.
Die eigentlich recht hübsche Frau, die mir gegenübersaß, hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht registriert. Erst als ich meine Muskeln zur Durchführung des Aufstehens zu koordinieren begann, fiel mein Blick auf sie, auf ihr üppiges Dekolleté und das zermatschte rechte Auge, das unaufhörlich tränte und ebenso sorgfältig wie behutsam von ihr abgetupft wurde. Auch sie fixierte mich mit ihrem gesunden Auge, belächelte meine vermeintliche Trägheit und schien meinem Blick, den ich ihr fast auffordernd entgegenschleuderte, nicht ausweichen zu wollen. So schlecht konnte es ihr also nicht gehen, dieser wohlgeformten jungen Einäugigen. Warum ich gerade jetzt den Blick nicht von ihr ließ, während des Aufstehens, des Zurücklegens der Illustrierten und des Zurechtzupfens meiner Kleidung, abwechselnd ihr Auge, ihren schönen Mund und ihren tiefen Ausschnitt beäugte, obwohl sie mir in der Tiefe meines Herzens völlig gleichgültig war, konnte ich nicht verstehen. Ich hätte es wahrscheinlich auch dann nicht verstanden, wenn ich sehr lange darüber nachgedacht hätte.
Fast verwunderlich kam es mir allerdings vor, dass ich mich im Hinausgehen aus dem Wartezimmer, kurz bevor ich die Tür hinter mir schließen wollte, noch ein letztes Mal zu ihr umdrehte, meine Lippen in Kuss-Form brachte und lautlos, mit leicht zugekniffenen Augen mindestens eine Sekunde verharrte. Ich schloss die Tür hinter mir, nachdem ich das Wartezimmer verlassen hatte. Ich öffnete meine Augen erst, als ich die Tür fest zugezogen hatte. Auf die Frage an mich selbst, was da gerade wieder geschehen war, musste ich mir die Antwort allerdings schuldig bleiben, denn erneut schepperte mein Name durch die Luft und erlaubte es mir nicht, meine mich selbsterklärenden Gedanken fortzuführen. Diesmal war mein Name gefolgt von der Zahl 3 ausgerufen und erwartungsgemäß das obligatorische ‚Herr‘ akustisch meinem Namen vorangestellt worden. Die Information ‚Herr Corales, 3‘ konnte ich auf Grund meiner langjährigen Erfahrung mit Frau H., der Praxishelferin, problemlos verarbeiten und begab mich ohne Umwege in das Behandlungszimmer 3, diesmal ohne Blick, ohne Worte und ohne Kussmund.
Auf dem Weg in das Zimmer 3 musste ich allerdings am Tresen der Praxishilfe vorbeigehen und hätte mich gern vorher durch geeignete Maßnahmen auf den Gestank in diesem Bereich des Raumes, der mir beim Passieren von Frau H. entgegenschlug, eingestellt. Aber zu spät – ich hatte bereits eine tiefe Nase davon genommen und inhaliert, die gasförmigen Inhaltsstoffe über meine Schleimhäute aufgesaugt und fest mit Millionen von Botenstoffen verankert in mein gepeinigtes Gehirn transportiert, wo sie als Stinkbombe explodierten und sogleich als völlig neue Geruchserfahrung abgespeichert wurden. Ich schaffte es gerade noch bis zur Türklinke des Zimmers 3, als mich eine tiefe Welle der Brechlust beherrschte, an mir riss, als wäre ich aus Papier und mich zwang, Stabilisierung des körperlichen Gleichgewichts durch die Klinke selbst finden zu wollen. Benommen drehte ich mich langsam um, minimal respirierend. Die drei Meter Entfernung zur nasenscheinlichen Quelle des erbärmlichsten Gestanks, den ich jemals riechen musste, reichten scheinbar aus, um aus der verpesteten Luft wieder atembare zu machen.
Ich traute mich vorsichtig, einen weiteren Atemzug zu nehmen und stellte fest, dass die Luft vor Zimmer 3 weitgehend unverseucht war. Meine von tiefster Abneigung und ehrlichem Ekel geprägten Blicke konnte Frau H. nicht wahrnehmen, da sie schreibend ihren Blick auf den Tresen gesenkt hatte. Ich hatte eine Vermutung, was mit Frau H. geschehen sein musste, um sie so unfassbar stinken zu lassen. Den Brechreiz hatte ich inzwischen unter Kontrolle, aber es war mir noch immer ein wenig flau im Magen.
Am meisten beschäftigte mich die Intensität des Gestanks und erst in zweiter Linie die Art. Beides hatte ich auf diese Weise zuvor noch nie erlebt und für beides gab es keine natürliche Erklärung, das war klar. Meine Vermutung in der Sache bezog sich also auf etwas ‚Übernatürliches’. Sie war höchstwahrscheinlich eine außer Kontrolle geratene Außerirdische, die sich, bedingt durch eine gentypische Unverträglichkeit, in einem fortgeschrittenen Stadium innerer Zersetzung befand. Das Resultat der Zersetzung bahnte sich nun durch alle möglichen Körperöffnungen und die Haut den Weg an die Luft, wo weitere chemische und bio-chemische Prozesse zur Katalyse und weitgehenden Verpuffung der Zersetzungsstoffe führten. Die unglaublich hohe Gaskonzentration in ihrem Körper war äußerlich sichtbar durch die stark hervorquellenden Augen. Sie war also ein verrückt gewordener, außerirdischer Gärbeutel. So stand ich noch eine Weile und starrte die ruhig vor sich hinarbeitende Stinkerin fassungslos an, inzwischen wieder durchatmend, aber noch immer leicht benommen.
Kaum saß ich allerdings in dem mir zugeteilten Behandlungszimmer, ich hatte wie so häufig zuvor auf der Liege in diesem Raum Platz genommen, änderte sich mein Körpergefühl zunächst leicht, dann aber schnell zunehmend, bis mir unvermittelt schwarz wurde vor Augen. Ich hatte das Gefühl seitlich umzukippen, meine Wahrnehmungsfähigkeit war allerdings schon so reduziert, dass ich den Aufschlag meines Kopfes auf das Kopfteil der Liege nicht mehr spürte. Ich atmete ruhig weiter, meine Augen bewegten sich schnell hin und her, feine Schweißperlen standen auf meiner Stirn und mein linker Arm begann leicht zu zittern, als ich mich plötzlich fragen fühlte, wie ich denn in der Lage war, all diese Veränderungen meines Körpers und meines Zustandes wahrzunehmen und sogar zu sehen. Ich musste wohl meinen Körper irgendwie verlassen haben, sonst wäre das wohl kaum möglich gewesen, konnte aber die Vermischung der scheinbar wahrgenommenen Bilder mit meinem Gefühl noch nicht erklären. Es dauerte noch einige Zeit, bis die Bilder deutlicher wurden und das Gefühl völlig aus meinem Körper gewichen war.
Da lag er also, der noch vor wenigen Minuten ich war. Da lebte und atmete nun der Körper, der noch vor Momenten mein eigener Körper gewesen war. Er war nicht annähernd so schön wie ich immer gedacht hatte, so aus der Distanz betrachtet. Es vergingen noch ein paar weitere Minuten, er lag unverändert auf der Liege, seufzte ab und zu und schien auf irgendetwas zu warten, als der Arzt den Behandlungsraum betrat. Beim Betreten des Raumes forderte der Arzt ihn mit einem spaßig anmutenden Unterton auf, sein Mittagsschläfchen doch lieber zuhause zu machen, und er richtete sich auf, öffnete die Augen, als wäre nie etwas geschehen und antwortete mit klarer, fester Stimme. Während der Routineuntersuchung machte er brav genau das, was der Arzt von ihm forderte, der Blutdruck war in Ordnung, die Lymphknoten nicht geschwollen, und der Durchführung einer Blutuntersuchung stimmte er zu. Ein kleiner Stich mit dem Analysegerät in den Oberarm und die Blutwerte wurden auf dem Display des Informationsterminals im Behandlungszimmer angezeigt. Soweit war alles in Ordnung, lediglich mit der Überprüfung der Lungen war der Arzt nicht ganz zufrieden. Als er die beiden Lungenflügel mit seinem Pulsar-Stethoskop abhörte, räusperte er sich mehrmals und forderte seinen Patienten, also irgendwie mich selbst, einige Male auf tief einzuatmen, die Luft kurz anzuhalten und dann heftig auszuatmen. Er schien etwas zu hören, was ihm verdächtig vorkam und er schlug vor, während sich der Patient wieder anzog, zur Sicherheit doch noch einen Lungenfunktionstest durchführen zu lassen. Er wollte ihm eine Überweisung an einen Kollegen ausstellen. Die Praxishelferin, Frau H., sollte einen neuen Termin mit ihm vereinbaren, teilte ihm der Arzt mit, während er selbst das Behandlungszimmer verließ.
Der Patient wurde unruhig, lief aufgeregt im Behandlungszimmer 3 auf und ab und suchte etwas. Er öffnete Schubladen, die er hastig durchwühlte und sah letztendlich in den Schrank, aus dem er sich ein Handtuch herausnahm, es vor sein Gesicht presste und das Behandlungszimmer sehr langsam verließ. Immer wieder hielt er auf seinem Weg zur Praxishelferin inne, das Handtuch mit beiden Händen fest vor Mund und Nase pressend. Auch als er direkt vor ihr stand, löste er das Handtuch keinen Millimeter von seinem Gesicht, so dass Frau H. nicht verstehen konnte, was er ihr zurief. Auf ihre Nachfrage hin, immer wieder, wendete er sich von ihr ab, schrie er nur immer lauter durch sein Handtuch, aber kein wenig verständlicher. Frau H. fragte ihn, was er denn habe, warum er das Handtuch nicht vom Gesicht nahm, ob er Schmerzen habe oder, ob sie irgendetwas für ihn tun könne, aber er schrie nur ständig lauter werdend immer dasselbe Wort, das Frau H. aber leider nicht verstand. Schließlich übergab sie ihm sichtlich genervt, aber auftragsgemäß die Terminbestätigung, die der Arzt inzwischen über sein mobiles Terminal autorisiert hatte. Er antwortete nicht, reagierte in keiner Weise auf ihre Aufforderung, ihr doch bitte nun das Handtuch zu übergeben, und drehte sich hastig in Richtung Ausgang. Zielstrebig und eiligen Schrittes verließ er die Praxis. Das Handtuch deponierte er als Knäuel direkt vor dem Ausgang auf dem Boden. Frau H. saß kopfschüttelnd hinter ihrem Tresen, suchte im Praxisvorraum noch vergebens nach Zuspruch für ihre Empörung durch verständnisvolle Blicke, und wendete sich dann wieder ihrer Arbeit zu.
Es fiel ihr schwer, sich weiterhin zu konzentrieren, und so unterlief ihr ein folgenschwerer Fehler bei der Ausstellung zweier Medikamentenanweisungen. Sie verwechselte, noch gefesselt von der unglaublichen Unverschämtheit dieses Rüpels, was auch immer er für Probleme zu haben geglaubt hatte, die Medikamente für zwei der Patienten, die vor ihrem Tresen standen und schon sehr ungeduldig schienen. Der eine, ein 73-jähriger Herzpatient mit bereits drei Infarkten und einem künstlichen Herzen, bekam nun die Medikamente für den zweiundzwanzig Jahre alten, depressiven und schwer drogengepeinigten Studenten auf seinen ID-Chip gespeichert und umgekehrt. Beide nahmen ihre Chips entgegen und verließen die Praxis. Frau H. konnte den Typen mit dem Handtuch vor dem Gesicht einfach nicht vergessen und schaute noch einmal in seiner Krankenakte nach, einerseits auf der Suche nach einer Erklärung für sein merkwürdiges Verhalten, andererseits aber auch getrieben von dem unsäglichen Wunsch, ein neues Feindbild aufzubauen. Er würde sich ja schließlich noch einmal wegen des Kontrolltermins melden müssen, und darauf wollte sie schon recht gern vorbereitet sein.
‚Roman de Jesus Corales Villapunta‘ war wohl sein vollständiger Name. Ein deutscher und eigentlich, zumindest nach Aktenlage, kerngesunder Mann. Sie mutmaßte, dass Roman spanischer oder lateinamerikanischer Herkunft sein musste, wahrscheinlich waren seine Eltern Klima-Emigranten, die in den frühen 20ern von einer Küstenregion ihres Heimatlandes nach Europa übersiedelt worden waren. Gemäß Romans Alter konnte es gut hinkommen, dass er kurz darauf hier geboren worden war. Also eigentlich nichts Auffälliges, aber den Namen wollte sie sich dennoch gut einprägen.
Er war inzwischen auf dem Weg in ein Café und zählte sein Kleingeld. Das Erlebte versuchte er sich so zu erklären, dass er wohl einen merkwürdigen Traum gehabt haben musste, der ihn während des vergiftungsbedingten Kurzschlafs ereilt hatte. Jedenfalls fühlte er sich nicht ungewöhnlich nach alledem, obwohl er ja eigentlich seinen Körper vollständig verlassen hatte. Im Café angekommen suchte er sich einen sonnigen Platz am Fenster, zog eine Espressotasse aus dem Kaffeespender und brühte sich seinen Espresso auf. Herrlich duftend füllte sich die Luft mit würzigem Kaffeearoma und nur die Temperatur des Getränks konnte ihn daran hindern, sofort einen großen Schluck davon zu nehmen. Ja, er fühlte sich gut. Bezüglich der Lungengeräusche machte er sich keine großen Gedanken. Das würde sich mit hoher Wahrscheinlichkeit als übertriebene Vorsicht herausstellen, war er sich sicher. Wenn da nur nicht dieses konstante, merkwürdige, unterschwellige Gefühl gewesen wäre, dass ihn irgendjemand beobachtete.
Noch in seine Gedanken vertieft und fast krampfhaft versuchend, dieses Gefühl besser erfassen oder sogar beschreiben zu können, erschienen ihm im Augenwinkel zwei junge Frauen, die ihm sagten, dass sie sich zu ihm setzen würden, oder ob er etwa noch weitere Gäste erwarte? Spontan erwiderte er, dass er allein sei, worauf sich die beiden Frauen setzten und sofort begannen – natürlich beide gleichzeitig und ohne Pause – aufeinander einzutratschen. Nebenbei brühten sie sich ihre Kaffees auf, die eine einen ‚Standard-Banane‘, die andere entschied sich nach langem Hin und Her für eine afrikanische Schwarzbohnenmischung mit ionisierter Sahne. Da sie allerdings kein Kleingeld mehr für einen Schuss Cognac-Aroma hatte und ihre Begleiterin ebenfalls nicht, wendete sie sich mit der Frage an ihn, ob er vielleicht eine 50er- Einheit ‚kleinmachen’ könne.
Roman hieß in Wahrheit Ramon. Die Praxishelferin Frau H. hatte den Namen lediglich falsch aus der Akte abgelesen, oder er war inkorrekt registriert worden.
Ramon hatte die Taschen voller Kleingeld, stand kurz auf und wechselte den Schein genauso in Münzen, dass die Blonde der beiden Frauen ihr Cognac-Aroma ziehen konnte und beide noch je einen weiteren Kaffee hätten trinken können, wenn sie denn gewollt hätten. Dann setzte er sich wieder hin, wich dem Blick der Dunkelhaarigen, die sich lediglich bedanken wollte, aus und nahm endlich den ersten großen Schluck Espresso zu sich. Die Temperatur war gut, der Geschmack erwartungsgemäß großartig und ein sich sofort darauf einstellendes Glücksgefühl wie immer jede Einheit wert.
Die jetzt Dunkelhaarige, deren Haare bis vor Sekunden noch blond gewesen waren, ihr Name war Janka, fragte Ramon nach einiger Zeit, ob er denn eine Freundin habe. Er verneinte, den Kopf schüchtern etwas nach unten geneigt und dachte bei sich, kaum hatte er die Worte ausgesprochen, dass er die Frage vielleicht lieber hätte bejahen sollen, aber nun war es zu spät. Er wollte gerade von seinem Bistrostuhl aufspringen und das Café verlassen, als ihn etwas mit unüberwindbarer Macht auf dem Stuhl festhielt. Es war aber nicht etwas, was ihn da festhielt, sondern es war dasselbe Gefühl, das er in der Praxis gehabt hatte und das er noch vor kurzer Zeit konkreter beschreiben wollte. Nach mehreren vergeblichen Versuchen aufzustehen, wurde ihm klar, dass dieses unbeschreibliche Gefühl und die Macht, die ihn hier und jetzt völlig bewegungsunfähig machten, ein und dasselbe waren. Und nicht nur das wurde ihm klar, weil er es spürte, sondern er erkannte auch, weil er endlich in der Lage war, die Zusammenhänge ansatzweise zu verstehen, dass er selbst es war, oder genauer gesagt, der Teil von ihm, der im Behandlungszimmer seinen Körper verlassen hatte, der ihn jetzt auf diesen Stuhl zwang. Er sah Janka in die Augen und versuchte ihren vielen Worten zu folgen, während er nach und nach die Tragweite seines neuen Seins erahnte.
Das Kind
Gefangen in den Wirrungen seiner eigenen Fragen, mit der Lust eines wahren Mannes, lechzend nach dem wohlgeformten Körper Jankas, trieb er dahin, willenlos wie ein verirrter, resignierender Wal kurz vor der todbringenden Küste. Wollte er gerade noch versuchen, sich selbst zu verstehen, übermannte ihn sofort der Gedanke an etwas, das er zu verstehen noch nicht in der Lage war. Er sah sie an. Er blickte in ihre tiefbraunen Augen, die einen so gewagten Kontrast bildeten zu ihrer blassen Haut und dem inzwischen orangefarbenen Haar. Mit aller Macht versuchte er, sich darauf zu konzentrieren, was sie ihm mitteilen wollte, aber das Etwas, er selbst oder die unbegreifliche Macht, die ihn jetzt gänzlich zu beherrschen schien, weigerte sich, dies zuzulassen. So sah er ihre Lippen in eifriger Bewegung Wahrheiten ziselieren, die ihn nicht wirklich interessierten und ihn dennoch vollständig in ihren Bann zogen. So gab er sich hin, ihrer bewundernswert schönen Natur zu frönen, das Ebenmaß ihres Gesichtes zu vergöttern und das Vorhandensein der einzigen Wahrheit, die jetzt nur noch ausgesprochen werden musste, zu akzeptieren.
Es war nicht er, der hier sprach. Es war nicht sein Wille, der hier regierte. Wer um des Himmels Willen war Janka, dass sie ein so ungewolltes, nicht kontrollierbares Feuer in ihm weckte? Warum gerade sie? Warum gerade jetzt, wo er doch noch nicht einmal im Ansatz verstehen konnte, wer er im Begriff zu werden war? Waren es denn wirklich allein ihre wunderschönen Augen, die so tief in seine Seele eindrangen, dass er die Angst vor dem Verlust ihres Anblicks schon jetzt nicht mehr ertragen konnte?
Ramon saß Janka gegenüber, registrierte, dass ihre Freundin wild auf sie einredete, und fasste erneut fast panisch den Entschluss, sofort, jetzt sofort aufzustehen und das Café ohne jedes Wort zu verlassen, aber er saß fast regungslos da und gestand Janka seine wahre Liebe, weil in diesem Augenblick nichts anderes auf dieser Welt wirklich wichtig war für ihn. Ihre Freundin warf ihren Oberkörper ruckartig zurück, verschränkte die Arme vor ihrem Brustkorb und nutzte eine der Münzen, die noch auf dem Tisch lagen, für einen neuen Kaffee. Dann schlug sie Janka mit der Faust in die Rippen. Janka erschrak, sah Pitania, ihre dunkelhaarige Freundin, harsch an, wendete sich Ramon erneut zu und erwiderte seinen Liebesschwur mit sanfter Stimme, kontrolliert, aber sanft liebevoll, aber bewusst.
Nach wenigen Sekunden des Schweigens – alle Worte, die gesagt werden mussten, waren gesagt – begann die Welt zu toben zwischen Janka und Ramon. Pitania wollte sich abwenden, erkannte aber, dass ein sich Abwenden allein nicht ausreichen würde, um das Vorhersehbare zu ertragen. Also war sie es, die an Ramons Stelle endlich aufsprang und laut zeternd aus dem Café stürmte. Wie gern wäre er ihr gefolgt, wie sicher war er sich doch, dass nur die Flucht das einzige Seelenheil versprechen konnte. Er nahm Jankas Hand, hielt behutsam ihre Finger, zog die Hand langsam an seinen Mund und küsste mit kaum spürbarer Berührung ihren Handrücken, ohne den Blickkontakt zu ihren Augen zu verlieren. Janka selbst war eher unruhig, schaute ihrer Freundin nach und schien sogar für einen Moment selbst aufstehen zu wollen, um ihr zu folgen, genoss aber im selben Moment die Berührung seiner Lippen auf dem Rücken ihrer Hand.
Janka fragte Ramon, noch während seine Lippen ihre Haut berührten, in welcher Prägungszeit er geboren sei. Fast unbeirrt, kaum erkennbar sein winziges Zucken, löste er seine Lippen von der köstlichen Sanftheit ihrer Haut, mit dem einzigen Wunsch, schweigen zu dürfen. Stattdessen offenbarte er Janka, dass er in der Zeit Sarkotans geboren sei, sich aber niemals zu den Sarkotaniern zugehörig gefühlt hatte und es auch keine Anzeichen gäbe, dass er jemals ein echter Sarkotanier werden würde.
Janka zog im Bruchteil einer Sekunde ihre Hand von Ramons Mund zurück, griff nach ihrem im Hüftgürtel steckenden Dolch und hielt ihn Ramon an die Kehle. „Du bist ein Sarkotanier?“, fragte sie Ramon mit aufgebrachter Stimme und deutlich ungeduldig mit dem Dolch zuckend. Ramon bewegte sich nicht, sich selbst die Frage stellend, warum er nicht schon vor langer Zeit dieses Café verlassen hatte, nicht mehrmals seinem Gefühl, einfach nur gehen zu wollen, gefolgt war und warum er so unendlich viel Glück allein durch den Blick in Jankas Augen erfahren hatte. Dann stieß er blitzschnell seinen Zeige- und Ringfinger der rechten Hand so tief in Jankas Augen, dass sie den Dolch fallen ließ und hektisch zuckend unter den Tisch glitt. Die Wucht seiner in ihren Kopf eindringenden Finger hatte nicht nur ihre wunderschönen Augäpfel zerquetscht und in ihr Gehirn gedrückt, sondern einen Großteil der Gefäße ihres Gehirns platzen lassen.
Er war kein Sarkotanier. Er war nur zufällig in dieser Prägungszeit geboren. Hatte er ihr das nicht klar genug mitgeteilt? Warum hatte sie nur so sehr überreagiert? War er noch Ramon?
Er sah unter dem Tisch den leblosen Körper Jankas, zwei breite Rinnsale ihres hellroten Blutes rannen ihr aus den Augen. Er reinigte seine verschmierten Finger mit einer Serviette, die er vorher mit etwas Wasser, das auf dem Tisch stand, angefeuchtet hatte. Sichtlich verunsichert kramte er eilig in seiner Tasche nach seinem Identifikations-Chip und präsentierte ihn in Richtung der nächstgelegenen Kamera, die sich in einer Ecke des Gastraumes unter die Decke montiert befand. Der Sachverhalt war eigentlich klar und er hatte keinerlei Bedenken, dass es seitens des Schnellgerichtes zu einer Fehleinschätzung kommen würde, aber ein gewisses Unbehagen fühlte er dennoch. Er setzte sich zurück auf seinen Stuhl, nahm einen letzten Schluck von seinem Kaffee und wartete auf den Richterspruch. Diesmal schien es länger zu dauern als sonst, aber er wertete dies noch immer nicht als bedenkliches Zeichen.
Draußen war inzwischen die Hilfseinheit angekommen. Sie hatten ihre beiden Fahrzeuge direkt vor dem Café auf dem Fußweg abgestellt, zwei Helfer waren ausgestiegen und warteten gemeinsam mit Ramon auf das Urteil. Endlich, nach etwa zehn Minuten, wurde das Urteil verkündet. Es lautete ‚Freispruch, trotz vorsätzlicher Tötung, wegen Notwehr‘. Einer der Helfer ging zurück zu seinem Fahrzeug, um den Urteilsspruch auf Ramons ID-Chip zu speichern, die anderen machten sich daran, Jankas Leiche zu entsorgen. Ramon nahm seinen Chip anschließend wieder an sich und verließ das Café sehr nachdenklich.
Er war sich seiner Veränderung bewusst, konnte aber noch nicht ansatzweise begreifen, was denn nun eigentlich los war mit ihm. Er tat Dinge, die er ganz bewusst nicht tun wollte und er tat Dinge nicht, von denen er überzeugt war, sie sofort tun zu müssen. Er konnte sich auch mit größter Anstrengung nicht dagegen wehren, dem Etwas zu gehorchen. Oder gehorchte er erst jetzt, zum ersten Mal, sich selbst?
Die Pubertät
Kaum hatte er das Café verlassen – er wollte einfach nur nach Hause, um sich ein wenig hinzulegen und das Erlebte zu verarbeiten – bemerkte er, dass er verfolgt wurde. Er schaute sich um und erkannte Pitania, Jankas Freundin, begleitet von ein paar Männern, die in konstanter Entfernung hinter ihr herliefen. Er wollte fliehen und hatte sich gerade überlegt, wie er sie am besten loswerden konnte, als er stehenblieb, sich langsam umdrehte und wartete, bis sie ihn erreicht hatten. Hinter der nächsten Ecke hätte er über die Seitenabsperrung hechten können und wäre in Sicherheit gewesen, aber nein, er drehte sich langsam um, stand einfach nur da und wurde mit jedem Schritt, den die anscheinend aufgebrachte Gruppe näherkam, ruhiger.
Eine belebte Straße inmitten der Stadt, er konnte drei Männer ausmachen und Pitania, alle vier hatten Messer in der Hand, weitere Messer in den Hüftgürteln und kamen schnell näher. Janka war also eine Woos gewesen, genau wie die potenzielle Mördergruppe, die sich da so schnell und von todbringenden Gedanken geleitet auf ihn zu bewegte. Völlig unverständlich drängte sich ihm der Gedanke auf, vielleicht die umherlaufenden Passanten um Hilfe bitten zu können. Ein Gedanke, den er zuvor noch nie gehabt hatte und von dem er sofort, als er ihn dachte, wusste, dass er völlig irrational und unsinnig war. Niemand hätte sich auch nur ansatzweise nach seinem Hilfeschrei umgedreht. Niemand.
Er schaute umher und rief: „Hallo Leute, ich werde angegriffen, könnte mir bitte irgendjemand helfen? Ich möchte niemanden verletzen und bitte euch um Unterstützung!“ Nicht einer der vielen Menschen reagierte. War klar.
Nun war die Gruppe nur noch wenige Meter von ihm entfernt. Er konnte den Hass in ihren Gesichtern sehen, die ohnmächtige Wut und die brutale, nackte Aggression. So waren sie nun einmal, die Woos, wenn sie in den Krieg zogen, denn die Prägungszeit der Woos war beherrscht von dunkler Energie und den Trieben der niedersten Tiere. Wissenschaftlich-spirituell gesehen waren die Woos aufgrund ihrer Tiefenprägung zum größten Teil und die meiste Zeit ihres Daseins den Tieren zuzuordnen, konnten aber auch in kontrollierten Momenten das größte Glück der Liebe verheißen oder mit ihrer durchaus vorhandenen Intelligenz brillieren, wie Janka noch vor wenigen Minuten.
Diese Vier wollten sein Leben, doch er war nicht bereit, es ihnen zu geben. Trotzdem stand er nur da, regungslos und angespannt, nicht in der Lage, sich zu entziehen und konzentrierte sich auf die Bewegungen der vier Angreifer. Fast gleichzeitig stießen sie mit ihren Messern auf ihn ein, hatten ihn umkreist und eingeschlossen, immer wilder und heftiger wurden ihre Stiche, doch kein einziger traf seinen Körper. Er wich den Stoßbewegungen der vier Woos so schnell aus, dass nicht ein einziger der Angreifer ihn treffen konnte.
Die Woos waren nach dem Misserfolg der ersten Angriffswelle sichtlich beeindruckt und verwirrt. Sie zogen sich kurz zurück, um das weitere Vorgehen zu besprechen, als Ramon den Angreifern den Vorschlag machte, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Schließlich war er freigesprochen worden und hatte lediglich in Notwehr gehandelt. Janka war diejenige gewesen, die ihn angegriffen hatte. In ihren Gesichtern konnte er ablesen, dass sie nun erst recht seinen Tod wollten und bereit waren, bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen. Wie lange würde er seine totale Konzentration noch aufrechterhalten können? Ihm wurde klar, dass er keinerlei Waffen bei sich trug, niemand da war, der ihm hätte helfen wollen und es für eine Flucht nun zu spät war.
Gerade wollte die Gruppe wieder angreifen, diesmal hatte sich jeder von ihnen mit gleich zwei Messern bewaffnet, da stellte er sich breitbeinig vor sie hin und begann das Lied Sarkotans zu singen. Er sang mit fester Stimme, obwohl er tief im Inneren völlig verängstigt war und die Woos hielten inne. Sie schienen bislang nicht zu wissen, dass er im Zeichen Sarkotans geboren war, denn auch Pitania hatte ja den Hergang im Café nicht mehr verfolgt, weil sie es nicht hatte ertragen können, wie Janka und Ramon sich ihre Liebe gestanden. Sie hatte das Café vor seinem Geständnis verlassen.
Sich wie in Zeitlupe bewegend, nahm Ramon die Kampfstellung der Sarkotanier ein, während er weiterhin mit lauter, glasklarer Stimme ihr Lied sang, von dem er bis vor wenigen Sekunden noch nicht einmal gewusst hatte, dass es überhaupt existiert. Mehr erstaunt über sich selbst als über die Reaktion der Angreifer, die sich spontan einige Meter zurückgezogen hatten und erneut zu tuscheln begannen, erstarrte sein Körper zu einer feindseligen Statue und verstummte sein Gesang zu geheimnisvoller Stille. Nicht einer der Passanten nahm auch nur ansatzweise Notiz vom Geschehen, keiner wollte auch nur einen Moment opfern, um zu erleben, was hier eigentlich geschah. So verstrich eine knappe Minute, bevor Pitania sich vorsichtig aus der Gruppe löste und ein paar Schritte auf Ramon zu ging.
„Bist du wirklich Sarkotanier?“, fragte sie ihn mit aufgeregter, aber immer noch zorniger Stimme. „Wo ist denn dann deine Waffe, wenn du wirklich ein so großer Kämpfer bist, wo denn?“ Ihren linken Arm in die Taille gestützt und den Kopf leicht zur Seite geneigt, wartete sie siegesbewusst auf eine Antwort, die ihr Ramon allerdings nicht geben konnte. Er hatte nun einmal keine Waffe und das wusste sie genau. Auch Ramon trat einen kleinen Schritt vor, baute sich noch einmal richtig auf, wodurch er gut fünf Zentimeter größer wurde, und sagte: „Ich benötige keine Waffen mehr, ich bin einer der Auserwählten, die nur durch die Kraft und Geschicklichkeit ihres Körpers unbesiegbar werden und in jeder Konsequenz todbringend sind. Ich bitte euch, es dabei zu belassen und jetzt sofort zu gehen.“ Ramon hörte sich selbst sprechen und wusste nicht genau, ob er nun eher über sich oder doch nur über das von ihm Gesagte lachen sollte. So einen Unsinn hatte er zuvor noch nie gehört und dieser Nonsens kam aus seinem eigenen Mund!
Pitania reihte sich wieder in den Kreis der Woos ein und sie begannen wieder zu flüstern, um sich nach einem kurzen Augenblick, ohne sich noch einmal umzudrehen, auf den Weg zu machen und in der Menge zu verschwinden. Sie kam dann aber doch noch einmal zurück, positionierte sich in etwa zehn Metern Entfernung vor Ramon und rief: „Hast du Janka wirklich aus Notwehr getötet, obwohl Ihr euch doch so sehr geliebt habt?“
Liebe? Liebe innerhalb von wenigen Augenblicken, bis dass der Tod euch scheide? Das konnte doch wohl nur ein Witz sein. Aber Pitania meinte das ernst, sie wollte diese Frage aufrichtig geklärt wissen und ließ Ramon keine Ruhe: „Hast du sie getötet, obwohl du sie so sehr geliebt hast, Mann? Sag es mir, oder ich muss …“ Sie sprach ihre Drohung nicht aus, denn sie hatte nichts mehr, womit sie hätte drohen können, aber dennoch war sie verzweifelt genug, um eine Dummheit zu begehen, wenn er ihr nicht bald antwortete.
Obwohl er selbst vor noch so kurzer Zeit einer der Hauptdarsteller in einer Liebesaffäre war, die nur wenige Minuten angedauert hatte, war es ihm aber nicht wirklich möglich zu verstehen, wie sich Menschen innerhalb von Augenblicken verlieben und wieder entlieben konnten. Wie wertlos doch dieses wunderbare Gefühl geworden war, wenn es an jeder Ecke aufflackerte, um kurz danach wieder zu erlöschen! Nicht die nutzlos vor sich hinplätschernden Menschen hatten sich geändert, sondern er. „Ich liebe sie noch immer!“, rief er ihr entgegen. „Und ich werde sie immer lieben, bis an mein Lebensende. Ihr Tod war ein Unfall, nicht mehr und nicht weniger.“ Er fühlte, weinen zu wollen. Pitania drehte sich um und verschwand. Wer hatte da eben gesprochen und was hatte der, der da eben gesprochen hatte, gesagt?
Die Anspannung der Bedrohung fiel von ihm ab und er setzte sich vor dem Schaufenster eines Einzelhandelsgeschäfts auf einen Video-Kontrollkasten, wobei er peinlichst darauf achtete, die Videolinse nicht zu verdecken. Je länger er darüber nachdachte, was in der letzten Stunde geschehen war, desto sicherer war er sich, dass all das seine absolute Richtigkeit hatte. Er versuchte tief in sich hinein zu fühlen und erkannte, dass alles, was er in der Zeit getan und gesagt hatte, genau ihm selbst und der absoluten Wahrheit entsprach. Ja, er liebte Janka. Ja, er war ein Sarkotanier. Nein, er brauchte keine Waffen, wobei das Letztere allerdings noch nicht endgültig bewiesen war.
Da er noch eine Weile sitzen bleiben wollte, aber sehr starken Durst verspürte, orderte er über seinen NetSat einen Wasserläufer, der ihm etwas frisches Wasser bringen sollte. NetSat ist ein Netz-Satellit, der uneingeschränkte Kommunikation ermöglicht. Während er so vor sich hinstarrte und die vielen Menschen an sich vorbeilaufen sah, in ihre Gesichter blickte und erkannte, wie tot sie eigentlich waren, überkam ihn das erbärmliche Gefühl tiefer Trauer um diese Menschen und um seine junge Liebe. Er kämpfte, den Kopf tief gebeugt und reglos auf seine Schuhe starrend, erneut mit seinen Tränen.
„Wasser, Aqua, Eau, Water!“, rief der Wasserläufer mit blecherner Stimme, nachdem Ramon seine Anwesenheit mehr als zehn Sekunden lang ignoriert hatte. Er zückte seinen ID-Chip, hielt ihn an den Kartenleser und bekam einen köstlich-kalten Viertelliter reinsten Wassers.
Kaum hatte er bezahlt, bemerkte er neben sich stehend eine junge Frau, die ihn auffordernd ansah und ihn mit ihrem Handrücken an seiner Schulter berührte. „Ich finde dich richtig süß, Mann!“, sagte sie. „Ich möchte, dass wir zusammen sind und dass du mir auch einen Becher Wasser kaufst.“ Ramon zögerte, sah sie an, von oben nach unten und von unten nach oben, wodurch sie bereits unruhig wurde und erneut auf ihn einredete: „Jetzt sag bloß, ich gefalle dir nicht oder so was. Ich will jetzt mit dir zusammen sein, also steh auf, kauf mir Wasser und küss mich, Fremder!“ Er zückte sitzend erneut seine Karte und orderte einen weiteren Becher Wasser, den die Maschine auch sofort zur Verfügung stellte. Die junge Frau nahm den Becher und trank ihn in einem Zug aus. Direkt nachdem sie den Becher auf die Straße geworfen hatte, fragte sie Ramon, ob er sie zum Essen einladen wollte oder ob sie vielleicht lieber erst Sex haben sollten.
Ramon schaute sie noch einmal von Kopf bis Fuß an und wunderte sich über seine absolute innere Leere. Zweifellos eine atemberaubend hübsche Frau, dachte er bei sich, aber wer oder was war er selbst? Es war völlig normal, dass Frauen irgendwelche Männer ansprachen und sofort eine enge Beziehung eingingen. Und es war auch so, dass die Männer in der Sache wenig zu sagen hatten. Hatte er noch bis vor einem halben Tag völlig selbstverständlich in dieser Gesellschaft gelebt, so konnte er sich jetzt nicht mehr daran erinnern, wie der Alltag und die Normalität überhaupt aussahen. Er sah die Frau an und fragte sich, was wohl geschehen würde, wenn er ihr sagte, dass er kein Interesse hätte.
Also stand er auf, er war gut einen Kopf größer als sie, und sagte: “Liebe Frau, die vergessen hat, mir ihren Namen zu sagen. Mir ist vor sehr kurzer Zeit etwas sehr Schlimmes passiert. Ich hatte mich in einem Café nicht weit von hier in eine junge, sehr hübsche Frau verliebt, die mich kurz darauf mit einem Messer bedrohte. Ich musste die Frau in Notwehr töten, obwohl ich sie wirklich geliebt hatte und sogar noch immer liebe. Ich bin im Moment aufrichtig nicht in der Lage, eine neue Beziehung einzugehen. Deshalb möchte ich Sie auch nicht zum Essen einladen oder Sex mit Ihnen haben. Ist das in Ordnung für Sie?“ Er hatte die Höflichkeitsform gewählt, sprach die junge Frau mit ‚Sie‘ an. Das hatte er selbst noch nie gehört.
Vielleicht lag es an der Frage am Schluss seiner Ausführungen, an der Höflichkeitsform oder vielleicht auch an der Tatsache an sich, dass er sie nicht wollte und er sie augenscheinlich vor allen Menschen in aller Öffentlichkeit demütigte – ihre Reaktion auf sein ablehnendes Statement war jedenfalls furios. Und nicht nur sie, sondern alle umstehenden Frauen und sogar einige Männer schrien auf ihn ein, was er sich denn einbilde, eine Frau so fertigzumachen. Was er denn glaube, wie er das jemals wieder gut machen könne, außer vielleicht durch eine größere Geldzuwendung, die natürlich jetzt sofort und vor Zeugen zugestanden werden musste. Der Menschenauflauf, der sich um ihn herum immer enger formierte und immer lauter wurde, nahm bedrohliche Formen an, und er entschied sich, getrieben durch seine Not, erneut das Lied der Sarkotanier anzustimmen. Nur dass das hier niemanden interessierte und die Menge unaufhörlich näherkommend nun auch schon vereinzelt zu Handgreiflichkeiten überging, trotz seines strammen Gesanges.
Die junge Frau, deren Schreien und Zetern inzwischen in jämmerliches Schluchzen, wohl wegen der jähen Zurückweisung, übergegangen war, stand von Ramon leicht abgewandt und herumfuchtelnd inmitten der Menge. Was im Namen der übersinnlichen Prägung war hier eigentlich los? Wie war es möglich, dass die Menge ohne jegliche Anteilnahme einen Mordversuch auf offener Straße ignorierte, aber bei der Zurückweisung einer Frau durch einen Mann voller Emotionen Partei ergriff? Ramon löste sich aus der Umklammerung einiger Passanten, drängte auf die junge Frau zu, drehte ihren Körper und ihr Gesicht in seine Richtung und gab ihr einen langen, intensiven Kuss.
Sofort brach in der Menge freudiger Jubel aus, Glückwünsche wurden in die laue Luft postuliert, und die Menge löste sich so schnell auf wie sie sich zusammengerottet hatte. Nur kurze Zeit später standen Ramon, die junge Frau und der Wasserträger wieder allein vor dem Schaufenster und sahen sich an. Um sie herum liefen die Passanten teilnahmslos an ihnen vorbei. War das Glück, was er da in ihrem Gesicht und in ihren strahlenden Augen sehen konnte? Und falls ja, wie war das möglich? Sie kannten doch noch nicht einmal ihre Namen!
Sie trat einen Schritt zurück, stampfte mit dem rechten Fuß auf den Boden auf und fragte laut: „Also, essen oder Liebe machen?“ Ramon begann leicht seinen Kopf zu schütteln, so wie ein Mann, der etwas gesehen hat, was eigentlich unmöglich existieren kann oder einfach nicht sein darf. Zum Beispiel, wenn die gegnerische Mannschaft in einem entscheidenden Feuerball-Spiel den letzten Verteidiger der heimischen Mannschaft gerade eingeäschert hat. Eine Kopfbewegung, die in der Regel aus einer Mischung aus Unverständnis und Entsetzen erzeugt wurde. Er wendete sich für einen Augenblick ab, um einen klaren Gedanken fassen zu können, als sein Blick in die Auslage des Schaufensters fiel, vor dem die beiden, das junge Paar, in diesem Moment standen.
Es war eine Hochzeits-Boutique. Raa, so war der Name der jungen Frau, folgte Ramons Blick in das Schaufenster, und als sie die Auslagen ebenfalls registriert hatte, entwich ihr ein spitzer Schrei, ein wirklich lauter, spitzer Schrei, der keiner weiteren Interpretation bedurfte. War das Glück, was er da in ihrem Gesicht und in ihren strahlenden Augen ausmachen konnte? Und falls ja, wie war das möglich? Sie wollte ihn jetzt sofort heiraten, ohne auch nur seinen Namen zu kennen?
Er erinnerte sich an die Seitenabsperrung hinter der nächsten Ecke und ging noch einmal auf Raa zu. „Schließ deine Augen, Kleines, als sei es das letzte Mal“, sagte er leise, küsste sie leidenschaftlich auf den Mund und ihren Hals und begann zu rennen. Bevor sie verstanden hatte, was genau geschehen war, hatte er die Straßenbiegung erreicht und war über die Absperrung gehechtet.
Hinter der Absperrung gab es mehrere Möglichkeiten, ungesehen zu entwischen. Immer wieder schaute er zurück, um sicher sein zu können, dass ihm niemand folgte. Er hatte beschlossen, jetzt sofort nach Hause zu gehen. Es waren genug Abenteuer für heute gewesen und er musste jetzt unbedingt zur Ruhe kommen, um seine Gedanken und Gefühle zu ordnen.
Als sich die Haustür vor ihm öffnete und ihm beim Eintreten über Lautsprecher der Hausstatus mitgeteilt wurde, erfuhr sein Körper sofort die Wärme und Geborgenheit des Zuhauses. Ihm wurde mitgeteilt, dass seine Mutter im Haus war, und er wollte ihr sofort von seinem Tag berichten. Er traf sie in der Küche an, begrüßte sie mit einem “Stell dir vor, was mir heute alles passiert ist!“ und wollte gerade mit seinen Ausführungen beginnen, als ihm seine Mutter ins Wort fiel: „Ich weiß, ich weiß, Junge! Schade um das Woos-Mädchen, aber die andere hättest du doch wirklich nehmen können, sie war immerhin eine Garibé, wie ich herausgefunden habe. Nach eurer Heirat hätte sie uns bestimmt viele Enkel geschenkt, denn die Garibés sind unglaublich fruchtbar, wie du weißt. Vater wäre auch einverstanden gewesen. Es ist schon spät und ich habe noch so viel zu tun! Könntest du bitte deine Schwester abholen, ich möchte sie im Moment nicht allein gehen lassen, wegen der vielen gemordeten jungen Mädchen in der letzten Woche.“
Ramon ging wortlos in seinen Bereich des Hauses und versiegelte die Tür hinter sich. Nein, heute würde er seine Schwester nicht abholen, sondern meditieren und nachdenken, in der Hoffnung, verstehen zu können, was passiert war, und er würde seine Räume erst verlassen, wenn er es herausgefunden hatte. Wer war diese Frau in der Küche?
Zum Glück hatte er noch eine Woche Urlaub für das laufende Jahr, den er sofort über sein Informationsterminal beantragte. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis die Bestätigung und Genehmigung seines Urlaubs angezeigt wurde. Darüber war er irgendwie erleichtert, obwohl er sich andererseits sicher war, dass er den Urlaub auch ohne Genehmigung genommen hätte.
In der folgenden Woche verließ er seinen Bereich nur, um sich aus der Küche etwas Trink- oder Essbares zu holen, sprach mit keinem Menschen und antwortete nicht auf das Rufen seiner Familie oder Anrufe auf seinem NetSat. Seine Gedanken kreisten immer wieder um die Bilder der letzten Tage, die Erlebnisse und Gefühle seit seinem Besuch beim Arzt und seinen dortigen Kurzschlaf. Es schien in ihm zu brodeln und er erlebte in seinen Fantasien die ganze Welt aus der Sicht eines ihm unbekannten Wesens, träumte nachts nie Geträumtes und sprach mit sich selbst wie mit einem Fremden.
Der Mann
Es war noch sehr früh, kaum fünf Uhr morgens, als er aufwachte und sofort die innere Unruhe verspürte, mit der er auch eingeschlafen war. Immer wenn er die Augen schloss, sah er Jankas Gesicht vor sich und sah ihre schönen Augen, die er ihr leider in den Kopf gequetscht hatte. Die Bilder, die er sah, wechselten ständig. Ihm erschien auch immer wieder seine Mutter, die ihn anstarrte und völlig entgeistert auf ihn einredete, dass er aufhören solle, sich so albern zu benehmen, dass sie ihn nicht mehr kennen würde und er irgendwie gar nicht mehr ihr Sohn sei.
Hatte er sich tatsächlich so sehr verändert? Warum konnte ihn denn niemand mehr verstehen, oder, warum verstand er die Menschen nicht mehr, noch nicht einmal mehr seinen Vater, zu dem er doch immer zumindest irgendeine Beziehung gehabt hatte? Schon seit einigen Tagen sprach sein Vater nicht mehr mit ihm. Wenn Ramon ihm eine konkrete Frage stellte, oder ihm etwas mitzuteilen versuchte, stand der nur da und schloss die Augen, schweigend.
So lag er da, fast war es noch Nacht, und stellte sich Fragen über Fragen, ohne irgendwelche Antworten finden zu können. ‚Wenn ich mir doch nur diese Unruhe erklären könnte, die ich in meinem ganzen Körper fühle‘, dachte er bei sich, aber es gelang ihm nicht. Je mehr er reflektierte, desto unverständlicher erschien ihm seine Situation und es blieb nur eine dumpfe Ahnung dessen, was um ihn herum geschah und mit ihm geschehen war. Er konnte die Falschheit der Menschen nicht mehr ertragen. Und zu diesen Menschen gehörten nun auch seine Mutter, der Vater, den er, soweit er sich erinnern konnte, immer sehr respektiert hatte, und seine beiden Geschwister, die ihm immer sehr wichtig und wert waren, auch wenn er seinen Bruder seit seinem achten Lebensjahr nicht mehr gesehen hatte.
Eine Woche war vergangen und in zwei Stunden würde er aufstehen müssen, um sich über sein Terminal rechtzeitig zur Arbeit anzumelden, aber er hatte noch keine Ahnung, wie er das machen sollte und warum. Er hatte große Angst davor, wie jeden Morgen zu Arbeitsbeginn die Sekretärin begrüßen zu müssen, als wäre alles in Ordnung, obwohl er doch ganz genau wusste, dass sich diese Frau einen Scheißdreck um ihn scherte, er sofort tot vom Stuhl fallen konnte, ohne dass sie auch nur ein Wort darüber verlieren würde, und so war es auch bei all den anderen, seinen ach so eifrigen Kollegen, mit denen er gerade für seinen Arbeitgeber eine Software zur verbesserten Fernsteuerung der Jupiter-Roboter umzusetzen hatte, und allen anderen Menschen, die er kannte. Es war ihm nicht mehr möglich, diese gefühllosen, leblosen Körper zu akzeptieren, oder auch nur zu tolerieren. Je intensiver er darüber nachdachte und seine neue Gefühlswelt realisierte, desto klarer wurde ihm, dass er allein sein musste, und desto stärker wurde diese unglaubliche Unruhe in ihm, die einen Zustand unerträglicher Spannung im ganzen Körper auslöste. Er beschloss, nicht aufzustehen, sondern sich mit Autosuggestion und autogener Praktik selbst zu beruhigen. So saß er reglos in seinem Bett. In ihm war der Entschluss gereift, sein Zuhause, diese Stadt, ja vielleicht das Land oder sogar die Welt zu verlassen, und genau diesen Entschluss wollte er umsetzen, sowie er einigermaßen zur Ruhe gekommen war.
Er erinnerte sich an seine Gedanken in der Arztpraxis vor einer Woche, wie ihm sein zukünftiger Lebensweg doch als so klar vorgegeben und als unveränderbar vor ihm liegend durch den Sinn ging – und nun war er kurz davor, sein gesamtes Leben und seine Zukunft zu ändern, seine Familie, seine Freunde und Kollegen zu verlassen und einen ganz anderen Weg zu wählen, den Weg in die Ungewissheit. Aber die Angst zu bleiben war viel größer als die Angst vor dem Neuen und so überlegte er in aller Ruhe, was genau er nun zu tun gedachte. Er würde all seine Karten und Chips, mit denen er irgendetwas kaufen konnte, zusammensuchen, um zumindest in der Anfangszeit versorgt zu sein. Er würde nur das Nötigste mitnehmen, um schnell und flexibel zu sein, auf jeden Fall aber sein tragbares Terminal und seine Musiksammlung – nun gut, vielleicht nicht die ganze Sammlung, aber zumindest die alten Sachen, die es gar nicht mehr zu kaufen gab. Er würde sich von niemandem verabschieden, das war ebenfalls sicher. Mit diesem festen Entschluss legte er sich wieder in sein Bett zurück und sprach wortlos denkend die Beruhigungsformeln, die ihm die innere Spannung und Unruhe nehmen sollten. Tatsächlich, nach einiger Zeit fühlte er seinen Herzschlag wesentlich ruhiger, seine Muskelverkrampfungen lösten sich allmählich und das Gefühl elektrischen Stroms, das noch vor Kurzem durch seinen Körper geflossen war, wich einer angenehmen Wärme, auf die er sich nun konzentrierte und die er zu einem wohligen Ganzkörpergefühl ausbaute.
Immer wieder, ohne es verhindern zu können oder zu wollen, sah er Jankas schönes und unverletztes Gesicht vor sich. Er hätte sie einfach küssen sollen, als sie ihm das Messer an die Kehle gedrückt gehalten hatte. Er hätte sich langsam zu ihr hinüberbeugen, ihr mit sanften Worten die Angst vor den Sarkotaniern nehmen und mit gespitztem Mund und geschlossenen Augen einen sanften Kuss auf die Lippen drücken können. Stattdessen hatte er sie ohne einen Gedanken getötet. Eine Träne löste sich aus dem kleinen See in seinem rechten Auge und bahnte sich ihren Weg bis hin zur Ohrmuschel, vorn entlang am Muschelzäpfchen und am Ohrläppchen vorbei bis hin zum Hals, wo sie in der Nähe des Haaransatzes vom Kissen aufgesogen wurde. Ramon verfolgte konzentriert die Tränenspur und beschloss erst dann aufzustehen, wenn er nichts mehr von der Träne spürte. Es dauerte nur kurze Zeit, da wegen der geöffneten Ventilation eine leichte Luftbewegung im Raum herrschte, die die Tränenflüssigkeit der Tränenspur erkalten und langsam trocknen ließ.
In diesem Moment geschah es erneut, und er hatte diesmal das Gefühl, dass auch der letzte Rest von ihm seinen Körper verlassen hatte. Es war ihm wieder möglich, sich in seinem Bett liegend zu betrachten, wie in der Arztpraxis. Nur, dass diesmal noch ein anderes, sehr intensives Gefühl hinzukam, das er sowohl außerhalb seines Körpers als auch tief in sich selbst verspürte. Mit diesem fast unerträglich schönen Gefühl gewann er die fundamentale Erkenntnis über die Zusammenhänge aller Dinge, erlangte das Wissen um seine eigene Veränderung und sah das wahre Wesen des Menschen in nur einem Augenblick. Erst als die Tränenspur völlig getrocknet war, stand er auf und machte sich sofort an die Arbeit, seine Sachen für den Abmarsch in einen Schultersack zu packen. Sein Körpergefühl war in Ordnung, aber die totale Verwirrung über das gerade Erlebte und sein Schuldgefühl in Bezug auf Jankas Tod machten ihm sehr zu schaffen. Eine Mischung aus Trauer, Unglaube und Selbstverachtung hatte ihn ergriffen, verzerrte sein hübsches Gesicht zu einer theatralischen Grimasse. Er begann, sehr leise die Melodie des Liedes Me Voy por la Luna zu summen, während er sich lange im Spiegel anschaute.
Seine Entscheidung, sich von niemandem zu verabschieden, stand nach wie vor fest. Keine Kompromisse! Also wartete er, bis die gesamte Familie das Haus verlassen hatte, ignorierte die fiependen Warnmeldungen seines Terminals, an dem er sich schon vor einer Stunde zur Arbeit hätte angemeldet haben müssen und vermied es, obwohl er sich so gern einen Schnellkaffee gemacht hätte, in die Küche zu gehen, bevor alle weg waren. Seine Sachen waren gepackt, die letzte Überprüfung auf Vollständigkeit durchgeführt, jetzt brauchte er nur noch ein Ziel und den Mut, endlich einfach nur aufzustehen und zu gehen. Das wenig greifbare Ziel war eigentlich festgelegt, es hieß Einsamkeit – weit weg von den Menschen, die er nicht mehr ertragen konnte. Aber wohin?
So verließ er also mit einem Schultersack auf dem Rücken seinen Wohnbereich, küsste auf dem Weg zum Ausgang liebevoll die zwei Wandbilder seiner Schwester und des Bruders, die im Ausgangsbereich des Hauses hingen, nahm den uralten, reparaturbedürftigen Scooter, der wie immer vor dem Haus stand, und fuhr geradeaus in Richtung Stadtzentrum. Genau in dem Moment, als er sich noch einmal zum Abschied umdrehen wollte, flog ihm ein kleines Insekt in das linke Auge, also drehte er sich nicht mehr um und fuhr, das Auge reibend, weiter geradeaus.
Aufbruch in die Einsamkeit
Abwechselnd saß und lag er schon den ganzen Vormittag auf einer Ruheliege vor dem Schwebebahnterminal, ein wenig abseits von der Menge, die sich unaufhörlich auf der einen Seite in das Terminal hineinwälzte und auf der anderen Seite aus dem Terminal herausquoll, und dachte darüber nach, wohin er gehen sollte. Es war nur ein kleiner Augenblick seines Lebens und schon hatte er all die Schlechtigkeit und Ignoranz der Menschen gesehen. Er war sich sicher, nicht noch eine Weile unter ihnen verbringen zu wollen und er konnte es nicht mehr ertragen, sie auch nur sprechen, lachen oder fluchen zu hören. Zu guter Letzt war es ein völlig neues Gefühl, ein mit Angst verbundenes, körperliches Unwohlsein, das mit der Nähe zu einem Menschen anstieg, nur bei Wahrung einer relativen Distanz erträglich war und ihn zwang, die Stadt jetzt sofort zu verlassen.
Er stand also auf, noch immer nicht wissend, wohin er flüchten sollte und beschloss, den Bahnhof auszuwählen, zu dem am wenigsten Menschen im Verlauf des letzten Jahres gefahren waren. Er wendete sich zum Kauf des Fahrchips also nicht wie gewöhnlich an den Automaten, sondern suchte den einzigen bemannten Sonderschalter auf. Es dauerte einige Zeit, bis er ihn gefunden hatte, denn er befand sich in der äußersten Ecke des Terminals. Ein alter Mann begrüßte ihn gleichgültig, nachdem er vor den Schalter getreten war.
„Wohin, der Herr?“ Ramon legte seinen ID-Chip auf den Tresen und trug sein Anliegen vor: „Ich möchte bitte dorthin fahren, wo im Verlauf des letzten Jahres bis heute die wenigsten Menschen hingefahren sind.“ Der alte Mann schaute ihn an und begann verständnisvoll zu nicken. Dann tätigte er einige Eingaben über die Tastatur seines Terminals, schaute zwischendurch immer wieder in einem anscheinend sehr alten, deutlich verschmutzten Büchlein nach, das er inzwischen aus seiner Jackentasche gezogen hatte, und erstellte den Fahrchip, ohne Ramon zu sagen, zu welchem Ziel er ihn bringen würde. Er nahm Ramons ID-Chip, bearbeitete die Bezahlung des Fahrchips und gab beides wortlos mit einem sehr gefühl- und verständnisvollen Lächeln an ihn zurück.
„Deine Bahn fährt in dreißig Minuten aus der Ebene 14 ab“, sagte er, als er die Chips über den Tresen schob. „Die nächste fährt erst in einem Monat.“
„Wohin wird denn die Bahn fahren?“, entgegnete Ramon, aber der Mann erwiderte nur kurz und sachlich, dass es keinen Sinn machte, ihm den Namen des Zielortes zu nennen. Ramon machte sich sofort auf den Weg in die Ebene 14, ohne wirklich zu wissen, wohin sein Schicksal ihn führen würde. Er beschloss, sich noch mit etwas Reiseproviant einzudecken, da es in den Bahnen zwar auch alles zu kaufen gab, was das Herz begehrte, aber zu Preisen, die er auf keinen Fall akzeptieren konnte. Zur Sicherheit wollte er noch überprüfen, über welche Zahlungsmittel in welcher Höhe er aktuell verfügte.
Zum Glück hatte er gerade für einen neuen Scooter gespart, den er nun natürlich nicht mehr benötigte, weil diese Geräte ausschließlich in Städten genutzt werden konnten. Scooter bekamen ihre Energie aus den unzähligen Transmitter-Sendern, die überall in der Stadt angebracht waren. Das war sehr praktisch, weil man sie nie aufladen musste und sie eigentlich immer betriebsbereit waren – allerdings nur in städtischen Gebieten eben. Als er seine diversen Karten an einem Checkpoint überprüft hatte, fühlte er sich beruhigt und sicher. Er verfügte insgesamt über mehr als 14.000 Einheiten. Es würde eine ganze Zeit dauern, wenn er nicht übermütig würde, dachte er bei sich, bis er sich neue Einheiten beschaffen oder verdienen musste.
Als er, in der Ebene 14 angekommen, vor einem völlig ramponierten Mercado-Automaten stand, fiel ihm eine Schlagzeile auf, die sich auf einer E-Zeitung in einem der Verkaufsschächte befand:
GLOBENET GAZETTE
Naha-Region: Fast 4T Tote durch Alien-Viren –
Epidemie nicht mehr kontrollierbar
Er hatte die Berichterstattung der letzten Tage zu diesem Thema über sein Informationsterminal verfolgt, als er sich in seinen Wohnbereich bei den Eltern zurückgezogen hatte. Es waren angeblich unbekannte Viren in der Stratosphäre entdeckt worden, die unglaubliche Resistenz-Eigenschaften hatten und durch verschiedene Flugkörper, an die sie sich geheftet hatten, auf die Erdoberfläche gelangt waren, so die offizielle Version der Nachrichten zu diesem Thema. Die Information allerdings, die über einige inoffizielle Sender kommuniziert worden war, besagte etwas anderes. Demgemäß sollte es schon vor fast einhundertfünfzig Jahren einen sehr ähnlichen Fall gegeben haben. Auch damals war berichtet worden, es handele sich um außerirdisches Leben. Tatsächlich hatte aber nur ein indisches Forschungslabor die Sicherheitsbestimmungen missachtet und Versuchsviren waren von dort aus freigesetzt worden. Es war richtig, dass diese Viren noch unbekannt waren, aber von einem anderen Planeten waren sie nicht. Regierungen, große Firmen und einflussreiche Persönlichkeiten hatten sich damals zu Wort gemeldet und diejenigen, die am lautesten die nicht-irdische Herkunft propagiert hatten, hatten sich schlussendlich als eigentliche Verantwortliche oder Nutznießer herausgestellt. Gemäß verschiedener privater Sender, die in der Regel nicht über eine Sendegenehmigung verfügten, aber mit Sicherheit die bessere Informationsquelle darstellten, war es diesmal nicht anders, nur, dass es diesmal nicht bei einigen tausend Toten bleiben würde, sondern das Hundertfache wahrscheinlich war. Und nun, etwa eine Woche nach dem Virenfund, war diese Nachricht in den allgemeinen Medien.
Allein durch die Tatsache, dass die Gesamtlandmasse sich bei gleichzeitig und stetig steigender Weltbevölkerung kontinuierlich auf weniger als die Hälfte reduziert hatte, erhöhte sich die Verbreitungswahrscheinlichkeit und -geschwindigkeit unbekannter Viren erheblich. Das persönliche Ansteckungsrisiko wurde hierdurch ebenfalls sehr viel höher. Aber für ihn, hier und heute, war es viel weniger diese große Gefahr, die drohende, vielleicht weltweite Epidemie, die ihm die Tränen in die Augen trieb, sondern vielmehr die Tatsache, dass es keinen Menschen in dieser verdammten Stadt wirklich interessierte. Die beklagenswerten Toten waren zehntausend Kilometer weit entfernt und die Menschen dieser Stadt würden erst dann einen Gedanken an die betroffenen Menschen oder die Viren verschwenden, wenn der erste von ihnen selbst tot umgefallen war. Das war es, was ihn wirklich traurig machte, während er am Mercado-Automaten stand und seinen Reiseproviant kaufte, das war der wesentliche Grund, aus dem er flüchtete.
Allein, ihm war nicht recht wohl, jetzt, wo die Abfahrtszeit der Schwebebahn fast erreicht war und er noch immer nicht wusste, wohin er eigentlich fahren würde. Er suchte nach einem Chipleser, um die Zielinformation wenigstens kurz anzeigen zu lassen, fand aber auf die Schnelle keinen funktionsfähigen. Die Bahn selbst schwebte bis zu den äußeren östlichen Territorien und war für die gesamte Strecke mindestens zwölf Stunden unterwegs. Wenn er die Fahrpreisstruktur noch richtig im Kopf hatte, er war allerdings schon sehr lange nicht mehr mit einer Bahn unterwegs gewesen, musste er etwa auf halber Strecke, also nach ungefähr sechs Stunden Fahrtzeit aussteigen. Es wurde Zeit, sich in die Schwebebahn zu begeben, obwohl ihm noch nicht wirklich wohler war, denn er kannte die Route nicht und konnte somit nicht annähernd abschätzen, wo, in welchem Gebiet oder in welcher Region des Landes er aussteigen musste. Da ertönte der letzte Aufruf zum Einsteigen und Ramon stieg ein, suchte seine Kabine und seinen Platz auf und setzte sich.
Er war allein in einem Abteil, regelte mit dem Dimmer die Lichtdurchlässigkeit des Fensterglases so, dass nur wenig Tageslicht in das Abteil fiel, er aber gut hinaussehen konnte. Er war sehr erstaunt, als er neben der Ein-/Ausgangstür in seinem Abteil ein Informationsterminal entdeckte. Das war ihm neu, aber er war ja auch schon lange nicht mehr mit der Bahn gefahren und war sehr froh, jetzt doch noch seinen Fahrchip auslesen zu können. Er legte ihn nun in die Lesevorrichtung und wählte auf dem Display die Option ‚Zielinformation‘. Wenige Sekunden später wurden die Zielinformationen angezeigt. Die Anzeige sagte aus, dass er, wie er schon anhand des Fahrpreises annähernd kalkuliert hatte, fünf Stunden und 33 Minuten unterwegs sein würde. Es lagen drei Haltepunkte vor ihm, bevor er am vierten aussteigen musste. Seine Station hatte den Namen Ural-Batan.
Ramon dachte angestrengt nach, ob er diesen Namen schon einmal gehört oder gelesen hatte, aber er schien Ural-Batan wirklich noch nie gehört zu haben. Er wählte die Option ‚Mehr Zielinformationen‘ an, wartete wieder einige Sekunden und bekam angezeigt:
URAL-BATAN
Population:
0 Mensch, 0 Tier
Luft:
38% Sauerstoff
Wasser:
11% Verfügbarkeit,
5% Trinkbarkeit
Zuständigkeit:
UZ (Union Zentraleuropa)
Rechtsform:
Keine
Lebensqualität:
0%
Kriminalität:
0%
Hektar-Preis:
0 Einheiten
Gesundheitsrisiko:
Unbekannt
Er war alles andere als begeistert, erinnerte sich aber an seine Worte, mit denen er den Fahrchip gekauft hatte: „Ich möchte dorthin, wo die wenigsten Menschen hingefahren sind“, und das schien durchaus zuzutreffen. Spontan wäre er, nachdem er die Daten zum Zielort Ural-Batan gelesen hatte, wohl am liebsten wieder ausgestiegen, aber nur im ersten Moment, denn schon bei seinem zweiten Gedanken, ‚hoffentlich kann ich die Fahrt über allein bleiben in meinem Abteil‘, wurde ihm sehr klar, dass dies wohl der beste und vielleicht einzige Ort für ihn war, der infrage kam.
Es verging noch eine kurze Weile, als sich die Schwebebahn in Bewegung setzte. Er war noch immer allein im Abteil und sehr froh darüber. Wahrscheinlich würde jetzt auch kein Fahrgast mehr kommen, zumindest bis zur nächsten Station nicht. Von dem Moment an, als die Bahn angefahren war, fühlte er sich sehr eigenartig. Er war einerseits sehr aufgeregt und unruhig, konnte sich nicht entscheiden, ob er nun die Entertainment-Konsole anmachen, lieber aus dem Fenster sehen oder seine Unterlagen studieren sollte, und war andererseits so müde und innerlich ruhig, dass er ernsthaft in Erwägung zog, einen Moment zu schlafen. Schnell zog die Skyline seiner alten Heimat, der Millionenstadt Alemania City, an ihm vorbei und schon nach wenigen Augenblicken hatten sie das Stadtgebiet verlassen und die freien Territorien erreicht. Ramon entschloss sich, zunächst etwas zu ruhen und sich dann noch einmal ausgiebig mit seinem Zielort Ural-Batan auseinanderzusetzen. Er brachte seinen Sitzplatz in die Liegeposition, kuschelte sich in seine Jacke und schlief wenig später ein.