Der Mann meines Lebens - Xavier Bosch - E-Book

Der Mann meines Lebens E-Book

Xavier Bosch

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Beschreibung

Kann aus Freundschaft doch noch Liebe werden? Kim und Laura kommen aus unterschiedlichen Welten, als sie sich an der Universität kennenlernen und voneinander fasziniert sind. Sie verstehen sich gut, wollen allerdings »nur beste Freunde« sein – was sie verbindet, möchten sie nicht aufs Spiel setzen. Dreißig Jahre lang bleiben sie auf diese Weise verbunden, obwohl ihre Wege schließlich auseinanderdriften. Doch immer, wenn sie sich begegnen, ist da dieses Gefühl, dass es vielleicht doch Liebe sein könnte. Bei einer Geburtstagsfeier sehen sie sich im Grand Hotel Rafaeli in Barcelona wieder. In dieser Nacht geschieht etwas Unerwartetes ... »Ein faszinierendes Buch um die Unmöglichkeit der Freundschaft zwischen Mann und Frau … Ein Roman über die Vergänglichkeit der Zeit, über Träume und Wünsche und die Suche nach dem Glück.« El Mundo

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Wir danken dem Institut Ramon Llull für die freundliche Unterstützung

der Übersetzung dieses Buches.

 

© 2017 by Xavier Bosch

© 2017 für die katalanische Ausgabe:

Columna Edicions, Llibres i Communicació, S.A.U.

Titel der katalanischen Originalausgabe: Nosaltres dos

© 2021 für die deutschsprachige Ausgabe:

Thiele Verlag in der

Thiele & Brandstätter Verlag GmbH,

München und Wien

Covergestaltung: Christina Krutz, Biebesheim am Rhein

Covermotiv: Gerard DuBois/Marlena Agency

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

Zitat

Das unsichtbare Band

1983

DIE GLÜCKLICHEN ZWANZIGER

1 – Drei Synonyme pro Sekunde

2 – Die kurzen Schritte der Vorfreude

3 – Der Tag, an dem ich Dickens kennenlernte

4 – Puccini zieht immer

5 – Eines Tages gehe ich nach Los Angeles

6 – Ein Stück Paris

7 – Die fünfunddreißigtausend Wörter des Diktionärs

8 – Warten auf Carl Lewis

9 – Wie Weihnachten im August

10 – Wie eine unsichtbare Insel

2001

SCHWINDELERREGENDE STUNDEN

11 – Next station: Rock ’n’ Roll

12 – Eine Stimme wie aus Bronze

13 – Worcestersauce

14 – Eine verkappte Yoko Ono

15 – Die Musik der Götter

16 – Ich habe Russisch Roulette gespielt

17 – Das alles tue ich nur für euch

18 – Es gibt nur ein Geheimnis

19 – Mit verhaltenem Zorn

20 – Wie eine Primadonna

21 – Vierundzwanzig Stunden den Helden zu spielen, ist sehr ermüdend

22 – Verlange von mir, was du willst

2016

DAS FEST

23 – Can I help you?

24 – Jedes Wort hat seinen besonderen Duft

25 – Wie eine stille Huldigung

26 – Eine Handbreit über das Verlangen hinaus

27 – Nie steigen wir zweimal in denselben Fluss

28 – Auch er war einmal jung

29 – Und er bedeckte das Blatt mit beiden Händen

 

Für Francesc Garriga Barata

 

Man kann nicht zweimalin denselben Fluss steigen.

Heraklit von Ephesos

Das unsichtbare Band

Ich weiß nicht recht, wo ich anfangen soll. Ich weiß nicht, ob ich euch alle umarmt und gebührend empfangen habe. Ich fürchte, nein … Dort drüben bin ich, wie ich gerade sehe, noch ein paar Begrüßungsküsse schuldig. Ihr wisst ja, dass ich nicht besonders gut darin bin, meine Gefühle zu zeigen oder gar öffentlich zum Ausdruck zu bringen, aber ich habe den Eindruck, hier und heute wird mir nichts anderes übrig bleiben, als Farbe zu bekennen und ein paar Worte zu sagen. Jedenfalls hoffe ich, man merkt mir an, dass ich mich sehr, sehr freue, auch wenn ich zugegebenermaßen ein bisschen überrumpelt bin. Spreche ich laut genug?

Zunächst also herzlich willkommen, fühlt euch wie zu Hause, danke, dass ihr gekommen seid, und danke, Míriam, dass du dich einmal mehr über eine unserer Vereinbarungen hinweggesetzt hast. Denn Überraschungspartys hatte ich mir eigentlich strikt verbeten und ihr immer gesagt, wehe ihr, wenn sie es je wagen sollte, so etwas einmal für mich zu veranstalten. Zum einen, weil ich, sicher von Berufs wegen, ihr kennt mich ja, gern alles unter Kontrolle habe. Und zum anderen, weil mir der Gedanke daran, dass etwas hinter meinem Rücken passiert, unerträglich ist. Schließlich musste mir ja eine Menge Leute, die ich schätze und liebe – nämlich ihr –, bei all unseren Treffen und Telefonaten in den letzten Wochen verschweigen, dass wir uns heute im Rafaeli sehen würden. Alle habt ihr dicht gehalten, niemand hat sich verplappert, darum lasst mich euch aus tiefstem Herzen sagen: Ihr seid ein Haufen Schlawiner. Aus ebendiesem Grund wollte ich nie solche Überraschungspartys, denn jetzt komme ich mir vor wie ein Idiot. Und da du, Míriam, mich ja jetzt nicht mehr rund um die Uhr ertragen musst, hast du dir wahrscheinlich gedacht, es sei eine hübsche Rache, mir in meinem Haus, in meinem Hotel, eine Riesenüberraschungsparty zu organisieren und tutti quanti zusammenzutrommeln, Leute, die ich nicht mehr gesehen habe, seit … uff. Du und Elsa, von der bestimmt die Idee zu der ganzen Sache stammt, habt schwer was gut bei mir, damit ihr’s nur wisst.

Um euch alle zu mobilisieren, haben sich diese beiden Intriganten dort neben der Lautsprecherbox vermutlich mächtig ins Zeug gelegt: Meine Tochter Jana – das ist die, die mit dem Handy gerade alles aufnimmt – und Víctor, der – auch wenn ihn manche von euch mit seiner langen Mähne nicht unbedingt wiedererkennen werden – immer noch mein Sohn ist. Ich liebe euch zwei mehr als alles auf der Welt, das wisst ihr, aber das hier werde ich euch nie vergessen.

Was soll ich sagen – ihr alle wisst, wie ungern ich Reden halte, vor allem aus dem Stegreif. Eines Morgens habe ich mal im Radio gehört, wie sie einem Fernsehproduzenten zum Geburtstag gratuliert haben, es war wohl auch der Fünfzigste, denn er sagte, wenn du mit fünfzig morgens aufwachst, und dir tut nichts weh, dann bist du tot. Gute Nachrichten, also. Ich bin offenbar noch am Leben. Wo es bei mir zwickt? In den Knien. Das Tennisspielen fordert seinen Tribut, und mittwochs, dem Tag nach meiner Dienstagspartie, die mir heilig ist, bewege ich mich nur im Aufzug, weil ich keine zwei Treppenstufen mehr gehen kann. Und das, obwohl wir nur im Doppel spielen, und meine drei Mitspieler, die ebenfalls heute hier sind, noch ein paar Jährchen mehr auf dem Buckel haben. Was mir sonst noch wehtut? Ach … was soll’s, wir wollen hier keine Listen abhaken, aber die Augen machen uns irgendwann ja allen zu schaffen, und seit ein paar Jahren kann ich beim Check-in die Passnummern nicht mehr entziffern.

Diejenigen, die schon länger nicht mehr bei uns gewesen sind, werden feststellen, dass wir das Hotel renoviert haben. Beispielsweise gibt es jetzt keine Schlüssel, ja nicht einmal mehr Karten zum Öffnen der Zimmertüren, man braucht bloß noch das Handy mit dem Code davorzuhalten. Ins Wachstum investieren, wie mein Vater stets sagt, der immer noch derjenige ist, der uns in diesem Business zeigt, wo es langgeht. Je stärker der Wind, desto größer das Segel, nicht wahr, Papa, das ist einer deiner Wahlsprüche. Und schaut ihn euch an, ist er nicht der eleganteste Mann der Stadt? Mit ihm und Elsa waren wir übereingekommen, dass es an der Zeit sei, dem Rafaeli ein neues Gesicht zu geben, ihm innen und außen ein bisschen … New Yorker Flair zu verleihen, und ich hoffe, es gefällt euch.

Ich glaube, Großvater, der vor über siebzig Jahren den Grundstein für das alles legte, hätte die Entscheidung gutgeheißen. Es war mutig, damals, kurz nach dem Krieg, ein Hotel am Passeig de Gràcia zu bauen, als der noch eine einfache Straße war, lange vor seiner Verwandlung in unsere Fifth Avenue, die Champs-Élysées von Barcelona. Wir können uns nicht beklagen. Uns, die wir in diesem Gebäude geboren wurden – mich hat man aus der Klinik del Pilar im Carrer Balmes direkt hierher gebracht – und unser halbes Leben im sechsten Stock des Rafaeli gewohnt haben, erfüllt es mit Stolz zu sehen, was im Lauf der Zeit aus dem Hotel geworden ist. Der Namenswechsel, die Sterne, die Auszeichnungen in den Reiseführern, die Anerkennung und insbesondere die russischen Gäste, die dafür sorgen, dass wir ständig ein Jahr im Vorhinein ausgebucht sind. Ohne die Perestroika weiß ich nicht, was wir getan hätten und wo wir jetzt, im Jahr 2016, wären.

In diesem Moment der Freude kann ich jedoch nicht umhin, auch an Àlex und Roger zu erinnern, die wir vermissen, die uns fehlen und deren tragisches Ende wir nach all den Jahren noch immer betrauern. Wenn ich oben im Büro bin, wo sie sich gegenübersaßen wie mittlerweile Elsa und ich, vergeht kein Tag, ohne dass ich an diese beiden denke. Das Hotel hätten sie sicher besser geführt als wir, denn sie kannten sich wirklich aus und waren wie geschaffen für diesen aufreibenden Beruf, der mehr Herzblut und Fachwissen erfordert, als man gemeinhin annimmt. Ich denke, ich spreche auch in Elsas Namen, wenn ich sage, dass wir uns nur bemühen können, unseren Brüdern halbwegs das Wasser zu reichen. Zurzeit verfügen wir über siebenundneunzig Zimmer, fünfzehn Suiten und drei Apartments mit eigenem Pool. Unten gibt es jetzt einen Wellnessbereich mit einem Hallenbad, das dem von Mies van der Rohe im The Langham in Chicago nachempfunden ist. Dennoch haben wir niemals die Tradition und unsere Herkunft außer Acht gelassen, und unsere Bibliothek ist nach wie vor ein von allen im Haus sehr geschätzter Rückzugsort. Trotz der Krise war die Auslastung unseres Hotels in den vergangenen zwei Jahren die beste seiner Geschichte, und damit gehören wir zu den …

Sei’s drum, ich höre jetzt besser auf, vom Hotel zu reden, Míriam sieht mich schon an, als wollte sie sagen, das ist heute nicht das Thema. Und sie hat vermutlich recht damit, wie immer. Also will ich jetzt nicht länger damit langweilen, sondern möchte euch einfach einen ganz tollen Abend wünschen. Auch wenn ich das Fest nicht selbst organisiert habe, gehe ich doch davon aus, dass es für alle genug zu essen und zu trinken gibt. Die Schallisolierung dieses Saales sollte perfekt sein, und falls nicht, werden wir das ja heute Abend sehen, dann beschweren wir uns morgen beim Architekten und sparen die Kosten für die Handwerker. Also, euch allen noch einmal ganz herzlichen Dank fürs Kommen, vor allem denen, die von weit her anreisen mussten und die, wie ich hoffe, untergebracht sind, wie es sich gehört. Und ein noch größeres Dankeschön geht an eine Person, die ich gerade hereinkommen sehe und die meine Rede wohl glücklicherweise verpasst hat, über deren Erscheinen ich mich aber unglaublich freue, weil sie für mich wie keine andere etwas verkörpert, das ich jedem Menschen wünsche, etwas, das dem Leben Sinn verleiht: Freundschaft. Denn so sollte Freundschaft sein: ein unsichtbares Band mit jemandem, den du fünfzehn Jahre lang nicht gesehen hast und bei dem du doch sofort das Gefühl hast, es sei erst gestern gewesen. Trinkt, esst, lacht, tanzt, zieht her, über wen ihr wollt, und lasst mich jetzt hier runter, damit ich sie so fest umarmen und küssen kann, dass ihr die Luft wegbleibt.

1983

DIE GLÜCKLICHEN ZWANZIGER

1Drei Synonyme pro Sekunde

Aus heiterem Himmel. So unvermittelt, wie es ihre Art war, forderte sie ihn auf:

»Zeichne mir ein Schwein.«

»Wie bitte?«

»Hierhin. Ein Schwein. Irgendeins.«

»War das nicht ›Zeichne mir ein Schaf‹?«

»Mist …« Auf das Blatt, das sie vor Kim hingelegt hatte, war Bier getropft.

»Gib mal eine Serviette rüber«, befahl Laura.

Kim, den Kugelschreiber in der einen Hand, die Fortuna zwischen den Lippen, reichte ihr den Serviettenspender.

»Noch eine.« Sie zupfte zwei Papierservietten heraus, wischte den Tisch damit ab, knüllte sie zusammen und ließ sie ungeniert auf die grauen Bodenfliesen fallen. Wenn es in der Cafeteria des Fachbereichs etwas im Überfluss gab, dann waren es Papierservietten auf dem Boden. Und Kippen. Und Zigarettenrauch in der Luft. Und laute Gespräche. Ein Ort ausgelassener Fröhlichkeit. Laura riss eine weitere Seite aus dem Heft mit den Deutschnotizen und legte sie Kim vor die Nase.

»Zeichne mir ein Schwein, na los!« sagte sie mit dem schelmischen Augenaufschlag ihrer achtzehn Jahre.

»Aber was soll denn das?«

»Stell dich nicht so an, tu’s einfach.« Sie sprach in ihrem Trainerinnenton, packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn. »Es ist nur ein Spiel, weiter nichts.«

Seufzend begann Kim zu zeichnen, der Bleistift glitt träge über das Papier. Er konnte gut mit dem Bleistift umgehen, aber er hatte keine Lust, ein Schwein zu zeichnen. Das hatte er seit seiner Kindheit nicht mehr getan. Hätte sie ihn um ein Auto oder ein Schiff gebeten, kein Problem. Aber ein Schwein? Mit ein paar Strichen kritzelte er etwas Ferkelähnliches mit einem lächerlichen Ringelschwanz. Am Nachbartisch saßen ein paar Studenten der Abschlussklasse, die offenbar etwas zu feiern hatten. Auch wenn sie, in Anbetracht der vielen Bierdosen, die sich vor ihnen stapelten, den Anlass womöglich längst vergessen hatten. In den Cafeterien der Universitäten gab es immer etwas, worauf man anstoßen konnte. Und wenn es das Leben war, das sich vor einem auftat. Oder die Zukunft, die einen erwartete, noch voller bunter Verheißungen.

»Und jetzt?« Kim schob ihr das Schweinchen hin und sah, wie sie lachte. »He! Wenn du mich auslachst, spiele ich nicht mehr mit.«

Laura nahm die Skizze und begutachtete sie mit der Gründlichkeit eines Arztes, der ein Laborergebnis prüft. Etwas verunsichert sah Kim Ráfales der Diagnose entgegen.

»Du bist eher der realistische Typ. Du hast das Schwein in die Mitte gezeichnet. Weder zu weit oben noch zu weit unten. Zentriert.«

»Aha. Und weiter?« Sofort fand er das Spiel spannend. Ein kleines Lob, und schon wollen wir mehr.

»Dein Schwein schaut nach rechts.«

»Und?«

»Das bedeutet, dass du ein aktiver Mensch bist, innovativ, stimmt das?«

»Nun ja …«

»Und dass du nicht viel Familiensinn hast und wichtige Jahrestage für dich keine große Bedeutung haben.«

»Was sind denn wichtige Jahrestage?«, fragte er und fühlte sich ertappt.

Laura steckte sich den Bleistift in ihren Haarknoten und ging nicht darauf ein.

»Das Schwein ist im Profil gezeichnet. Wenn es uns anschaut, heißt das, du bist, wie soll ich sagen … Du diskutierst gern. Gibst gern ein bisschen den Advocatus Diaboli.«

»Ich? Weder das eine noch das andere.«

»Du diskutierst und streitest nicht gern? Aber sicher doch!«

»Nein, verdammt, was soll der Quatsch? Ich diskutiere nicht.«

»Ach nein?«

Sie hoben beide den Blick, sahen sich an und fingen an zu lachen. Laura hatte das Gefühl, dass Kims Blick an dem kleinen Leberfleck über ihrer Oberlippe hängenblieb, den sie von ihrer Mutter geerbt hatte.

»Wenigstens hat dein Schwein vier Beine. Sehr gut.«

»Ja, natürlich. Wer zeichnet denn dreibeinige Schweine?«

»Das sagt aus, dass du beharrlich bist und an deinen Idealen festhältst.«

»Ich?« Er staunte, was die paar Kritzeleien angeblich über ihn verraten sollten.

»Der Schwanz, jetzt pass auf«, sie trank einen Schluck Bier und begann wieder zu lachen. »Der ist ein Hinweis auf die Qualität deiner Sexualbeziehungen.«

»Sonst noch was? Ach, hör auf …«

»Je länger, desto besser.«

»Das gilt nicht. Ich habe den Schwanz geringelt, weil Schweine nun mal solche Schwänze haben, jetzt komm mir nicht mit so was …« Allmählich hatte er genug von ihrer Küchenpsychologie. »Wenn du den geradeziehst, ist er doch ganz ordentlich.«

Laura enthielt sich jedes Kommentars. Sie ließ lediglich ihren Finger vom Schwanz zu den Ohren wandern.

»Nicht schlecht, Ráfales, die Größe der Ohren lässt immerhin darauf schließen, dass du anderen zuhören kannst. Die Nüchternheit deiner Zeichnung dagegen zeigt, wie methodisch du bist und dass …« Laura runzelte die Stirn und schien zu überlegen.

»Dass was? Nun sag schon!«

Was, zum Teufel, hatte seine Kommilitonin bei ihrer Analyse entdeckt, dass sie mit einem Mal so lange zögerte?

»Deinem Schwein nach zu urteilen bist du, das muss ich dir leider sagen, emotional unbedarft und risikoscheu.«

Warum sagte sie das? Warum diese Pause? Im Unterricht hatten sie über den Effekt absichtsvollen Schweigens gesprochen. Warum hatte sie überhaupt auf diesem kindischen Spiel bestanden? Worauf lief das Ganze hinaus?, fragte sich Kim Ráfales. Mir zu sagen, dass ich emotional unbedarft bin und mehr riskieren sollte? Und das, nachdem sie sich über meine männliche Ausstattung ausgelassen hat? Was treibt Laura da? Ist es eine Provokation? Will sie, dass ich sie küsse? Ist es vielleicht das, was sie will?

Neulich, kurz vor dem langen Wochenende zu Allerheiligen, während er mit Marc, Xénia und Buixeda auf dem Rasen des Campus von Bellaterra in der Sonne saß und frühstückte, war Laura hinzugekommen. Sie hatte sich neben ihm ausgestreckt und wie beiläufig verkündet: »Letzte Nacht habe ich von dir geträumt.« Einfach so, peng. Vor allen anderen. Ohne rot zu werden. In jugendlichem Unverstand. Eine in der Herbstsonne explodierende Granate. Was ist davon zu halten, wenn eine Kommilitonin im ersten Studienjahr, in dem Stückchen Garten, das zum Fachbereich Übersetzen und Dolmetschen gehört, dich sieht, sich neben dich ins Gras legt und sagt »letzte Nacht habe ich von dir geträumt«? Und jetzt, allein mit dir in der Cafeteria, wirft sie dir an den Kopf, du seist emotional unbedarft und nicht risikofreudig genug. Wer weiß … Letzten Endes war womöglich sie die Unbedarfte, und das mit dem Traum und dem Schwein und dem Riskieren war nur so dahingesagt, um sich eine Weile zu amüsieren und dich dann wieder links liegen zu lassen.

»Gibst du mir mal deine Notizen zu Orovio?« Kim beschloss, das Thema zu wechseln und so zu tun, als wäre er nicht aus der Ruhe zu bringen. »Ich konnte gestern nicht ins Seminar kommen.«

Laura griff nach der Mappe, und bevor sie ihre Notizen zur Computerlinguistik herausholte, hatte sie Ráfales’ Schwein schon hineingeschoben. Er bemerkte nicht einmal, dass sie seine Zeichnung vom Tisch genommen hatte, so irritiert war er. Unbedarft, hatte sie gesagt, emotional unbedarft, was noch schlimmer klang, und dabei hielt er sich keineswegs für einfältig. Rasch suchte er ein Synonym: arglos. Noch eins: naiv. Noch eins: schüchtern. Dieses letzte traf es vielleicht nicht ganz, aber das war ihm egal. Im Unterricht mussten sie das manchmal als Übung machen, drei Synonyme in weniger als einer Sekunde. Und sie anschließend ins Französische, Englische, Italienische oder in die jeweilige Sprache übersetzen, auf die sie spezialisiert waren. Mit honett hatte er sich in die Nesseln gesetzt. Er glaubte, alle seine Kommilitonen müssten ihn anstarren, während der Professor an der Tafel wartete, die Sekunden verstrichen, eine nach der anderen, und er nicht in der Lage gewesen war, ehrbar, anständig, rechtschaffen zu sagen. Er hatte keine Ahnung, was honett bedeutete, meinte vielmehr, das Wort noch nie gehört zu haben, und ärgerte sich, als Laura den Finger hob, um seelenruhig und mit aller Selbstverständlichkeit sämtliche Synonyme in sämtlichen Sprachen herunterzuleiern, die sie beherrschte. Das war der Tag, an dem Joaquim Ráfales Angerri – Kim, wie er sich nannte, wenn er Briefe oder Examensarbeiten unterschrieb, das dritte von vier Geschwistern, der junge Mann, der sich für Übersetzen und Dolmetschen immatrikuliert hatte, weil sein Vater gesagt hatte, er solle wenigstens Sprachen lernen, was im Hotelwesen immer hilfreich sei – merkte, dass die Universität die Präambel des Lebens darstellte, wo jeder auf seinen Vorteil bedacht war, sogar die Freunde. Er entsann sich nicht einmal der Worte, durch die er sich von Laura verraten gefühlt hatte. Es war eine in seiner Erinnerung schlummernde Episode, die ihm jedoch dank des verfluchten Schweins in der Cafeteria des Fachbereichs wieder ins Bewusstsein kam. Emotional unbedarft war, wie man es auch drehte und wendete, eine Beleidigung.

 

Lauras Mutter drängte ihre Tochter, sich den Leberfleck über der Lippe entfernen zu lassen. Sie hatte genau den gleichen an genau der gleichen Stelle, nicht ganz mittig, sondern näher am rechten Mundwinkel. Er war dunkel, wie mit einem dicken Filzstift aufgemalt. Sie sagte ihr, wenn Laura wolle, käme sie aus Banyoles nach Barcelona und würde sie zu einem Schönheitschirurgen begleiten, den man ihr dort empfohlen habe. Und flüsternd, damit der Vater sie von seinem Sessel aus nicht hören konnte, bot sie ihr an, den Arztbesuch zu bezahlen. Und auch den kleinen Eingriff, der, wie man ihr versichert habe, nicht einmal als Operation bezeichnet werden könne.

»Hör auf, Mama, du brauchst dein Trauma mit deinem Leberfleck nicht auf mich zu übertragen. Ich habe mit meinem kein Problem.«

»Aber es sieht hässlich aus.«

»Das ist doch gar nicht wahr.«

»So hübsch, wie du bist, mit deinen blonden Haaren, deinen hohen Wangenknochen und den grünen Augen, sollte dir die Welt zu Füßen liegen, es ist einfach ein Jammer, dass du dasselbe Ding im Gesicht hast wie ich.«

»Ach, Mama. Ich bin deine Tochter. Das ist halt so mit den Genen. Mir macht es nichts aus. Wir haben eben Kurven und ein Muttermal, was ist schon dabei?«

»Aber …«

»Wenn es mich irgendwann mal stören sollte, überschminke ich es einfach wie du.«

»Du riechst nach Rauch.« Unwillkürlich schnupperte die Mutter an Lauras Sachen, wie jede Woche.

»Es ist schließlich nicht bösartig, oder?«

»Das müsste ein Hautarzt feststellen.«

»Ich mag es aber, ich sehe dir gern ähnlich, Mama. Das ist unser Schönheitsfleck.«

Seit jenem Septemberabend wurde der Leberfleck im Haus der Altimiras nie mehr anders genannt.

Donnerstags gingen sie aus. Dann zog Laura mit ihren Freundinnen um die Häuser und kehrte erst gegen Morgen in ihr winziges Studentenapartment im Carrer Montseny zurück, schlief ein paar Stunden, kochte sich einen Kaffee und stieg an der Haltestelle Gràcia in den überfüllten Zug nach Bellaterra zur Universität La Autónoma. Nach drei Stunden Vorlesung und dem einen oder anderen schlecht verhohlenen Nickerchen war die Woche vorbei. Lauras Sachen rochen nach Zigarettenrauch – na und? –, wie beinahe jeden Freitag. Da aß sie rasch etwas auf die Hand, packte ihre Tasche und nahm den Linienbus, um übers Wochenende zu ihren Eltern zu fahren.

»Ich habe gestern einen draufgemacht, ja, was dagegen?« Sie zog das T-Shirt über den Kopf und warf es zusammen mit der Unterwäsche, den Hemden und Strümpfen, die sie aus ihrer Reisetasche holte, in den Wäschekorb. »Ich stecke es schon selbst in die Waschmaschine. Du musst dich um nichts kümmern.«

Nie wieder wollte Laura sich die Vorhaltungen ihres Vaters anhören müssen. Es war an einem der ersten Freitage an der Uni gewesen, sie hatte sich darauf gefreut, ihren Eltern einen Kuss zu geben und ihnen zu erzählen, wie frei sie sich in Barcelona fühlte und wie gut der Professor für englische Literatur war, als ihr Vater – Buchhalter in einem Möbelgeschäft – beim Abendessen in Rage geraten war und sie angefahren hatte, wenn sie meine, ihre Mutter sei ihr Dienstmädchen, dann brauche sie gar nicht wiederzukommen. Was sie sich eigentlich einbilde, wetterte er, mit der Schmutzwäsche der ganzen Woche, einschließlich ihrer Sportsachen, nach Banyoles zu kommen und montags morgens alles sauber und gebügelt wieder mitzunehmen. Und obendrein noch Canelones, Bohnengemüse und Schweinesteaks, fix und fertig mit Käse und Schinken gefüllt und paniert, damit sie sie nur noch in die Pfanne legen müsse, und Tupperdosen mit Samfaina, ihrem Leibgericht. Die Mutter hatte mit gesenktem Blick den Hund gekrault, als ginge sie der Streit nichts an, und lieber den Mund gehalten. Sie hätte auch keine guten Karten gehabt, denn ein Wort gab das nächste, und sie wusste, sobald sie für eine Seite Partei ergriffen hätte, wäre die andere auf sie losgegangen. Somit hatte Clàudia es vorgezogen, sich nicht einzumischen, und Laura und ihren Vater so aneinandergeraten lassen, dass die beiden sich bis zum folgenden Tag anschwiegen. An jenem Freitag waren sie alle schlafen gegangen wie Dickens – mit hängenden Ohren.

2Die kurzen Schritte der Vorfreude

»Mach das Radio aus, Àlex, Papa kann es nicht leiden, wenn wir bei der Arbeit Musik hören …«

»Aber der ist doch heute gar nicht da. Dienstags hat er Innungsversammlung.«

»Er ist im Fahrstuhl.« Roger zeigte auf den Bildschirm, auf dem sie die neun über das Hotel verteilten Kameras im Auge hatten.

Roger, der gerade zweiundzwanzig geworden war, verbrachte seine Nachmittage damit, live zu verfolgen, was in jedem Winkel des Rafaeli geschah. Der Vater hatte ihm nicht nur die Verantwortung für die Sicherheit des gesamten Gebäudes übertragen, sondern auch die Einstellung des Wachpersonals an der Rezeption – drei Schichten zu je acht Stunden – und die Auswahl der besten Videoüberwachungsanlage, damit man vom Direktionsbüro in der fünften Etage aus alles unter Kontrolle haben konnte. Wenn es um die Sicherheit des Hotels ging, wurde nicht gegeizt. Jetzt, da Barcelona dank der Fußball-Weltmeisterschaft in aller Munde war und Italien, Argentinien und Brasilien in Sarrià spielen würden, durfte sich das Rafaeli keine negativen Schlagzeilen erlauben. In El Periódico hatte gestanden, im vergangenen Monat seien in dem zentral gelegenen Hotel drei Touristen die Brieftaschen abhandengekommen, während sie an der Rezeption die Pässe vorgewiesen und das obligatorische Anmeldeformular ausgefüllt hätten. Àlex, dem seine Krawatte im Allgemeinen und der Artikel im Speziellen Beklemmungen verursachten, war auf alles gefasst gewesen, als er seinem Vater die Zeitung brachte.

»Besser ein Taschendieb, der es auf zerstreute Touristen abgesehen hat, als ein Einbrecher in den Zimmern. Das hat es bei uns, toi, toi, toi, noch nie gegeben.« Der Vater knallte die Zeitung auf den Tisch. »Und wenn tatsächlich einmal etwas weggekommen ist, haben wir uns diejenige vorgeknöpft, die die Betten gemacht hat, und alles ist im Handumdrehen wieder aufgetaucht.«

Roger, der Zweite der Ráfales-Brüder, hatte sich die Angelegenheit sehr zu Herzen genommen. Solange er für die Sicherheit zuständig wäre, würde das Rafaeli nie wieder in der Zeitung stehen, zumindest nicht wegen einer schlechten Nachricht. Er sorgte persönlich für die Installation einer Kamera über der Drehtür, dem Haupteingang am Paseo de Gràcia. Eine zweite kam über die Art-déco-Theke der Rezeption. Eine dritte über die Pförtnerloge, um dort jede Bewegung, vor allem aber die Gepäckaufbewahrung zu kontrollieren. Eine vierte hatte die drei Aufzüge gleichzeitig im Bild. Außerdem ließ er auf jeder Etage ein Weitwinkelobjektiv anbringen, das den gesamten Flur ins Visier nahm. So gab es praktisch keinen toten Winkel. Alle Zimmertüren, in der Nähe oder weiter weg, waren erfasst. Der Vater hatte die Bedingung gestellt, dass die Kameras weder versteckt noch zu klein, sondern gut sichtbar sein sollten, damit sie gleich abschreckend auf alle Langfinger wirkten. Roger hatte versucht, ihn umzustimmen.

»In einem Viersternehotel, das höchsten Ansprüchen genügen will, wäre es vielleicht besser, eine diskretere Form der Überwachung zu wählen.«

»Was soll das heißen?«, knurrte sein Vater.

»Dass es in unserer Lobby, mit all dem hellen Holz und dem Silber, passender und auch moderner wäre, ein System der Überwachung zu haben, wie wir es in London oder New York gesehen haben. Erinnert ihr euch an dieses Hotel in der Park Avenue? Da stand ein eleganter Mann im schwarzen Anzug an der Tür, als hätte er nichts Besseres zu tun. Das könnten wir hier auch gebrauchen, es sähe nach einem vornehmen Gast aus, der Besuch erwartet. Einer, der etwas von Physiognomie versteht …«

»Nein.«

Für so etwas war sein Vater nicht zu haben. Ein Wachmann musste gekleidet sein wie ein Wachmann, mit allem Drum und Dran. Da ließ er nicht mit sich reden. Er bestand auf einem Knüppel und einer Pistole, die unübersehbar am Gürtel steckte.

»Er soll aussehen wie ein Polizist, der nicht lange fackelt, sodass jedem die Lust vergeht, in fremde Taschen zu greifen, habt ihr mich verstanden?«

Paco Ráfales wusste immer, was er wollte. Er war bei seinem Vater in die Lehre gegangen, Großvater Francisco, dem Gründer des Hotels Ráfales. Jahre später, in den Fünfzigern des letzten Jahrhunderts, hatte er das alte Grandhotel mit erstaunlichem kommerziellem Weitblick umbenannt. Niemand in der Familie hatte je in Frage gestellt, dass die Italienisierung des Namens eine gute Idee gewesen war. Rafaeli klang nach Glamour und Marke. Nach einer ausländischen Hotelkette mitten auf dem Passeig de Gràcia. Erst recht, wenn man irgendwann nach Rom kam und feststellte, dass sich fünf Taximinuten vom Kolosseum auch ein Hotel Rafaeli befand, das von Onkel Vicenç nämlich. Weil Großvater Francisco bewusst war, dass Rechtsanwälte ihren Lebensunterhalt mit den Erbstreitigkeiten von Familienunternehmen verdienten, und er den Robenträgern noch nie getraut hatte, war er zu einer Entscheidung gelangt, die ihm gerecht erschien. Er benötigte keinen professionellen Rat, um zu beschließen, dass – unter dem Schirm einer gemeinsamen Firma Ráfales – jeder seiner Söhne ein Hotel erhalten sollte. Er war sich sicher, Problemen und Unzufriedenheit auf diese Weise für alle Zeiten vorzubeugen. Das Hotel in Barcelona hatte er seinem Ältesten vermacht, Paco, und das in Rom, das über knapp fünfzig Zimmer verfügte, seinem Zweitgeborenen. Vicenç, verheiratet mit Tante Mina – Zia Mina –, einer Römerin, mit der nicht gut Kirschen essen war, beschäftigte wiederum seine beiden Söhne im Hotel. Romulus und Remus. So wurden sie jedenfalls von ihren Vettern in Barcelona genannt, seit man denen erzählt hatte, ihre italienischen Cousins hätten als Kleinkinder immerzu an Zia Minas Brüsten gehangen. Noch mit drei Jahren hätten sie die Milch ihrer Mutter getrunken, sooft es sie danach gelüstete. Als Großvater Francisco starb – aus heiterem Himmel und an einem Schlaganfall – und die finsterste aller Suiten bezog, in der man für immer bleibt, war er überzeugt davon, seine Hinterlassenschaften perfekt geregelt zu haben. Er glaubte, dass nicht einmal seine Nachkommen der zweiten oder dritten Generation einen so makellosen Plan zunichte machen. Beide Betriebe waren Teil ein und desselben Familienunternehmens, die Aktien gehörten Paco und Vicenç je zur Hälfte. Der eine würde in Barcelona sein Hotel betreiben, der andere in Rom, und Friede auf Erden und im Himmel die Seligkeit. Und keinem ein Grund für ein böses Gesicht. So hatte er es einst verfügt, mit zittriger Handschrift, vor dem Notar Masoliver, der nach seinem Tod mit dunkler Krawatte und in angemessen feierlichem Ton den Söhnen das Testament eröffnet hatte.

Es war ein frommer Wunsch.

 

Großvater Francisco wäre sicher stolz gewesen, wenn er gewusst hätte, dass auch seine fünf Enkel auf die eine oder andere Art bereits in den Hotels arbeiteten. Das Mädchen noch nicht. Elsa war noch zu klein, und wenn sie manchmal samstags ihren Vater im Rafaeli abholte, ließen sie die Kleine die Tageszeitungen falten, dem Blumenstrauß in der Lobby frisches Wasser geben und die Broschüren der Touristenexkursionen wieder in den drehbaren Postkartenständer neben der Pförtnerloge einsortieren. Mit dem Aufräumen von Prospekten der Flamenco-Lokale, Werbung für Ausflüge nach Montserrat und Reklamegutscheinen, für die man einen Rabatt bekam, wenn man im Zoo an der Ciutadella den weißen Gorilla Schneeflöckchen besuchen wollte, hatten Àlex, Roger, Kim und Elsa zahllose Stunden verbracht.

Von den Sprösslingen, die aus der Verbindung von Paco Ráfales und seiner Frau Maria Angerri hervorgingen, die in Barcelona lebten, war Àlex der Erstgeborene. Er war der Aufmerksame, Gewissenhafte, der Erste, der alles kennenlernte und auch als Erster die ganze Zuneigung und Hingabe seiner Eltern bekam. Er hatte die Tourismusschule absolviert, und kaum dass ihm ein zarter Flaum wuchs, hatte ihn sein Vater im Hotel eingesetzt – um Tische zu bedienen, telefonische Reservierungen entgegenzunehmen, Rechnungen zu prüfen, was eben so anstand –, wie es schon sein Großvater mit ihm selbst getan hatte, damit er Erfahrungen sammelte und das Hotelgeschäft von der Pike auf lernte.

»Volles Haus, volle Kasse«, rezitierte der Vater gern.

»Betten leer, Kasse leer«, ergänzte dann die geschäftstüchtige Mutter.

Auch war Àlex von allen Enkeln Franciscos der Erste – was nicht zuletzt am Alter lag –, der herausfand, dass ein freies Zimmer nicht unbedingt von Nachteil sein musste. Es war zugleich eine großartige Gelegenheit, gratis und ungestört eine Weile mit einer Freundin zu verbringen. In dieses Geheimnis wurde unter der Hand ein Bruder nach dem anderen eingeweiht, sobald sie ungefähr achtzehn waren. Àlex gab es an Roger weiter und Roger an Quim, noch ehe Letzterer dazu überging, mit Kim zu unterschreiben. Aus Joaquim war ohne sein Zutun Quim geworden, es war ihm quasi in die Wiege gelegt. Dass Quim zu Kim wurde, war eine Sparmaßnahme. Kim hatte ausgerechnet, wenn er eines Tages einen Beruf hätte, in dem er viele Autogramme geben müsste – Tennisprofi, zum Beispiel –, würde er so in einem Jahr eine Minute Lebenszeit gewinnen. Je kürzer sein Name wurde, desto mehr wuchs sein Selbstvertrauen. Und so zögerte er nicht länger und wurde für immer zu Kim. An jenem Mittag im Frühling war er schon Kim und besuchte den Kurs zur Vorbereitung auf die Universität.

»Sieh mal, die Kamera im zweiten Stock«, sagte Roger zu Àlex, der eine Weile brauchte, bis er sich aus dem Stuhl hochgestemmt hatte. »Mach schon, beeil dich.«

»Mensch, das ist ja Kim.«

»Und wer ist die Frau?«

»Keine Ahnung. Ich kann sie nicht richtig sehen. Solange sie sich nicht umdreht …«

»Meinst du, die ist schon achtzehn?«

»Ist doch egal. Kim ist es ja auch nicht. Mannomann, guck dir diesen Hintern an.« Die beiden Brüder lachten. »Unser kleiner Bruder wird seine liebe Not haben, sie aus diesen Jeans zu schälen.«

Kim und das Mädchen gingen Hand in Hand über den Flur, mit den kurzen Schritten der Vorfreude. Als sie vor Zimmer 218 ankamen, blieben sie stehen und vergewisserten sich, dass sie an der Rezeption den passenden Schlüssel mitgenommen hatten.

»Er hat keine Handtücher dabei.«

»Verdammt.«

»Hast du ihm das nicht erklärt?«

»Ich?«, gab Àlex verdutzt zurück.

»Ist die 218 nicht das Zimmer der Operndiva?«

»Der Laborde? Nein, die will immer das an der Ecke, die 216.«

»Schau mal nach, nicht dass die 218 noch gebraucht wird. Wenn sie ihn da erwischen, reißt Papa ihm den Kopf ab.«

»Sollen wir ihm einen Schrecken einjagen?« Es war einfach Rogers Art, er konnte nicht einmal etwas dafür. Irgendeine Bosheit fiel ihm immer ein.

»Sei doch nicht so gemein.«

Àlex setzte sich wieder vor den Rechner.

»Bist du sicher, dass sie in der ٢١٨ sind?« Nach drei Mausklicks wusste er Bescheid. »Heute wird es von einem schwedischen Paar belegt, aber bis zwei Uhr ist es blockiert.«

Das bestgehütete Geheimnis der Ráfales-Brüder erforderte, abgesehen vom Siegel der Verschwiegenheit, eine logistische Struktur. Sie wussten, dass die Gäste die Zimmer spätestens um zwölf Uhr verlassen mussten. Sie wussten auch, dass die Putzkolonne in routiniertem Tempo bereits vor ein Uhr auf jeder Etage einige Zimmer fertiggemacht hatte. Dort waren Bettwäsche und Handtücher gewechselt, die Papierkörbe geleert, Bad und Toilette gereinigt, die Böden gesaugt und gewährleistet – darauf legte Senyor Ráfales gesteigerten Wert –, dass niemand die Ginfläschchen in der Minibar ausgetrunken und, mit Leitungswasser aufgefüllt, wieder zurückgestellt hatte. Von eins bis zwei blieb, wenn man nicht trödelte, reichlich Zeit. Der Trick bestand darin, niemals das Bett in Unordnung zu bringen und alles genau so zu hinterlassen, wie man es vorgefunden hatte. In diesem Fall allerdings, bei Kims erstem Abenteuer, hatte der vor lauter Aufregung vergessen, frische Handtücher mitzunehmen. Hinterher, als seine Brüder ihn beglückwünschten und ihn in ihrem Geheimbund willkommen hießen, musste er hoch und heilig versprechen, in der Folge stets daran zu denken. Er vergaß es nie wieder.

»Sag mal, werden diese Aufnahmen eigentlich gespeichert?«, fragte Kim, als er sich überführt sah.

»Klar.«

»Und wenn Papa …«

»Keine Sorge«, brüstete sich Roger. »Solange ich hier der Sicherheitsbeauftragte bin, sehe diese Bilder nur ich. Papa hat schon genug Arbeit.«

»Hör zu, Kim. Unsere kleine Schwester sollte davon noch nichts erfahren.«

»Nein, natürlich nicht.«

 

Elsa war ein Nachkömmling. Als Paco und Maria schon gar nicht mehr damit rechneten, zeugten sie noch ein Kind. Ein unerwartetes neues Glück für die Familie. Vor allem, da es für Maria die Tochter und für Àlex, Roger und Quim die Schwester war, die sie sich immer gewünscht hatten. Dennoch war ihnen – Eizellen haben nun mal ihre Launen – ein Mädchen versagt geblieben, bis sie glaubten, mit der Fruchtbarkeit sei es endgültig vorbei. Im Herbst 1983, als Kim anfing zu studieren, feierte Elsa gerade ihren dreizehnten Geburtstag – mit einem Blutstropfen, der ihr auf die Schuhe fiel. Sie war für ihre drei großen Brüder immer wie eine Spielzeugpuppe gewesen. Eine Puppe, die plötzlich Kontra gab und sich wehrte und sich nicht mehr in die Wangen kneifen ließ, wenn die drei Halbstarken sie ärgern oder herumwirbeln wollten wie einen Kreisel. Sie verhätschelten und umsorgten die Kleine und brachten sie von früh bis spät zum Lachen. Erst recht, nachdem die Mutter gestorben und Elsa die einzige Frau unter vier Männern war, die im sechsten Stock des Hotels Rafaeli residierten.

3Der Tag, an dem ich Dickens kennenlernte

Frankenstein war schuld daran, dass Laura und Kim nach drei Wochen zum ersten Mal miteinander sprachen. Beide hatten denselben Kurs belegt: englische Literatur, ein Kernfach, bei Francis Barata, über den sie, jeder für sich, ein paar Erkundigungen eingeholt hatten. Kim konnte in Erfahrung bringen, dass er viele Jahre Professor an der Universität von Dallas gewesen war. Dann hatte er anlässlich einer Einladung der Autónoma in Barcelona ein Seminar gehalten, die Wälder des Valdés für sich entdeckt und wohnte seither in Bellaterra in einem der modernen, preisgekrönten Häuser des Architekten Sert, welche die Hochschule für ihre Professoren bereithielt. Laura war zu Ohren gekommen, bruchstückhaft und vage, wie Gerüchte sich nun mal zu verbreiten pflegen, Francis Barata habe den Ruf, ein Exzentriker zu sein, er sei jähzornig, homosexuell und nicht ganz dicht. Nach vierzehn Tagen Unterricht waren sie sich einig, dass alles, was dem Texaner nachgesagt wurde, wahr sein könnte. Hinter dem Schnurrbart, den er unablässig zwischen zwei Fingern hochzwirbelte, verbarg sich ein Lehrer, der seinen Schülern eine ungewöhnliche Form der Romanlektüre nahelegte. Er verlangte von allen, unabhängig von der Kursstufe, immer laut zu lesen, an die Atmung zu denken und jeder Figur eine eigene Stimme zu geben. Er ließ nicht zu, dass ein Bauer und ein Anwalt im gleichen Tonfall redeten. Er lehnte es ab, wenn eine Buchhändlerin aus Notting Hill und ein Taxifahrer aus Stirling dieselbe Aussprache hatten. Jedes Wort musste ein Aroma haben. Jede Gestalt brauchte ihren Klang, heller oder dunkler. Die Studenten waren angehalten, nach der Stimme jedes Protagonisten zu suchen. Und die Studenten, die ihren Lebensunterhalt als Simultandolmetscher verdienen wollten, mussten sie finden.

In der dritten Woche gab Francis Barata ihnen eine Gruppenarbeit auf. Jeweils zu zweit sollten sie ein Buch bearbeiten, jedes Paar einen anderen Titel aus der Liste, die er mit seiner Arztklaue an die Tafel kritzelte. Wuthering Heights, Emily Brontë, 1847. A Room of One’s Own, Virginia Woolf, 1929. Frankenstein, Mary Shelley, 1818 …

»Verzeihung«, fragte Marc aus der letzten Reihe dazwischen. »Diese Romane sind alle von Frauen geschrieben, oder?«

»Und?« Francis Barata wandte sich ihm zu, herausfordernd, pikiert.

»Warum?«

»Das ist doch sonnenklar. Weil sich große Romane von Schriftstellerinnen von denen männlicher Verfasser durch zahllose Feinheiten unterscheiden, durch all das, was zwischen den Zeilen steht und beweist, was wir längst wissen, aber nicht aussprechen mögen, weil es uns peinlich ist. Nämlich, dass uns die Frauen haushoch überlegen sind.«

Nachdem Marcs Frage damit beantwortet war, blickte der amerikanische Professor wieder zur Tafel und drehte seinen Schülern den Rücken zu. Und dann griff Francis Barata an diesem ersten Mittwoch im Oktober 1983 mit jeder Hand nach einem Stück Kreide. Mit einer schnellen Bewegung warf er die beiden Kreidestücke über seine Schultern in den Raum, als wollte er eine Münze in den Trevi-Brunnen werfen.

»Wer hat eins erwischt?«

»Ich.« Laura, die die Kreide aus der Luft gefangen hatte, hob den Arm.

»Ich.« Kim hatte das andere Stück vom Boden aufgehoben, ohne zu ahnen, worauf das Spiel hinauslief.

»Sehr schön. Ihr beide bildet die erste Gruppe. Ihr habt Glück. Unter all diesen Büchern«, Francis Barata klopfte mit der flachen Hand gegen die Tafel, »habt ihr die freie Wahl. Sucht euch eins aus für eure Arbeit.«

Laura sah Kim an, der ihr ganz fremd vorkam. Ihr war, als sähe sie dieses Gesicht zum ersten Mal im Seminar. Und im Leben. Kim erwiderte den Blick und sah seine Studienkollegin an, von der er noch nicht einmal wusste, wie sie hieß. Wie nervig, mit diesem Mädchen, das ihm völlig fremd war, eine Hausarbeit machen zu müssen.

»Na?« Francis Barata hatte schon wieder in jeder Hand ein Stück Kreide. »Wird’s bald?«

»Ach, wir müssen das jetzt gleich entscheiden?«

»Ja. Wir wollen schließlich nicht den ganzen Vormittag damit zubringen. Ich zähle bis fünf, dann teile ich euch eins der Bücher zu.«

»Nein, nein, warten Sie …«, rief Laura und schaute den unbekannten Kommilitonen an. »Was nehmen wir?«

»Frankenstein.«

Kim hatte eigenmächtig die Wahl für beide getroffen. Sie fiel auf den einzigen der Titel an der Tafel, von dem er schon einmal gehört hatte. In diesem Augenblick hatte er nicht die leiseste Ahnung, dass er sich damit für das erste Science-Fiction-Buch aller Zeiten entschieden hatte. Auch wusste er noch nicht, dass Frankenstein nicht der Name des Monsters war, sondern der des Wissenschaftlers, der es geschaffen hatte. Und erst recht nicht, wie wenig das Romangeschöpf mit den funkelnden Augen und den wirren Haaren dem Monster ähnelte, das durch das Kino in Mode gekommen und dutzendfach gezeichnet worden war. Aber keinesfalls hätte er erwartet, von der Geschichte des Doktors Viktor Franken-stein – eines Mannes, den der Tod seiner Mutter so mitnimmt, dass er zu experimentieren beginnt, um Tote wieder zum Leben zu erwecken – so unmittelbar berührt zu werden. Der Abschied von seiner eigenen Mutter lag noch keine zwei Jahre zurück (Maria Angerri i Cambra, 1932-1981), und ihre Abwesenheit war in der Familie Ráfales noch zu schmerzlich spürbar. Vielleicht glaubten sie, die kleine Elsa, die die meiste Zeit mit der Mutter verbracht hatte, käme so leichter über ihren Kummer hinweg, vielleicht waren sie aber auch einfach alle aus demselben Holz geschnitzt, Tatsache war jedenfalls, dass die drei Söhne und der Vater beschlossen hatten, sich ihre Trauer nicht anmerken zu lassen, und weitermachten, als wäre alles wie vorher. Was es natürlich nicht war.

 

Nach dem Unterricht wartete Laura vor der Tür auf Frankenstein.

»Na, wie es aussieht, werden wir wohl zusammenarbeiten. Hallo, ich heiße Laura.«

»Das haben wir an zwei Nachmittagen erledigt«, gab Kim ein wenig lahm zurück.

Sie gaben sich weder die Hand noch Küsschen auf die Wangen. Keiner von beiden war auf so etwas erpicht. Sie waren Kommilitonen und derartige Förmlichkeiten in Studentenkreisen kein Usus.

»Und wie heißt du?«

»Kim. Kim Ráfales. Am besten lesen wir das Buch erst mal, und dann treffen wir uns.«

»Hast du es denn?«

»Was?«

»Na, die englische Ausgabe von Frankenstein.«

»Ich?« Er hob die Arme, als hätte ein Schiedsrichter ungerechtfertigt Abseits gepfiffen.

»Weil du so kurz entschlossen mit dem Titel vorgeprescht bist.«

Sie sah ihn etwas vorwurfsvoll an, aber er verstand nicht, dass sie eine Entschuldigung für angebracht hielt. Er war es gewohnt, seinen Willen immer durchzusetzen.

»Kommst du mit runter?«, fragte er stattdessen.

»Nein. Ich habe jetzt hier nebenan Unterricht.«

»Gib mir deine Nummer, dann rufe ich dich an. Wohnst du in Barcelona?«

»Nicht nötig. Wir sehen uns doch sowieso im Seminar, oder?«

»Was ist, hast du kein Telefon?«

»Du bist ein bisschen schwer von Kapee, was?«

»Ich?«

»Ich wohne in einer Wohngemeinschaft mit noch drei anderen, und wir sind so gut wie nie zu Hause.«

»Aber ihr werdet doch ein Telefon haben, oder etwa nicht?«

»Was glaubst du wohl?«

»Ah, verstehe, deine Eltern kontrollieren dich, damit dir im Dschungel der Großstadt nichts passiert, stimmt’s?«

»Zieh Leine, sonst kommst du noch zu spät zum Unterricht.«

Kim bot ihr eine Friedenszigarette an, doch Laura lehnte ab. Sie wandte sich um und schimpfte im Stillen auf Francis Barata und die verflixte Kreide, die sie aufgefangen hatte.

»He, Landpomeranze, wo kommst du denn her, das hast du mir immer noch nicht gesagt!«, rief Kim ihr hinterher, als sie den Flur entlangging.

»Verrate ich dir nicht.«

 

In der ersten Januarwoche parkte Kim den Ford Escort, den er sich mit Roger teilte, in Banyoles auf dem Platz mit dem Bogengang. Er schloss das Auto ab und machte sich, seine Notizen und das Buch unter dem Arm, auf die Suche nach dem Carrer de les Escrivanies. Laura hatte ihm die Straße grob aufgezeichnet und erklärt, sie liege direkt an der Stadtmauer. Ein beleibter, glatzköpfiger Herr, der mitten auf der Straße stand und nichts anderes zu tun zu haben schien, als Passanten den Weg zu weisen, sagte ihm, wie er dorthin gelangte.

»Carrer de les Escrivanies? Dann wollen Sie sicher zu den Altimiras.«

»Ja, genau.«

»Wenn Sie zu der Tochter wollen, die habe ich eben noch da drüben Ball spielen sehen.«

»Laura?«

»Unser Basketballstar.«

»Laura?«

»Sie ist bestimmt noch nicht zu Hause. Soll ich Ihnen inzwischen den Schwarzen zeigen?«

»Nein, danke.«

»Waren Sie schon einmal im Museum Darder? Da haben wir einen ausgestopften Buschmann. Ich begleite Sie gern hin. Es ist ein Krieger.«

»Nein, wirklich, ich kann jetzt nicht, ich muss zu …«

»Weil Sie den Frankenstein dabeihaben, dachte ich, Sie interessieren sich vielleicht für so was.« Er war so korpulent, dass er einschüchternd wirkte, und sah aus, als wollte er Kim nicht vorbeilassen. »Und der Schwarze ist ja längst nicht alles. Es gibt Tierembryos, einen Rehbock mit zwei Köpfen … Haben Sie den Schwarzen wirklich noch nie gesehen? Sie werden doch schon mal in Banyoles gewesen sein, oder? Ich meine ja nur, weil die Kleine bestimmt noch nicht daheim ist.«

»Das macht nichts.«

»Wenn es Ihnen lieber ist, können wir auch zum Schrein des heiligen Martirianus gehen.«

»Sehr nett von Ihnen, aber …«, sein Tonfall wurde entschieden, »ich werde erwartet, wir müssen eine Arbeit …«

»Vilardell, zu Ihren Diensten.«

Der freundlichste Mann von Banyoles gab sich geschlagen, als er einsah, dass er einen Jungen mit eisernem Willen vor sich hatte, und deutete auf das dreistöckige Backsteinhaus der Altimiras, von dem Kim noch vierzig Schritte trennten.

Laura war vom Training bereits zurück, hatte geduscht, die Haare frottiert und Teewasser aufgesetzt, während sie auf Kim wartete. Sie fröstelte ein bisschen. Ihre Mutter hatte sich schick gemacht, weil ein Studienkollege ihrer Tochter zu Besuch kam, und gegrillte, eingelegte Auberginen zubereitet. Als es klingelte, fing Dickens an zu bellen und rannte zur Tür.

»Auf die Minute. Ich habe es dir ja gesagt …«

»Hey, komm rein.«

Sie küssten sich nicht auf die Wangen. Auch reichten sie sich nicht die Hände. Keiner von beiden hielt es für nötig.

»Der tut nichts.« Laura schob den Hund mit dem Bein zur Seite, damit er Kims graue Jeans nicht beschnupperte. »Hast du es gleich gefunden?«

»Ja, ja. Ich habe den Wagen in der …«

»Darf ich vorstellen, meine Mutter.«

»Du bist Quim?«

»Sehr erfreut, Senyora.«

»Sei so gut, und sag nicht Senyora zu mir«, sagte sie in leicht bestürztem Ton. »Nenn mich einfach Clàudia.«

Lauras Mutter war es unbegreiflich, wie ihre Tochter ihr diesen gutaussehenden Kommilitonen ein ganzes Trimester lang vorenthalten konnte. Kim hatte ausdrucksvolle, sanfte Augen und eine dichte, schwarze, ungebärdige Mähne mit großen Locken, die in alle Richtungen aufsprangen. Krause Ringellöckchen konnte Clàudia nicht ausstehen und fand sie gerade bei Männern albern. Dann schon eher millimeterkurz geschoren, so wie ihr Mann die Haare trug. Clàudia, die nach Laura gern noch einen Sohn gehabt hätte, hatte ein Faible für junge Männer mit breiten Schultern. Wie die Ruderer, denen sie zuschaute, wenn sie zum Baden am See war, und die nach dem Training in enganliegenden Trägerhemden im Dorf ihren Schoppen tranken. Schon auf den ersten Blick hatte sie erkannt, dass in der kostspieligen Jacke mit Kapuze und fünfzig Reißverschlüssen ein Sohn aus gutem Hause steckte, und zudem keine halbe Portion, sondern ein vielversprechender junger Mann, an dem alles dran war. Sollte das ihrer Tochter wirklich nicht aufgefallen sein? Nur Ballspielen im Kopf. Es war ein echtes Kreuz mit ihr, keine Ahnung, von wem sie das hatte.

»Willst du deinem Kommilitonen nicht den Garten zeigen?«, forderte sie ihre Tochter auf, selbst erstaunt über all diese Gedanken.

»Möchtest du einen Tee?« Laura drehte den Herd ab.

Dickens strich an ihr vorbei.

»Hast du auch eine Cola?«

Das Haus war feucht. Die alten, dicken Steine bewahrten die Erinnerungen und die Kälte für lange Zeit. Oder vielleicht lag es auch an den dramatischen Wolkengebilden am Himmel, durch die an diesem Samstag kein Sonnenstrahl bis in den »Garten« gelangte. Kein Mitglied der Familie Altimira hatte jemals Garten dazu gesagt. Es handelte sich eher um einen Hinterhof mit einem Gemüsebeet, das bis zu der uralten Mauer reichte. Sie gehörte zu der Historie des Hauses und war ihnen allen so vertraut, dass sie ihr keinen besonderen Wert beimaßen. Im dreizehnten Jahrhundert hatte sich hier offenbar jemand zu Tode geschuftet, um einen Felsbrocken so über den anderen zu schichten, dass das Gemäuer die Zeit und den Wind und die Anfälle von Bauwut überdauert hatte. Doch für Lauras Familie war es nichts weiter als die rückwärtige Grundstücksbegrenzung, die vormittags Schatten spendete. Der Hof war verwildert. Zwischen den Pflastersteinen spross Gras und Unkraut. Hier zwei Kübel mit verblühten Geranien, dort ein gesprungener Topf, in dem Clàudia Küchenkräuter zog. Das duftige Rosa der Hortensien war die einzige Farbe in dieser Wildnis, in der sich Dickens ganz in seinem Element fühlte. Ständig lief er hinaus, kam wieder herein, näherte sich auf leisen Pfoten und sprang einen plötzlich an.

»Die Hängematte ist sicher für die Siesta.«

»Eher nicht. Ich habe zwar Stunden darin verbracht, mit Freundinnen oder einem Buch. Aber eine Siesta habe ich, glaube ich, noch nie darin gehalten.«

Die Hängematte war mit dem einen Ende an einen nicht sehr vertrauenerweckenden Pfosten gebunden, mit dem anderen an den Stamm eines Feigenbaums, der nach all den Jahren die halbe Höhe der Mauer erreicht hatte. Die Hunderte von Feigen, die der Baum jedes Jahr trug, kochte Lauras Mutter zu einer Konfitüre ein, nach der sich alle die Finger leckten. Kein Besuch verließ je das Haus der Altimiras ohne ein Glas davon.

»Und du bist aus Barcelona?«

Clàudia hatte ihnen den Tee und die Cola auf einem Tablett bereitgestellt, damit sie sich alles mit nach oben nehmen konnten.

»Er wohnt in einem Hotel«, beantwortete Laura die Frage ihrer Mutter.

»Nun, das stimmt nicht so ganz. Ich wohne darüber. Das Hotel gehört meiner Familie, und wir haben im obersten Stock eine Wohnung. Schon meine Großeltern haben da gewohnt.«

»Das Hotel Rafaeli, weißt du, Mama, das auf dem Passeig de Gràcia?«

»Hmm … das sagt mir jetzt nichts.«

»Aber ja, es ist gleich an der Ecke …«

»Ich war schon ewig nicht mehr in Barcelona.« Entschuldigend sah sie Kim an. Meine Güte, was für ein hübscher Kerl! »Mein Mann ist immer so müde, dass ich ihn überhaupt nicht vor die Tür bekomme. Einmal habe ich ihm vorgeschlagen, Laura einen Überraschungsbesuch abzustatten und uns mal ihre Wohnung anzuschauen, und da hat er nur gesagt, aber kommt sie denn nicht sowieso am Freitag?«

Etwas verlegen setzte Kim sein Hotelierslächeln auf.

»Kommt bloß nicht auf die Idee ohne Ankündigung bei mir aufzutauchen, hörst du, Mama?« Laura nahm das Tablett und ging die Treppe voran. »Los, schnapp dir deinen Frankenstein.«

 

Vier Stunden brüteten sie in Lauras Zimmer über dem Text, bis sie zum Essen gerufen wurden. Am folgenden Montag begann das zweite Trimester, und sie mussten Francis Barata die Hausarbeit abliefern, koste es, was es wolle. Sie waren sich einig, dass sie drei Monate vergeudet und viel zu lange damit gewartet hatten, sich zusammenzusetzen und zu einer gemeinsamen Interpretation zu gelangen. Darum verzichteten sie auf die Mahlzeit und fingen lieber an zu schreiben. »Viktor Frankenstein oder Gott spielen« schien ihnen ein guter, packender Titel. Kim hatte die Idee, und der gemeinsame Beschluss war im Handumdrehen gefasst. Auch war man sich sofort einig, dass Laura sich an die Schreibmaschine setzte, denn sie tippte besser und schneller, zumal der Text auf Englisch war. Sie gestatteten sich kaum eine Pause und waren voll bei der Sache. Weder nutzten sie die Gelegenheit, um sich näherzukommen, noch um sich über die Poster von Magic Johnson auszutauschen, die Laura mit Reißzwecken an die Schranktüren geheftet hatte. Sie war lediglich erstaunt, als sie erfuhr, dass sie ein Jahr jünger war als Kim. Er hatte im Gymnasium einmal eine Klasse wiederholen müssen – welche, sagte er nicht – und das Studium deshalb ein Jahr später aufgenommen. Also, wie er scherzhaft meinte, mit umso mehr Lebenserfahrung. Und warum? Aus welchem Grund bist du sitzengeblieben? Darüber unterhalten wir uns ein andermal, wir dürfen jetzt nicht trödeln, schnitt ihr Kim kurzerhand das Wort ab. Einmütig folgerten sie, dass es in Frankenstein um das Menschliche im Monster geht, dass es zwischen der Wissenschaft und dem Gewissen Konflikte geben kann und dass Ängste – perfekt geschürt in einer Kombination aus Spannung und Geheimnis – eine Gesellschaft nicht lähmen, sondern sie, im Gegenteil, voranbringen können. Sie zogen das letzte Blatt aus der elektrischen Schreibmaschine und packten die sechsundzwanzig Seiten in eine Mappe, die Kim mitnehmen und im Hotel zusammenheften würde, wo sie für Konferenzunterlagen eine entsprechende Maschine hatten. Sie rechneten mindestens mit einer Zwei.

 

Laura fand, sie hätten viel zu viel Zeit im Haus verbracht, und schlug vor, einen Fahrradausflug zum See zu unternehmen.

»Nimm du meines, das ist höher.«

»Und du?«

»Ich nehme das von meiner Mutter.«

Laura zog die Felljacke über, die neben der Tür hing, und wickelte sich bis zur Nase in ihren blauen Glücksschal. Die Januarkälte im Gesicht, traten sie unbekümmert in die Pedale. Die Sonne stand bereits tief, obwohl es erst früher Nachmittag war. Kim blickte um sich und hatte es eilig, zum See zu kommen, Laura fuhr einhändig, Dickens trabte fröhlich nebenher und ließ die Zunge aus dem Maul hängen.

»Kommst du oft hierher?«

»Mit dem Fahrrad? Sooft ich kann. Seit …« Und nach einer kleinen Pause: »Oje, ich weiß gar nicht, wie viele Jahre ich schon meine Runden um den See drehe.«

»Mit deinem Liebsten?«

»Was redest du da?« Sie gab ihm einen kleinen Stoß in den Rücken, nicht zu fest, um ihn nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen.

»Warum fährst du nicht Moped? Dann müsstest du dich nicht so abstrampeln.«

»Wie bitte?« Die zweite absonderliche Frage innerhalb kürzester Zeit. »Typisch Großstädter! Fährst du denn überhaupt nicht Fahrrad?«

»In Barcelona? Spinnst du? Mein Vater meint ja immer, man sollte spezielle Radwege anlegen und öffentliche Mietfahrräder zur Verfügung stellen. Er macht gern einen auf Visionär. Wie kommst du überhaupt nach Bellaterra?«

»Zur Uni? Mit der Bahn, wie denn sonst?«

»Ich nehme immer das Moped. Über die Arrabassada ist das Adrenalin pur.«

»Nicht dass du eines Tages aus der Kurve fliegst.«

»Guck mal.« Kim zeigte ihr die Narbe. Die Spuren von fünf oder sechs Stichen zeichneten eine Spinne auf seinen linken Unterarm.

»Ist das dieses Jahr passiert?«

»Nein, natürlich nicht.«

Laura deutete auf ein kleines weißes Haus, das vom Ufer aus über einen Steg zu erreichen war.

»Wir fahren einmal um den ganzen See, und dann machen wir dort Rast.«

»Die Narbe habe ich schon ewig. Die Heiligen Drei Könige haben mir einmal eine Montesa Cota 49 gebracht. Da muss ich acht oder neun gewesen sein. Ich bin mit meinem neuen Motorrädchen losgedüst und habe mich auf dem Schotter der Auffahrt zu unserem Haus in Llafranc sofort auf die Schnauze gelegt.«

Von all den Häuschen am See war La Carpa d’Or, Der Goldene Karpfen, Lauras Favorit. Weniger der arabisch anmutenden Formen wegen, die ihr in dieser Umgebung immer merkwürdig erschienen waren, und auch nicht wegen der Zinnen, die an eine Spielzeugburg erinnerten, sondern weil es am lauschigsten lag. Man sagte – um solche Gewässer ranken sich immer tausendundeine Fabel –, dass das verlassene Häuschen einem russischen Konsul gehöre. Doch Laura, die schon als Kind mit ihren Großeltern dort gewesen war, hatte nie eine Menschenseele gesehen. Sie legten die Räder auf die Erde und kletterten über das Verandageländer. Dann halfen sie Dickens herein. Es roch nach feuchten Kräutern.

»Dickens ist doch kein Name für eine Hündin.«

»Also bitte, das ist doch ein Rüde!«

»And why Dickens?«

»Daran ist mein Vater schuld. Es ist jetzt fünf Jahre her, dass wir ihn gefunden haben, ausgesetzt am anderen Ende des Sees, in der Nähe von Porqueres.«

»Deinen Vater?«

»Den Hund, du Idiot.« Sie öffnete ihre Jacke. »Er hat uns so leid getan, dass wir ihn ins Auto geladen und mitgenommen haben. Nie werde ich den Tag vergessen, an dem ich Dickens kennengelernt habe. Klingt nach einem Romantitel. Nie werde ich den Tag vergessen, an dem ich Dickens kennengelernt habe. Er war vollkommen verdreckt, man hätte nie gedacht, dass er dieses blonde Fell hat, und wie er uns anschaute … als wäre er uns unendlich dankbar, weißt du? Und nachdem wir ihn zu Hause im Garten gewaschen hatten, da sagte mit einem Mal mein Vater – der besessen ist von Charles Dickens, alles über diesen Mann weiß und uns hundertmal erzählt hat, dass es in dem Gedenkspruch auf seiner Beerdigung geheißen habe, er sei der Freund der Unterdrückten, der Armen und der Leidenden gewesen –, wir sollten ihn Dickens taufen.«

»So schlimm stand es um ihn?«

»Schlimmer.«

»Ich spreche von dem Hund, nicht von deinem Vater.«

Sie lachten.

»Was ist er von Beruf? Dein Vater, meine ich.«

»Er arbeitet bei einer Möbelfirma. Vielleicht hast du die Fabrik auf dem Weg hierher gesehen. Sie liegt auf der rechten Seite, bevor man nach Banyoles reinfährt. Can Constans, ein Riesengebäude. Ist dir das aufgefallen?«

»Nein.«

»Macht nichts. Mein Vater ist dort Buchhalter. Seit Jahren.«

»Er hat es mit den Zahlen, du mit den Buchstaben. Das ist dein Widerspruchsgeist.«

»Genau. Falls ihr also für euer Hotel mal Kommoden, Stühle, Nachtschränkchen brauchen solltet …«

»Ich werde es meinem Bruder Àlex sagen. Er ist der Älteste, er kümmert sich um solche Dinge.«

Dickens war in eine Feluke gesprungen, die vor dem Haus vertäut war, und vervollständigte das Postkartenidyll. Laura war der Boden zu kalt zum Sitzen, sie stand auf und stieg auch in das Boot, das weder Segel noch Ruder, weder Namen noch Geschichte besaß.

»Komm. Hier ist es bequemer.«

»Und wenn der russische Konsul auftaucht?«

Kim sprang auf die Füße, um sich an Lauras Seite niederzulassen.

»Magst du Boote?«

Er wusste nicht, was er sagen sollte. Dieses schon. Der Kahn des Russen stellte kein Problem für ihn da, weil er offen war. Doch jedes Mal, wenn er sich auf dem Segelschiff seines Vaters befand, und das kam häufig vor, nahm er diesen speziellen Geruch wahr. Eine Mischung aus Motor, Diesel, Wasser, Farbe, stickigen Kajüten … Woran es auch immer liegen mochte, noch nie hatte er sich auf La Fornarina aufhalten können, ohne hoffnungslos seekrank zu werden. Er wollte gar nicht daran denken, weil er dann den Gestank sofort wieder in der Nase hatte und ihm die bloße Vorstellung Brechreiz verursachte.

»Im Hotel haben wir jedes Jahr einen Gast, der immer zu einer bestimmten Messe kommt, weil er auf der ganzen Welt Düfte sucht. Einmal sind meine Brüder und ich in das Zimmer von Mister Paton gegangen, als der nicht da war, und haben seinen Koffer durchwühlt, der voller Röhrchen mit Proben von allem Möglichen war. Früher arbeitete er für Guerlain, die angeblich die besten Parfümeure sein sollen. Verwendest du so etwas?«

»Parfüm? Nein, nie!«, entgegnete sie entrüstet. »Wofür hältst du mich? Glaubst du, ich kann eine Mannschaft von Dreizehn- und Vierzehnjährigen trainieren und riechen wie eine Puffmutter?«

»Ich würde gern mal zuschauen bei eurem Training.«

»Komm, wann du willst.«

Laura bemerkte, dass Kim Ráfales Angerri zum ersten Mal Interesse für etwas bekundete, das nicht seine eigene Person betraf.

»Deine Schützlinge sind dreizehn?«

»Das ist das beste Alter. Da sind sie noch so spontan.«

»Wenn du meinst … Mir können diese Nervensägen gestohlen bleiben.«

Im Licht der letzten Sonnenstrahlen war der Weiher glatt wie ein Spiegel. Eine stille, blaue Fläche, reflektierte er die Brauntöne des Tages, die sich allmählich hinter das Grün der Berge zurückzogen. Nach und nach verschluckte die Nacht den Weg nach Mieres, den Wald von Les Estunes, den Rocacorba-Hügel und die erotischen Skulpturen von Xicu Cabanyes. Möglicherweise hätte sich Kim diese Riesenschwänze um Can Ginebreda gern angesehen. Aber die Sonne war untergegangen, und im Fischerhäuschen des Russen sank die Temperatur rapide. Laura spürte, wie die Kälte ihre Lippen austrocknete. Kim hatte sich schon vor einer Weile Lauras Schal umgeschlungen, den sie abgelegt hatte, um den Reißverschluss ihrer Jacke wieder hochzuziehen. Trotzdem drängte keiner von beiden zur Eile. Im dunklen Wasser blitzten letzte Lichtpunkte, die aussahen wie Quecksilbertropfen.

»Warum hast du dich eigentlich für dieses Fach entschieden?«

»Willst du das wirklich wissen?«

»Klar.« Vielleicht nicht wirklich. Laura hatte nur irgendetwas sagen wollen.

»Und du?«, fragte er statt einer Antwort.

»Ich?« Mit einem Mal war sie diejenige, die als Erste Farbe bekennen sollte. »Bei mir war es Chuchotage. Chu-cho-tage fasziniert mich.«

Laura sprach es mit spitzem Mündchen aus, sinnlich, spöttisch. Befangenheit war ihr fremd. Kim gab ihr mit einer Grimasse zu verstehen, dass er keine Ahnung hatte, wovon sie redete. Dennoch gestattete ihm sein Stolz nicht nachzufragen.

»Ich weiß seit der zehnten Klasse, dass ich das machen will. Ich liebe Sprachen, Englisch, Französisch, Italienisch … Sprachen liegen mir einfach. Und soll ich dir sagen, warum ich mich eingeschrieben habe? Weil ich dachte, man begegne als Dolmetscherin unweigerlich interessanten Menschen und lerne ständig dazu. Ich hätte mir auch vorstellen können, Journalistin zu werden und denen eine Stimme zu geben, auf die sonst niemand hört. Aber mit dem Dolmetschen ist es ja ein bisschen ähnlich. Montags sprichst du über Philosophie, dienstags über Politik, donnerstags über Genetik, oder du übersetzt ein Radiointerview mit Anthony Minghella, von dem ein neuer Film in die Kinos kommt. Jeder Tag ist anders.«

Laura schaute träumerisch aufs Wasser, ihr Blick verlor sich im Nirgendwo. Als gäbe es für ihren Ehrgeiz keinen Horizont.

»Lass das.«

Kim verscheuchte Dickens, der ihn beschnüffelte.

»Und du? Warum hast du das Fach belegt?«