Der Mann mit dem Fagott - Udo Jürgens - E-Book
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Der Mann mit dem Fagott E-Book

Udo Jürgens

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Beschreibung

Ein Roman wie ein Jahrhundertkonzert - Familiensaga und Zeitgeschichte in einem: Udo Jürgens' Familiengeschichte, eine unter die Haut gehende Saga von Glanz und Elend, Aufstieg und Fall, Angst und Triumph!

München, 1955: Die Jazzband des legendären Freddie Brocksieper geht von der Bühne. Ein junger Gast aus Salzburg darf ein wenig Pausenmusik spielen. Er nutzt seine Chance, spielt Blues, Jazz und Swing und singt dazu. Tosender Applaus erfüllt das Schwabinger Studio 15. Niemanden hält es auf den Stühlen, die Menschen umringen das Klavier. Es ist kurz nach Mitternacht. Udo Jürgens ist soeben 21 Jahre alt geworden, und in dieser Geburtstagsnacht beginnt eine der eindrucksvollsten Karrieren der deutschen Musikgeschichte.

In großen, opulenten Bildern erzählen Udo Jürgens und Michaela Moritz die wechselvolle Geschichte der Familie. Sie erzählen von der Musik, die Jürgens seit seiner Kindheit zum Mittel wird, die Welt zu begreifen und das Leben zu bestehen.

»Die Geschichte meiner Familie hat mich seit meiner Kindheit geprägt und mein Weltbild entscheidend mitbestimmt, die Suche nach ihren Spuren hat mich viele Jahre begleitet, die Idee zu diesem Buch trage ich schon beinahe mein ganzes Leben mit mir herum.« Udo Jürgens-Bockelmann

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Seitenzahl: 1167

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Inhaltsverzeichnis
 
Inschrift
Wahrheit oder Lüge? – Das Leben als Roman
PROLOG
 
1. KAPITEL – Salzburg, September 1955
Der Teller
Neutralität
Die Nacht von München
»Tango Nocturno«
Heinrichs Vermächtnis
Die Uhr
 
2. KAPITEL – Moskau, September 1912
Das neue Automobil
Apollo
Vor dem Theaterbesuch
Weras heimliche Liebe
»Schwanensee«
Geradeausgehen
 
3. KAPITEL – Kärnten, Schloß Ottmanach, Mai 1957
»Man muß die Feste feiern, wie die Schlösser fallen«
»Symphonie Pathétique«
Rilke und Wera
 
4. KAPITEL – St. Petersburg / Moskau / Ural 1914-1915
Die Gefahr
Krisensitzung
Auf verschiedenen Seiten
»Gott schütze den Zaren«
»Kalinka«
In der Butyrka
Ganz unten
Hoffnung hinter dem Horizont
»Wer ist denn nun der Reichste hier?«
Ostern an der sibirischen Grenze
Das Bahnhofshotel
Ein Abschiedsbrief
Der Mann mit dem Fagott – die Begegnung
In fremden Schuhen
Der Wikinger
Fahrt ins Ungewisse
Helsinki
 
5. KAPITEL – Rotterdam – Amerika, Juli bis Oktober 1957
Vor der großen Reise
»Songs For Swingin’ Lovers«
Die Gestrandeten der Zeit
Im Stundenhotel
MS Waterman
»Schickt mir, die arm sind und geschlagen«
Das Tor zur Freiheit
Midway Lounge
Der Klang Amerikas
»Niemand ist so nah dran wie der, der mit dem Herzen dabei ist«
Uptown Manhattan
»Take The A-Train«
»A good old friend is going home«
 
6. KAPITEL – Ottmanach und Berlin, September 1944 bis Januar 1945
Rassenkunde
Das »Kleid des Führers«
Vor der Flucht
»Wieso müssen wir immer alle fliehen?«
In Opas Haus
 
7. KAPITEL – Moskau, November 1920
Kropotkins Auftrag
Heinrichs Brief
 
8. KAPITEL – Barendorf, Februar 1945
Der Klang der Gefahr
 
9. KAPITEL – Kärnten, Februar 1945
Rudis Heimkehr
Fahnenflucht?
Das Verhör
Zelle 62
Die Bombe im Hof
 
10. KAPITEL – Barendorf, März bis Mai 1945
Der »Löwentöter«
Zum Volkssturm
»Tausend Panzer«
Das »Schokoladengefühl« vom Frieden
Teilkapitulation
Der Tod des Kollaborateurs
 
11. KAPITEL – Kärnten, April bis Mai 1945
»Vom Eise befreit sind Strom und Bäche«
Führers Geburtstag
In »Schutzhaft«
Ende und Anfang
 
12. KAPITEL – Lüneburg, März bis Mai 1946
Kriegstod im Frühling des Friedens
 
13. KAPITEL – Irgendwo bei Linz, September 1946
Bratkartoffeln
 
14. KAPITEL – Schloß Ottmanach und Klagenfurt, 30. September 1946
Die Nürnberger Prozesse
»Tommyschweine«
»Das Land des Lächelns«
 
15. KAPITEL – Wien, Mai / August 1959
»Jenny«
Das zerrissene Photo
Die Trennung
Liebeskummer und Jazz
 
16. KAPITEL – Frankfurt am Main, 15. August 1961
Kalter Krieg und Portwein
Nastasjas traurige Augen
Liebe und Schuld
 
17. KAPITEL – Baden-Baden, 14. und München, 25. Juni 1963
»Wann wird man je versteh’n?«
»Ich verstehe immer ›Onkel‹«
 
18. KAPITEL – Luxemburg, 5. März 1966
Der Grand Prix und die Angst
Olymp oder Fallbeil
»Dies ist erst der Anfang«
Ein Lied in der Nacht
 
19. KAPITEL – Kärnten, August 1967
Das Land der Kindheit
Rüben, Leberwurst und Schlagzeilen
 
20. KAPITEL – Ural, Kriegsgefangenenlager Nr. 7149/2, Januar 1947 bis Dezember 1949
»Tote raus!«
Träume aus Papier
Die Namen der Toten
 
21. KAPITEL – Auffanglager Friedland und Barendorf bei Lüneburg, Dezember 1949 ...
Baumanns Geheimnis
Friedland
Freiheitstanz
 
22. KAPITEL – Hamburg, 3. und 4. Oktober 1967
Büsumer Krabben und die Ruhe vor dem Sturm
Die Probe
Der Bademantel
Erwins Mappe
 
23. KAPITEL – Stockholm / Saltsjöbaden, 5. Mai 1917
Der Sturm
Sechs Männer und ein tanzender Drachen
 
24. KAPITEL – München, 7. und Barendorf, 12. April 1968
»Ich kenne Sie irgendwoher …«
Die Tagesschau
»Wer Wind sät, wird Sturm ernten«
 
25. KAPITEL – Berlin, 25. und 26. Juni 1979
Träume in Trümmern
»Was haben Sie denn da bloß geschrieben?«
Apollos Rückkehr
 
26. KAPITEL – Auf See vor Liverpool, 28. Mai 1925
»God Save The King«
 
27. KAPITEL – Zeitsprünge
Der Kieselstein – Hollywood, Santa Monica Beach, 14. November 1980
»Fünf Minuten vor zwölf« – Wien, 6. Oktober 1981
»Valse Musette« – Kärnten, 6. April 1984
Tödlicher Regen? – Wien, 9. Mai 1986
Ein Stück aus der Mauer – Hannover, 11. November 1989
»Independence Day« – New York – Zürich, 6. / 7. Juli 1999
Eine Zeit erlischt – Barendorf bei Lüneburg, Januar 2001
Brücken zwischen den Zeiten – Wien, Juli 2001
»Hier ein Lächeln und dort Narben, ein paar Tränen mittendrin« – Kärnten, Mitte ...
Auf der richtigen Seite des Vorhangs – München, 4. Oktober 2003
 
EPILOG
Wir danken:
Copyright
Ich widme dieses Buch meinen Großeltern, Heinrich und Anna Bockelmann, um sie der Vergessenheit zu entreißen, meiner Mutter, meinem Vater und seinen vier Brüdern, weil ihre Liebe mich ermutigt und ihre Zweifel mich gestärkt haben, und meinen Kindern, weil ihr Morgen aus unserem Gestern und Heute erwächst.
Udo Jürgens-Bockelmann
Wahrheit oder Lüge? – Das Leben als Roman
Die Geschichte meiner Familie hat mich seit meiner Kindheit geprägt und mein Weltbild entscheidend mitbestimmt, die Suche nach ihren Spuren hat mich seit vielen Jahren begleitet, die Idee zu diesem Buch trage ich schon beinahe mein ganzes Leben mit mir herum.
Es erzählt die Wahrheit und ist doch ein Roman: Es erzählt die Geschichte so, wie ich sie sehe, sie recherchiert oder erlebt, sie aus den Geschichten meiner Kindheit und Jugend rekonstruiert habe. Aber jede Geschichte enthält so viele Wahrheiten wie Personen, die dabeiwaren oder darüber erzählen.
Ich war nicht dabei, als mein Großvater im Jahre 1912 durch Moskau fuhr, als mein Vater seinen ersten Theaterbesuch erlebte, als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach und mein Großvater in St. Petersburg den Jubel der Massen sah und hörte oder als mein Vater 1945 in Klagenfurt in Gestapohaft saß. Ich weiß nicht, bei welchem Satz genau mein Onkel Werner die Stirn runzelte, als er 1958 beim Versuch, das Haus seiner Kindheit zu photographieren, verhaftet wurde, und mich mögen auch meine Erinnerungen an meine eigene Kindheit und Jugend da oder dort trügen. Freunde und Weggefährten von damals werden vielleicht andere Geschichten erzählen, weil sie genau die gleiche Geschichte anders erlebt haben. Dieses Risiko muß man eingehen, wenn man sich vornimmt, so ein Buch zu schreiben.
Was ich recherchieren konnte, habe ich recherchiert, ich habe historische Bücher studiert, alte Dokumente gesucht und gefunden, bin bis nach Moskau und St. Petersburg gereist, um die Orte zu besuchen, die ich hier beschreibe, und um in Archiven zu forschen. Ich habe Historiker und meine Familie befragt und mich auf meine Erinnerungen und mein Lebensgefühl verlassen.
Wahrscheinlich war nicht jede Geschichte ganz genau so, wie sie hier beschrieben ist, aber sie könnte so gewesen sein, und sicher liegt die Wahrheit nicht allzuweit davon entfernt. Letztendlich enthält dieses Buch die einzige Wahrheit, die ich über meine Familie, meinen eigenen Lebensweg und den »Mann mit dem Fagott« erzählen konnte.
Da und dort haben wir Namen geändert und Personen ein wenig anonymisiert, um niemanden zu verletzen oder an den Pranger zu stellen und die Nachkommen jener, die irgendwann fragwürdig gehandelt haben, zu schützen, denn dieses Buch will nicht anklagen und alte Wunden aufreißen, sondern die Geschichte meiner Familie, an der sich die Geschichte dieses Jahrhunderts spiegelt, auf eine ganz persönliche Weise neu erzählen.
 
Udo Jürgens-Bockelmann
PROLOG
Bremen, Weihnachten 1891

Der Mann mit dem Fagott

Ein dumpfer Aufprall. Ein Schneeball zerspringt dicht vor Heinrich Bockelmanns Kopf an einer Hauswand. Kinderlachen, sich schnell entfernende Schritte. Wieder Stille, nur das Knirschen des Schnees unter seinen Füßen und in der Ferne leise die geheimnisvollen Klänge des Weihnachtsmarktes.
Die frühe Dunkelheit und das Glitzern der Festbeleuchtung im seltsam kalten Winter geben der Stadt ein fremdes, verzaubertes Gesicht. Vielleicht ist es der in dieser Stadt so seltene Schnee, der alles verändert. Oder vielleicht ist es auch nur Heinrichs Blick, der bereits fremd geworden ist, die Stadt wie zum ersten Mal betrachtet mit Augen, die das Besondere suchen, das Bleibende, Bilder, an denen die Erinnerung sich festhalten kann in der Fremde.
Jedes Haus, jeder Baum, jedes Licht, jeder Blick ein Abschiedsgruß. Er hatte es sich nicht so schwer vorgestellt. Mit 21 hatte man erwachsen zu sein, ein zielstrebiger junger Mann, der seinen Weg ging. Er mußte sich an diese Rolle erst herantasten, an den festen, zuversichtlichen Schritt in seine Zukunft.
»Halte die Augen und Ohren offen, sei dir sicher, wer du bist, und sei bereit zu lernen, dann wirst du deinen Weg finden«, hatte sein Vater zum Abschied gesagt und war wieder fortgereist, auf seinem Passagierschiff »Henriette«, mit dem Kapitän Bockelmann die Route Bremen – New York befuhr. Wie meistens würde sein Vater an Weihnachten nicht zu Hause sein. Heinrich kannte es nicht anders, und doch wäre es schön gewesen, den Vater noch ein wenig länger hier zu haben, diesmal … Der Rat des in der Fremde und im Leben so erfahrenen Vaters hätte ihm in diesen Tagen viel bedeutet. Solche Gespräche waren selten gewesen in Heinrichs Leben. Monatelang war der Vater fort, unterwegs auf den Weltmeeren. Kam er zurück, war er ein Fremder. Und kaum war die Fremdheit gewichen, war er schon wieder auf See, existierte nur noch in den wenigen Briefen und bunten Postkarten aus aller Welt, um die Heinrichs Spielkameraden ihn immer beneidet hatten.
Nun trieb es auch ihn fort, so stark die Stimme der Ungewißheit im Moment in ihm auch war und ihn zu halten suchte. Er wird gehen. In wenigen Tagen. Nur wohin, das weiß er noch nicht.
Die goldene Taschenuhr des Vaters, sein Abschiedsgeschenk, fühlt sich schwer an, fremd. Noch berührt er sie ein wenig distanziert, voll Respekt vor ihrem unschätzbaren Wert – und vor dem Gefühl, sie sich erst noch verdienen zu müssen. Noch öffnet er ein wenig verstohlen den Deckel, wie früher, als er heimlich mit ihr spielte. Manchmal ertappte sein Vater ihn damals dabei, lächelte, nahm ihm die Uhr aus der Hand, sagte: »Das ist eine Zauberuhr! Wenn dir die Zauberkräfte hold sind, kannst du sie mit deinem Atem öffnen.« Er ging in die Hocke, um mit Heinrich auf Augenhöhe zu sein, hielt sie ihm vor sein ungläubig-gespanntes Gesicht. »Puste!« Heinrich gab sich Mühe. »Das kannst du aber besser! Fester!« Heinrich pustete mit all seiner Kraft. »Noch mal!« Da sprang wie von Zauberhand der Deckel auf, und die Uhr machte summend und bimmelnd und klingend die Zeit hörbar. Zauberkraft … die könnte er jetzt wirklich brauchen. Heinrich lächelt, schließt den Deckel wieder, steckt die Uhr in seine Tasche. Die Zeit bis zu seiner Abreise möchte er gar nicht ermessen.
Duft nach Zimt und Mandeln aus jedem Haus. Schnaubende Pferde, knirschendes Zaumzeug. Ein zugerufener Gruß. Menschen auf dem Weg in die Stadt. Der Schnee dämpft die Geräusche der Straße, macht sie weicher, sanfter. Alles Alltägliche erscheint Heinrich heute besonders, festhaltenswert. Seit Kindertagen zieht es ihn in die Ferne. Stundenlang hatte er schon als kleiner Junge den Globus im Arbeitszimmer des Vaters studiert, sich die wohlklingenden Namen ferner Länder, fremder Städte eingeprägt, sich vorgestellt, sie später einmal alle zu bereisen.
Nun war der Zeitpunkt gekommen, wegzugehen, sich irgendwo in der Welt einen Platz zu suchen. Nur wo, das zu entscheiden, fällt ihm schwer. Beim letzten Besuch seines Vaters hatte er ihn um Rat gefragt. Man hatte in großer Runde mit Freunden und deren Familien zusammengesessen. Von Amerika hatte der Vater ihm abgeraten. Natürlich könne er mitfahren auf der »Henriette«, auf der Überfahrt arbeiten und sich damit die Kosten für die Reise verdienen. Natürlich sei das eine Möglichkeit, und sehenswert sei das Land allemal, aber zum Leben? Eher nicht. Es sei auf einem unheilvollen Weg. Unruhen, Aufstände, Streiks, die Stimmung gereizt, nervös. Es wimmle von gescheiterten Existenzen, Kriminellen, ein undurchschaubarer Sumpf, und die Wirtschaft sei auch nicht gerade stabil. Schwierig schon für die Etablierten, aber bestimmt kein gutes Pflaster für einen jungen Mann, der seinen Weg machen wolle. Und dann die Entfernung zu Europa, der unvergleichlichen europäischen Kultur … Der ganze Atlantik dazwischen … Diese Weite beeindrucke sogar ihn selbst noch. Nach all den Jahren, die er diese Strecke nun schon befuhr … Die Freunde des Vaters waren seiner Meinung.
Aber Rußland, das sei eine Überlegung wert. Ein junger Maat auf seinem Schiff stamme aus Sankt Petersburg. Was der so erzähle! Es müsse ein unvergleichlich glanzvolles Land sein und vor allem offen, das Land der Starken, so sagte man, das Land, in dem man mit einer Idee und harter Arbeit alles erreichen konnte. Besonders als Deutscher. Die vielen deutschen Einwanderer dort hatten großes Ansehen, Einfluß und Macht erlangt. In ihrem Kreis konnte man sich etablieren. Das wäre vielleicht das richtige für Heinrich. Die Knoops, Freunde des Vaters, hatten begeistert zugestimmt. Man habe Verwandte in Moskau. Die könnten Heinrich bestimmt Adressen für eine Stellung vermitteln. Rußland sei wundervoll! Man sei selbst schon dagewesen! Herrlich! Der Glanz des Zarenhauses, die Kultur, die Weltoffenheit … Dort sei wirklich alles möglich.
Also Rußland? Heinrich zögert noch. Er muß sich bald entscheiden. Mit Jahresbeginn möchte er sein neues Leben beginnen, so hatte er sich vorgenommen, und was man sich vornahm, das hielt man auch ein.
Vielleicht könnte er ja auch in eine andere der europäischen Metropolen gehen? Adressen hatte er sich von überallher besorgt. Die Freunde seines Vaters hatten Kontakte in aller Herren Länder. Vielleicht sollte er sich mit einem etwas kleineren Schritt begnügen?
Rußland war sicher die exotischste der Möglichkeiten. Dort wäre ihm der größte Aufstieg möglich, aber auch das größte Versagen. Es würde alles in seiner Hand liegen. Also eigentlich genau das, was er suchte, auch wenn er manchmal sogar mit dem Gedanken an ein ganz normales Leben spielte: Er könnte sich einfach in Bremen eine Stelle suchen, vielleicht in einiger Zeit sogar um Katharinas Hand anhalten …
Ja, Katharina. Bei dem Gedanken an ihre warme, weiche Stimme, ihr feines, fröhliches Gesicht, ihre langen blonden Haare, wurde ihm gleichzeitig heiß und kalt. Diese Gefühle kamen zur falschen Zeit. Zu spät. Oder auch zu früh. Er kannte sie noch nicht lange genug, um ihretwegen seine Pläne zu ändern und hierzubleiben. Es wäre wie das Eingeständnis eines Versagens gewesen. Er konnte sie aber auch nicht bitten, auf ihn zu warten. Er hatte daran gedacht, doch zu ungewiß war seine Zukunft, zu wenig klar umrissen die Zeit, die er brauchen würde, um sich zu etablieren, um ihr dort, wohin er ging, ein angemessenes Heim bieten zu können. Die Ungewißheit seines Lebens konnte er ihr nicht zumuten, das war ihm in den letzten Wochen des Kampfes mit sich selbst klargeworden. Damit mußte er fertig werden. Es fiel ihm schwer.
Er wirft eine Münze von der Brücke aus in einen der romantischen Kanäle der Weser. Ein kleines Ritual, wie immer, wenn es im Leben für ihn darauf ankam. Es sollte ja bekanntlich Glück bringen, und Glück konnte er brauchen.
Plötzlich aus der Ferne leise ein ganz besonderer, seltsam anrührender Klang, der ihn merkwürdig berührt. Er lauscht, folgt seiner Richtung, verliert ihn wieder, hält den Atem an.
Da ist er wieder, leise und doch deutlich hörbar, abgesetzt von den Alltagsgeräuschen und den Klängen des Weihnachtsmarktes, eine ganz eigene Stimme im Chor der Töne, allem anderen unterlegt, als wäre er mit seiner sonderbar melancholisch-fröhlichen Melodie das Fundament für alle anderen Klänge und Farben dieses Tages.
Unbewußt versucht Heinrich die Richtung auszumachen, aus der er erklingt und folgt ihm wie selbstverständlich, ohne daß er es beschlossen, sich aus einer Laune heraus oder aus Langeweile dazu entschieden hat. Es war zwingender. Er hatte in diesem Augenblick keine Wahl.
Es kommt aus der Richtung des Marktplatzes, da ist Heinrich sich mittlerweile sicher. Es klingt tiefer als eine Oboe und erhabener als eine Klarinette. Es ist weicher als eine Posaune und rauher als eine Flöte. Heinrich lauscht. Es ist kein Instrument, das man Tag für Tag hört. Vielleicht ist es ja ein Musiker, der zu Hause übt, bei geöffnetem Fenster, aber das ist unwahrscheinlich. Dazu ist der Klang zu präsent, nicht gedämpft durch Mauern und Fenster. Es schweigt, einen Augenblick nur, dann setzt es wieder ein. Er muß jetzt ganz nah sein.
Heinrich tritt aus dem Dunkel der Arkaden und bleibt erstaunt stehen. Der Mann steht etwas abseits des Weihnachtsmarktes. Er trägt eine merkwürdige, prächtig-bunte Verkleidung, einen dunkelblauen Gehrock mit rot umfaßten goldenen Knöpfen, eine dunkle Hose und auf dem Kopf einen schwarzen, zerknitterten Zylinder. Seine Haltung leicht nach vorn gebeugt. Und er spielt auf einem Fagott.
Das war kein Instrument für einen Straßenmusikanten. Und der Mann sieht auch nicht aus wie ein gewöhnlicher Straßenmusikant. Er spielt ein bekanntes Stück, eine ganz einfache Melodie, die Heinrich irgendwoher kennt und doch nicht zu benennen weiß. Es klingt nach einem russischen Volkslied. Unverkennbar. Erstaunlich bitter und traurig die Verse und auf eine seltsame Weise fröhlich und doch nicht unbeschwert der rhythmische, sich ständig steigernde Refrain, als müsse man die Traurigkeit der Welt nur intensiv genug erleben, um sie in etwas Schönes zu verwandeln. Die dunklen Augen des Mannes strahlen, ruhen ganz in sich selbst. Irgendwo hat er diese Augen schon einmal gesehen, denkt er, doch er weiß nicht, wo. Vielleicht im Traum.
Einige Passanten bleiben stehen, versammeln sich um den Fagottisten, klatschen begeistert im immer schneller werdenden Rhythmus der Melodie. Das bunte Treiben des Weihnachtsmarktes verblaßt, so lange er spielt, das kleine Karussell, die bunten Stände mit Lebkuchen und Mandeln und Zimtsternen, der Leierkastenmann mit den Weihnachtsliedern. Das alles kann warten. Heinrich fragt sich, was es mit dem Spiel, der Verkleidung auf sich haben könnte. Für einen Bettler ist die Kleidung zu gut, die Erscheinung des Mannes zu fein, zu lebendig. Ein Bettler würde den Hut auch nicht auf dem Kopf tragen, sondern vor sich stellen in der Hoffnung auf milde Gaben.
Der Kreis der Zuhörer vergrößert sich. Heinrich wird ein wenig abgedrängt. Er kann den Fagott-Spieler nicht mehr sehen. Nur noch hören. Jemand tuschelt: »Der macht Reklame für das Weihnachtsspiel im Alten Gymnasium in der Dechanatstraße. Da vorn ist ein Plakat mit der Einladung.«
Heinrich Bockelmann lächelt. Erinnerungen an die noch nicht so lange zurückliegende Schulzeit werden wach. Kameraden, Lehrer. Das Alte Gymnasium war auch das seine gewesen. Und das Katharinas. Vielleicht sollte er hingehen. Es wäre eine schöne Gelegenheit, die alten Freunde wiederzusehen. Ein seltsamer Gedanke: Menschen wiederzufinden, die er lange nicht gesehen hat, um sie danach gleich wieder zu verlieren. Er schüttelt den Kopf. Erwachsen zu werden, schien zu bedeuten, Abschied zu nehmen. Nicht nur von der Kindheit. Das hatte er nie in der Schule gelernt.
Heinrich geht ein wenig auf und ab. Das fast mystische Spiel des Fagottisten begleitet ihn, zaubert ein Lächeln auf sein Gesicht, ist in geheimnisvoller Weise Antwort auf Heinrichs unausgesprochene Sehnsucht. Heinrich fühlt es plötzlich ganz klar: Er muß nach Rußland. Es ist, als wäre der Klang des Fagotts, die russische Melodie so etwas wie ein Versprechen, ein Hinweis auf den richtigen Weg. Manchmal konnte Musik solch einen Hinweis geben. Oder auch Dichtung oder Malerei. Er hatte es schon manches Mal in seinem Leben gespürt: wenn er ein Buch las und ihm plötzlich etwas über ihn selbst bewußt wurde, er neue Werte fand oder etwas begriff, was er schon immer in sich selbst gefühlt hatte, ohne es benennen zu können. Doch so stark wie heute hatte er es noch nie empfunden.
Das Fagott schweigt. Plötzlich. Heinrich horcht auf, hält inne, wartet, vermißt den Klang; bestimmt macht der Mann nur eine kurze Pause, setzt gleich wieder ein. Doch ein Atemzug vergeht. Und noch einer. Und wieder einer. Das Fagott schweigt. Hastig bezahlt Heinrich seinen Lebkuchen, eilt zurück an die Stelle, an der er den Mann mit dem Fagott zuletzt gesehen hat, doch die Menge zerstreut sich, der Mann ist verschwunden. Nur das Plakat erinnert noch an ihn, ein Beweis, daß er sich den Mann mit dem Fagott nicht einfach nur eingebildet hat. »Einladung zum Schüler-Weihnachtsspiel im Alten Gymnasium in der Dechanatstraße. An allen Sonntagen im Advent und am Christtag um fünf Uhr nachmittags. Bringen Sie Ihre Freunde mit! Der Eintritt ist frei, Spenden sind erwünscht.«
Heinrich sieht sich um, tritt aus den Arkaden, sieht in jede Straße. Weit kann er noch nicht sein. Er geht ein Stück, biegt um eine Ecke. Plötzlich, in weiter Ferne, in seltsam lichtem Nebel, ist ihm, als ahne er die Konturen des zerknitterten Zylinders, ahne den Gehrock wehen, doch schon im nächsten Moment ist niemand mehr zu sehen. Stille, die ihn beunruhigt, als habe er etwas unendlich Wertvolles in ihr verloren.

Do swidanja

Früh am Morgen. Die Stadt liegt noch in tiefem Schlaf. Dunkelheit. Nur in vereinzelten Fenstern das schwache Licht der Frühaufsteher, Kerzen und Petroleumlampen. Noch hat man den Weihnachtsschmuck in den Gärten, an den Häusern nicht abgenommen. Heinrich hat eine kleine Kutsche gemietet, obwohl er gern zu Fuß gegangen wäre. Doch dazu ist sein Koffer zu schwer.
Niemand begleitet ihn. Es war sein Wunsch. Er hat schon gestern, am Heiligen Abend, Abschied genommen. Von seiner Mutter, dem Bruder, den Großeltern, ein paar Freunden. Nur Katharina hat er nicht mehr gesehen. Er hat ihr einen Brief geschrieben und ihn ihr gestern mittag mit einem kleinen Päckchen in ihren Briefkasten gelegt.
Die Straßen sind menschenleer. Stille. Nur die Räder der Kutsche schleifen, die Hufe des Pferdes klappern leise im Schnee.
Heinrich lehnt sich zurück, fühlt sich plötzlich schwer, ungelenk. Seine Entscheidung erscheint ihm mit einem Mal viel zu groß. Warum hat er es sich selbst so schwergemacht!? – Ausgerechnet Rußland! Für einen Augenblick weiß er keine Antwort darauf. Doch er weiß, daß er sie wiederfinden wird, später, wenn die Entfernung von hier ihn mehr den Neubeginn fühlen läßt als den Abschied.
Die Kutsche nimmt den Weg durch die engen, verträumten Gassen mit den Fachwerk- und Backsteinhäusern, die für Heinrich Kindheit und Heimat bedeuten.
Plötzlich ein Anblick, der Heinrich fast erschreckt und ihn an seiner Wahrnehmung zweifeln läßt. Ein einziges beleuchtetes Fenster in einer noch völlig im Dunkeln liegenden Gasse, der deutliche Schattenriß einer Silhouette: ein Mann in leicht vorgebeugter, ganz in sich selbst ruhender Haltung, auf dem Kopf ein zerknitterter Zylinder, ein Fagott in der Hand, und ganz leise, kaum hörbar, der vermißte Klang. Ein reglos-ungläubiger Augenblick nur, dann ist man vorbei. Das Rattern der Kutsche hallt von den Wänden der engen Straße wider. Hatten ihm seine Sinne gerade einen Streich gespielt? Es ist ihm völlig unbegreiflich, aber er ist sich sicher: Es war der Mann mit dem Fagott! Wie ein Zeichen, daß er auf dem richtigen Weg sei. Er lehnt sich lächelnd zurück.
Auch der Bahnhof liegt still und einsam vor ihm. Niemand außer Heinrich scheint am ersten Weihnachtstag den Frühzug nach Berlin zu nehmen. Seltsame, fast unheimliche Stille. Nur ein Bettler liegt zusammengekauert in einer Ecke. Heinrich läßt ein paar Münzen in seinen alten, zerschlissenen Hut fallen.
Der Bahnsteigschaffner wirft nur einen kurzen Blick auf seine Fahrkarte.
»Moin, moin, junger Mann, wohin soll’s denn gehen?« Die Frage in fröhlich unnachahmlichem Plattdeutsch.
»Nach Moskau«, erklärt Heinrich etwas verunsichert. Seine Fahrkarte reicht nur bis Berlin. Von dort aus muß er irgendwie nach Warschau kommen und dann weiter nach Moskau. Mindestens eine Woche lang wird er unterwegs sein. Vielleicht auch länger.
»Moskau? Junge, Junge, da haben Sie ja etwas vor …«
»Ja.«
Der Schaffner mustert ihn genauer. »Sind Sie Heinrich Bockelmann?«
Heinrich nickt verblüfft. »Ja, woher wissen Sie das?«
Der Schaffner schmunzelt. »Eine junge Dame hat Sie mir beschrieben. Sehr hübsch …«, erklärt er mit Kennerblick aus seinen fröhlich verschmitzten blauen Augen. »Sie hat das hier für Sie abgegeben.«
Er reicht Heinrich ein kleines, liebevoll verziertes Päckchen, dazu einen Brief, auf dem er Katharinas Handschrift sofort erkennt.
»Wann war das?«
»Tja …« Er streicht sich mit der Hand über die grauen Bartstoppeln. »Vor etwa zehn Minuten.«
Aber dann hätte Heinrich sie doch noch sehen müssen! Er blickt sich um, überlegt, ob er sie suchen soll. Vielleicht steht sie ja noch irgendwo und beobachtet ihn. Der Bahnsteig ist menschenleer.
Aus der Ferne zwei weiße, sich unaufhaltsam nähernde Lichter, das Fauchen und Rauchen einer Lokomotive. Zischend und dampfend hält der Zug. »Bremen Hauptbahnhof!« Der Schaffner ruft es ins Leere. Niemand steigt an diesem Tag, zu dieser Stunde, in dieser Stadt aus. Heinrich zögert noch einen Augenblick, sieht sich noch einmal um. Niemand ist zu sehen. Sicher ist es besser so. Er nimmt seinen Koffer, hebt ihn über die hohen, engen Stufen, sucht einen Platz im leeren Zug, öffnet ein von Eisblumen bedecktes Fenster.
Die Lokomotive pfeift und faucht.
»Zurücktreten!« Der Ruf des Schaffners ist nur Routine, denn es ist niemand da, der ihm Folge leisten könnte.
Den Ruck des Anfahrens spürt Heinrich bis tief in seine Seele.
Es ist ihm, als spüre er ihren Blick, der ihm folgt, bis die roten Lichter des Zuges in der Ferne entschwunden sind, doch niemand ist da.
In seiner Manteltasche ihr Päckchen. Behutsam öffnet er es. Ein kleiner, vertrauter Band mit Goethes »Römischen Elegien«, den Reise-Versen eines Suchenden, in dem sie immer wieder scheu errötend und doch die fast ungehörig sinnlichen Stellen nicht übergehend gemeinsam gelesen und die nicht erlebte Erotik sehnsuchtsvoll vorausgeahnt haben. Er schlägt es auf. Vorne, zierlich, ihre Widmung: »Mögest auch du in der Fremde das finden, was deine Seele sucht. Viel Glück, Katharina.« Er öffnet ihren Brief. Eine Zeile nur: »Do swidanja, auch wenn wir uns nicht wiedersehen, K.«
Vorbeifliegende Landschaft im silbernen Licht des Morgens auf dem Weg in die Ungewißheit seiner Zukunft. Die schwere Leichtigkeit der Freiheit in Heinrichs Seele schwingt wie der rastlostraurige Klang eines einsamen Fagotts.
1. KAPITEL
Salzburg, September 1955

Der Teller

Kurz vor 4 Uhr morgens. Ich drücke eine Zigarette aus. Hastig geraucht in der kurzen Pause am Klavier zwischen zwei Songs. 28. September 1955. Übermorgen ist mein 21. Geburtstag. Ich werde volljährig.
Müdigkeit und Aufgekratztheit sorgen für jene merkwürdige Stimmung, die mich Abend für Abend beherrscht. Entspannte Konzentration gepaart mit matter Routine. Ein Leben, das mir manchmal unwirklich erscheint und das doch die Realität in all ihrer Härte in sich trägt. Nicht abgefedert von Illusionen, aber ein wenig gemildert durch Träume, Hoffnungen, Chancen, die sich auftun und wieder zerschlagen.
Ein erster Schritt: Ein Engagement in einem Musikcafé von halb acht Uhr abends bis halb fünf Uhr morgens, danach eine Kleinigkeit essen, ins Bett, wenn andere aufstehen, schlafen bis zum Nachmittag. An Wintertagen die Sonne kaum gesehen. Oft kein Gefühl mehr für Raum und Zeit. Spielen, um zu existieren, in einem ganz und gar prosaischen Sinne. Und doch ist es das, was ich will und immer wollte: Musiker sein. Wie auch immer.
Und ich fühle es, sobald ich am Klavier sitze, selbst um vier Uhr morgens. Das ist mein Leben. Ungeordnet, in den Tag hineingelebt und in die Töne, hoffen auf ein Engagement. Kleine Ziele und große Sehnsüchte. Manchmal auch Angst. Bin ich auf dem richtigen Weg? Ist da, wo ich Fuß zu fassen suche, überhaupt ein Weg für mich?
In etwas mehr als 24 Stunden bin ich volljährig. Uneingeschränkt selbstverantwortlich für mich und für mein Leben. Werde ich die Erwartungen meiner Eltern erfüllen? Und meine eigenen? Bloß weg mit zuviel Nachdenklichkeit.
Ein neuer Drink wird auf mein Klavier gestellt. »Von den Herren da drüben«, sagt der Kellner. Ich folge seiner Geste, grüße die beiden amerikanischen Soldaten in Uniform, die ihre letzten Tage in diesem Land verbringen, das bald seine Unabhängigkeit zurückerhalten wird. Jeder ein Mädchen im Arm. Sie sind schon oft hier gewesen. Ich weiß, was jetzt kommt:
»Play ›Funny Valentine‹«, ruft der eine mir zu. Es ist seine Lieblingsnummer. Bald geht’s zurück in die USA; gemäß Staatsvertrag. »Especially for you«, kündige ich mit einer gespielt großen Geste an und gebe den Einsatz. Ein schönes Lied, in dem ich mich sofort zu Hause fühle, nicht weniger als die jungen Amerikaner. Das ist unsere Musik: Gefühlvolle Balladen, Swing, Improvisationen, der freie Geist einer neuen, freien Zeit. Instinktiv spüre ich: So wird die Musik klingen, die auch im alten Europa die Jugend und die Zukunft beeinflussen, bewegen und anregen wird. Die Amerikaner sind sichtlich berührt. Ich auch. Erste Erfahrungen mit der unvergleichlichen Spannung zwischen Bühne und Publikum. Ich atme auf, lebe auf. Die Müdigkeit verfliegt in den Tönen.
Im Café Esplanade haben sich die letzten Gäste der Nacht versammelt. Theaterbesucher in Smoking und Abendkleid, Studenten, die an einem Tisch nahe der Bühne über die neue Zeit des Aufbruchs diskutieren, Touristen, die von der Musik, die an jenem Herbstabend leise auf die Straße gespült wird, angezogen wurden, Stammgäste, Musikerkollegen und Kellner aus anderen Lokalen, die früher schließen, Taxifahrer, die noch ein wenig Gesellschaft suchen, ehe sie nach einer langen Schicht nach Hause gehen. Selbst Reisende, die am nahen Bahnhof angekommen sind und noch nicht nach Hause wollen, schauen manchmal bei uns vorbei. Man sehnt sich in dieser langsam aus den Trümmern des Krieges wiederauferstehenden Stadt nach ein wenig Wärme, nach Begegnungen, Lebendigkeit. Das typische Publikum eines frühen Donnerstagmorgens.
Der Qualm von Zigaretten und Zigarren sorgt für diffuses Licht. Kellner servieren die letzten Drinks. Meine Arme schmerzen, wie immer um diese Zeit. Seit dem frühen Abend spiele ich praktisch ohne Pause. Noch eine halbe Stunde, denke ich. »Honey Suckle Rose«, raune ich den Jungs von der Band zu. F-Dur. Ich spiele acht Takte Einleitung. Verdammt, das Klavier ist schon wieder verstimmt, ärgere ich mich und male mir mit wenig Begeisterung die immer wieder geführten Diskussionen mit unserem Chef aus, der nur selten bereit ist, die Kosten für einen Klavierstimmer zu tragen.
»Wie stellst du dir das vor?!« jammerte er immer wieder, »das hier ist schließlich nicht das Grand Café Winkler! Wir sind das Esplanade am Bahnhof! Und außerdem hört das doch sowieso keiner!«
Er konnte nicht ermessen, wie frustrierend es war, auf einem verstimmten Klavier zu spielen, das ohnehin schon ein abgespielter alter Schinken war. Doch egal. Ich spiele, die Band steigt ein.
Patricia in der Ecke lächelt mir zu. Sie kommt oft hier her. Meistens alleine. Mit ihren 19 Jahren schlägt sie sich so durch. Ich weiß nicht viel über sie, nicht einmal ihren wirklichen Namen. Mädchen mit ihrem Job geben sich gerne klingende Namen. Wahrscheinlich hieß sie in Wirklichkeit Liesl oder Mitzi. Wir haben uns angefreundet, und ich nenne sie Patsy.
Sie hat eine kleine Wohnung ganz in der Nähe. Dann und wann, wenn sie keinen Freier hat und nachts nicht allein sein will, bittet sie mich, bei ihr zu bleiben. Zwei junge Menschen auf der Suche nach dem eigenen Leben, und ich bin manchmal froh, der Enge meiner Gemeinschaftsbude zu entfliehen. »Love Is Here To Stay« ist ihr Lieblingslied. Ein Hauch Romantik in einer ganz und gar unromantischen Wirklichkeit. Ich werde es als nächstes für sie spielen, beschließe ich. Das letzte Lied des Abends. Endlich!
Der Teller auf meinem Klavier ist für die vorgerückte Stunde noch ziemlich leer. Außer unserem »Lockvogel«, einem 20-Schilling-Schein, den wir selbst darauf placiert haben, nur ein paar verlorene Münzen. Ein trauriger Anblick. Ich habe immer noch ein gespaltenes Verhältnis zu dem Teller und dem Schild »Bitte für die Musik«, das Buddy Urban, unser Schlagzeuger und mit seinen über dreißig Jahren der älteste, cleverste und erfahrenste von uns vieren, eines Tages ohne mich zu fragen kurzerhand auf meinem Klavier aufgestellt hat.
»Das haben wir doch nicht nötig!« habe ich aufgebracht protestiert. »Wir sind Musiker und keine Bettler! Das kommt überhaupt nicht in Frage, das ist unter unserer Würde!« Und ich schob den Teller mit einer so heftigen Geste beiseite, daß er beinahe zu Boden gefallen wäre.
Mit einer bestimmten, keinen Widerspruch duldenden Bewegung hat Buddy ihn wieder auf seinen Platz gerückt. »Der Teller bleibt. Ich haue kein einziges Mal mehr auf meine Scheißtrommel ohne den Teller! Deine Würde oder ich, entscheide dich!«
Wir haben abgestimmt. Alle außer mir waren dafür gewesen, daß der Teller bleibt. Und sie hatten natürlich recht. Von der Gage allein hätten wir unmöglich leben können.
»Du mußt lächeln, dich bedanken«, hatte Buddy dann auch noch gefordert, als ich bei den ersten Spenden verschämt auf die Tasten gestarrt hatte. Das ging nun wirklich zu weit!
»Aber ich kann mich doch nicht bedanken, wenn ich singe!« rechtfertigte ich mich.
»Doch, du kannst! Lässig und freundlich mußt du das machen! Ganz locker und selbstverständlich!« Und er machte es mir vor. Er hat leicht reden, dahinten an seinem Schlagzeug, denke ich. Doch im Grunde bin ich ihm dankbar, auch wenn das herbe Gefühl geblieben ist.
Die feine Abendgesellschaft rüstet sich zum Aufbruch. Die Herrschaften müssen wie alle Gäste an meinem Klavier vorbei, das in der Nähe der Tür steht. Und an unserem Teller. Ich habe mit »Love Is Here To Stay« für Patsy bereits begonnen. Nicht jetzt, denke ich – und gleichzeitig: Hoffentlich legen sie etwas drauf, wir haben es wirklich nötig. Ich beobachte die eleganten Besucher aus den Augenwinkeln. Man erhebt sich, hilft den Damen in die feinen Mäntel. Ein Schein bleibt auf dem Tisch. Der Kellner wird sich freuen. An uns denkt wieder mal kein Schwein, denke ich und gönne dem Kellner das Zubrot von Herzen. Jetzt sind sie gleich an meinem Klavier. Ein lässiger Griff in die Hosentasche, und ein 50-Schilling-Schein für unseren Teller.
Das ist immerhin ein Tag Essen für uns alle. Buddy sieht mich auffordernd an. Zwischen zwei Zeilen schmuggle ich mich schnell vom Mikrophon weg. Freundlich verbeuge ich mich leicht. »Dankeschön und eine gute Nacht!«.
Buddy strahlt mich an. Ich habe dazugelernt. Ich lächle zurück und male mir doch nicht ohne Bitterkeit die Gefühle meiner Eltern aus, wenn sie den Teller, das Schild auf meinem Klavier sehen. Was ist das nur für ein Beruf? würden sie sicher denken, auch wenn sie so etwas noch nie ausgesprochen haben. Ich weiß, daß sie sich Sorgen machen, auch wenn sie es sich nicht anmerken lassen.
Die Tür öffnet sich. Stimmengewirr. Lachen. Eine Gruppe von auffällig gekleideten, etwas dubios wirkenden Gestalten, wie man sie zur Zeit allerorts sieht, »Schieber« werden sie genannt, und etwas gewöhnlichen, lauten Begleiterinnen, offenbar Kolleginnen von Patsy, aber von der harten, abgebrühten Sorte, betritt das Lokal. Die Gewinner der Zeit, clevere, alles andere als seriöse Leute, die aus dem Wiederaufbau ebenso ihr Kapital schlagen wie zuvor aus Krieg und Verderben. Das Verhökern von allem, womit sich in der noch kaum überwundenen Zeit der Knappheit Geschäfte machen ließ, von geklauten und geschmuggelten Zigaretten, Autoreifen, Benzin aus Militärbeständen bis hin zu Waffen, hatte sie nach oben gespült. Sie können alles »organisieren«, was gewünscht wird, und ihre Methoden sind nicht zimperlich. Der Schwarzmarkt blüht und gedeiht.
»Ist noch geöffnet?« fragen sie schon etwas angeheitert den Chef, der an einem Tisch seinen üblichen Wodka trinkt. Ich bin besorgt. Zahlungskräftige Kundschaft. Da wird er nicht nein sagen, und es wird wieder nichts aus unserem Feierabend.
»Aber selbstverständlich, die Herrschaften«, ertönt es prompt aus seiner Ecke und an uns gewandt: »Na spielt’s halt noch a bissel.«
Ich nehme einen Zug von meiner Zigarette, einen Schluck von meinem Wodka Tonic und setze mich wieder. Job ist Job.
Das Ziehen in meinen Unterarmen, die Schmerzen in den Fingergelenken werden immer unangenehmer. Wir spielen immer drei Stücke, dann gebe ich mit dem Klavier ein musikalisches Pausenzeichen, damit sich die Tanzenden wieder setzen. »Sitzen und trinken«, rief manchmal der Chef, wenn er blau war, »Geschäft ist Geschäft!« Für die Musiker folgen zwei bis drei Minuten Pause, in denen sie sich ein wenig ausruhen, sich die Beine vertreten, ein bißchen frische Luft schnappen können. Ich am Klavier aber muß leise weiterspielen. Der Chef will es so. Es darf möglichst nicht still werden im Lokal, das wäre schlecht fürs Geschäft.
Die Gesellschaft hat etwas zu feiern. Man gibt sich weltmännisch. »Champagner für alle! Und zwar vom feinsten! Und Musik! – Was ist denn das hier für ein müder Haufen!? Spielt’s amal an richtigen Boogie!« Und zu mir gewandt: »Hau in die Tasten, Burschi!«
Du lieber Gott, das gibt meinen Armen den Rest! Und der größte Boogie-Woogie-Pianist war ich sowieso noch nie. Keine Zeit, darüber nachzudenken. Der Chef unterstützt sofort den Kommandoton:
»Was is, Burschen?! Hört’s ihr schlecht? Wugie, Wugie für den gnädigen Herrn!« Und zum Kellner: »Champagner, aber flott!« Und wir spielen und spielen, und meine Arme werden schwerer und schwerer, und dann bricht auch noch Schlagerseligkeit aus, und alles tanzt, und Patsy wittert ihre Chance und tändelt mit einem potentiellen Freier, und in mir verschwimmt die Musik, die so gar nicht meine ist, zu etwas ganz und gar Fremdem, fast Mechanischem.
Da ist kein Platz für mich, denke ich. In Amerika müßte man sein. Dort wird etwas bewegt. Da kommt die Musik her, für die ich lebe, dort könnte ich spielen wie ich fühle, leben in Musik, die mich voranbringt, die mich trägt, leben am Puls neuer Töne. Oder in Berlin … Der Stadt, die gerade wieder zu atmen beginnt, die nach Lebendigkeit klingt, nach Neuem, jedenfalls im Radio, dem von uns ständig gehörten Sender RIAS Berlin, dem Orchester Werner Müller. Da gibt es Spannung, Kultur, Aufbruch – das wär’s. Das wäre etwas anderes als Salzburg, etwas anderes als das Esplanade, etwas, das ich vorweisen könnte, auch meinen Eltern gegenüber. Darauf könnten sie stolz sein.
»Hauptsache, du verdienst dein Geld auf ehrliche Weise, Junge«, haben sie immer wieder gesagt, wenn wir über mein Leben gesprochen haben, meinen Berufswunsch, Musiker zu sein. Nie haben sie die Nase gerümpft, weil ich es bisher nur zum Barpianisten in Salzburg gebracht habe. Aber glücklich sind sie darüber bestimmt nicht. Vielleicht sogar heimlich enttäuscht.
Ewig begabt zu sein, davor habe ich Angst, begabt zu sein aber nicht begabt genug. Das geht vielleicht mit zwanzig, aber wie lange werde ich diesen »Jugendbonus« noch haben? – Volljährig, da sollte man schon ein bißchen vorangekommen sein, denke ich nicht ohne Bitterkeit. Immerhin ist es schon vier Jahre her, seit ich mit dem Segen meiner Eltern die Schule und mein Zuhause für die Musik verlassen habe. Das Herz voller Ideale. Vier Jahre, und immer noch nicht wirklich weiter. Das beschämt. Noch habe ich im Leben nichts bewiesen …
Mein älterer Bruder John, von uns Joe genannt, der macht seinen Weg, um ihn braucht niemand sich Sorgen zu machen. Auf ihn kann man stolz sein, ihn kann man vorzeigen. Aber mich? Man hält zu mir, aber uneingeschränkt stolz ist man auf mich wohl kaum. Ja, Berlin, das wäre schon etwas anderes …
»There Will Never Be Another You« bringt mich kurzzeitig auf andere Gedanken. Doch die Gesellschaft fordert »Die Beine von Dolores«, einen neuen Schlager, der gerade ein Riesenerfolg geworden ist. Man muß einfach auf dem laufenden sein. Wer zahlt, befiehlt.
»Ein bißchen wie eine lebende Music Box«, denke ich und schmalze das schönste »Dolores«, dessen ich nach mehr als neun Stunden Singen und Spielen noch fähig bin. Alles nicht so ernst nehmen, mich treiben lassen, die Feste feiern, wie sie fallen. Vielleicht wird der neue Anzug, den ich beim Schneider bestellt habe, mir ja Glück bringen. Ein wunderschöner Einreiher aus mitternachtsblauem englischem Kammgarn mit doppelreihiger weinroter Schalkragenweste, der Meter Stoff zu 320 Schilling. Das ist viel Geld, aber eine Investition in die Zukunft. Schließlich muß ich auf der Bühne etwas hermachen, auch optisch. Das ist ungeheuer wichtig in diesem Beruf. Mein Geburtstagsgeschenk an mich selbst. Das spare ich mir vom Mund ab. Und es wird sich lohnen: Ja bestimmt. Mit dem neuen Anzug wird’s auch für mich einen Schritt weitergehen!
Ich lasse mich von der allgemeinen Fröhlichkeit anstecken. Was soll’s? Mir geht’s doch gut! Immerhin kann ich mir als Musiker mein Geld verdienen, muß keine Kisten schleppen oder Autos betanken wie andere, mit denen ich früher musiziert habe … Das ist doch schon was! Und wir gelten immerhin bei Insidern als beste Band von Salzburg. Die Jugend geht ins »Esplanade«. Man will uns spielen hören. Unser Repertoire ist weit gefächert, von Stimmungsliedern aller Schattierungen über Operetten- und Musicalmelodien bis hin zu jener Musik, an der unser aller Herz hängt: die Musik einer neuen Zeit, die großen Songs aus Amerika, Gershwin, Sinatra, Swinging music, Jazz. Ich gerate ins Schwärmen.
»Die Beine von Dolores«, der letzte Refrain. Zum Glück. Ist überhaupt nicht mein Ding. Jetzt noch der hohe Ton. – Irgendwie klappt auch der noch. Der Laden johlt. Die Amerikaner sind gegangen. Ich kann’s verstehen.
Einer der Schieber, ein junger, glatzköpfiger, etwas snobistisch wirkender Mann hat Patsy fest im Arm. Ich lächle ihr zu, weiß nicht recht, was ich davon halten soll. Ich bin nicht in sie verliebt, aber ich bin um sie besorgt, würde sie gern beschützen vor so einer Welt, der ich noch nicht einmal selbst wirklich gewachsen bin. Jugendliche Liebhaberphantasien. Auch aus Amerika, aus dem Kino. Der Held, der den Drachen tötet und die Prinzessin errettet, das war schon als Kind einer meiner Lieblingsträume. Doch in dieser Zeit haben es Ideale schwer, denke ich mir. Alles ist im Umbruch, im Aufruhr, Werte werden für nichtig erklärt und neu geformt. Orientierung fällt schwer.
Uns gehört die Zukunft, ein Satz, an den ich manchmal sogar glaube. Das eigene Leben in die Hand nehmen, auch so eine leere Phrase. Eine Gratwanderung zwischen Chance und Versagen, auf der ich manchmal auszugleiten drohe.
»In München steht ein Hofbräuhaus« grölen die angeheiterten Gäste. Auch das noch. Aber warum eigentlich nicht? Wir stimmen ein. München, das wäre auch mal eine Reise wert. Jazzkeller, Musiklokale, das Oktoberfest läuft doch gerade … Da war ich noch nie.
Mensch, das wäre doch ein Rahmen für meinen Geburtstag! Am Donnerstagabend ist Ruhetag. Wir könnten am Nachmittag nach München fahren, aufs Oktoberfest gehen und nachts noch in die Jazzschuppen, in meinen Geburtstag hineinfeiern, vielleicht bei einer Jam-Session in einem der verrückten Clubs, ein wenig einsteigen, jazzen mit Münchener Musikern. Am Freitag könnten wir dann rechtzeitig zurücksein, um im Esplanade zu spielen.
Kurze Musikpause. Die Herrschaften protestieren. Ich zünde mir trotzdem noch eine Zigarette an. Mein Kopf dröhnt, meine Arme scheinen aus Blei zu sein. Nie wieder kann ich mit diesen geschwollenen Fingern Klavier spielen, denke ich und weiß, daß ich es doch kann. Buddy nimmt mich beiseite, spricht aus, was ich gerade gedacht hatte:
»München, Oktoberfest! – Das wäre eine Gaudi!« Ich bin sofort dabei. Klaus Behmel, unser Gitarrist, auch. Aber wovon sollen wir das bezahlen? Der Teller kann uns diesen Wunsch heute nicht erfüllen. Mal sehen … Ich fühle mich seltsam aufgekratzt. Wie meistens zuviel getrunken, zuviel geraucht, zu lange gespielt. Der Punkt bleierner Müdigkeit ist überschritten. Die Finger werden noch einmal auf die Tasten gezwungen. Zur eigenen Motivation »Blues in B«. – Es geht doch, und wir lassen’s richtig swingen!
Der Champagner ist geleert, die Gesellschaft will zahlen. Bestimmt kostet das mehr als mein ganzer Anzug. Der Glatzkopf hat Patsy fest im Arm. Man ist sich offenbar einig geworden. Eine alltägliche Sache. Ich zwinge mich, nicht darüber nachzudenken. Wir verabschieden sie mit »Ich hab mich so an dich gewöhnt«.
Der Glatzkopf kommt demonstrativ auf mich zu, den Arm fest um Patsy gelegt. Ein kurzer, ratloser Blick, verstohlen am Glatzkopf vorbei. Die Traurigkeit in ihrem lächelnden Gesicht macht mich betroffen. Jeder einzelne Freier ist für sie noch eine Selbst-überwindung, teuer erkauft gegen die eigene Selbstachtung. Leere in ihren Augen. – »Ich hab mich so an dich gewöhnt, hab mich so sehr an dich gewöhnt, an die Art, wie du beim Küssen deine Augen schließt …«, zwingt der Refrain mich ausweglos weiter. Kurzes, aber heftiges Versagergefühl. Als Mann, nicht als Musiker. Das kratzt am Ego. Was ist das nur für eine Welt?
Der Glatzkopf grinst mich an. Nicht bösartig, nur gönnerhaft. Ein Schein wandert auf unseren Teller. Deutlich sichtbar, schließlich will man zeigen, was man hat. Wir trauen unseren Augen kaum: 1000 Schilling! Das sind 250 für jeden von uns! Buddy, Klaus und ich sehen uns an: Das ist die Fahrt nach München! Hurra!
Während wir einpacken, schmieden wir eifrig Pläne. Selbst unser Chef scheint mit dem Abend zufrieden zu sein. Er besteht nicht auf dem üblichen »Granada«, seinem Lieblingslied, das wir an fast jedem Morgen nach getaner Arbeit noch für ihn spielen müssen. Heute läßt er uns einfach so ziehen.

Neutralität

Wir treten hinaus auf die Straße, die in fast vollkommener Dunkelheit vor uns liegt. Nur spärlich brennt da und dort eine schwache Straßenlaterne. Der Mond ist bereits untergegangen. Eine trübe Nacht. Kein Stern am Himmel. Es ist kühl. Immer noch regnet es leicht, wie seit Tagen. Der sprichwörtliche Salzburger Schnürlregen, der jetzt, Ende September, besonders in die Kleidung und in die Seele kriecht.
Am Horizont hinter dem Gaisberg ein blau-silberner Schein, der bereits den neuen Tag erahnen läßt. Plötzliche Stille, die irritiert und befreit. Stille, gegen die ich nicht anspielen muß, die ich atmen, in der ich mich frei bewegen kann, die mir Raum gibt für meine Phantasie. Meistens fällt es schwer, sie zu ertragen nach einer durchspielten Nacht. Plötzliche Leere, die fast schmerzt. Das hält der aufgekratzte Kopf nicht aus. Dann lieber noch ins »Maxi«, ein Frühlokal, in dem wir an fast jedem Morgen eine Kleinigkeit essen, bevor wir schlafengehen. Noch unter Menschen sein, Gespräche, Lebendigkeit, nicht auf sich selbst zurückgeworfen sein. Langsam entspannen.
Heute hat dazu keiner von uns Lust. »Nichts wie nach Hause«, beschließen wir. Schließlich wollen wir so früh wie möglich los.
Die Straße ist fast menschenleer, wie immer um diese Zeit. Rund um den Bahnhof und das »Esplanade« ist die Zerstörung noch allgegenwärtig. Der Bahnhof selbst nur provisorisch instand gesetzt, wie vieles in dieser Zeit. Vereinzelte Reisende mit Koffern in ihren Händen. Die ersten Frühzüge gehen bald. Da und dort ein Radfahrer, kaum Autos zu dieser frühen Stunde zwischen den Tagen. Zu spät für die Nachtschwärmer und zu früh für die Frühaufsteher.
Die ersten Blätter des Herbstes sind schon gefallen. Feucht vom Regen. Wir sprechen nicht viel, hängen unseren Gedanken nach. Rauszukommen, das wird mir guttun. Wenigstens für einen Tag. Neue Eindrücke, das ist wichtig.
Wir überqueren die Lehener Brücke mit ihrem Stahlgeländer und den feingliedrigen Jugendstilornamenten. Vor uns liegt Salzburg-Lehen. Eine ganz andere Welt. Auch hier überall Baustellen. Riesige Wohnsilos sollen entstehen. Man nennt das »sozialer Wohnungsbau«. Nicht sehr einladend. Manche Häuser sind beschädigt, nicht unbedingt vom Krieg, der hier nicht sein gewalttätigstes Gesicht gezeigt hat. Der Verfall der Zeit. Schutt am Straßenrand, grau in grau, manche Fenster mit Pappe verklebt, schlechte Straßen.
Ein Zeitungsjunge kommt uns auf einem Fahrrad entgegen. Wir kaufen ihm die Morgenzeitung ab.
Ein Land wird unabhängig, das beherrschende Thema. Vor wenigen Monaten wurde der Staatsvertrag geschlossen. Neue Verantwortung, neue Möglichkeiten. Ein Drahtseilakt. Selbständigkeit bedeutet auch, auf sich allein gestellt zu sein, gemessen zu werden, sich beweisen zu müssen, seinen eigenen Weg zu finden.
Die Illusion der Geradlinigkeit entlarvt sich schnell. Auch in der Politik. Nicht nur Diplomatie, Verträge, das große Parkett. Ohne Leopold Figls Trinkfestigkeit beim Staatsbesuch in Moskau wäre es nicht gegangen, munkelt man über unseren Außenminister.
Es gibt keine vorgezeichneten Wege, das habe auch ich in den vier Jahren seit meinem Weggang von zu Hause gelernt. Das hatte ich mir anders vorgestellt. Eine harte Schule. Wie auch die Freiheit, die gelebt werden muß. »Es gibt keine Freiheit als solche. Sie muß definiert, mit Sinn gefüllt und Tag für Tag unter Beweis gestellt werden. Freiheit ist eine Haltung, kein Selbstläufer«, das hatte mein Vater immer wieder betont. Erfahrungen, auch aus der Naivität seiner jungen Jahre. Gehört habe ich es oft, begriffen erst in der letzten Zeit. – Erwachsenwerden …
Nun also wird Österreich frei. Wir haben alle gefeiert, aber ob »immerwährende Neutralität« das richtige Aushängeschild für ein Land ist? Sich aus allem herauszuhalten und nur sein eigenes Süppchen zu kochen, scheint mir feige zu sein und unausgegoren, wenig dazu geeignet, Profil zu zeigen. Gerade in Zeiten wie diesen, gerade jetzt, da es diese Chance bekommt. Nicht noch einmal Spielball der anderen sein. Sich nicht noch einmal zu verstecken suchen vor der Gewalttätigkeit der Geschichte in vermeintlicher Machtlosigkeit. Nicht noch einmal den Weg des geringsten Widerstandes gehen, sondern aufstehen und Stellung beziehen, für das Gute eintreten, das scheint mir der Weg zu sein, den ein freies Land gehen sollte. Jugendlicher Heißsporn.
»Haltung beziehen, darauf kommt es an im Leben«, beginne ich eine Diskussion. »›Immerwährende Neutralität‹, was heißt denn das? – ›Immerwährende Feigheit‹ vielleicht? Auf der richtigen Seite stehen. Auf der Seite des Guten. Und wenn es nötig ist, auch bereit sein zu kämpfen, anzuecken, für die Sache einzutreten, für die man steht. Nur so kann man sich Achtung erwerben und Profil.«
Der romantisch-naive Träumer in mir schlägt wieder einmal wilde Purzelbäume, auch gegen die Machtlosigkeit, die ich in meinem Leben täglich erfahre. Die wirkliche Freiheit, die wird einem nicht verliehen, die muß man sich erkämpfen, das habe ich bereits gelernt. Freiheit ist immer auch ein Stück weit Kampf um das eigene Gesicht, um Anerkennung, um den eigenen Weg, denke ich angesichts meines eigenen Lebens. Die Autonomie muß erkämpft und unter Beweis gestellt werden.
Bruno Geiger, unser Bassist, sieht das ganz anders. Er ist der mit Abstand solideste von uns vieren. Im Hauptberuf macht er irgendwas mit Versicherungen. Was genau, weiß ich nicht. Er hat’s mir mehrmals erklärt. Vergebliche Liebesmüh. Ist einfach nicht meine Welt. Er, der sonst stets freundlich und zurückhaltend, möglichst immer charmant und höflich ist, gerät bei meinen Worten in Rage. Seine ohnehin schon etwas rötliche Gesichtsfarbe verfärbt sich dunkelrot und tritt in einen sehenswerten Kontrast mit seinen roten Haaren:
»Neutralität, das ist doch das einzige, was zählt!« ereifert er sich. »Österreich muß unabhängig bleiben, für alle Zeiten! Nie wieder dürfen wir uns einem Militärbündnis anschließen! Hast du denn nicht gesehen, wohin das führt!? Du hast das doch miterlebt! Das Bekenntnis dieses Landes muß der Frieden sein, die Diplomatie, die Unbestechlichkeit. Nur so können wir ein Vorbild sein. Das ist die einzig sichere Rolle für dieses Land, die einzige Lehre, die wir aus der jüngsten Geschichte ziehen können. Unsere einzige Chance.«
»Sicherheit, Sicherheit …«, höhne ich, um ihn zu provozieren. »Es muß doch schließlich auch noch etwas anderes geben als deine Polizzen! Man kann sich doch nicht gegen alles versichern im Leben! Das ist doch feige! Was haben denn die Amerikaner gemacht!? – Die sind aufgestanden und haben gesagt: ›So geht’s nicht!‹ und haben für die Sache gekämpft! Was, wenn sie das nicht getan hätten?«
»Woher willst du denn wissen, was richtig und was falsch ist, wofür es sich zu kämpfen lohnt?« gibt Bruno zurück. »Die Menschen sind doch verführbar! Nein, nein: Neutralität. Nur so geht’s! Nur so können wir ein Sicherheitsfaktor sein. Nur so kann man uns trauen. Neutralität, das ist unsere Freiheit! Wer das in diesen Zeiten nicht erkennt, ist blind – oder schlimmeres!«
Klaus Behmel, unser Gitarrist, der einzige Akademiker unter uns, Chemiestudent in Graz, ist die Diskussion sichtlich leid und bleibt schweigend einige Schritte zurück. Wahrscheinlich hat er solche Diskussionen an der Uni schon so oft miterlebt, daß er sie nicht mehr hören kann. Es ist das beherrschende politische Thema der Zeit. Er blickt erschreckt auf, als er den scharfen Ton hört, der einen handfesten Streit zwischen Bruno und mir nach sich ziehen könnte.
Buddy, der bis jetzt ebenfalls geschwiegen hatte, versucht mit Hilfe seiner natürlichen Autorität als der älteste von uns allen zu vermitteln. Mit Bestimmtheit fällt er mir ins Wort und wechselt das Thema:
»Schluß jetzt mit dem kindischen Blödsinn! Seid’s ganz deppert? Wir machen keine Politik, wir machen Musik, und streiten werden wir uns deshalb bestimmt nicht! In ein paar Stunden geht’s nach München: Oktoberfest, Bier, Weiber! Vielleicht reißen wir was auf! Und irgendwo gibt’s Jazzmusik, Freunde! Ich will jetzt wirklich nichts mehr hören! Sagt’s mir lieber: Wie lassen wir’s morgen an Udos Geburtstag so richtig krachen? Das ist die Frage, die die Menschheit bewegt!«
Recht hat er! Sofort entspinnt sich eine lebhafte Diskussion um all die wunderbaren leiblichen und musikalischen Genüsse, die uns in München erwarten. Nur Bruno kommt nicht mit. Er hat keinen Spaß an Festen und Trubel und Streß. Er trinkt nie, raucht nicht, geht fast immer schon nach Hause, wenn wir drei anderen noch irgendwo durch die Lokale ziehen, möchte sich einfach nur ausruhen, den freien Tag nutzen, um endlich mal wieder auszuschlafen. Niemand nimmt es ihm übel.
Der Regen ist wieder stärker geworden. Ich ziehe die Jacke fester um mich. Eingehängt gehen wir vier weiter. Gleich sind wir da. Man riecht bereits die Tankstelle, eine kleine, behelfsmäßige Hütte mit Zapfsäulen, direkt vor unserem Fenster. Wenn wir bei offenem Fenster schlafen und das Pech haben, daß der Auspuff eines tankenden Lastwagens auf unser Fenster gerichtet ist, kommt es vor, daß er uns beim Anstarten und Wegfahren eine Dieselwolke durch das Fenster stößt, so daß der Vorhang in das Zimmer geweht wird. Dann ist erst mal minutenlanges gemeinsames Handtuchwedeln und Lüften angesagt. Aber bei geschlossenem Fenster zu schlafen, zu viert in dem kleinen Raum, ist auch nicht gerade angenehm. Das offene Fenster ist ein bißchen wie ein Lotteriespiel, aber wir versuchen es immer wieder. Die Hoffnung auf das kleine Glück des Alltags.
Unsere Gemeinschaftsbude liegt im Hochparterre eines alten Hauses in einer dunklen, unwirtlichen Seitenstraße, in die sich sicher noch nie ein Tourist verirrt hat. Ein länglicher, schmaler Raum. An jeder Wand zwei Betten, dazwischen ein schmaler Gang. Das Fenster direkt auf die Tankstelle hin, davor ein kleiner Tisch und ein Stuhl. Das Treppenhaus heruntergekommen. Ausgetretene Stufen. Geruch nach Bohnerwachs und Spießigkeit.
Ebenerdig auf der rechten Seite die Hausmeisterwohnung, links die Tür zu unserem Zimmer. Dazwischen in einer Nische des Treppenhauses ein kleines Kaltwasserbecken, offen, vor keinerlei Blicken geschützt, unsere einzige Waschmöglichkeit, daneben die Tür zur Toilette. Die Miete von 600 Schilling monatlich, 150 Schilling für jeden von uns, ist erschwinglich. »Nächstes Jahr, wenn der Chef uns wiederhaben will, fordern wir aber mehr Gage. Und dann wohnen wir besser«, hatten wir uns gegenseitig schon oft versichert. Doch letztendlich ist es uns allen nicht so wichtig. Es sind ja auch nur ein paar Wochen, und wir kommen fast nur zum Schlafen hierher. Wir sind nur für die Festspielsaison engagiert, konnten gerade noch um drei Wochen verlängern, für mich unverzichtbar, damit ich mir den Anzug leisten kann. Danach wird man weitersehen.
An vier quer über den Raum gespannten Wäscheleinen hängen an Kleiderbügeln all unsere Habseligkeiten. Für einen Schrank ist kein Platz im Zimmer. Ein gewöhnungsbedürftiger Anblick. Zwei Pullover, vier Hemden, einige Unterhosen, einige Paar Socken auf meiner Leine. Meine graue Alltagshose ist auch schon nicht mehr die beste, stelle ich bei ihrem Anblick wieder mal fest. Aber es kommt im Leben nicht auf die Hose an, sondern auf das Herz, das in ihr schlägt, hatte mein Vater immer wieder gesagt. Hose hin oder her, der Bühnenanzug ist einfach wichtiger. Vielleicht bekomme ich von meinen Eltern ja Kleidung zum Geburtstag geschenkt. Sie brauche ich eigentlich am dringendsten.
Buddy geht als erster ans Waschbecken, beschließen wir, Klaus als zweiter, dann ich und zuletzt Bruno, der ja morgen ausschlafen kann. Mit Schwamm und Lappen müssen wir uns notdürftig waschen. Wenn jemand kommt, schnell ein Handtuch umbinden, ins Zimmer laufen. Privatsphäre gibt es nicht. Aber zu den Zeiten, da wir nach Hause kommen, läuft kaum jemand durchs Haus. Und wenn wir nachmittags aufstehen, ist man hier bei der Arbeit. So haben wir einigermaßen Ruhe. Der letzte wischt den Fußboden auf. Wir wechseln uns ab.
Meinen Eltern habe ich unsere Unterkunft natürlich ein wenig anders beschrieben. Für sie wohnen wir in einer kleinen, bescheidenen, sauberen Wohnung. Ein Zimmer für jeden. Selbstverständlich mit Bad. Und mit einer »Hausfrau«, einer Vermieterin, die zweimal pro Woche nach dem Rechten sieht. Zu wissen, wie ich wirklich wohne, möchte ich ihnen nicht zumuten. Ich will auch nicht ihre sorgenvollen Blicke spüren. Vor allem das nicht. Die Zeiten, da man mich als Muttersöhnchen vor allem beschützen mußte, besonders vor der Wirklichkeit, sind endgültig vorbei, habe ich beschlossen.
Ich kann nicht mehr, wasche mich notdürftig, falle ins Bett, schlafe sofort ein. Träume von Dolores’ Beinen, hundertmal hintereinander verlangt und besungen, von Händen, denen die Tasten plötzlich fremd geworden sind, die die Töne nicht mehr finden, meiner Stimme, die unkontrollierbar geworden ist. Ich spüre den Schweiß auf der Stirn, den Puls in den strapazierten Armen. Nur weg hier!
Ich breite die Arme aus, hebe mich wie ein Vogel vom Klavier in die Luft, kann plötzlich fliegen, bin ganz weit weg, unerreichbar. Nie gehörte Klänge. Wilde Akkorde. Das müßte man aufschreiben können. Ich bin zu müde. Kann jetzt nicht denken. Grelles Licht. Scheinwerfer. Eine große Bühne. Ein großes Orchester, davor ein großes, schwarzes Klavier. Ein bißchen wie ein Sarg. Die Angst meiner Kindheit. Ich muß da jetzt raus, auf diese Bühne, an dieses Klavier, muß es bezwingen. Ein Schrei aus tausend Kehlen. Ich kann es! Bin ganz bei mir. Jetzt gelingt mir einfach alles. Schweben in eigenen Harmonien. Verstanden werden, geliebt werden, tausendfach. Ja! Das ist es! Am Ziel sein und doch nicht verweilen. Auf zu neuen Klängen! Im Rhythmus des eigenen Herzschlags. Mein Puls bestimmt die Zeit. – »Es ist Zeit!« – »Es ist Zeit!« – Energisch rüttelt Buddy mich wach:
»He! Aufstehen! Es ist Zeit! Schon nach 12! München wartet!«

Die Nacht von München

München. Nach fünf Stunden Fahrt über die ramponierte, holprige Autobahn endlich am Ziel. Immer noch sind Brücken und Verbindungsstücke zerstört, zwingen uns, auf die alte Wasserburger Landstraße auszuweichen. Überall Baustellen. Dichter Verkehr. Die Menschen sind unterwegs wie noch nie. Mobilität ist wichtig geworden, auch für mich. Das Auto muß ich auch noch abbezahlen, denke ich. Ein alter, dunkelgrüner, gebrauchter VW-Käfer. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mir von meinem Vater Geld geliehen. 5000 Schilling, ein unvorstellbarer Betrag, den ich nun in Monatsraten abstottere.
Der Regen hat sich verzogen. Die Sonne strahlt. Ein herrlicher Spätsommertag. Im Autoradio unser Lieblingssender RIAS Berlin. – »Rundfunk im amerikanischen Sektor«. Auf Langwelle bis weit über die Zonengrenzen hinaus zu hören. Eigenproduktionen mit dem Orchester Werner Müller. Was für ein Orchester! Dort müßte man mal spielen! Guter Empfang. Heute ist mein Glückstag!
In Schwabing mieten wir uns in einer kleinen, billigen Pension ein. Ein Dreibettzimmer. Buddy hat das irgendwie günstig organisiert. »Sofort auf die Wies’n«, beschließen wir.
Lärm, Buden, Geruch nach gebratenen Hähnchen, Zuckerwatte, Bratwurst, Brezen, Lebkuchen. »Wahnsinn, diese Menschen«, staunen wir angesichts der Massen. Ein Riesenrad, Blick über die ganze Stadt, Baustellen, wohin man schaut. Auch Luxushäuser werden gebaut. Es geht aufwärts! »Aufschwung« heißt das neue Zauberwort, das aus der Tristesse wieder bunte Hoffnung macht.
Wieder auf dem Boden. Schießbuden, eine Geisterbahn. Gruseln für die Kleinsten mit garantiertem Happy-End. Eine Märchenwelt. Schön, daß diesen Kindern das wirkliche Grauen, das wir alle erlebt haben, erspart bleibt! Hoffentlich für immer.
Wir lassen uns treiben, fröhlich im Strom der Masse. An gar nichts denken. Staunen wie ein Kind. Einfach genießen. Vielleicht auch Dummheiten machen. Mal unbeschwert sein.
Irgendwo eine Bratwurst mit Sauerkraut an einem Stand. »Bestimmt hab ich noch nie in meinem ganzen Leben eine so gute Bratwurst gegessen«, übertreibe ich meine Begeisterung sofort. Dann ins Zelt. Das »Augustiner« soll das älteste und traditionsreichste sein, hat man uns gesagt. Nichts wie hin!
Das Zelt ist überfüllt. Menschen, wohin man blickt. 6000 Plätze soll es hier geben. So eine Menge habe ich noch nie gesehen. In der Mitte ein Podium. Großes Blasorchester in Lederhosen. Stimmungsmusik. Die Leute singen die Refrains mit. Gesang aus tausend Kehlen. Ein unglaublicher Klang. Die gemeinsame Stimme einer großen Menge ergänzt sich immer zu einem harmonischen Ganzen, auch wenn jeder einzelne den Ton verfehlt. Eine beeindruckende Erfahrung.
»Da, da drüben! Da ist was frei«, ruft Buddy uns zu und rennt los. Wir hinterher. »Ein Prosit der Gemütlichkeit«. Tausende Liter Bier rinnen durch die Kehlen. Wir bestellen für jeden von uns eine Maß. Und Rettich, »Radi«, wie man hier sagt. Später Brathähnchen. Heute lassen wir’s uns gutgehen. Lärm. Gespräche sind kaum möglich. Eine merkwürdige, lebendig-berauschende Atmosphäre. Ich lasse mich von der Stimmung tragen. Selbst die sehr bodenständige Musik macht mir Spaß. Hier paßt sie hin.
Kurz vor zehn. Die Musik hört auf zu spielen, und es heißt »Austrinken«. Wir können doch jetzt nicht gehen! Kommt gar nicht in Frage! Das »Hippodrom« soll als einziges Zelt noch geöffnet sein. Natürlich ist es überfüllt. In der Mitte ein Rondell mit Pferden, auf denen die meist schon angetrunkenen Gäste zur Belustigung des Publikums gegen Bezahlung reiten können. Es wirkt schon ein wenig bizarr. »Hat was von Kafka«, bringt Klaus meine Gefühle auf den Punkt. Um das Rondell herum die Bänke und Tische. Es wirkt ein bißchen wie ein Theater, in dem Darsteller und Publikum eins werden, ununterscheidbar. Selbstdarsteller finden ihr Parkett. Andere sehen nur zu. Das ewige Spiel des Lebens. Ein Hauch von Zirkus, gemischt mit fast ein wenig Eleganz. Volksfest und Varieté.
Nach einer Weile ratlosen Wartens und Staunens finden wir einen Platz. Hier wird nicht nur Bier, sondern auch Wein und anderes getrunken. Die Musik nicht ganz so derb wie in den Bierzelten. Die letzten Minuten meines zwanzigsten Lebensjahrs. Stillschweigend sparen wir uns den Sekt. Daß wir uns den nicht leisten können, ist uns allen klar. Ist auch nicht wichtig.
Uhrenvergleich. Noch ein paar Sekunden. Seltsame Spannung in mir. Ich würde den Moment gern festhalten, das neue Lebensjahr mit würdigen Gedanken zur Volljährigkeit willkommen heißen. Natürlich fällt mir nichts Würdiges ein. Die Sekunden verrinnen. Buddy erhebt sein Glas.