Der Mann mit den 999 Gesichtern -  - E-Book

Der Mann mit den 999 Gesichtern E-Book

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Beschreibung

In Gedenken an Michael Rudolf ehren ihn viele Freunde und Weggefährten in Text und Bild, dazu gibt es zahlreiche Texte aus Rudolfs eigener Feder. Ein notwendigerweise schwerwiegendes Buch, welches alle Facetten dieses wunderbaren Autors aufleuchten lässt. Unter anderem haben neben dem Herausgeber Jürgen Roth daran mitgewirkt: Pia Büttner, Michael Ringel, Gotthard Brandler, Gerhard Henschel, F. W. Bernstein, Jürgen Brömmer, Fanny Müller, Peter Köhler, Dieter Steinmann, Susanne Fischer, Edo Reents, Thomas Gsella, Wiglaf Droste, Marit Hofmann, Dieter Grönling, Frank Schäfer, Thomas Roth, Mark Obert, Jürgen Lentes, Alexander Meier, Bert Sander, Martin Büsser, Thomas Behlert, Christof Meueler, Oliver Maria Schmitt, Rayk Wieland, Michael Tetzlaff, Michael Sailer, Roland Tauber, Ralf Sotscheck, Horst Tomayer, Klaus Leweke, Eugen Egner, Rüdiger Grothues, Kay Sokolowsky, Hans Zippert (in der Reihenfolge ihres "Auftretens").

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ROTH

Der Mann mit den neunhundertneunundneunzig Gesichtern

JÜRGEN ROTH (HG.)

Der Mann mit den neunhundertneunundneunzig Gesichtern

IN GEDENKEN AN MICHAEL RUDOLF

Weisser Stein

im

Großer Dank für immense Hilfe an: Pia Büttner, Thomas Hintner, Marit Hofmann, Peter Köhler, Horst Martin, Christof Meueler, Mark Obert, Michael Ringel, Carola Rönneburg, Ina Rudolf, Michael Sailer, Kay Sokolowsky, Dieter Steinmann, Norbert Thomma

Dieses Buch erscheint zum 2. Februar 2008

In memoriam Michael Rudolf

14. Mai 1961 – 2. Februar 2007

© 2008 Oktober Verlag, Münster

Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung des

Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG,

Münster

www.oktoberverlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Daniel Vargas Diaz

Cover: Daniel Vargas Diaz

Umschlagphoto: Jürgen Roth

(Wolga, September 2004)

ISBN: 978-3-938568-70-5

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

Wer war Holger Sudau? Diese sagenhafte Gestalt, die immer wieder in der Fachwelt an den unmöglichsten Stellen zitiert wird oder als unbestechliche Referenzgröße auftaucht? Nun, zunächst einmal ein wüster Säufer, ein Blender und dreister Scharlatan, dessen Leitspruch »Zum Leben zuviel, zum Sterben zuwenig« lautete, der den Staat DDR, eine waschechte, menschenverachtende Diktatur immerhin, vollrohr ignorierte, ein begnadeter Dichter, ein unbeirrbarer Mahner und Welterklärer, riesengroßer Schlauberger und ein unermüdlicher Minderer des Unglücks, der aus Wissenschaft und Kunst kaum wegzudenken wäre, an den sich aber nicht mal Freunde oder direkt Betroffene erinnern, ein Mann mit neunhundertneunundneunzig Gesichtern und doch selbst seinen engsten Vertrauten, seinen Eltern sogar ein gänzlich Unbekannter. Sonst war bisher kaum mehr bekannt. Holger Sudau – ein Phantom?

Michael Rudolf

INHALT

Michl Rudolf, alter Seebär!

Holger Sudaus Lebenslauf – Michael Rudolf

Micha – Pia Büttner

Zwei Finger für ein Halleluja – Michael Ringel

Ein städtebauliches Desaster für Greiz – Michael Rudolf

In Gedanken an Michael Rudolf – Reminiszenzen aus Greiz – Gotthard Brandler

Aus den Kolonien (3) – Lebenslauf eines Ureinwohners – Michael Rudolf

Aus den Kolonien (4) – Greiz – Michael Rudolf

Aus der Frühgeschichte des Verlags Weisser Stein – Gerhard Henschel

Nachdenken! – Michael Rudolf

Ein unangenehmes Wochenende – Michael Rudolf

Problemfront – Michael Rudolf

Wozu? – Michael Rudolf

Michi – nimm dies! – F. W. Bernstein

Restless Legs – Michael Rudolf

Wie Michael Rudolf einmal vorm falschen Utopia warnte – Jürgen Brömmer

Mit den Augen einer Frau – Bericht von der Triennale in Greiz/Thüringen 1994 – Fanny Müller

Wirklich sehr komisch – Peter Köhler

Reichlich Zumutungen und ab und zu etwas zu lachen – Mit Michael Rudolf auf kurzen Wegen durch die Welt – Dieter Steinmann

Wie Michael Rudolf einmal mein erstes Buch verlegte – Susanne Fischer

Diederichsen und Tomayer – Michael Rudolf

Der Halbkurze – Michael Rudolf

Bierselig – Edo Reents

In Lohn und flüssig Brot – Michael Rudolf

Der moderne Hausmann – Michael Rudolf

Zwei einsame Zeugen – Thomas Gsella

Wie ich vom rechten Glauben abfiel – Michael Rudolf

Der Barbier von Bebra – Wiglaf Droste/Gerhard Henschel

Androgyne Alkoholiker – Michael Rudolf

Mitteilungen über Michl – Jürgen Roth

Unergründliche Gründe – Marit Hofmann

Schwammige Suppe – Michael Rudolf

Der Segen des Wechselstroms – Michael Rudolf

Im Krug zum grünen Kranze (6) – Michael Rudolf

Im Krug zum grünen Kranze (10) – Michael Rudolf

Egner’s Getränkeagentur – Michael Rudolf

Mythos Bratkartoffel – Michael Rudolf

Die Bratkartoffelaffäre – Dieter Grönling

Presseerklärung vom Bischofferoder Bratkartoffelgipfel oder: Tumultartige Szenen und ein Speckseminar – Michael Rudolf

Aberration von der Wahrheit, Irritation der Leser oder: Bratkartoffelgipfelgegendarstellung – Jürgen Roth

Von den Vorzügen gestrickter Pfannenschoner – Michael Rudolf

Späte Bescherung – Michael Rudolf

Im Krug zum grünen Kranze (34) – Michael Rudolf

Wie das mit den Mädels immer schiefging – Michael Rudolf

Das Fest der Rache – Holger Sudau

Unangenehme Erinnerungen – Michael Rudolf

Im Krug zum grünen Kranze (42) – Michael Rudolf

Sieben – Michael Rudolf

Frau Schröter – Michael Rudolf

Mit sozialistischen Grüßen – Michael Rudolf

Vorsätze – Michael Rudolf

Den Freund mitlesen – Frank Schäfer

Gegendarstellung – Thomas Roth

Kolumne mit ein paar Dochs zuviel – Michael Rudolf

Wer? Der? – Mark Obert

Die neue Wehmütigkeit – Michael Rudolf

Profanes Heilsversprechen – Jürgen Lentes

Wasser, Hopfen, Malz – Michael Rudolf

Irrtümlich verschwunden – Alexander Mayer/Bert Sander

Antipop – Michael Rudolf

Franken-Grunge – Martin Büsser

Päpste, Barone und Anwälte – Lissy Schmidt

Mutters Geburtstag – Michael Rudolf

Prahlhansprosa – Michael Rudolf

Apokalyptische Niederschläge, Häuser voller Kartoffeln und geistige Getränke – Michael Rudolf

Das Bruderkriegen – Michael Rudolf

Ein Autor ist ein Kunde ist ein Amazon-Rezensent – Michael Rudolf

Piff und Paff und Rums! – Michael Rudolf

Schreib nein – Christof Meueler

Explodierender Schaum – Michael Rudolf

Goethe-Tours – Michael Rudolf

Wie Michael Rudolf beinahe einmal einen Riesendeal mit dem Orient an den Haken kriegte und damit mindestens den Weltfrieden hätte retten können – Dieter Steinmann

Umwuchteln und Düdelüten im Forst – Michael Rudolf

Darßer Kahlkopfmagie – Oliver Maria Schmitt

Schlitzaugen und Schlitzohren – Michael Rudolf

Gut gegeben (Kunsterlebnis) – Michael Rudolf

Rockkonzert – Jürgen Roth

Gespräche über Robinien. Differenzen betreffend Elstern – Rayk Wieland

Frühlingsfest am Bach – Michael Rudolf

Der Milchbrätling – Michael Rudolf

Schmecken darf es nie – Michael Rudolf

Kein schöner Land – Glashütter auf großer Fahrt – Michael Rudolf

Sudau lebt noch – Michael Tetzlaff

Noise-Geetarh – Michael Rudolf

Das Leben ein Streich – Michael Ringel

Die Weltformel – Peter Köhler

Eisenbahnmeckerei, quo vadis? – Michael Rudolf

Ballonien – Michael Rudolf

Der ausgebildete Kranke – Michael Rudolf

Über die Verlagsweintrinker – Antwort von Michael Rudolf auf eine Anfrage von Aenne Glienke, ob er sich für einen Band über Bier in der Reihe »50 Klassiker« des Gerstenberg Verlags erwärmen könnte

Kräf-tick – Michael Rudolf

Arno Schmidt revisited – Michael Rudolf

Was bedeutet Ihnen Arno Schmidt? – Gerhard Henschel

Pictures of an Exhibitionist – Holger Sudau

Der See – Michael Rudolf

Fluch über die Fichte – Michael Rudolf

Thüringer des Monats – Bier, Gitarren und der Rudolf – Thomas Behlert

Valentin Sailer – Michael Rudolf

Blick über den Fluß – Michael Sailer

Warum nur? – Michael Rudolf

Mach mehr aus deinem Winterleben oder: Protokoll einer Übernachtung im Iglu – Michael Rudolf

Die Gasthausplage – Michael Rudolf

Ein Abend in Aufseß – Jürgen Roth

Kurze Betrachtung zum Verhältnis Verleger – Autor oder: »Ich kotze schon seit Jahren nicht mehr« – Roland Tauber

La recherche de la bière perdue – Michael Rudolf

Bierbeschaffung für Michi – Ralf Sotscheck

Drei irische Biere und das Mädchen auf Pilzen – Michael Ringel

Ärger machen, wo es geht – Michael Rudolf

Bierbilder oder: Wie es wieder mal für etwas sehr Schönes zu spät war – Michael Rudolf und Volker Kriegel – Dieter Steinmann

Als Tellerwäscher beim Militär – Michael Rudolf

Sudau aus Schleiz – Jürgen Roth

OTZ & Reiner Karg – Michael Rudolf

Zeit für einen Pilzkongreß – Michael Rudolf

Ehrliches Tagebuch (1) – Horst Tomayer

Nicht um jeden Preis – Michael Rudolf

Man könnte … – Michael Rudolf

Wahre Schreibtische. Heute: Michael Rudolf – Dieter Grönling

Tomtetypen – Michael Rudolf

Amazon, Bärlauch, CD-Rohling – Mein kleines, nicht ganz vollständiges Michl-ABC – Klaus Leweke

»Der saubere Herr Rudolf« (Eine Filmkritik) – Eugen Egner

Keiner von denen – Rüdiger Grothues

Rucola-statt-Rauke-Rabauken oder: Stoppt den Genußzwang! – Michael Rudolf

Lupenreine Verbrecher – Thomas Behlert

Keine Chance für Doc Sudau – Michael Rudolf

Was erlauben Fußball? – Michael Rudolf

Platte des Monats – Michael Rudolf

Hessen! Schluß! Ende! Aus! – Michael Rudolf

Preußen! Schluß! Aus! Sense! – Michael Rudolf

Polenhasser an Schmierfink – Ein Mailwechsel – Peter Köhler

Das bleibt – Kay Sokolowsky

Sick of Sick – Michael Rudolf

»Na, wie war ich?« – Sudau forever – Marit Hofmann

Spritzenhaus vor dem Aus – Michael Rudolf

HumorCare Deutschland – Michael Rudolf

Die vier Wunder des Herrn R. – Hans Zippert

Ehrliches Tagebuch (2) – Horst Tomayer

Ehrliches Tagebuch (3) – Horst Tomayer

Sudaus Verschwinden – Michael Rudolf

»Morgenbillich« – Auszüge der Hörspielfassung – Michael Rudolf

Mit Inhalt, nicht mit »Content« – Peter Köhler

No-go-Area – Michael Rudolf

MICHL RUDOLF, ALTER SEEBÄR!

So hatten wir zwar nicht gewettet; aber Du hast es so gewollt: im Greizer Wald, wo Du vor vierzig Jahren zusammen mit Deinen Großeltern sämtliche bekannten Pilz- und Reharten der nordöstlichen Hemisphäre in einem Akt spontaner Willkür komplett um- und neubenannt hast, kurz nach dem Rechten zu sehen und dann die Lebensnot- und -mutreißleine zu ziehen.

Michl, alter, guter Stiefel: Jetzt trinkst Du uns im Deutschen Brauer-Bund-Himmel die siedend schönen Bierkessel auf eigene Rechnung leer und weg, und bei solch sauberer Feinarbeit wollen wir Dich auch nicht stören, auch wenn wir’s zu gerne täten. Aber, good old Lump, hinauf zu Dir brüllen und jammern dürfen und müssen wir doch: Keep on rockin’ and drinkin’ in a Binding-free world!

Deine Schwermutmatrosen von stets Deiner Titanic

Titanic 8/2007

HOLGER SUDAUS LEBENSLAUF

Michael Rudolf

1961 Holger Sudau wird am 14. Mai in Marienberg als einziger Sohn der Unterstufenlehrerin Helga Katharina Forkel und des Psychologen Paul Werner Sudau geboren.

1962 Das hyperaktive Kleinkind demontiert die Steckdosen im Schlafzimmer und macht mehrfach »Bautz« mit dem Stubenwagen.

1963 Nichts Besonderes.

1964 Erste und höchstwahrscheinlich auch letzte Forschungsreise nach Liberec.

1965 Holger fällt vom Kletterpilz des Kindergartens »Anne Frank«.

1966 Holger wird fünf.

1967 Einschulung.

1968 Mehrfacher Klingelrutsch bei Familie Muschko in der Breitscheidstraße. Mehrmonatiger Oelsnitz-Aufenthalt.

1969 Taschengelderhöhung auf 1 Mark pro Woche.

1970 Der Neunjährige verlernt heimlich das Klavierspielen.

1971 Holger stößt sich in Frotschau mit dem Kopf am Ofenverschluß der Jugendherberge.

1972 Holger kippt in Frotschau kopfüber von der Wippe.

1973 Holger wird in Frotschau nur knapp von einem Stein am Hinterkopf verfehlt. Forschungsaufenthalt im Pöllwitzer Wald und Pilgerreise zum Fraureuther Flegelaltar.

1974 Verwandtenbesuch im Dorf Nietzschareuth. Unkomplizierte Mandeloperation.

1975 Holger verliert in der Talsperre Pöhl seine schöne blaue Taucherbrille und muß ein halbes Jahr für Ersatz sparen.

1976 Holger trägt vorübergehend Seitenscheitel.

1977 Mißglückte Studienreise nach Polen.

1978 Mehrere Entdeckungsreisen an die Ostsee.

1979 Abitur. Holger lernt Tina Peißnitz, seine spätere Lebensgefährtin, kennen.

1980 Studium der Kriegskunst.

1981 Beginn des Studienaufenthaltes in Halle.

1982 Ende des Studienaufenthaltes in Halle.

1983 Studienaufenthalt in Reichenbach.

1984 Rede auf dem Prager Parteitag der Radikalen Mitte.

1985 Kongreß Konkretes Forschen. Studienaufenthalte in Ungarn und Dippoldiswalde.

1986 Wochenend-Forschungsferien auf der Burgruine Liebenau.

1987 Sudaus Fahrrad wird im Wald gestohlen. Erster Westberlin-Aufenthalt.

1988 Keine Ausstellungen in Berlin, New York und Krumpa-Lützkendorf. Ingenieur. Zweiter Westberlin-Aufenthalt.

1989 Sudau verfolgt uninteressiert die politischen Wirren und engagiert sich nicht aktiv bei den Demokratiebewegungen.

1990 Sudau verschwindet plötzlich.

»Morgenbillich« – Die Wahrheit über Holger Sudau,

Münster: Oktober Verlag 2003

1979.

1982.

1981.

MICHA

Pia Büttner

Michael. Micha. Die Erinnerungen an ihn blitzen in meinem Gehirn auf wie tausende Irrlichter. Eher verwirrend als erhellend. Es sind schöne Erinnerungen, die meisten sind unklar, hinterlassen aber ein Gefühl der Wärme.

Am 1. September 1975 habe ich Michael kennengelernt. Es war unser erster Schultag an der Greizer Penne, der EOS »Dr. Theodor Neubauer«. Dort sollten wir die nächsten vier Jahre gemeinsam bis zum Abitur in einer Klasse verbringen. Teilweise kannte man sich untereinander. Doch Michael, der genau einen Tag älter war als ich, kannte ich noch nicht.

Er war kein Lauter, aber auch keiner, der sich immer unterordnete. Kritik verpackte er schon damals oft in spöttische Bemerkungen oder formulierte er so, daß bei manchem der Groschen erst später fiel. Und ich habe den Verdacht, daß er dabei häufig diebische Freude empfand.

Ich erinnere mich an eine Episode, die mich damals schon tief beeindruckte. Michael mußte an die Tafel und irgendeinen Sachverhalt darstellen. Worum es ging, weiß ich nicht mehr, aber ich sehe ihn noch dort stehen. Er positionierte sich mitten vor der Tafel, begann mit links zu schreiben, wechselte die Kreide in die rechte Hand und fuhr fort, sein Wissen zu fixieren. Keinen Schritt bewegte er sich nach links oder rechts. Ich dachte: »Einseitig is’ er nicht.«

Mit einem Grinsen setzte er sich wieder, den Moment der ungeteilten, teils auch bewundernden Aufmerksamkeit genießend.

Prägend für ihn war aber auch seine Liebe zur Musik. Da galt er als echter Kenner. Und er wußte so vieles über Frank Zappa, Bob Dylan und all die anderen. Folgerichtig wurde er schon zu einem der ersten Klassenabende, die immer mal wieder von uns im Schuljahr gefeiert wurden, zum Musikverantwortlichen ernannt. Wir saßen dann in irgendwelchen Räumen außerhalb der Schule zusammen, redeten, tanzten oder lauschten einfach der Musik. Und hinterher klappte auch der Zusammenhalt in der Schule häufig besser.

Er war mit vierzehn in vielem ernsthafter als so manche Jungen gleichen Alters, konnte aber genausogut und genauso gern rumblödeln, wenn auch nicht selten auf deutlich höherem Niveau. Irgendwie hatte ich manchmal das Gefühl, daß er uns veralberte und wir es oft genug nicht merkten. Das mag auch mit seiner nicht einfachen Kindheit zu tun gehabt haben. Er lebte bei seinen Großeltern und hatte es wahrlich nicht leicht. Ein behütetes Elternhaus, wie es viele von uns kannten, hat es für ihn nicht gegeben. Schon früh mußte er mit Problemen und emotionalen Verletzungen fertig werden, die er nie nach außen trug. Nur manchmal und meist nach langen Gesprächen klangen diese andeutungsweise an. Doch wenn man nachfragte, wechselte er häufig ganz charmant und grinsend das Thema. Er hat sich, so glaube ich, schon damals eine Fassade zugelegt. Er hat nur wenige wirklich in sein Inneres sehen lassen. Und mit seinen oft spöttischen Bemerkungen hat er sich nicht nur Freunde gemacht. Er polarisierte mit seinem Wesen.

Jahre später, wir fuhren zufällig im gleichen Zug von Leipzig nach Reichenbach/Vogtland, es muß während der Buchmessezeit gewesen sein, erzählte er mir von seinen Begegnungen mit Manfred Böhme. Dieser lebte damals eine Zeitlang in Greiz und scharte Intellektuelle und Jugendliche um sich, die er zu philosophischen Diskussionen und Denkweisen, zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemen und zu literarischen Betrachtungen anregte. Michael war einer von ihnen und hat viel aus diesen Zusammenkünften im Humboldt-Klub, die hie und da auch den Anschein konspirativer Treffen gehabt haben müssen, verinnerlicht.

Später erlangte dieser Manfred Böhme, zwischenzeitlich hatte er sich den zweiten Vornamen Ibrahim zugelegt, nationale Bekanntheit, als er 1990 für die SPD als Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten der DDR ins Rennen ging, kurz bevor seine Tätigkeit für die Stasi offenbar wurde. Letzteres war für viele ein Schock – daß ausgerechnet derjenige, der zum Denken und Widerspruch animierte, seine »Freunde« schmählich verriet.

Ich erinnere mich, es war irgendwann nachts, wahrscheinlich nach einem Klassenabend, wir standen an einer Weggabelung und redeten und redeten, stundenlang. Über Gott und die Welt, vielleicht auch über Musik, von der ich herzlich wenig Ahnung hatte, über die Michael aber so wunderbar erzählen konnte. Seine Sicht der Dinge deckte sich häufig mit der meinen, und da, wo mir vieles nicht klar war, brachte er mit einer kleinen Bemerkung manchmal Licht ins Dunkel.

Später, ich arbeitete inzwischen in der Bibliothek, haben wir uns oft gesehen. Er war ein sehr aktiver Nutzer, wohnte ja auch gleich um die Ecke. Ich weiß noch, daß er historische und regionalkundliche Literatur, aber auch immer wieder Anthologien bevorzugte. Die regionale Geschichte hat er ja dann auch in einigen Publikationen niedergeschrieben, sei es zur Burg Liebau, im Bildband über die Burgen im Vogtland oder im kleinen, 2002 erschienenen Bildband Greiz. Vor allem in letzterem wird trotz allem seine Verbundenheit mit dieser Stadt deutlich.

Er hatte es nicht immer leicht, und insbesondere ein Artikel, Anfang der Neunziger in der Titanic erschienen, sorgte für einen Aufschrei in der Stadt. Durch die Presse geisterten Artikel, die den »Schmierfink« Rudolf anprangerten, der die Stadt verunglimpfe. Die Titanic hatte bis zu diesem Zeitpunkt kaum jemand in Greiz gekannt, geschweige denn gelesen. Doch wie das häufig so ist, hat sich in Windeseile herumgesprochen, daß da Michael Rudolf einen Artikel veröffentlicht habe, der ja so schlimm und unverschämt sei. An diesem Tag, wir hatten die Zeitschrift in der Bibliothek noch nicht mal, rannten uns die Leute fast die Türen ein. Jeder wollte ihn lesen. Wie es der Zufall so wollte, kam auch Michael just an diesem Tag vorbei und konnte sich seines bekannten Grinsens kaum erwehren. Er hatte, wie in einer satirischen Betrachtung ja normal, das kleinstädtische Leben und die Verschiebung des Wichtigen auf ernährungsrelevante Aktivitäten aufs Korn genommen. Art pour l’art. Art Poulard. Der Umgang mit Satire mußte auch hier erst gelernt werden.

1992 arbeitete er im Landratsamt in der Unteren Denkmalschutzbehörde. Er erfaßte und beschrieb die Objekte der Kreisdenkmalliste Greiz. Auch hierbei waren seine Kenntnisse der regionalen Geschichte wichtig. Noch heute existieren hier zahllose Akten mit dem Vermerk »Bearbeiter: Rudolf«.

Die Gründung seines Verlages Weisser Stein, zusammen mit Gerd König, war für ihn ein Traum. Er hatte mir lange vorher schon mal davon erzählt, auch daß er in einem Berliner Verlag ein Praktikum oder Volontariat machen wollte. Das war das, wo er sich und seine Interessen verwirklichen konnte. Das Verlagsprogramm machte es dann auch deutlich. Er legte wichtige regionalgeschichtliche Literatur wie den Reußischen Robinson oder Die Geschichte der Stadt Greiz wieder auf, nahm aber auch kleine Bändchen beispielsweise von Greser & Lenz oder Gerhard Henschel ins Verlagsprogramm, die nicht dem Mainstream entsprachen und auch nicht vordergründig dem Kommerz geschuldet waren. Auch Ausstellungskataloge des Greizer Satiricums gehörten dazu – Drei Jahrhunderte Satire aus dem Sommerpalais Greiz und der Katalog zur 1. Triennale »Karikatur, Cartoon & Komische Zeichenkunst«.

Im Satiricum, also im Greizer Sommerpalais, war Micha auch immer ein gerngesehener Gast, wenn er auch nicht bei jeder Vernissage oder Veranstaltung dabei war. Bei F. W. Bernstein, Sebastian Krüger oder Rudi Hurzlmeier war er auf jeden Fall da. Immer wieder unterhielten wir uns dabei auch über seine Bücher, die – wie das Bierlexikon – so manchen Rechtsstreit heraufbeschworen oder – wie Die Thüringer pauschal – wieder die Kritiker auf den Plan riefen.

Während der Vernissage von Rudi Hurzlmeier im Sommer 2005 hat er mir zum erstenmal von seinen Depressionen und seiner Krankschreibung wegen des Burnout-Syndroms erzählt. Es war eigentlich das erstemal, daß er schnell und offen über seine Probleme gesprochen hat. Und es hat mich tief erschreckt. Ich hatte ihn stets als stark und sicher empfunden, wenngleich ich immer wußte, daß er sich nach außen anders gibt. Nicht mehr schreiben zu können und seinen eigenen Ansprüchen nicht zu genügen, das war für ihn unglaublich schlimm. Ich hätte ihm so gern geholfen.

Und so war ich richtig froh, als wir uns im Oktober 2006, es war nach der Ausstellungseröffnung »Von Kindern und anderen Riesen« von Manfred Bofinger, noch abends beim Griechen in der Altstadtgalerie trafen. Ina und Eva waren auch dabei, Fritz Weigle war da, Luise, die Tochter von Manfred Bofinger, und Gabriele Bofinger und einige Mitarbeiter des Satiricums. Michael wirkte so fröhlich, er warf sich mit Eva die Gesprächsbälle zu, daß es eine wahre Freude war zuzuhören. Wenn er sich mit ihr über die Simpsons, die für beide zum täglichen Ritual zählten, unterhielt oder über Walter Moers oder überhaupt. Auch von seiner kleinen Brauerei im Keller seines Hauses erzählte er mit leuchtenden Augen. Das war nicht gespielt, soweit kannte ich ihn dann doch. An diesem Abend ging es ihm gut, und ich wollte so gern glauben, daß dies ein dauerhafter Zustand sei.

Klassenabend, 1976.

Erweiterte Oberschule (EOS) »Dr. Theodor Neubauer«, 1977.

Klassentreffen, 1979.

EOS »Dr. Theodor Neubauer«, 1979.

Greiz, Lessingschule, bis 1990 Polytechnische Oberschule (POS).

Gymnasium Greiz, vormals EOS.

Haus der Großeltern, Rudolf-Breitscheid-Straße 15, Greiz.

ZWEI FINGER FÜR EIN HALLELUJA

Michael Ringel

Die zweite Beerdigung des Jahres war sogar noch komischer als die erste im März. Irgendwann während des Leichenschmauses war das Niveau da, wo es hingehörte: unterirdisch. Die Hinterbliebenen erzählten sich Kinderwitze aus der Wortspielhölle. Mein Favorit: Findet ein Junge im Zug einen Hut. Im Inneren des Hutes ist ein Name eingestickt: Reinsch. Geht der Junge mit dem Hut durch den Zug und fragt: »Irgend jemand, der hier Reinsch heißt?«

Gibt es im journalistischen Gewerbe eigentlich die Sparte des Beerdigungskritikers? Ich melde mich freiwillig, und da der Tod in letzter Zeit immer näher kommt, bringe ich inzwischen einige Erfahrung mit. Innerlich gewöhne ich mich schon an die Berufsbe-zeichnung und sehe auch die entsprechende Zeile auf meiner Visitenkarte vor mir: »Beisetzungskritiker«. Das klingt doch nach etwas! Auch wenn es ein noch viel zu unterbewerteter Berufszweig ist. Etwa so unterschätzt wie der des Bestatters. Warum kennt man nur so wenige Bestattungsunternehmer? Wahrscheinlich gibt es in diesem Metier höchst luzide Persönlichkeiten. Wie zum Beispiel jene Bestattungsfachkraft, der ich vor der Friedhofskapelle am vergangenen Freitag die Hand gab.

Kurz darauf saß ich in der Kapelle und fixierte das mittlere der drei bunten Kirchenfenster. Reflexartig war ich in das alte Konfirmandensyndrom verfallen: Sitzt du in einer Kirche, dann suche dir einen markanten Punkt, fixiere ihn unentwegt und lasse deine Gedanken schweifen, bis dir etwas Komisches in den Kopf kommt. Dann denke an nichts anderes mehr. Das hilft, wenn es auf der Kanzel zu pathetisch wird oder der Schmerz dich überwältigt oder dich die Wut überkommt wegen der Abwesenden, die zu feige waren, zu erscheinen, um dem ehemals eng Befreundeten die letzte Ehre zu erweisen. Unehrenhafte Leute sind das, die Angst haben, auf Trauernde zu treffen, mit denen sie verfeindet sind. Als ob das im Angesicht des Todes zählen würde.

An genau dem Punkt war das Beiseitedenken sehr nützlich, ausnahmsweise aber berechnete ich einmal nicht die Entfernung zwischen mir und dem Kirchenfenster und wie lange ein Stein bräuchte, um im Fensterkreuz einzuschlagen. Meine Gedanken umkreisten vielmehr den Bestatter, genauer: seine Hand, die ich eben noch gedrückt hatte. An der Rechten, wie ich gleich bemerkte, fehlten ihm der Ring- und der Mittelfinger. War ihm ein Sargdeckel draufgefallen? Oder war er beim Zersägen abgerutscht? Oder wollte er absichtlich ein Teufelshorn haben? Oder hatte er eines Tages, verzweifelt über sein ewiges Ringen mit dem Tod, dem Sensenmann den Stinkefinger gezeigt, der ihm zur Strafe gleich zwei Finger absäbelte? Und bestellt er heute in seiner Stammkneipe zu fortgeschrittener Stunde auch schon mal fünf Bier für die Männer vom Sägewerk und hält dann dem Wirt drei Finger hin? Haben Bestatter überhaupt Humor?

Eine letzte Frage: Hat man keinen Respekt vor den Toten, wenn man bei einer Trauerfeier Komisches denkt? Im Gegenteil! Sonst hätte der Tod ja gewonnen. Humor ist das einzige Mittel, den Tod zu besiegen. Man sollte mal mit einem Bestatter ein Bier trinken gehen. Vielleicht kennt er noch eine andere Methode.

taz, 17. August 2007

EIN STÄDTEBAULICHES DESASTER FÜR GREIZ

Michael Rudolf

Greiz. Wenn erst einmal in einer thüringischen Kleinstadt mit reichlich 30000 Einwohnern der marktwirtschaftliche Groschen gefallen ist, dann gibt es kein Halten mehr. Was derzeit heiße Köpfe bei engagierten Bürgern erzeugt, ist eine geplante fünfspurige Entlastungsbrücke über die Weiße Elster, um die Greizer Innenstadt vom Verkehr der Bundesstraßen 92 und 94 freizuhalten. Die Blechlawine beschert der Stadt nicht erst seit 1990 morgens von sieben bis elf und nachmittags von 14 bis 18 Uhr den Kollaps mit mehr stop als go. Die ungünstige Tallage fördert zudem eine nicht nur den Einwohnern hart zusetzende Dunstglocke.

Das Ganze ist eigentlich hausgemacht, denn die neuen Westautos wollen ausgefahren sein, der öffentliche Nahverkehr erscheint unattraktiv. Daß freilich der Individualverkehr in der Stadt problematisch ist, war bereits zu SED-Zeiten bekannt, Projekte für eine Art Entlastungshochstraße geisterten durch die Bauämter, aber eben nur dort. Mit der Wende und den seit jüngst zur Verfügung stehenden Mitteln aus Bonn wurden vergilbte Pläne wieder ausgerollt.

Angesichts der Bestrebungen in den alten Bundesländern, die Straßen »zurückzubauen«, nehmen sich die Aktivitäten in Greiz eher grotesk aus. Der aus dem Westen importierte Bürgermeister Leonhardt (CDU) drückt bei den Stadtverordneten kräftig auf die Tube, man solle schnell entscheiden, da die Mittel nicht unbegrenzt lang bereitstünden. Da ganz im Sinne von Bundesverkehrsminister Krause alles so schnell wie möglich gehen soll, blieb die generell in solchen Fällen übliche Ausschreibung eines Architektenwettbewerbs unberücksichtigt. Einer öffentlichen und ausführlichen Diskussion zu diesem Thema wurde schlicht das Wort abgeschnitten. Die Modelle und Baupläne wurden zwar in der Stadtinformation ausgestellt, doch sind diese nach Meinung des Greizer Architekten Matthias Hamann falsch in Perspektive und Dimensionierung und vermitteln dem Betrachter eher ein abgemildertes Bild vom eigentlichen Ausmaß des drohenden städtebaulichen Desasters.

Sturheit der regierenden CDU wird offenbar: Einwände von SPD und Bürgerbewegungen wurden in alter Manier abgeschmettert. Wenn Einwände, dann von Fachleuten, heißt es. Die selbsternannten Spezialisten der Stadtverwaltung sehen jedenfalls keine Veranlassung, auf die ökologischen wie denkmalpflegerischen Bedenken einzugehen, und bezeichnen die Kritik als überzogen und nicht gerechtfertigt.

Das Projekt ist so ausgelegt, daß eine vierspurige Betonbrückenkonstruktion über die Weiße Elster in zwei Ausfallstraßen münden soll, in Richtung Plauen und in Richtung Gera. Hierbei ist eine konkrete Trassenführung für die Straße nach Plauen noch gar nicht festgelegt, jedoch kommt ein vierspuriger Ausbau aufgrund der Gelände- und Bebauungsvoraussetzungen nur schwerlich in Frage. Gleiches trifft für die Straße nach Gera zu, für deren Ausbau bis zur Ortslage Gommla würde nicht nur der komplette Grünzug der Straße, sondern auch eine Grünanlage sowie das ehemalige Hauptquartier des NKWD in Greiz, welches von den einst Verfolgten als Mahn- und Gedenkstätte vorgesehen war, plattgemacht. Für die Anbindung der Straße nach Plauen an die Brücke ist noch eine Linksabbiegerspur vorgesehen, so daß sich mit dem obendrein geplanten, aber völlig unnötigen betonierten Mittelstreifen eine Gesamtbreite von zirka 27 Metern ergibt – breiter als der Greizer Marktplatz.

Viele besorgte Bürger sind der Auffassung, daß ein solcher Brückenkoloß, der im gesamten Stadtbild keine Entsprechung hat, den sensiblen Bereich der Südfront der charakteristischen Silhouette von Unterem Schloß, Stadtkirche und Gymnasium zerstören würde und eine nicht wieder gutzumachende Entstellung dieses städtebaulichen Ensembles darstelle.

Mit Sicherheit erscheint der großzügige Ausbau fraglich, da, wie erwähnt, die angemessene Dimensionierung der Zubringer nahezu unmöglich ist. Hinzu kommt, daß die Mitarbeiter des Stadtbauamtes selbst einräumen, daß es sich in erster Linie wirklich nicht um Durchgangsverkehr handelt. An dieser Stelle muß doch die Frage erlaubt sein danach, ob es nicht auch eine zweispurige Brücke tun würde.

Der Bürger bringt Argumente à la: »Pkws und Lkws beleben deutsche Straßen« und hat »ehrlich gesagt ganz andere Sorgen«. Gewiß, mit neun Prozent Arbeitslosenrate ist der Landkreis Greiz Spitze auf dem Gebiet des ehemaligen Bezirkes Gera. Das betuliche Treiben der Stadtoberen mutet so an, als wolle man partout ein Symbol dafür schaffen, daß in der Region doch etwas passiert. Außer gutem Zuspruch und ABM ist den Beschäftigten der bankrotten Textilindustrie nichts beschert worden, Einkaufsstraßen verwaisen angesichts ungeklärter Eigentumsverhältnisse an den Gebäuden mehr, als daß sie sich beleben.

Der zuständige Rechtsträger für den Straßenbau, das BDS Thüringen mit Sitz in Gera, hat jedenfalls den Darmstädter Architekten Jux mit der Projektierung der Brücke beauftragt, nachdem die Stadtverordnetenversammlung am 14. Mai den Antrag des Bürgermeisters abgesegnet hatte. Baubeginn soll Oktober 1991 sein, die Fertigstellung in voraussichtlich zwei Jahren. Und in fünf Jahren, inzwischen klüger geworden, bräuchte man das gleiche Finanzvolumen, um den angerichteten Schaden zu beheben.

taz Ost, 9. Juli 1991

Greizer Park, März 2008.

IN GEDANKEN AN MICHAEL RUDOLF – REMINISZENZEN AUS GREIZ

Gotthard Brandler

Als die Nachricht von Michaels spurlosem Verschwinden durch die Presse ging und schließlich Gewißheit über seinen selbstgewählten Abschied aus dem Leben bestand, waren die letzten Wochen meiner Tätigkeit im Museum Sommerpalais Greiz angebrochen, und viele zu regelnde Angelegenheiten hatten mich gefangengenommen. Lange Zeit wollte ich auch nicht an sein tragisches Ende glauben. Erst später, zur Ruhe gekommen, ist mir die volle Tragweite des Schicksals von Michael bewußt geworden.

Wie hatten wir uns kennengelernt? Zeitpunkt und Anlaß kann ich nicht mehr nennen. Im Oktober 1990 war ich nach Greiz gekommen, und in der kleinen Stadt mußte man auch irgendwann mit Michael zusammentreffen, war und bleibt er doch hierorts eine Ausnahmeerscheinung. Er begegnete mir damals als ein agiler, geistig aufgeschlossener und kluger junger Mann von dreißig Jahren, ehrlich im Charakter und in seinem äußeren Wesen eher zurückhaltend, aber streitbar in der ständigen Auseinandersetzung mit seiner Umwelt. Vorgefundene Engstirnigkeit und Kompromißlertum waren nicht seine Sache, sondern boten ihm vielfach Anlaß zu deftigen Pamphleten, die mit den damals oft genug an Schilda und Krähwinkel gemahnenden Gepflogenheiten hart ins Gericht gingen. Das Wort vom »Nestbeschmutzer« war dann in der öffentlichen Meinung schnell bei der Hand. So war es auch nach seinem im Satiremagazin Titanic abgedruckten Bericht »Aus den Kolonien«, wobei es besonders um Greiz und die Greizer ging. Auch konnte man sich nur wundern, daß die eifrigen Leser des früheren Bezirksorgans Volkswacht auf recht seltsame Weise nun anscheinend zu ebenso eifrigen Titanic-Lesern geworden waren. Die Empörung schlug höchste Wellen, wobei sich die allgemeine Entrüstung sogar zu der ernsthaft vorgetragenen Aufforderung steigerte, seine Publikationen sofort aus den Buchhandlungen zu entfernen. Michael mußte zu dieser Zeit in Greiz geradezu Spießruten laufen.

Als ich die Greizer Bücher- und Kupferstichsammlung mit ihrer Karikaturenabteilung Satiricum übernahm, war hier gerade die VI. und letzte Karikaturenbiennale der DDR zu Ende gegangen, um anschließend in mehreren, nunmehr altbundesdeutschen Städten gezeigt zu werden. Noch zu Zeiten des realen Sozialismus langfristig geplant und schon recht aufmüpfig in den Karikaturen, wurde diese Schau durch die sich überstürzenden politischen Veränderungen kalt getroffen und bedurfte nun auf Reisen einer ständigen Aktualisierung. Gerade in Sachen der Karikatur doch ein einmaliges und denkwürdiges Ereignis! Und nicht wenige der Karikaturisten hieben nun um so kräftiger auf das ein, dem sie noch unlängst ein Gran Komik abzugewinnen versuchten.

Im Greizer Heimatboten erschien damals ein gehöriger Verriß dieser Ausstellung, und ich kann mich noch an die Formulierung »verschnarchte DDR-Karikatur« erinnern. Dies war wohl meine erste Bekanntschaft, zumindest auf dem Papier, mit dem jungen Greizer Autor namens Michael Rudolf.

Unsere sich über die Jahre entwickelnde Freundschaft hatte nichts Kumpelhaftes an sich, und wir saßen auch nicht ständig zusammen. Aber man begegnete sich öfters aus verschiedenen Anlässen, und jeder war mit der Arbeit und mit den Problemen des anderen vertraut. Engere Beziehungen ergaben sich dann insbesondere auf beruflicher Ebene, seien es Fragen zur Regionalgeschichte, zur Karikatur und Satire oder auch nur zur Bildbeschaffung – Fragen, die mit der Arbeit seines, in Partnerschaft mit Gerd Elmar König so hoffnungsvoll begonnenen kleinen Verlages Weisser Stein in Zusammenhang standen. Und unsere gemeinsame Liebe zum gutgemachten Buch ließ bald eine geistig-praktische Verwandtschaft entstehen.

Angefangen hatte Michael in seinem Verlag mit Veröffentlichungen zur Regionalgeschichte, die Ausdruck seiner vielfältigen historischen Interessen und Kenntnisse waren. Voran ging 1991 sein eigenes Buch über Burgen, Schlösser und Herrensitze im Vogtland, penibel recherchiert und bis heute ein unübertroffenes Glanzstück unter dem verbreiteten Wust der Heimat- und Tourismusliteratur. Dazu gesellte sich die verdienstvolle Neuveröffentlichung eines wissenschaftlichen Standardwerks zur Geschichte der Stadt Greiz von Alfred Thoss aus dem Jahr 1933.

Dann erschienen kontinuierlich die schlichten, aber schön aufgemachten und fein gedruckten Ta-schenbücher. Historische Interessen standen auch hier mit dem Büchlein Schloß Liebau und seine Besitzer am Anfang. Dabei handelt es sich um ein im Kreis Plauen gelegenes und heute nur noch als romantische Ruine vorhandenes Schloß. Akribisch und mit rühmlichem Fleiß hatte Michael in Archiven und Kirchenbüchern die wechselhafte Geschichte dieser Anlage und ihrer Besitzer zutage gebracht.

Auch diese Veröffentlichung war Ausdruck seiner schon in Kindheitstagen angelegten und tief verwurzelten heimatlichen Verbundenheit. Stets als passionierter Wanderer und Radfahrer unterwegs, war er mit den historischen Zeugnissen, den Wegen, Bergen und Wäldern seiner Region aufs engste vertraut. Ja, Michael hätte das Zeug und den Fleiß dazu gehabt, so etwas wie die »Wanderungen durch das Vogtland«, gewissermaßen einen »modernen Fontane« für seine Heimat zu schreiben. Erholung und seelischen Ausgleich fand Michael immer wieder auf seinen Fahrradtouren und Wanderungen in den nahegelegenen Wäldern. Und auf eine früher einmal an ihn gestellte Frage, wie er denn mit der provinziellen Enge des Städtchens zurechtkäme, antwortete er, daß man sich um den Ort und seine Bewohner nicht zu kümmern brauche, solange man die Möglichkeit habe, in die Natur zu entfliehen.

»Greizer Heimatbote« 10/1990.

Zeichnung: F. W. Bernstein.

Unter den folgenden Taschenbüchern befand sich auch eine echte, regionale Trouvaille: Der Reußische Robinson, 1781 in Greiz gedruckt. Neben wenigen anderen Werken ragt dieses Buch aus der im 18. Jahrhundert entstandenen Flut der »Robinsonaden«, angeregt durch Defoes Robinson Crusoe, hervor. Zumal es sich hier um die Schilderung tatsächlicher Erlebnisse des Autors Johann Christian Schmidt handelt.

Eine wahre Odyssee führte den aus Gera gebürtigen Verfasser nach 1700 im Nordischen Krieg zwischen Rußland und Schweden bis nach Sibirien, wo er zehn Jahre verbringt und an der ersten Sibirienexpedition des deutschen Forschers Messerschmidt teilnimmt. 1722 in die Heimat zurückgekehrt, tritt er in die Dienste des Grafen Heinrich VI. am reußischen Musenhof zu Köstritz und bringt dort seine Erlebnisse zu Papier. In der Neuausgabe des Verlages Weisser Stein werden Schmidts Sittenschilderungen von zeitgenössischen Radierungen des französischen Künstlers Le Prince zum russischen Volksleben begleitet, deren Originalvorlagen sich in den Sammlungen des Sommerpalais befinden.

In einem weiteren regionalen Zusammenhang ist hier auch auf den einst im thüringischen Sondershausen beheimateten Dichter Johann Karl Wezel zu verweisen, einen Satiriker von hohen Graden, von dem zwei 1777/1778 veröffentlichte Erzählungen in der Taschenbuchreihe erschienen. Wezel muß so recht nach Michaels Geschmack gewesen sein und erhält auch in dem später bei Fischer verlegten Taschenbuch Die Thüringer pauschal seinen verdienten Platz als »illusionsloser Optimist, mitunter boshafter Feuerkopf, für die damaligen Verhältnisse ein Starsatiriker«.

Auf Wezel hatte schon Arno Schmidt frühzeitig und eindringlich hingewiesen. Für ihn zählte Wezels Roman Belphegor neben Swifts Gulliver und Voltaires Candide zu den drei Büchern »des ehrwürdigsten Gott-, Welt- und Menschenhasses«. Und als Schmidt-Verehrer wußte Michael darüber auch schon in tiefster DDR-Vergangenheit Bescheid. Dies war auch später keinesfalls selbstverständlich. Denn als ich einmal davon sprach, im Sommerpalais eine Ausstellung zu Arno Schmidt zu veranstalten, fragte mich eine in höherer Institution tätige und promovierte Literaturwissenschaftlerin: »Wer ist Arno Schmidt?« Ja, es gab schon einige Defizite, denen man zu Leibe rücken konnte. Achtunggebietend war für mich auch die Mitteilung meines Freundes Dieter Steinmann aus Pirmasens, daß er Michael schon kurz nach der Wende kennengelernt hatte, und zwar in Schmidts Bargfelder Domizil.

Natürlich wäre weiterhin über Michaels umfangreiches Buchprogramm mit namhaften Autoren, Illustratoren und Zeichnern auf dem Gebiet der Satire zu berichten. Gerade Zeichner wie F. W. Bernstein, Eugen Egner, Achim Greser & Heribert Lenz, Kriki, Nel, Yvonne Kuschel oder Nerling sollten ja bald auch für die Greizer Karikaturensammlung Satiricum von großem Interesse werden.

Dankbar bin ich Michael, daß er von Anfang an tatkräftig mit dabei war, dem Satiricum neue Wege zu ebnen und vielfältige Kontakte herzustellen. So auch im Spätherbst 1992 auf einer Tagung im Sommerpalais mit Karikaturisten, Ausstellungsmachern und Galeristen aus der gesamten Bundesrepublik. Bei dieser »Ideenkonferenz« ging es darum, die Möglichkeiten zu erörtern, unter den gewandelten gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen in Greiz wieder zentrale Karikaturenausstellungen zu veranstalten.

Von den Teilnehmern wurde damals empfohlen, die Arbeit auf dem Gebiet der Karikatur neu aufzunehmen und für 1994 eine erste gesamtdeutsche Karikaturen-Triennale zu planen. Zuvor sollte jedoch erst einmal die Greizer Karikaturensammlung mit ihren historischen Schätzen möglichst bundesweit bekanntgemacht werden. Dieser Empfehlung folgend, wurde eine Ausstellung erarbeitet, die in zahlreichen Orten der alten Bundesländer gezeigt werden konnte. In enger Kooperation mit dem Verlag Weisser Stein erschien dann im Juni 1994 der repräsentative Ausstellungskatalog Drei Jahrhunderte Satire aus dem Sommerpalais Greiz.

Ende August 1994 konnte schließlich die erste Triennale Greiz eröffnet werden, die einen aktuellen Überblick über die Tendenzen und Entwicklungen auf dem Gebiet von Karikatur, Cartoon und Komischer Zeichenkunst vermittelte. Der großformatige und anspruchsvoll angelegte Ausstellungskatalog mit eigens angefertigten Einbandzeichnungen von F. W. Bernstein und einem Frontispiz von Eugen Egner erschien wiederum, von Michael engagiert betreut, im Verlag Weisser Stein.

Wie schon beim Katalog Drei Jahrhunderte Satire lagen die mustergültige Gestaltung und die Typographie in den bewährten Händen von Friedrich Forssman. Diese Publikation sollte der bisher schönste Triennale-Katalog bleiben. In den späteren Jahren war eine solche Zusammenarbeit aus vielerlei Gründen nicht mehr möglich. Insbesondere hatten Verlag und Museum sich mit einem stetig enger gesetzten finanziellen Rahmen auseinanderzusetzen.

Zeichnung: Steffen Haas/Gunter Hansen.

In der Folgezeit wurden unsere Begegnungen sporadischer, und Michael widmete sich zurückgezogen fast ganz seiner eigenen umfangreichen und anspruchsvollen Publikationstätigkeit. Dabei wußte ich aber von seiner zunehmenden psychischen Belastung, die ihn schließlich auch von Ausstellungseröffnungen fernhielt. Zuletzt trafen wir uns anläßlich der Gedenkausstellung für Manfred Bofinger am 14. Oktober 2006. Nach der Vernissage gab es abends noch ein geselliges Beisammensein, und Michael war später dazugekommen. Er wirkte gelöst und entspannt und sprach angeregt davon, nun im Keller seines Hauses mit dem Brauen eines eigenen Bieres zu beginnen. Der damals gewonnene Eindruck sollte sich jedoch als trügerisch erweisen. –

Und doch glaubt man zuweilen, daß dies gar nicht wirklich und Michael noch da ist. Vor dem geistigen Auge sieht man ihn immer noch in der Ferne auf seinem Fahrrad ums Häusereck biegen, stets in Eile und auf dem Kopfsteinpflaster kräftig in die Pedale tretend.

Zeichnung: Volker Kriegel.

AUS DEN KOLONIEN (3) – LEBENSLAUF EINES UREINWOHNERS

Michael Rudolf

Am Anfang steht die Niederkunft meiner Mutter. Da diese von dem krankhaften Wahn besessen ist, Lehrerin werden zu müssen (so was nimmt man schließlich nicht ernst), geht das Erziehungsrecht an den Vater. Der leitet selbiges an seine Eltern weiter, da ein Psychologiestudium in Aussicht ist.

Ich bin viel im Wald. Keine Kinderkrankheiten, dafür 5 x Loch im Kopf und 1 x Krätze über den ganzen Leib. Ich spiele mit Kindern, die Dialekt sprechen.

Aufzucht in streng katholischem Haushalt. Großvater hätte wohl die Zeit gelesen, in Ermangelung dieser eben nur Hans Küng und Fouqué. Großmutter mit Offiziersmentalität, laut, viele Schläge (vor allem ins Gesicht), aber in der Caritas engagiert wie nur was. Ich räche mich bisweilen, indem ich mir vom Munde abgesparte Hostien versteigere oder mich an Meßwein (Insel Samos) berausche.

Schule: marginale Rolle bei meiner Identitätsfindung. Suche zunächst Verbündete. Till Gutmann teilt meine politischen Auffassungen, die sehr stark in Richtung Anarchosyndikalismus tendieren. Nur noch wenige Theophanien. Der Rest der Schülerschaft neidet uns unseren Geist aufgrund früh keimender Dumpfheit. Die angezettelten Kolloquien mit dem Lehrkörper (zu unserem Weltbild) verlaufen unbefriedigend. 2 x Suizid angedroht (mit rostigem Messer). Zwischendurch im Alter von 6–7 Intermezzo bei o. g. Mutter. Das wirft mich in meiner politischen Arbeit enorm zurück. Ergebnis: erneutes Bettnässen, Weinkrämpfe, Phobie gegen Bergarbeiterstädte und deren Bevölkerung.

Es folgen gewalttätige Spiele auf dem Hainberg (Bandenterritorium, dessen Gebiet ständiger Neuverteilung unterliegt). Dazu Schlachten ohne letalen Ausgang. Ich lasse mir jetzt die Haare über die Ohren wachsen, da ich berühmt werden möchte, also das Abitur machen. Grausiges Gymnasium mit größtenteils noch grausigeren Lehrern. Trage dort meine berüchtigte breitmaschige rehbraune Cordhose (bis knapp unter die Knie), ohne Erfolg. Lerne das Bier kennen. Schließe Freundschaft mit Bernd Dittrich, da ich erkenne, daß auch er berühmt werden wird. Mein zu Zwecken der Indianerimitation getragenes fettiges Langhaar reizt Lehrkörper wie Schülerschaft zu unreinen Äußerungen und sogar Drohungen. Eine Schuppenflechte kuriere ich durch triefende Schwefelsalbe. Unsere Combo (voc, git, git, dr) darf nur zweimal proben.

Esse Würste und trinke viel Bier, bin daher kerngesund. Meine Termine mit dem Meinungsforschungsinstitut MfS enden unbefriedigend, schicke sie also fort. Auch die Flucht nach Polen zur Schwarzen Madonna in Czenstochau endet kurz nach dem Durchschwimmen der Neiße. 2 Tage Haft. Und: Beziehungen zu Polen gestört.

Ich gründe mit Gleichgesinnten die Partei der Radikalen Mitte (1977). Bei der Parteiarbeit lerne ich die Frau kennen. Wir leben im Konkubinat.

Dann kommt der Wehrdienst. Wenig schön und noch weniger lehrreich (Sprengstoffausbildung ungenügend). Hauptmann Schoknecht spricht: »Nehmen Sie das Handgranatenwurfkörper in der Hand, was Sie Wurfhand sind!« Meine weiteren Korrespondenzen mit den degenerierten Beutelschneidern, die sich als Offiziere ausgeben, enden zumeist in kleinen Zimmerchen, die ich allein bewohnen darf und deren Gitter das Eindringen von Fremden verhindern sollen, da sie meine Meditationen stören könnten. Nur Thomas Müller verhilft mir zu angemessener Geltung im Anwesen.

Ich beschließe, Jurist zu werden. Zu diesem Zweck Studium in Halle. Die Professoren stört, daß ich alles schon weiß. An den Unterseiten der Bänke befinden sich Minirasenmäher in hoher Zahl mit ohrenbetäubendem Lärm, der mich am Schlaf hindert. Die etwas zu hagere Ines Leuchte (verh. Gräbner) sagt mir ständig falsch vor. Ich boykottiere daraufhin den Studienbetrieb endgültig nach dem zweiten Semester. Die Öffentlichkeit ist darüber noch nicht zu einer einheitlichen Meinung gekommen. Manche meinten, die Straßenbahnen jagten mir Angst ein, und andere machten die Mißgunst der Dozenten gegen mein bahnbrechendes Gedankengebäude (enthalten in meiner ersten und letzten Jahresarbeit im Fach Philosophie) für den Entschluß verantwortlich.

Ich beschließe, Brauereidirektor zu werden. In der Firma probieren wir an einem Faßabfüllautomaten das Abtrennen von Gliedmaßen. Bei mir klappt es (Fingerkuppe rechter Ringfinger). Ich entdecke ein Hinweisschild: Amerika 3 km. Das stellt sich aber als Irrtum heraus. Nicht der einzige in meinem Leben.

Meine Mitgliedschaft in der Partei der Radikalen Mitte ruht. Unsere Wohnung hat jetzt einen Fußboden, an den wir uns schnell gewöhnen. (Es geht also auch mit.) Nebenbei entwerfe ich flammende Reden politischen Inhalts. Thomas M. inzwischen verstorben, Bernd D. berühmt und beim Fernsehen, Till G. irgendwo in der Weltgeschichte. Gebe Politik als Quelle von Ruhm und Reichtum wieder auf. Derweil revoltieren die hiesigen Eingeborenen.

Die Bierfabrik läßt mich nur unter dem Versprechen ziehen, daß ich auch allein reich und berühmt werde. Also gut. Mache wieder neue Bekanntschaften, darunter der Weltgeist, das kollektive Unbewußte und das Maggi-Kochstudio. Dirk Jurkschat wird mir durch sein profundes Verständnis jedweder Untergrundtätigkeit lieb. Daneben erfinde ich die Burgruine Liebau, um über sie ein Buch schreiben zu können (Auflage 1000 Expl.).

Ich beschließe, wieder Hosen zu tragen. Auf einer erholsamen Wanderung durch die Niederungen des Elbsandsteingebirges verschalle ich.

Schade eigentlich.

Titanic 1/1992

AUS DEN KOLONIEN (4) – GREIZ

Michael Rudolf

Während andere Städte im Beitrittsgebiet mit wirklich zeitgemäßen Skandalen Aufsehen erregen, haben wir heute ein Beispiel ausgewählt, das mehr ob seiner ungeheuren Harmlosigkeit so kreuzgefährlich ist. Greiz liegt im Vogtland, einem intellektuell völlig ausgedörrten Landstrich zwischen Erzgebirge und Thüringer Wald, war ehedem Residenz des Kleinfürstentums Reuß Ältere Linie (346 km²) und in der Literatur Symbol für deutschen Kleingeist. Wir finden Greiz in den Werken von Karl Gutzkow und Heinrich Heine, aber auch bei Friedrich Engels. Im heurigen Jahrhundert waren es Karel Capek und Arno Schmidt, die es nicht lassen konnten. ˆ

Die Stadt rühmt sich ihres literarischen Biotops, angeführt von Reiner Kunze selbdritt wimmelte es in den 60ern auf einmal von jungen Lyrikern, daß man es schon mit der Angst bekommen konnte – wirklich! Verschiedene Kreise sprechen auch heute noch ohne Vorbehalt von einer »Greizer Schule«. Aber, Hand aufs Herz, muß denn jeder Heimatschriftsteller gleich noch den Oppositionsersatz spielen? Item versucht die Clique der hier ansässigen Bildungsbürger eine Art kulturelles Leben zu inszenieren: poetische Klimmzüge zu Freejazz-Laubsägearbeiten – das ist die Saat von Ibrahim Böhme; doch weiterhin verwechseln sie hier l’art pour l’art mit Poularden. Während der alternative Nachwuchs in bewährter Weise blues- und folkverherrlichend vor sich hin laxiert und keramikzirkelt, hört sich das Gebaren ihrer Altvorderen wie eine öffentliche Anamnese an, vor allem beim Philosophieren über ihre Rektalgemälde. Nebenbei pflegen die hiesigen Vorzeigewiderständler wohlfeil Verständniskonversation mit dem Häuflein brauner Pest der Stadt, anstatt unverzüglich das mentale Dosenrecycling einzuleiten. Vielleicht liegt das alles daran, daß die Stadt zu DDR-Zeiten noch immer einen Anspruch auf die Medaillenplätze im Alkoholprokopfverbrauch geltend machen konnte. 1988 seien es um die 6000 Alkoholkranke (+ Dunkelziffer) gewesen, bei einer Einwohnerzahl von 36000. Dem Fremden fällt sofort der ungleich hohe Anteil deliranter Persönlichkeiten am hellichten Tage auf, die auch der allgemein üblichen Auffassung von äußerer Gepflegtheit sehr antithetisch begegnen.

Neuerdings bereichern ambulante Imbißbuden wieder das Stadtbild, und wir fühlen uns an die gute Tradition mittelalterlicher Garküchen für die Stadtarmut erinnert, nur eben daß jetzt der geheimnisvolle Mikrowellenherd den großen Suppentopf ersetzt – in weitem Umkreis weggewor-fene Verpackungen und Halbverdautes. Wenn die Einwohner ihr monatliches Kurzarbeitergeld fassen, wird es teilweise auch in traditioneller Kost angelegt. Die Thüringer Rostbratwurst, ein mit jämmerlich übersalzenem, fettem Unrat gefülltes Gedärme, führt hier die Liste an, gefolgt vom Rostbrätel, einem kurzgebraten feilgebotenen Lappen Saufleisch. Beides wird bevorzugt stehend und in halb mineralischem Zustand verzehrt, spendet aber dem Einheimischen Kraft für seine inzestuösen Neigungen. An Feiertagen verkleidet sich die Hausfrau mit Lockenwicklern und garniert verbranntes Sau- und Kuhfleisch mit den berühmten Thüringer, vulgo Grünen Klößen, das sind labbrige Bälle aus Abfällen der Potatenfrucht mit der Konsistenz des Auswurfes von Kettenrauchern. Aber genug davon!

Hier werden NVA-Offiziere Theaterdirektoren und Hobbyfaschisten MdL, und die gesamte SED- und Stasi-Kamarilla wandelte sich zu Versicherungsvertretern und Unternehmensberatern oder trägt orthopädische Mützen. Das passive Wahlrecht ist hier nicht sehr populär.

Die sog. Wende hat’s auch möglich machen können, den neben Kunze und Böhme dritten großen Sohn der Stadt – Ulf Merbold – wieder daheim zu begrüßen. Da gab es obendrein noch ein »Vogtländisches Raumfliegertreffen« mit dem (ebenfalls vogtländischen) Ostpendant Siegmund Jähn.

Wenn nicht in den schön anzuschauenden Neubausiedlungen, so doch in den die letzten romantischen Winkel des Weichbildes verunzierenden Schrebergärtchen geht das Wismut-Proletariat den deutschen Untugenden wie Bausparen, Videos und Grillen nach. Der Mittelstand frönt seinen gewohnheitsbedingten Ferkeleien und versucht ungebrochen, Forsythien-Blaufichten-Essigbaumbiotope überall, wo es auch nur geht, heimisch zu machen. In Tateinheit mit rustikal Schmiedeeisernem kommen vor allem, ist wirklich wahr, die aus gebrauchten Autoreifen gewerkelten und silbern bemalten Schwäne zur Ansicht.

Was also noch? Ein völlig größenwahnsinniger, inzwischen abgesetzter Bürgermeister (Westimport), von dem man sich schön bescheißen läßt, das Satiricum, das ehedem die verschnarchte DDR-Satire zu einer Biennale zusammenfassen mußte, ein Orchester wie auch ein Theater, für die es kein Geld mehr gibt, sage und schreibe vier (4) Heimatzeitschriften und Pfarrer Matthias Pöhland: Am 8. September 1990, drei Wochen vor der offiziellen Heimholung, taufte er zwei Katzen auf die Namen »Luzi« und »Maggy«. Die Tiere trugen laut Bravo sogar »weiße Taufkleidchen«. Der Pfarrer durfte nicht mehr weitermachen, Greiz gibt es immer noch.

Titanic 4/1992

AUS DER FRÜHGESCHICHTE DES VERLAGS WEISSER STEIN

Gerhard Henschel

Als »Kanzler der Einheit« hatte Helmut Kohl den Bürgern in den neuen Bundesländern »blühende Landschaften« versprochen, obwohl es wahrscheinlich klüger gewesen wäre, die allgemeine Aufmerksamkeit auf Blut, Schweiß und Tränen zu lenken. Einer der wenigen Neubundesbürger, die damals ernsthaft die Ärmel aufkrempelten und sich tatendurstig an die Arbeit machten, war Michael Rudolf. Wie optimistisch er in der Formationszeit des Verlags Weisser Stein in die Zukunft blickte, geht aus einem am 25. März 1992 in Greiz auf grauem Umweltschutzpapier aufgesetzten Brief hervor, in dem Michael Rudolf mich über eines seiner nächsten Etappenziele informierte: »Unser hauptamtlicher und eigentlicher Lektor, der Herr Gerd König, ist da mit mir einer Meinung: Du müßtest ganz einfach unser Hausautor werden (die Betonung liegt auf ›ganz einfach‹). Vorteil: Ruhm und Geld für uns alle satt. Nachteil: keiner. Also dann mal los!«

Those were the days.

Gerhard Henschel, Michael Rudolf, Eugen Egner, Frankfurter Buchmesse, 1993.

NACHDENKEN!

Michael Rudolf

Wollen Sie bitte mit mir darüber nachdenken, warum fränkische Blondinen dahingestümperte Graffiti dem Impressionismus zuordnen, warum Peter Glotz mit wehendem Mantel vor dem Frankfurter Hauptbahnhof kein Taxi kriegt und warum ich zum Nachtmahl bei laufendem Kroatenfernseh’ einen Ustaschasalat gegessen habe?

Wollen Sie nicht?

Gut, dann betrachten Sie das Angeführte als das wenige, was ich mir habe von der Frankfurter Buchmesse merken können.

Kowalski 11/1992

EIN UNANGENEHMES WOCHENENDE

Michael Rudolf

Ich fahre schon ganz gerne mit der Bahn, da ich aber der Bequemlichkeit halber lieber allein im Abteil sitzen mochte, störte mich gleich ab dem nächsten Bahnhof eine wild pubertierende Schar behalstuchter Bengel unter Führung eines Uli. Vereinzelt angebrachte Sticker vom letzten Katholikentag machten die Zuordnung dieser Horde leicht, deren einzige Bestimmung es zu sein schien, neunzig Prozent ihres Aufenthalts im Zug mit dem Verstauen ihrer höchst aberwitzigen Rucksäcke zu verbringen, mit ihren verschorften Füßen (oder wie sie das nennen mögen) meine Hosen zu beschmutzen und, ach so, den Lärm hatten wir schon.

Ich versuchte mir anschließend einzureden, daß mein im rechten Mundwinkel wuchernder Herpes simplex nur auf diese Bande zurückzuführen sei – und nicht auf den etwa 35jährigen Mann, der später zustieg und sich wie ein Lachsack benahm. Eine Viertelstunde hält man das ja aus, dann ist aber ein Abteilwechsel dringendst zu empfehlen, dahin vielleicht, wo man auf unförmig ausgebildete Großfamilien mit vielen sogenannten Kindern trifft, die die absonderlichen Farben ihrer Kleidung gewiß nicht einmal zu benennen wüßten.

Angekommen, fehlte niemand außer ein uns versprochener Redakteur, so daß wir uns mit gutartigen Witzchen auf seine Kosten behelfen mußten. Vor dem Chinesenlokal verwendeten einige Angestellte (die Köche?) in der blauen Stunde auffällig viel Zeit darauf, mit den dort flanierenden Katzen zu kommunizieren. Mehr durfte aber nicht vorfallen, da ich nach erfolgreich überstandener Nacht meines Gastgebers Waschbecken aus der Verankerung löste und in einer sehr bedenkenswerten Körperhaltung vor dem Zerschellen zu retten wußte. Das reicht.

Während der Rückfahrt zerrte mich eine doch nicht mehr sehr junge Dame in ein Gespräch über die Klimakatastrophe, daß sie die Herkunft von Hühnereiern am Geschmack erkennen könne und daß der Krause schließlich einer aus dem Osten sei. Dies überstanden, schreckte mich nur noch gelegentlich das DB-Team mit der über Lautsprecher durchgegebenen Information aus dem Schlummer, daß ausgerechnet dieser Waggon auf dem und dem Bahnhof nicht am Bahnsteig zum Halten komme. Und solcher Tinnef.

Nein, als angenehm kann man das wahrlich nicht bezeichnen.

Kowalski 11/1992

PROBLEMFRONT

Michael Rudolf

In den spärlich bemessenen Stunden der Muße gedenken wir alle gern der schönen Kindheit, damals, als alles noch irgendwie in Ordnung war, nur heute eben haut aber auch gar nichts mehr hin. Helfer haben sich darauf spezialisiert, in der Kindheit sogenannter Patienten herumzuwühlen, um unerklärlichem Hautpilz, Progenie, Nudismus oder Stuhlverhalten auf die Schliche zu kommen.

Das haben wir natürlich nicht nötig, wenn es an die Bewältigung von Sachverhalten an unserer Problemfront geht, und seien sie auch noch so unwichtig.

Natürlich war auch meine Kindheit schön, wie bei jedem anderen Kind auch, aber es hatte ja alles just dann ein Ende, als wir die ersten Zigaretten in Brand setzten. Intensiveres Forschen vergegenwärtigte mir jedoch einige Sachverhalte, die uns stutzig machen müssen. Beispielsweise weiß mein Oheim zu berichten, daß ich, während er schlief, seine aus der Bettdecke herausragenden Füße ausschließlich mit der Nase untersucht habe. Auf Parkplätzen soll ich in Wartestellung an den Auspüffen abfahrender Automobile ausgeharrt haben, auch delektierte ich mich zu Silvester unter Ausrufen der Verzückung am Gestank pyrotechnischer Erzeugnisse, niemals aber an deren Krach, streunte ich gern um die Tankstellen unserer Stadt, um ungehemmt Benzin inhalieren zu können. Und selbst heutzutage macht mir das Zubereiten von Speisen am heimischen Herd mehr aufgrund der Koch- und Bratendüfte Laune – und nicht in erster Linie wegen des Endergebnisses, welches dann noch gegessen werden muß.

Ich meine aber, daß sich damit sehr wohl gar nichts erklären läßt, obwohl meine immer mehr ausufernde Narkolepsie schreiend Erklärung heischt und ich meine Sozialisierbarkeit fürderhin stark anzweifle. Ach, weiß der Ullmann warum! Führe ich insgeheim gewonnene Erkenntnisse logisch weiter, so kann es nur unter der Decke sich sammelnder körpereigener Geruch sein, der mich zwischen die Bettfedern nagelt. Natürlich ist das sehr bedenklich. Der Schritt zur Analfixation ist so weit nicht mehr. Und was ist das nächste? Sexuelle Abirrungen? Burmesisches Latschenfieber? Bergmann-Pohl?

Ich bleibe dran.

Kowalski 1/1993

WOZU?

Michael Rudolf

Gestern wurde ich unverhoffterweise mit einer Sache bekannt, die gemeinhin das Leben genannt wird. Sicher war das gleich ein bißchen viel auf einmal, aber daß für die Tatsache, einfach dazusein, ein Extrawort appliziert wird … Da steckt doch mehr dahinter?!

Und richtig:

Damit das Leben sich seiner sublimen Handhabung nicht widersetzt, muß der daran Interessierte bestimmte zerkleinerte Brocken, Breie und dünnere Brühen zu sich nehmen, die auf wundersame, nicht aber in jedem Falle wünschenswerte Weise den Körper wieder verlassen.

Vorher müssen kleine runde Metallplättchen und rechteckige Papierfetzen gegen totgemachte Tiere und Pflanzen eingetauscht werden. Aus denen werden dann diese Brocken, Breie und Brühen gewerkelt. Der Tausch klappt im übrigen nicht mit jederlei Metallplättchen. Auch selbstgemachte Papierstückchen: Fehlanzeige.

Eine ganz bestimmte farblose Brühe nimmt der Lebende zum Einreiben. Waschen wird das genannt, und es soll erfrischen. Wie zu erfahren ist, empfiehlt sich dieser Vorgang täglich.

Um mich außerhalb der Wohnung bewegen zu können, soll ich mich in Tuche verschiedenster Art hüllen; die anderen machten das auch. Zudem, wird mir versichert, bräuchte ich dann nicht zu frieren. Doch soll es andere Gegenden geben, wo es riesig heiß sei und die Lebenden trotzdem angezogen herumliefen. Davon werde ich ganz unklug im Kopf.

Um andere, die auch leben, nicht zu molestieren, muß der Lebende bestimmte Körperöffnungen ständig geschlossen halten. Nur unter dieser Bedingung erklären sich diese bereit, eine Sache zu praktizieren, die Zusammenleben heißt. Oberstes Ziel dieses Zusammenlebens aber ist, so wird mir weiterhin verraten, möglichst vielem Nachwuchs auch das Leben zu ermöglichen. Am Körper sind dazu merkwürdige Apparaturen zum wechselseitigen Ein- und Abfüllen von bestimmten, für das wechselseitige Ein- und Abfüllen vorgesehenen Flüssigkeiten angebracht. Ergebnis ist ein kleiner Mensch, der nicht mal laufen oder sprechen kann, selbst das Stehen und sogar das Sitzen muß ihm mühsam beigebracht werden, daß man darüber desperat werden möchte.

Wenn es die Leute (das sind die anderen, die auch leben) juckt, schlagen sie nach Verabredung mit Knütteln aufeinander ein. Bei manchen dieser Stöcke kommt sogar Feuer vorn raus. Haben sie solche nicht zur Hand, so machen sie sich die Motion unter Ausrufen der Geringschätzung und Schadenfreude mit Armen und Beinen. Da kommt jedoch kein Feuer vorn raus. Ach über solch entsetzliche Spektakel.

Kluge Leute behaupten unbeirrt, für einen rechten Simpel sei das Leben ohne Gifte durchaus zu ertragen, nur weiß keiner, wozu es eigentlich gut sein soll.

Kowalski 5/1993

MICHI – NIMM DIES!

F. W. Bernstein

Wurzel Burston – Diesen Mann kenne ich nicht. Michael Rudolf: Shut Up And Play Your Guitar!

– 444 Rockgitarristen von Ritchie Blackmore bis Frank Zappa

Ein großer Kenner ist er, der Michi Rudolf, und ein noch größerer Benenner. Pilze, Biere und Rockgitarristen kennt und nennt er alle. (Bis auf s. o.!)

Michi – Du hast sie uns vorgestellt in voluminösen Bänden; und hast fürs Bier etwa eine eigene treffende und treffliche Sprache erschaffen, die mehr sagt und singt als die haltlose Lyrik der Weinkenner.

Mit Deinen eigenen Spezereien will ich Dich salben. Was Du übers Köstritzer Schwarzbier schreibst, gilt auch für Deine Texte: »[…] dürfen Sie getrost im Stehen trinken, da verneigt sich’s leichter vor formvollendeter Braukunst.«

»Malzig, rezent, optimal gehopft« klingt mir auch Deine Schreibkunst; und grad weil ich nix weiß über Bier, Pilze und Rockgitarristen, zieh’ ich im Stehen tief den Hut. Michi!

Michi kann seinen Stoff adeln. Aber wie konnt’ er auch tadeln! »[…] da gefällt sich eine amorphe Aromamasse in Tummeln und Toben. Tölpelhaft und hyperpasteurisiert, ein Hauch von Jauche, nö, eine ganze Bö […]«. Trinken sollte man solche Brühe sicher nicht – aber lesen! (Alles aus dem älteren Bierbuch 1516 Biere von 1999.)

Bei der Gelegenheit meine Legitimation: Mir hat Michael Rudolf in seinem Verlag Weisser Stein in Greiz meinen ersten und besten Band mit Zeichnungen gemacht, Anfang der neunziger Jahre; längst vergriffen: Der Blechbläser und sein Kind.

Dieter Steinmann hat als Hg. mitgemacht; und das Foto, wo wir drei die Köpfe im Fotoautomat zusammenstecken, bis es blitzt, find’ ich nimmer. Wo waren wir stehengeblieben?

Wir kommen zu den Rockern. »Cliff Gallup – Ganz wichtig, ganz wichtig.« Aber »Tony Fredianelli – Rumms. Kliwifff. Schschschsch. Ratatatat. Poch. Schepper. Rawummmmmmm. Fttttftftft. Hmhm. Ping. Ticktackticktack. Rumms. So in etwa. Platten heißen dann origineller- und überflüssigerweise Breakneck Speed (1993). Beste Mike-Varney-Klippschule eben.«

Verständlicher? Bitteschön: »John Fogerty – Jahrzehntelang wurde in dieser Republik kein Lagerfeuer ausgepinkelt, bevor nicht wenigstens zehn Lieder der Creedence Clearwater Revival (Peter Handkes Lieblingsband) von den untalentiertesten, aufdringlichsten Arschgesichtern aus der Parallelklasse auf verbogenen und verzogenen, vom Eigenejakulat verquollenen ›Klampfen‹ (allein dieses Wort ist eine rechtserhebliche Tatsache!) runtergerissen waren und nun selbst die Petra, die Christiane und die Moni nicht mehr nein sagen wollten, nur damit Ruhe ist. […] Ich kriege jetzt noch Pickel.«

Aber auch hier weiß Michi, wo Gott wohnt. Lesen Sie nach S. 109, Rory Gallagher. Zweieinhalb Seiten. Die Gitarre erzählt: »Ich bin nur eine einfache Fender Stratocaster […]. Es war der Gitarrenbund fürs Leben.«

Elvis Presley fehlt unter diesen Heiligenbiographien. Er findet sich auch nicht unter den Pilzen. Hexenei und Krötenstuhl – Ein wunderbarer Pilzführer. Michi, der Herr der …linge! Tantelfintling, Maronenröhrling, Samtfußrübling, Violetter Rötelritterling, Pfifferling … Hören Sie das Intro zum Kapitel »Makrokosmos Märzmulch«. Thema sollte eigentlich sein der »Frühlingsweichritterling, Melanoleuca cognata«. Und schon wird aus dem Kenner und Benenner Michi der Bekenner: »Vor vielen Jahren faßte ich zu einem sanften Fräuleinwunder tiefe und feste Zuneigung. Das Entwerfen von Zähnen erlernte sie damals. Sie war von geradem Wuchs, ihr Wesen klar wie das Herbstwasser. Der Klang ihrer Stimme umschmeichelte die Erde, und ihr ebenmäßiges Antlitz beschämte alle Blumen. Alle. Mein Herz geriet ganz außer mir, und mein Innerstes kam in heillose Erregung. Aber strenggenommen geht Sie das überhaupt nichts an.«

Gut – dann aber der Höhepunkt des Pilzbuches, drei Seiten »Audienz beim König«:

»Steinpilz, Boletus edulis. Unglaublich, aber wahr: Mir wurde Audienz gewährt. Nicht irgendein Stein-/Herrenpilz, nein, ›The king of the Woods‹ ließ sich höchstpersönlich herab. […] Und jetzt sehe ich ihn auch: le Jardin du Roi – der Garten des Königs. Eine Miniaturlichtung, wo zwei Fichten vorzeitig den Kampf gegen ihren Selbsterhaltungstrieb gewonnen hatten. Viermal vier Meter dürften das sein. Der Nadelteppich wird von weichen Moospolstern abgelöst. Grashalme zittern nervös im erstbesten Lufthauch, der hierher findet. Die Sonne hat ihren neuesten Farbkasten ausgepackt und hantiert verschwenderisch auf diesem Areal. Wo ein alter Stumpf des vormaligen Hochwaldes gemächlich zerbröselt, auf dem Wurzelstockpodest ist der Thron als Bühne hergerichtet. Da! Wow! Die Sommersonne richtet ihre Scheinwerfer auf IHN und läßt Seine Majestät im golden strahlenden Ornat erscheinen. Flankiert von vier furchteinflößenden Fliegenpilzwächtern. Unzählige als Pfefferröhrlinge kostümierte Lakaien tun wichtig. Er ist es wirklich. Dreißig, Quatsch!, vierzig Zentimeter hoch.«

Arbeit an »Der Blechbläser und sein Kind«, Greiz, 1993.

Dieter Steinmann, Michael Rudolf, F. W. Bernstein.

Eine festliche Zeremonie wird inszeniert, daß es nur so eine Art hat. Und versteckt noch ein neuerliches Bekenntnis: »Am neugierigsten hätte alle die Erwähnung meines Kindes gemacht. Ein Mädchen? Solle ich unbedingt mitbringen.«

Eva, die Tochter. Vorher: das ist Ina Fräuleinwunder.

Ina und Eva: Macht’s gut! Ich grüß’ Euch!

Eva und Michael Rudolf, 1994.

Michael und Ina Rudolf, 2004.

RESTLESS LEGS

Michael Rudolf

Ungehemmte Motorik wird bei Kindern scherzhaft als Zappelphilipp bezeichnet. Wie aber ist das bei Erwachsenen?

Kennen Sie das nicht auch: Bei längeren Zugreisen, während eines Vortrages, in der Kirche, im Kino oder beim Abendgebet entwickeln Ihre Beine eine rätselhafte Unrast, kaum während des normalen Tagesablaufes, erst bei Ruhe. Die unerklärliche Qual wird zum Einschlafhindernis, als wären alle Muskeln voller Ameisen. Eine Mischung aus Muskelkater und -krämpfen, die Sie zwingt, wie der Leibhaftige auf und nieder zu springen.

Und wie heißt dieses Syndrom? Richtig. Wittmaack-Ekbom-Syndrom. Oder auch »restless legs«.

Was hilft? Eigentlich nichts. Versucht wird es mit Beta-Blockern, kalten Fuß- und Beinbädern, elastischen Stützstrümpfen und Eispackungen. Nützlich kann auch ein Bettbügel sein, der die Decke von den Beinen fernhält.

In Würde älter werden? Fuck off!!!

Kowalski 6/1993

WIE MICHAEL RUDOLF EINMAL VORM FALSCHEN UTOPIA WARNTE

Jürgen Brömmer

Im Hochsommer 1994 hatte Direktor Gotthard Brandler zur Triennale für Karikatur, Cartoon und komische Zeichnung geladen. Zur Eröffnungsfeier war es ihm mit der Hilfe von Dieter Steinmann gelungen, alles, was in der Zeichenkunst wenn nicht Rang, so doch wenigstens Namen hatte, für drei Tage in das thüringische Städtchen zu locken.

Die Ausstellung selbst war schon eine bemerkenswerte Leistung, waren hier doch erstmals im größeren Rahmen west- und ostdeutsche Künstler gleichermaßen beteiligt: seriöse Karikaturisten, die Bärte wie Kastenbrote vor sich trugen, neben lustigen Nonsenszeichnern. Zum denkwürdigen Erlebnis wurde die Triennale schließlich durch den Umstand, daß Direktor Brandler mit der Landespolitik ein großzügiges Budget ausgehandelt hatte, mit dem die ganze Bande zur feierlichen Eröffnung der Ausstellung für ein langes Wochenende komfortabel untergebracht und anständig ausgehalten werden konnte.

Auch ich, der lediglich ein kleines Faltblatt mit Zeichnungen des Münchner Miniaturisten Steffen Haas hergestellt hatte, durfte dabeisein! Der kluge Direktor wußte: Man gebe jungen Menschen freie Unterkunft und kostenlose Mahlzeiten, und quasi automatisch wird der Geist der Utopie belebt. Und so wurde Greiz an einem milden Augustwochenende im fünften Jahr nach dem klanglosen Untergang des Realen Sozialismus zum Sonnenstaat, wo man sich bei thüringischer Hausmannskost, Bier und Wein flugs an die Menschwerdung machte.

Eine geistreiche Redensart gab die andere, unterbrochen nur vom merkwürdigen Gesang eines Berliner Glossenautors, der zwar nicht zeichnete, den der großzügige Gotthard Brandler aber zum Zechen einfach mit eingeladen hatte. Man verstand sich prächtig, und an den Abenden wurde auch den anwesenden Damen tüchtig der Hof gemacht, wie es sich der alte Fourier in Die Neue Liebeswelt kaum schöner ausgedacht hatte.