Der Mann mit den Facettenaugen - Ming-Yi Wu - E-Book

Der Mann mit den Facettenaugen E-Book

Ming-Yi Wu

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Beschreibung

Wandelnde Bäume, wundersame Schmetterlinge, Rehe, die sich in Ziegen verwandeln, und eine Katze, die ein unaussprechliches Geheimnis birgt: Wu Ming-Yi hat mit Der Mann mit den Facettenaugen eine faszinierende Romanwelt geschaffen, in der Klimakollaps, indigene Mythen, Identität und existenzielle Gefühle den Hintergrund für eine vielschichtige und raffinierte Erzählung bilden. Darin begegnen sich die lebensmüde Akademikerin Alice und der in den Tod verstoßene Indigene Atile'i, nur um sich wieder zu verlieren. Die Welt wird sich in der Zwischenzeit radikal verändern. Visionäre Fantastik und harten Realismus verbindet Wu Ming-Yi auf unnachahmliche Weise zu einem literarischen Tsunami, in dem der geheimnisvolle Mann mit den Facettenaugen ein Schicksal vorhersagt, das erst mit dem Buch im Buch, das Alice zu schreiben beginnt, um den Tod ihres Sohnes zu verstehen, in Gang gesetzt wird. In dieser fantastischen Spannung zeigt sich ein hintergründiger, politisch bewusster Roman, der tief in ökologischen Belangen und Fragen indigener Identität verankert ist.

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翼覆翼,光覆光

Wing above wing, flame above flame

Wu Ming-Yi

Der Mann mit den Facettenaugen

Roman

Aus dem Chinesischen von Johannes Fiederling

Inhalt

Erster Teil

1. Im Fels

2. Nacht um Atile’i

3. Nacht um Alice

Zweiter Teil

4. Atile’is Insel

5. Alices Haus

Dritter Teil

6. Hafay und das Siebte Sissid

7. Alice und O-hi-o

Vierter Teil

8. Ussula, Ussula, willst du wirklich hinaus aufs Meer?

9. Hafay, Hafay, wir folgen dem Fluss

10. Daho, Daho, welchen Weg nehmen wir als nächstes?

Fünfter Teil

11. Vortex

12. Die andere Insel

Sechster Teil

13. Atile’i

14. Alice

15. Daho

16. Hafay

Siebter Teil

17. Die Geschichte von Atile’is Insel

18. Die Geschichte von Alices Insel

19. Die Geschichte von Dahos Insel

20. Die Geschichte von Hafays Insel

Achter Teil

21. Durch den Berg

22. Es wird Regen geben

23. Der Mann mit den Facettenaugen I

Neunter Teil

24. Küstenstraße

25. Bergpfad

26. Der Mann mit den Facettenaugen II

Zehnter Teil

27. Die Höhle im Wald

28. Die Höhle in der Felswand

29. Der Mann mit den Facettenaugen III

Elfter Teil

30. Der Mann mit den Facettenaugen IV

31. Am Ende des Weges

Erster Teil

Die Bewohner Wayowayos fragten nicht nach dem Alter eines Menschen. Wie die Bäume wuchsen sie langsam in die Höhe und stellten den Blumen gleich ihre Geschlechtsteile zur Schau. Geduldig wie die Muscheln harrten sie aus im Strom der Zeit, und wenn sie starben, taten sie es mit einem Lächeln auf den Lippen, das dem der Meeresschildkröten ähnelte. Ihre Seelen waren immer noch ein wenig älter, als ihr Äußeres vermuten ließ, und da sie so viel auf die See hinausblickten, lag stets etwas Melancholisches in ihren Augen, über die sich im Alter oft ein grauer Schleier legte.

1. Im Fels

Das Spaltenwasser plätscherte seicht vor sich hin, als der Berg mit einem Mal einen gewaltigen Laut von sich gab, der zugleich aus fernster Ferne zu kommen schien.

Alle verstummten für einen Moment.

Lee Rong-Hsiang schrie auf. Das war kein Wassereinbruch. Auch kein absackendes Geröll oder eine berstende Gesteinsschicht. Es klang eher wie ein perfekt geformtes Glasgefäß, das einen Stoß abbekommen hat und im ersten Moment noch unversehrt wirkt, während sich heimlich haarfeine Risse zu formen beginnen. Doch kurz darauf erstarb das Geräusch wieder. Die gesamte Belegschaft unter Tage und im Kontrollraum war so still, dass man einander atmen hören konnte, unterbrochen nur vom Rauschen der Funkgeräte.

Konrad ließ langsam die Luft aus seinen Lungen entweichen: »Habt ihr das eben gehört? Was war das?«, fragte er in schwerfälligem Englisch. Niemand antwortete. Alle hatten das Geräusch wahrgenommen, doch niemand vermochte es zu beschreiben. Plötzlich fiel ohne Vorwarnung die komplette Stromversorgung aus. Von einem Augenblick auf den nächsten war die Aushöhlung, die tief ins Bergmassiv hineinreichte, in völlige Dunkelheit getaucht. Man konnte die Augen noch so sehr anstrengen, vor einem lag nichts als undurchdringliches Schwarz. In diesem Moment erklang das Geräusch ein weiteres Mal, so als bewegte sich im Fels ein Wesen von immenser Größe auf die Männer zu oder von ihnen weg.

»Ruhe! Ganz still bleiben.« Lee Rong-Hsiang sprach bewusst leise, um durch den Widerhall seiner Stimme keine Vibrationen in der Felswand und damit womöglich einen weiteren Einsturz auszulösen. Doch in Wirklichkeit wagte ohnehin niemand, auch nur den geringsten Laut von sich zu geben.

2. Nacht um Atile’i

Für die Bewohner von Wayowayo war die Welt eine Insel.

Diese Insel lag inmitten eines unermesslich weiten Ozeans, so weit von jedem Kontinent entfernt, dass im kollektiven Gedächtnis der Insulaner zwar noch eine Erinnerung daran lebte, dass vor langer Zeit einmal Weiße auf der Insel angelandet waren, jedoch hatte keiner von ihnen jemals die Insel verlassen, geschweige denn Erzählungen von anderen Landmassen mit nach Hause gebracht. Das Inselvolk der Wayowayo glaubte, dass die ganze Welt aus Meer bestand und dass Kabang (was in ihrer Sprache so viel wie »Gott« bedeutete) diese Insel für sie geschaffen hatte, als hätte er eine winzige Muschelschale in einen großen Wasserbottich gesetzt. Ihre Insel folgte der Strömung des Meeres und das Meer versorgte die Wayowayo mit Nahrung. Allerdings gab es auch Meerestiere, die als Verkörperung Kabangs galten, so zum Beispiel der Asamo, ein schwarz-weiß gestreifter Fisch, den Kabang geschickt hatte, um die Wayowayo zu bespitzeln und auf die Probe zu stellen, daher durfte man ihn keinesfalls essen.

»Wenn du nicht aufpasst und einen Asamo verspeist, dann wachsen dir rund um den Bauchnabel herum Fischschuppen. Du kannst kratzen so viel du willst, du bekommst sie nie wieder weg.« Zum Gehen musste sich der Meereskundige auf einen Walknochen stützen. Doch jeden Tag setzte er sich in der Abenddämmerung unter einen Baum und erzählte den Kindern alle Geschichten der Wayowayo, die vom Meer handelten. Er erzählte so lange, bis die Sonne im Meer versank, bis aus den Kindern Jugendliche wurden und aus den Jugendlichen, nachdem sie ihr Initiationsritual durchlaufen hatten, Erwachsene. Jedes seiner Worte roch nach Meer und selbst in seinem Atem lag noch etwas Salziges.

»Was ist denn schlimm daran, wenn einem Fischschuppen wachsen?«, wollte ein Junge wissen. Alle Kinder hier hatten große runde Augen, die an jene nachtaktiver Tiere erinnerten.

»Aber mein Kind, Menschen dürfen keine Fischschuppen bekommen, so wie Meeresschildkröten nicht mit dem Bauch nach oben schlafen können.«

An anderen Tagen nahm der Erdenweise die Kinder mit zu den Feldern und Hügeln, wo Akaba wuchs, was so viel bedeutete wie »Pflanze, die wie eine Hand aussieht«. Die üppig wuchernde Akaba mit ihren Blättern, die an unzählige, zum Himmel betende Hände erinnerten, war eine der wenigen stärkehaltigen Pflanzen, die auf der Insel vorkamen. Da es kaum Werkzeuge gab, legten die Bewohner Wayowayos ihre Beete an, indem sie Bruchsteine auf der Erde aufschichteten, einerseits als Windschutz, andererseits um die Erde feucht zu halten. »Man braucht Liebe. Mit Liebe ummauern wir die Erde. Erde ist das kostbarste Gut, das es auf Wayowayo gibt, ebenso wertvoll wie der Regen und die Herzen der Frauen.« Der Erdenweise brachte den Kindern bei, wie man die Steine zu legen hatte. Seine Haut war furchig wie ausgetrockneter Lehm, sein Rücken rund wie ein Erdhügel. »Es gibt nur drei Dinge auf der Welt, auf die man vertrauen kann, Kinder: Kabang, das Meer und die Erde.«

Im Südosten der Insel gab es eine von Korallen eingefasste Lagune, ein nahezu idealer Ort, um mit kleinen Wurfnetzen auf Fischfang zu gehen oder Muscheln zu sammeln. Außerdem lag etwa »zehn Kokosschalen« (die Entfernung, die man erhält, wenn man zehn Mal einen Kokosnussschalenweitwurf ausführt) nordöstlich der Insel ein Korallenriff, das bei Ebbe fast vollständig aus dem Wasser ragte. Dort lebten eine Vielzahl von Meeresvögeln. Zur Vogeljagd verwendeten die Wayowayo eine aus Ästen und Pflanzenfasern gebundene Jagdwaffe, die sie Guwana nannten. Ein Guwana sah aus wie ein simpler Stock, der an einem Ende spitz und am anderen stumpf war. Das stumpfe Ende hatte ein Loch, an dem eine aus Engelwurz geflochtene Schlinge befestigt wurde. Die Jäger ruderten in ihren Einbäumen in die Nähe der Koralleninsel und ließen sich dann von der Strömung daran vorbei treiben. Dabei taten sie so, als beachteten sie die Vögel gar nicht und beteten stattdessen stumm zu Kabang. Erst wenn sie sich unmittelbar neben einem Vogel befanden, schleuderten sie blitzschnell und mit aller Kraft das Guwana. Wenn Kabang seinen Segen gab, legte sich die Schlinge genau um den Hals eines Vogels. Ein Ruck mit der Hand und sie zog sich zu, wonach das spitze Ende des Guwana zum Einsatz kam. Wenn das Blut den Schaft herabrann, sah es aus, als sei der Stock selbst tödlich verwundet. Albatrosse, Tölpel, Möwen, Fregatt- und Sturmvögel wehrten sich gegen das Guwana, indem sie so viele Nachkommen wie möglich zeugten. Im Frühling bedeckten sie das Riff mit ihren Eiern und Nestern. Dann gab es für die Inselbewohner jeden Tag Eier in Hülle und Fülle, und so zierte ihre Gesichter während dieser Jahreszeit ein grimmiges, aber zufriedenes Lächeln.

Wie auf allen Inseln mangelte es auch auf Wayowayo oft an Süßwasser. Außer Regenwasser gab es lediglich einen kleinen See im Zentrum der Insel. Die Hauptnahrung der Insulaner, Meeresfrüchte und Vogelfleisch, hatte zudem einen sehr hohen Salzgehalt. Sie verlieh den Menschen ein dunkles, dürres Äußeres und sorgte für chronische Verstopfung. Wenn die Wayowayo sich morgens über ihren eigens dafür angelegten Gruben erleichterten, das Gesicht dem Meer zugewandt, standen nicht wenigen von ihnen von der Anstrengung Tränen in den Augen.

Die Insel war nicht groß. Wenn man sich um die Frühstückszeit herum auf den Weg machte, brauchte man keine besonders langen Beine, um kurz nach dem Mittagessen wieder dort anzukommen, wo man losgelaufen war. Und weil die Insel so klein war, teilten ihre Bewohner ihren Alltag grob in »dem Meer zugewandt« und »dem Meer abgewandt« ein, wobei die kleine Erhebung im Zentrum der Insel diesen Redewendungen als Bezugspunkt diente. Wenn man sich unterhielt, wandte man sich dem Meer zu, wenn man aß, tat man das Gegenteil; gebetet wurde mit dem Gesicht zum Meer und wenn man Liebe machte, kehrte man ihm den Rücken zu, um Kabang nicht zu erzürnen.

Auf Wayowayo gab es keine Häuptlinge, nur einen Ältestenrat. Der Weiseste unter den Alten wurde »meeresgleich« genannt. Die Häuser von Familien, die schon einmal »Meeresgleiche« hervorgebracht hatten, erkannte man daran, dass ihre Front dem Meer zugewandt war, sowie an den mit Muscheln und Schnitzereien verzierten Eingängen. Die Seitenwände der länglichen, wie umgedrehte Einbäume anmutenden Gebäude waren mit Fischhäuten bespannt und ein jedes von ihnen überdies mit einem aus Korallengestein aufgeschichteten Windfang versehen.

Die Inselbewohner kannten keinen Ort, an dem man das Meer nicht hörte, und genauso war es ihnen unmöglich, einen Satz von sich zu geben, in dem das Meer nicht vorkam. Morgens grüßten sie sich mit den Worten: »Fährst du heute raus?«, mittags fragte man: »Wollen wir zusammen unser Glück versuchen?«, und abends rief man sich zu: »Du musst mir später vom Meer erzählen!« Wenn jemand auf die See hinaus ruderte, riefen ihm die Leute vom Ufer aus hinterher: »Pass auf, dass die Monai dich nicht mitnehmen!« Monai war ihr Wort für »Welle«. Trafen sich zwei Freunde, fragte der eine: »Wie ist heute das Wetter auf dem Meer?«, und selbst wenn gerade ein Sturm tobte, lautete die Antwort stets: »Klarer Himmel über ruhiger See.« Die Sprache der Wayowayo klang wie die Rufe der Meeresvögel, scharf und hell. Wie deren Schwingen zitterte sie leicht, wenn es in eine neue Richtung ging, und das Ende eines jeden Satzes markierte ein Laut, der an die Wellen erinnerte, die sich bilden, wenn ein Vogel ins Meer eintaucht.

Manchmal gab es nicht genug zu essen, manchmal war das Wetter zu schlecht, um fischen zu gehen, und manchmal kam es zu Streit zwischen zwei Stämmen, aber ganz gleich, wie das Leben ihnen mitspielte, jeder Wayowayo trug einen unerschöpflichen Schatz an Meeresgeschichten in sich. Sie erzählten sie sich, wenn sie zusammen aßen oder sich zufällig über den Weg liefen, bei wichtigen Stammesfesten genauso wie beim Liebemachen, und es kam vor, dass sie selbst im Schlaf noch weiter erzählten. Zwar hatte noch nie jemand ihre Geschichten gesammelt und aufgezeichnet, aber womöglich werden die Anthropologen in der Zukunft einmal feststellen, dass es nirgendwo sonst so viele Meeresgeschichten gab wie auf Wayowayo. Der Lieblingssatz der Insulaner lautete: »Erzähl mir eine Geschichte vom Meer.« Die Bewohner Wayowayos fragten nicht nach dem Alter eines Menschen. Wie die Bäume wuchsen sie langsam in die Höhe und stellten den Blumen gleich ihre Geschlechtsteile zur Schau. Geduldig wie die Muscheln harrten sie aus im Strom der Zeit, und wenn sie starben, taten sie es mit einem Lächeln auf den Lippen, das dem der Meeresschildkröten glich. Ihre Seelen waren immer noch ein wenig älter als ihr Äußeres vermuten ließ, und da sie so viel auf die See hinausblickten, lag stets etwas Melancholisches in ihren Augen, über die sich im Alter oft ein grauer Schleier legte. Noch auf dem Totenbett fragten die zumeist völlig erblindeten Alten ihre Enkel: »Wie ist das Wetter auf dem Meer?« Den Wayowayo galt es als größte Gnade Kabangs, wenn man beim Anblick des Meeres sterben durfte, und es war ihr Lebenstraum, im Moment des Todes zumindest geistig das Bild vom Meer vor Augen zu haben.

Wenn den Wayowayo ein Junge geboren wurde, wählte dessen Vater einen Baum für ihn aus. In den Stamm dieses Baumes wurde jedes Mal, wenn der Mond einmal gestorben und wiedergeboren worden war, eine Kerbe geritzt. Sobald die hundertste Kerbe gemacht war, war es an der Zeit, dass der Junge sich sein eigenes Tailawaka baute. Der Engländer S. Percy Smith, der vor langer Zeit als erster und bisher einziger Anthropologe auf der Insel gelandet war, hatte die Tailawaka fälschlicherweise als Einbäume beschrieben, dabei wurden sie aus Pflanzenfasern hergestellt. Die Insel war viel zu klein und hatte gar nicht genug Bäume, die dick genug waren, als dass man daraus Einbäume hätte fertigen können. Smiths Aufzeichnungen diesbezüglich waren daher anthropologisch gesehen ein Witz, wenngleich man ihm sein Missverständnis nachsehen mochte, denn auf den ersten Blick hätte jeder ein Tailawaka für einen Einbaum gehalten. Die Wayowayo banden zunächst aus Baumästen, Peddigrohr und mehreren verschiedenen Schilfgras-Arten ein Gerüst, das sie anschließend mit einer aus eingeweichten Pflanzenfasern hergestellten Zellulosemasse bestrichen und trocknen ließen. Dieser Schritt wurde dreimal wiederholt. Wenn der Rohling fertig war, füllten sie alle Ritzen und Spalten mit Torflehm aus und überzogen ihn abschließend mit einer dicken, wasserfesten Schicht Baumharz. Oberflächlich betrachtet wirkte ein Tailawaka tatsächlich ebenso massiv und makellos wie ein ausgehöhlter Baumstamm.

Dem jungen Mann, der gerade am Ufer saß, gehörte das schönste und robusteste Tailawaka von allen. In seinem Gesicht vereinten sich die besonderen Merkmale der Wayowayo: eine flache Nase, tief liegende Augen und eine sonnenstrahlende Haut, hinzu kamen ein melancholischer Rücken und pfeilgleiche Gliedmaßen.

»Atile’i, sitz nicht so da rum, die Meeresgeister können dich sehen!«, rief ein Alter dem Jüngling im Vorbeigehen zu.

Wie alle Wayowayo hatte auch Atile’i einmal geglaubt, die ganze Welt bestünde bloß aus einer einzigen Insel, die wie eine leere Muschelschale auf dem Ozean trieb.

Das Bootsbauen hatte Atile’i von seinem Vater gelernt. Er galt als der beste Bootsbauer von allen, sogar noch besser als sein älterer Bruder, Nale’ida. Obwohl er noch jung war, war er flink wie ein Fisch und konnte beim Speerfischen mit einem Atemzug drei Mahi-Mahis fangen. Alle Mädchen der Insel schwärmten insgeheim für ihn und träumten davon, dass er sie eines Tages auf der Straße anhalten und ins hohe Gras tragen würde. Wenn sie dann drei volle Monde später sicher sein konnten, von ihm schwanger zu sein, würden sie es Atile’i heimlich wissen lassen und zu Hause mit gespielter Unschuld darauf warten, dass er vorsprach und mit einem aus Walbein gefertigten Messer um ihre Hand anhielt. Wahrscheinlich ging es auch dem schönsten Mädchen der Insel, Ussula, nicht anders.

»Das Schicksal hat Atile’i zum Zweitgeborenen gemacht. Zweitgeborene können noch so gut tauchen, der Meeresgott will sie, die Insel nicht.« Atile’is Mutter wiederholte diese Sätze oft. Wer immer gerade bei ihr war, nickte dann bloß wissend. Einen zweiten Sohn zu bekommen war das Schlimmste, was einer Wayowayo-Frau widerfahren konnte. Atile’is Mutter sprach den ganzen Tag kaum von etwas anderem, mit bebenden Lippen, als könne sie dadurch etwas am Zweitgeborenenschicksal ihres Sohnes ändern.

Abgesehen von Fällen, in denen der erstgeborene Sohn im Kindesalter verstarb, heirateten Zweitgeborene so gut wie nie und wurden auch nicht zu Meeresgleichen. Denn am hundertachtzigsten Vollmond nach ihrer Geburt sandte man sie aus auf eine Fahrt ohne Wiederkehr. Sie bekamen lediglich Trinkwasser für zehn Tage mit auf den Weg und es war ihnen verboten umzukehren. Auf Wayowayo gab es die Redewendung: »Das sehen wir, wenn dein Zweitgeborener wiederkommt.« Sie bedeutete schlicht: Vergiss es!

Atile’is Wimpern zuckten. Das getrocknete Meerwasser hatte seinen Körper mit einer feinen Schicht aus Salzkristallen überzogen und er glitzerte, als hätten die Meeresgötter selbst ihn gezeugt. Morgen schon würde er in seinem Tailawaka auf die offene See hinausfahren. Er stieg auf den höchsten Felsen der Insel und sah zu, wie die Wellen aus der Ferne heranrollten und eine nach der anderen weiß gekräuselte Falten warfen. Wasservögel umsegelten die Küste, und bei ihrem Anblick musste er unweigerlich an Ussula denken, deren Figur ebenso leicht und anmutig wirkte wie ein Vogel im Flug. Es fühlte sich an, als wäre sein Herz seit Millionen von Jahren dem Ansturm der Wellen ausgesetzt und kurz davor zu bersten.

Als es dunkel wurde, versteckten sich die jungen Frauen und Mädchen, die ein Auge auf Atile’i geworfen hatten, dem Brauch gemäß im Wildgras entlang des Weges und lauerten ihm auf. Es war, als müsse er sich bloß einem Grasbüschel nähern, und schon wurde er abgefangen. Jedes Mal hoffte er insgeheim, dass es Ussula sein möge, die ihn dahinter erwartete, doch ein ums andere Mal wurde seine Hoffnung enttäuscht. Wieder und wieder machte Atile’i Liebe mit den Mädchen im Gras. Es war das Einzige, was von ihm auf der Insel zurückbleiben durfte. Wenn einen ein Wayowayo-Mädchen ins Gras zog, musste man mit ihm Liebe machen, alles andere wäre unanständig. Es war eine moralische Pflicht und zugleich eine Chance, der Insel ein Kind zu hinterlassen.

Nur in der letzten Nacht, bevor ein Zweitgeborener seine Reise antrat, durften die Wayowayo-Mädchen die Sache selbst in die Hand nehmen und dem Mann ihrer Wahl auflauern. Auf seinem Weg hin zum Wildgras bei Ussulas Haus machte Atile’i mit aller Kraft Liebe – nicht, weil er es genoss, sondern um zu Ussulas Haus zu gelangen, bevor der Morgen anbrach. Sein Gefühl sagte ihm, dass sie dort auf ihn wartete. Die anderen Mädchen spürten, dass Atile’i es eilig hatte weiterzukommen, sobald er in sie eingedrungen war, und sie fragten ihn verletzt:

»Atile’i, warum liebst du mich nicht?«

»Du weißt doch, gegen das Meer sind Gefühle machtlos.«

Erst, als der Himmel bereits so hell schimmerte wie der Bauch eines Fisches, näherte Atile’i sich endlich Ussulas Haus. Eine Hand zog ihn sanft ins Gras. Atile’i zitterte wie ein Meeresvogel, der an einen Felsen gekauert vor einem Unwetter Schutz sucht. Er hatte Mühe, eine Erektion zu bekommen. Nicht, weil er erschöpft gewesen wäre, sondern weil sein Herz sich seit dem Blick in Ussulas Augen anfühlte, als wäre eine Nesselqualle darüber gestreift.

»Atile’i, warum liebst du mich nicht?«

»Wer sagt das? Gegen das Meer sind Gefühle machtlos!«

Sie lagen sich lange in den Armen. Atile’i hatte die Augen geschlossen, doch es kam ihm vor, als schwebte er in großer Höhe und blickte herab auf den endlos weiten Ozean. Allmählich kehrte das Leben zurück in seinen Körper. Atile’i versuchte zu vergessen, dass er bald schon aufs Meer hinausfahren musste, und konzentrierte sich ganz darauf, Ussulas Körperwärme nachzuspüren, solange er in ihr war. Sobald es hell wurde, würden alle im Dorf zum Hafen kommen, um ihn zu verabschieden. Bis auf den Meereskundigen und den Erdenweisen wusste niemand, dass auch die Seelen aller vergangenen Zweitgeborenen in dieser Nacht auf die Insel zurückgekehrt waren, um dem glitzernden Atile’i, der aussah wie ein Abkömmling der Meeresgötter selbst, Geleit zu geben, wenn er mit seinem eigens gebauten Tailawaka und der »Sprechenden Flöte«, die Ussula ihm geschenkt hatte, die Reise zum gemeinsamen Schicksal aller Zweitgeborenen antrat.

3. Nacht um Alice

Als Alice an diesem Morgen aufwachte, beschloss sie zu sterben.

Tatsächlich hatte sie längst alles geregelt, was es vor einem Selbstmord zu regeln galt. Oder anders ausgedrückt: Es gab nichts mehr, das sie daran hinderte. Sie hatte nichts mehr zu vergeben, war niemandem mehr etwas schuldig. Sie war einfach nur noch eine Frau auf der Suche nach dem Tod, lebensmüde und ohne nennenswerten Besitz.

Aber Alice war auch stur. Und sie war niemand, der die Menschen, die ihr etwas bedeuteten, im Stich ließ. Es gab nicht viele Menschen auf der Welt, die ihr etwas bedeuteten, bloß Toto und die Studentinnen und Studenten, deren Träume auf ihr lasteten. Sie hatte einmal eine glasklare Vorstellung davon besessen, was sie sich für die eigene Zukunft wünschte, doch nun war alles verwaschen und trüb.

Als Erstes hatte Alice ihre Kündigung eingereicht. Als sie die Karte abgab, die sie als Fakultätsmitglied auswies, war ihr, als fiele eine schwere Last von ihr ab. Doch es war kein gewöhnliches Aufatmen, vielmehr glich es der Erleichterung nach einem Leben randvoll mit Schmerz und Leid: Endlich war es vorüber – mochte das nächste Leben ein besseres sein.

Alice hatte ein Literaturstudium absolviert, um ihren Traum, Schriftstellerin zu werden, zu verwirklichen. Danach hatte sie problemlos eine Dozentenstelle an der Uni bekommen. Mit ihrem zarten, sensibel anmutenden Äußeren schien sie perfekt dem stereotypen Bild einer Literatin zu entsprechen, das in der eher konservativen Gesellschaft noch immer vorherrschte. Nicht wenige hatten ihr diesen bodenständigsten aller Wege, eine literarische Karriere zu beschreiten, geneidet. Doch nur Alice wusste, dass sie seither meist nicht einmal dazu gekommen war, aus der Ferne literarische Luft zu schnuppern, von eigenen Werken ganz zu schweigen. Ihr Deputat und ihre Forschungsaufgaben ließen keine Zeit zum Schreiben übrig. Wenn sie im Büro das Licht ausschaltete und nach Hause fuhr, dämmerte am Himmel meistens schon das erste Morgenlicht.

Sie hatte sich dafür entschieden, die Bücher und den sonstigen Inhalt ihres Büros an ihre Studenten zu verschenken. Sie hatte sich, möglichst unsentimental, jeweils mit einem gemeinsamen Mittagessen von den einzelnen Masterstudenten verabschiedet, die sie betreute, um ihnen ein letztes Mal in die Augen zu sehen.

Wie jung sie doch sind, dachte sie.

In ihrer kindlichen Naivität glaubten sie noch daran, dass ihr Leben sie an einen erhabenen Ort voller Geheimnisse geführt hatte, dabei war nichts dahinter, bloß ein hohles, mit lauter Gerümpel vollgestelltes Kellerabteil. Sie bemühte sich, einen letzten Rest von Wärme in ihren Blick zu legen, so zu tun, als hörte sie aufmerksam und interessiert zu. Dabei war kaum mehr als ihre irdische Hülle zugegen, in die Luft hinein- und wieder hinausströmte. Mit Alice zu sprechen war, als ob man Steine in ein leeres Haus warf, das nicht einmal mehr Fenster hatte. Wenn sich hin und wieder etwas in ihr regte, war es meistens eine Erinnerung an Toto oder die Frage, wie sie sich das Leben nehmen sollte. Dabei war das Nachgrübeln über Letzteres ziemlich albern, fand sie. Immerhin hatte sie den Ozean direkt vor der Haustür, oder etwa nicht?

Von ihren Kollegen verabschiedete sie sich so stillschweigend wie möglich, um im Gespräch nicht versehentlich ihren abgrundtiefen Zynismus zu offenbaren. Als sie mit dem Auto ein letztes Mal aus der Stadt heraus und durch die umgebenden Siedlungen fuhr, fiel ihr plötzlich auf, dass die Szenerie sich in den zehn Jahren, die sie hier bereits lebte, äußerlich nicht groß verändert hatte. Und doch war der Anblick der Talebene mit ihren kleinen Ortschaften, der sie einst angezogen hatte, nicht mehr derselbe. Die riesigen Blätter der Bäume, die von einem Moment auf den nächsten aufziehenden Wolken, die Wellblechdächer auf den Wellblechhäusern, der Fluss, der gleich hinter der nächsten Biegung auftauchen würde und so gut wie kein Wasser mehr führte, die grellbunten, geschmacklosen Werbetafeln … All die Dinge, die ihr einst freundlich und vertraut erschienen waren, wirkten nun welk und unwirklich, hatten nach und nach jeden Bezug zu ihr verloren. Sie erinnerte sich an ihr erstes Jahr hier im Osten der Insel. Damals war die üppige Vegetation entlang der Straße den Menschen noch ganz nah gewesen. Jetzt hatte die Straße Berge und Meer in weite Ferne gerückt.

Dieses Land hat einmal den Ureinwohnern gehört, dachte Alice. Dann waren die Japaner gekommen, dann die Han-Chinesen und schließlich die Touristen. Schwer zu sagen, wem es jetzt gehörte. Wahrscheinlich wohl den Leuten, die sich allenthalben »Bauernhäuser« auf ihr frisch gekauftes Stück Ackerland gesetzt, einen fettwanstigen, hohlköpfigen Gouverneur ins Amt gewählt und zu guter Letzt auch noch die neue Schnellstraße durchgesetzt hatten. Seit ihrem Ausbau wurden Küste und Tal übersät mit einer Vielzahl exotischer Gebäude, eines weniger authentisch als das andere, beinahe so, als hätte jemand aus Spaß eine Art »Weltkulturdorf« errichtet, dessen wohlbetuchte Einwohner sich allerdings bloß in den Ferien hier blicken ließen. Überall brachliegender Boden und leerstehende Häuser. Der Landkreis H sei das »Reine Land« der Insel – die wenigen Kulturschaffenden vor Ort bedienten sich mit Vorliebe abgehalfterter Phrasen wie dieser, um ihren billigen Lokalpatriotismus zur Schau zu stellen. Alice musste dann immer an den Zustand von Hs Kulturdenkmälern sowie seiner öffentlichen Infrastruktur denken: Bis auf eine kleine Zahl indigener Vorführgebäude und einiger weniger Überbleibsel aus der japanischen Kolonialzeit, die man zu Ausstellungszwecken unterhielt, schienen alle menschengemachten Beiträge zur Szenerie bewusst darauf ausgerichtet, das Landschaftsbild zu zerstören.

Einmal, als während der Essenspause bei einer Tagung einer ihrer Kollegen, Professor Wang, wieder einmal scheinheilig davon schwadronierte, dass »die Erde in H nicht an den Menschen kleben bleibt, sondern die Menschen an ihr«, hatte Alice die Beherrschung verloren: »Und was kommt dabei raus? Lauter wild zusammengewürfelte, falsche ›Bauernhäuser‹ und gekünstelte Pensionen mit künstlichen Zierbäumchen davor. Die Leute, die daran kleben bleiben, sind mindestens genauso künstlich. Was soll das bringen?«

Professor Wang war so perplex, dass er einen Moment lang ganz vergaß, die arrogante Indignation des Senior-Professors raushängen zu lassen, mit der er für gewöhnlich den Einwürfen jüngerer Kollegen begegnete. Mit seinen dreieckigen Augen, den grau melierten Haaren und dem ölglänzenden Gesicht wirkte er eher wie ein Geschäftsmann. Wobei Alice, wenn sie ehrlich war, inzwischen oft große Mühe hatte, den Unterschied zwischen diesen beiden Professionen zu benennen. Er brauchte eine Weile, bis er sich fasste und fragte: »Was wäre Ihrer Ansicht nach denn authentisch? Was ist überhaupt noch echt?«

Was ist noch echt? Diese Frage ging Alice während der Fahrt nicht mehr aus dem Kopf.

Es war April und überall lag der Geruch feuchter Lethargie in der Luft, ein Geruch wie von Geschlechtsverkehr. Wenn sie nach rechts sah, blickte sie ins Hochgebirge: das taiwanische Zentralmassiv, das prägende Merkmal der Insel. Bis heute musste sie hin und wieder – nein, jeden Tag – daran denken, wie Toto damals seinen Kopf aus dem Autofenster gereckt hatte. Er trug eine tarnfarbene Baseball-Mütze, sah aus wie ein kleiner Soldat. In ihrer Erinnerung hatte er manchmal eine Windjacke an, manchmal auch nicht. Manchmal winkte er, manchmal ließ er es. Aber mit Sicherheit drückten seine Füße kleine Mulden in den Autositz. Es war Alices letzte Erinnerung an Toto und Thom.

Als der Kontakt zu ihnen abgerissen war, hatte Alice als Erstes Daho angerufen. Daho war einer von Thoms Bergsteigerfreunden und außerdem Mitglied bei der Bergrettung. Kaum jemand kannte das umliegende Gebirge so gut wie er.

»Es ist alles Thoms Schuld!« Sie hatte Daho regelrecht angeschrien.

»Mach dir keine Sorgen. Solange sie in den Bergen sind, finde ich sie«, hatte er sie zu beruhigen versucht.

Thom stammte aus Dänemark, einem Land, so flach, dass es nicht einen echten Berg besaß. Kurz nach seiner Ankunft in Taiwan hatte er mit dem Bergsteigen begonnen, und nachdem er mit Daho zusammen schließlich auch die anspruchsvolleren Routen allesamt durchgestiegen war, hatte er im Ausland weiter Alpinismus trainiert, um die Siebentausender der Welt in Angriff zu nehmen. Seitdem war Taiwan für ihn bloß ein Ort gewesen, wo er ab und zu Halt machte. Alice hatte gespürt, wie sie von Tag zu Tag älter wurde, keine Kraft mehr hatte für ein Leben, in dem sie jederzeit darauf gefasst sein musste, dass Thom eines Tages nicht mehr heimkam. Ganz abgesehen davon, dass Thom, wenn er denn mal zu Hause gewesen war, auch bloß mit abwesendem Blick herumgesessen und irgendwohin in weite Ferne gestarrt hatte.

Wahrscheinlich war das der Grund, warum Alice seit einiger Zeit zuallererst an Toto dachte, gefolgt von Daho und dann erst an Thom. Nein, eigentlich dachte sie fast gar nicht mehr an ihn. Er hatte sich und sein Wissen über die Berge dermaßen überschätzt, fast als hätte er vergessen, dass er aus einem vollkommen flachen Land kam. Was hatte er sich dabei gedacht? Wie konnte er Toto einfach mit in die Berge nehmen und nicht mehr zurückbringen? Sie malte sich oft aus, was gewesen wäre, wenn sich Thom an jenem Tag unwohl gefühlt hätte, wenn er vergessen hätte, das Auto aufzuladen, oder schlicht verschlafen hätte … Dann wäre jetzt alles anders.

»Mach dir keine Sorgen, wir gehen bloß Insekten sammeln. Da, wo wir hingehen, ist es völlig ungefährlich. Gar kein Problem.« Thom hatte versucht, sie zu beruhigen, doch Alice hatte den Unwillen gespürt, der sich in seiner Stimme verbarg. »Außerdem ist es eine Route, die absolut jeder hier kennt.«

Die meisten Leute glaubten ihr nicht, dass Toto mit gerade mal zehn Jahren bereits äußerst versiert im Klettern und Bergsteigen war. Außerdem wusste er wahrscheinlich mehr über Gebirgswälder als die meisten Uniabsolventen mit einschlägigem Studium. Toto war nun mal ein Kind der Berge. Sie hatte sich sehr zurückgenommen und nicht versucht, ihn von dem, was er liebte, fernzuhalten.

Vielleicht war es, wie Daho gesagt hatte: »Schicksalsmomente geschehen, weil es Schicksalsmomente sind. Sie sind in Bewegung, wie der Pfeil auf der Suche nach dem Wildschwein.«

Daho war ein guter Freund, von Alice und von Thom. Er war Taxifahrer, Bergretter, Hobbybildhauer, Waldschützer und ehrenamtlicher Mitarbeiter mehrerer Nichtregierungsorganisationen entlang der Ostküste. Wie alle Bunun war auch Daho eher klein und stämmig gebaut, besaß dafür jedoch einen nahezu unwiderstehlich intensiven Blick. Man durfte ihm auf keinen Fall direkt in die Augen sehen, wenn man sich mit ihm unterhielt, sonst konnte man sich leicht einbilden, dass er in einen verliebt sei – oder man verliebte sich aus Versehen selbst in ihn.

Vor ein paar Jahren hatte Dahos Frau ihn verlassen. Zurück blieb nur die gemeinsame Tochter Umav sowie eine handgeschriebene Nachricht, in der sie, anstatt sich zu erklären, bloß auflistete, wie viel Geld sie abgehoben und welche Dinge sie mitgenommen hatte. Darunter stand in extragroßen Schriftzeichen: Das steht mir zu. Umav war lediglich ein weiterer Eintrag in der Liste der Besitztümer, die sie Daho zugeschrieben hatte, als vermachte sie ihm ein Haustier.

Eine Zeit lang hatte Daho Umav wohlgemeint hin und wieder ein paar Tage bei Alice wohnen lassen, aber es hatte sich bald gezeigt, dass sich Alices Trauer so nicht lindern ließ. Im Gegenteil, es führte dazu, dass sich die Melancholie bei beiden nur noch vertiefte. Es kam vor, dass Alice wie aus einer tiefen Trance aufwachte, nur um festzustellen, dass sie den ganzen Nachmittag über nicht ein Wort mit Umav gewechselt hatte. Umav saß die meiste Zeit bloß da und blickte unruhig aufs Meer hinaus. Dabei fixierte sie ihren Pony unaufhörlich mit einer Haarspange, löste die Spange wieder, steckte sie erneut fest, löste sie wieder, steckte sie wieder fest, und so fort, als wäre ihr Haar kaum zu bändigen und müsse immer wieder neu in Form gebracht werden. Schließlich bat Alice Daho ganz offen, Umav nicht mehr vorbeizuschicken, und seitdem die Suchaktion ergebnislos eingestellt worden war, ging sie auch nicht mehr ans Telefon, wenn er anrief, um sich in regelmäßigem Abstand nach ihrem Wohlergehen zu erkundigen.

Alice hatte beschlossen, zu einer lebenden Mauer zu werden. Das Einzige, auf das sie sich noch freute, war der Schlaf. Mit geschlossenen Augen konnte man in Wirklichkeit mehr sehen. Zunächst versuchte sie, vor dem Zubettgehen zu meditieren und bewusst an Toto zu denken, damit er ihr im Traum begegnete; später tat sie alles, um das zu vermeiden – nur um festzustellen, dass es noch viel mehr wehtat, wenn die Träume ausblieben, als wenn er ihr im Traum erschien. Die Qual der nach dem Erwachen immer wieder neu über sie hereinbrechenden Erkenntnis, dass Toto nicht da war und sie bloß von ihm geträumt hatte, nahm sie in Kauf. Es kam vor, dass sie nachts wach wurde und mit einer Taschenlampe in der Hand leise über den Flur zu Totos Zimmer ging, um nach dem fehlenden Umriss seines schlafenden Körpers zu sehen und sich zu vergewissern, dass er ruhig und gleichmäßig atmete.

Die Erinnerung ist wie ein wohltrainierter Boxer, ihre Schläge treffen so blitzschnell, dass es hoffnungslos ist, ihnen ausweichen zu wollen. Manchmal wünschte sie fast, sie hätte noch sexuelle Gelüste, denn wie jeder, der einmal jung war, wusste auch sie, dass Sex das beste Antidepressivum ist, das es gibt. Sex nimmt der Erinnerung ihre Kraft, hält uns im Hier und Jetzt. Doch der Thom, dem sie in ihren Träumen begegnete, entfachte keinerlei Lust mehr in ihr: In der rechten Hand hielt er stets einen Kletterhammer, während sein linker Arm zu Fels geworden war; mit dem Hammer hieb er wie besessen auf seinen versteinerten Arm ein, ohne ein Wort zu sagen.

Jedes Mal, wenn sie so eine Traumbotschaft erhalten hatte, rief sie umgehend bei der Polizei an und fragte, ob es Neuigkeiten in Bezug auf Toto gab. »Leider nein, Frau Professorin. Wir hätten Sie sonst gleich informiert.« Sie spürte, wie aus der Hilfsbereitschaft der Polizisten Mitleid wurde, welches ebenfalls nach und nach erlosch. Inzwischen waren ihre Anrufe nur mehr Teil des Jobs. Manchmal hörte sie in der ruhigen, sachlichen Stimme der Polizisten versteckte Abscheu. »Meine Güte, schon wieder diese Frau!« Alice war sich sicher, dass nach dem Auflegen auf der Wache Worte wie diese fielen.

Zwar war der April wie immer völlig verregnet, aber dieses Jahr kam eine ungewöhnliche Hitze hinzu. Unter den Straßenlaternen auf dem Universitätscampus sah man lauter Maikäfer, die sich bewusstlos gestoßen hatten und nun hilflos auf dem Rücken lagen. Ein Käfer hatte sich hinter die Windschutzscheibe von Alices Auto verirrt, und obwohl sie während der ganzen Fahrt extra die Fenster unten ließ, wollte er den Weg nach draußen einfach nicht finden. Wieder und wieder stieß er gegen das Glas. Seine gespreizten Deckflügel glitzerten mattblau.

Die letzten Monate hatten Alice gezeigt, wie sehr sie Toto gebraucht hatte. Ihm zuliebe hatte sie darauf geachtet, morgens zu frühstücken, abends zeitig ins Bett zu gehen, hatte an ihren Kochkünsten gearbeitet. Sie hatte sich Vorsicht antrainiert, denn ihre eigene Sicherheit war gleichbedeutend gewesen mit der ihres Kindes. Wegen ihm hatte sie in ständiger Angst vor den Scheißkerlen gelebt, die sich betrunken hinters Steuer setzen und ihn und sein warmes, kindliches Gesicht womöglich auf dem Fußgängerstreifen zerschmettern könnten, wenn er draußen unterwegs war. Sie hatte sich gesorgt, dass andere Kinder in seiner Klasse oder gar die Lehrer böse zu ihm sein könnten, schließlich sind es oft ausgerechnet die Menschen im engsten Kontakt mit unseren Kindern, die sich zuweilen unfassbar boshaft zeigen. Alice erinnerte sich, wie sie und ihre Freundinnen früher zusammen ein Mädchen aus ihrer Klasse gehänselt hatten, dessen Kleidung einfach nie sauber zu werden schien; wie sie sie täglich ausgelacht, veralbert, beim Mittagessen mit Bratensoße beschmiert und ihre ohnehin schon schmutzigen Sachen noch dreckiger gemacht hatten, wohl um die Reinheit der eigenen Kleider noch stärker hervorzuheben.

Der Wagen passierte eine Brücke, die vor ein paar Jahren von einem Hochwasser mitgerissen und daraufhin drei Kilometer näher an den Bergen neu errichtet worden war. Ein lautes Hupen holte Alices Aufmerksamkeit zurück auf die Straße. Einige Minuten später fuhr sie entlang des einst für seine Schönheit berühmten Küstenstreifens von H. Schon vor vielen Jahren hatte ein Firmenkonsortium dort den Gutteil eines Bergs einfach abgetragen, die Fläche zubetoniert und darauf einen Erlebnispark errichtet. Vom korrupten Gouverneur des Landkreises gedeckt, hatte man sich danach noch weiter am umliegenden Berghang zu schaffen gemacht, bis vor neun Jahren ein größeres Erdbeben das Gelände so stark verformte, dass der Betrieb des Parks eingestellt werden musste. Die Betreiberfirma entzog sich jeder Verantwortung, indem sie Insolvenz anmeldete. Hinzu kam seit einigen Jahren der deutliche Anstieg des Meeresspiegels und die sich landeinwärts verschiebende Küstenlinie. Die verschwommenen Umrisse des Riesenrades und der Sesselliftstützen wirkten einsam und hilflos. Auf den großen Felsbrocken, die nicht weit entfernt in der Brandung lagen (und früher Teil des Berghangs gewesen sein mussten), saßen Angler und warteten darauf, dass etwas anbiss. Ihre Boote hatten sie an einem der Pfeiler des Sessellifts vertäut. Die jetzt deutlich höher liegende Schnellstraße hatte man verharmlosend »Neue Küstenstraße« getauft.

Als Alice sich dem kleinen, markanten Häuschen näherte, in dem sie wohnte, fielen durch den feinen Nieselregen hindurch eben ein paar Sonnenstrahlen auf die Erde. Es regnete zwar weiterhin, aber verglichen mit dem Dauerregen der letzten Wochen ging das bereits als Gutwettertag durch.

Ihr Haus hatte schon immer am Meer gelegen, doch Alice vermochte nicht zu sagen, seit wann das Meer so nahe herangerückt war.

Sie schloss die sinnlos gewordene Haustür auf und blickte sich um. Das Sofa, das Wandbild, das sie und Thom gemeinsam gemalt hatten, die Deckenlampe von Michele De Lucchi, die einst wohlgenährten, inzwischen jedoch längst verdorrten Topfpflanzen … Jeden Gegenstand im Haus hatten sie und Thom gemeinsam ausgewählt. Und die Mulde im Kopfkissen, die kleinen Handtücher im Bad, die Kinderzeichnungen an der Wand, sie alle zeugten von Totos Existenz.

Während sie sich so ein letztes Mal umsah, fiel Alice auf, dass sie das Aquarium vergessen hatte. Die Fische nach ihrem eigenen Ableben einfach stumm und hilflos auf ihr Ende warten zu lassen, brachte sie nicht über sich. Auf dem Sofa sitzend dachte sie eine Weile nach, bis ihr Mickey einfiel, einer ihrer Studenten. Er interessierte sich für Aquarien und würde es ihr vielleicht abnehmen. Als sie sich daranmachen wollte, den Gedanken in die Tat umzusetzen, erinnerte sie sich, dass sie kein Handy mehr hatte. Festnetz und Internet hatte sie ebenfalls schon gekündigt. Sie überlegte kurz, dann beschloss sie, noch einmal in die Universität zu fahren. Die Fische und das Wassergras würde sie Mickey aufdrängen, und falls er am Aquarium selbst interessiert war, konnte er es natürlich auch mitnehmen. Als sie sich auf den Weg machte, zeigte die Ladeanzeige des Autos nur noch Strom für dreißig Kilometer an.

Vom Büro der Fakultät aus meldete sie sich bei Mickey. Kurz darauf erschien er, mit einem Mädchen im Schlepptau. Sie stiegen zu Alice ins Auto. Mickey hatte den Körperbau eines Athleten, doch sein Blick war zurückhaltend, fast ein wenig unterwürfig. Alices Erfahrung sagte ihr, dass er ein typischer Vertreter der Sorte von Studenten war, die eine große Leidenschaft für Literatur mitbrachten, aber keinerlei literarisches Talent. Mickey stellte ihr seine Freundin Jessie vor. Ihr Blick hatte etwas Schelmisches, sie war weder besonders zierlich noch besonders kräftig, von Kopf bis Fuß mit Schmuck behängt, hatte schöne weiße Haut und ein recht niedliches Lächeln, unterschied sich also alles in allem kaum von jedem anderen Mädchen ihres Alters. Sie trug extrem enge, schwarze Jeans. Sie habe schon zwei Seminare bei Alice belegt, erzählte sie. Merkwürdigerweise war sie Alice zugleich völlig entfallen und irgendwie vertraut. Die restliche Fahrt lang herrschte peinliche Stille. Mickey und Jessie taten, als betrachteten sie die Landschaft, und wagten keinen erneuten Konversationsversuch.

Zu dritt durchquerten sie schweigend den Garten und betraten das Haus. Als Mickey das Aquarium sah, war seine Begeisterung nicht zu überhören. Er kniete sich vor das Glasbecken und rief: »Sind das etwa Ku-Fische?«

»Ja.« Einem von Dahos Freunden war es vor einigen Jahren gelungen, sie nachzuzüchten. Die meisten hatte er ausgesetzt, aber ein paar von ihnen hatte er Toto geschenkt.

»Wow! Die findet man in freier Wildbahn so gut wie gar nicht mehr! Darf ich den Schrank aufmachen?«

»Natürlich.«

Mickey öffnete den Armaturenschrank, auf dem das Aquarium stand, und staunte: »O Mann! Das hat ja sogar Kühlung und Säureregulation!«

»Kannst du alles haben.« Alice fand die andauernden Begeisterungsausbrüche des jungen Mannes ziemlich anstrengend.

Nachdem Mickey sich noch einmal vergewissert hatte, dass Alice es wirklich ernst meinte, rief er einen Freund an, und kurze Zeit später erschienen drei kräftige Kommilitonen in einem SUV. Mit vereinten Kräften machten sie sich daran, das Aquarium samt Zubehör ins Auto zu laden. Alice fiel Jessie auf, die unterdessen stumm den digitalen Fotorahmen betrachtete und sich die Bücher im Regal ansah.

»Wenn dir welche gefallen, kannst du sie mitnehmen.«

»Echt?«

»So viele wie du willst.« Jessie entschied sich schließlich für die dänische Ausgabe einer Kurzgeschichtensammlung von Isak Dinesen. »Du kannst Dänisch?«, fragte Alice überrascht.

»Nee, ist bloß als Andenken. Das Schriftbild sieht so anders aus.«

Als alles verstaut und bereit zur Abfahrt war, kam Jessie noch einmal auf Alice zu. »Sehen wir Sie noch mal an der Uni?«

»Eher nicht.«

»Ach so, na dann … Dürfte ich Ihnen denn vielleicht trotzdem meine Essays schicken? Wenn nicht, ist auch okay.«

Alice nickte zunächst verwirrt, schüttelte dann jedoch den Kopf. Sie erinnerte sich jetzt wieder an dieses Mädchen. Es war keinerlei Emotion damit verbunden.

Nachdem Mickey und Jessie gefahren waren, ging Alice ohne darüber nachzudenken in Totos Zimmer und legte sich auf das Bett, an dem einst ein ihr unendlich vertrauter Geruch gehaftet hatte. Jetzt brauchte sie sich nicht mehr darum zu sorgen, was aus den Fischen wurde, konnte sich ganz dem eigenen Ableben widmen. Verglichen mit dem Schicksal der Aquariumsbewohner schien ihr die Entscheidung darüber, wie sie ihr eigenes Leben beenden sollte, beinahe nebensächlich. Alice blickte hoch zur Zimmerdecke. Sie war bedeckt mit einer Karte, auf der alle Routen eingetragen waren, auf die Thom Toto mitgenommen hatte. Die beiden hatten die Karte zusammen gemalt. Während sie in der Küche das Essen zubereitete, hatten Vater und Sohn sich oft in Totos Zimmer zurückgezogen und verschwörerisch ihre Pläne geschmiedet. Das Bergsteigen gehörte ihnen allein. In all den Jahren hatte Thom es nicht geschafft, Alice zu bekehren, sie hatte sich bis zuletzt standhaft geweigert, auch nur einen Fuß in die Berge zu setzen. »Jeder Mensch hat ein Recht darauf, nicht alles mitzumachen«, befand sie.

Ihre erste Bergerfahrung würde Alice nie vergessen. Dabei war »Berg« eigentlich schon zu viel gesagt, es war bloß ein Freizeitwanderweg in den Hügeln rings um Taipeh, den man »Palaststeig« getauft hatte. Sie studierte damals noch, und ständig wurden irgendwelche Kennenlernaktivitäten organisiert. Ein paar Kommilitoninnen hatten sie genötigt mitzukommen, dabei war sie noch nie besonders sportlich gewesen. Die erste Hälfte des Weges war gar nicht so schlimm, aber nachdem sie einen kleinen Tempel passiert hatten, musste man sich plötzlich mithilfe von Seilen und Bäumen den Hang hochkämpfen, nur um am Ende auf einem schmalen Felsgrat zu landen, der auf beiden Seiten völlig ungesichert war. Sie traute sich nicht Nein zu sagen, als die anderen sie zum Weitergehen ermutigten, und zwang sich noch ein paar Minuten weiter voran, Angstschweiß auf der Stirn. Doch anders als die übrigen Mädchen kreischte sie nicht herum, bis eine rettende Jungenhand zur Hilfe kam, sondern brach stumm in Tränen aus. Warum war sie bloß mitgekommen? Ein sanft und gebildet aussehender, aber in Wirklichkeit ziemlich hohler Typ (davon hatte sie sich bei der Mitfahrt auf seinem Motorroller überzeugen können) bot ihr seine Hand an, doch Alice ergriff sie nicht. Stattdessen machte sie halb laufend, halb hockend kehrt und lief alleine den Weg zurück, den sie gekommen waren. Von da an hatte sie sich geweigert, jemals wieder einen Berg zu besteigen.

Die Karte an der Decke war mit farbigen Fähnchen übersät. Rot und blau markierte Wanderwege zogen sich kreuz und quer durch die Landschaft. Alice hatte keine Ahnung, was die Farben bedeuteten und welche ihr unbekannten Anblicke sich dahinter verbargen. Wie waren die beiden bloß auf diese verrückte Idee gekommen, in die sie so viel Zeit investiert hatten? Ihr Blick folgte den verschiedenen Routen. Obwohl sie selbst keinen Berg mehr bestieg, hatte sie doch oft mit Toto zusammen die Karte studiert und neue Touren geplant, als wäre alles bloß ein Spiel … Alice kannte die Karte in- und auswendig, aber einige der Routen kamen ihr stets irgendwie verkehrt vor. Was genau mit ihnen nicht stimmte, vermochte sie noch immer nicht in Worte zu fassen. Auf dem Bett liegend betrachtete sie die Karte eingehend, bis das Bild nach einer Weile vor ihren Augen zu verschwimmen begann. Draußen wurde es langsam dunkel und die Routen an der Decke verblassten zusehends. Alice dachte an Toto, wie er auf einem Turm aus Barhockern sitzend oder direkt auf Thoms Schultern balancierend an der Karte arbeitete. Dann endlich – sie hatte längst jedes Zeitgefühl verloren – glitt sie aus dem Strom der Erinnerungen hinab in einen tiefen Schlaf.

Sie wusste nicht, wie lang sie geschlafen hatte, als die Erde plötzlich zu beben begann, stark genug, um bei jedem auf der Stelle Kindheitserinnerungen zu wecken. Alice döste jedoch noch ein Weilchen weiter. Sie lebte schon lange in H und Erdbeben waren hier nichts Ungewöhnliches, sie hatte schon stärkere erlebt. Doch als das Beben nach einer Minute noch immer nicht vorbei war und sogar noch intensiver zu werden schien, richtete ihr Körper sich dennoch reflexartig im Bett auf. Ihr Fluchtinstinkt drängte sie, sich Deckung zu suchen oder ins Freie zu flüchten. Doch dann ging ihr die Absurdität des Ganzen auf und sie musste laut lachen. Was scherte sich eine angehende Selbstmörderin darum, auf welche Art der Tod sie fand? Sie legte sich wieder hin. Von weit her drang ein gedämpftes und doch gewaltiges Rumoren an ihr Ohr. Ein Geräusch, als gerieten die Berge selbst in Bewegung. Es erinnerte sie an das große Erdbeben, das sie als Kind miterlebt hatte. Dabei war zwar keiner ihrer nahen Verwandten umgekommen, doch das Beben hatte ihre Schule zum Einsturz gebracht. Frau Lin, die Naturkundelehrerin, die immer sehr lieb zu Alice gewesen war, und der Junge mit der dicken Glubschaugenbrille, der im Unterricht oft neben ihr gesessen und seine Süßigkeiten mit ihr geteilt hatte – sie beide hatten bei dem Beben ihr Leben verloren. Am Tag zuvor hatte der Junge Alice auf dem Nachhauseweg noch fünf von seinen Seidenraupen geschenkt. Am fünften Tag nach dem Erdbeben stießen die Raupen allesamt dünne, schwarze Exkrementfäden aus und verendeten. Wahrscheinlich hatten sie verunreinigte Maulbeerblätter gefressen. Ihre toten Raupenkörper wurden ganz trocken und verschrumpelt. Das war es, woran sie sich am meisten erinnerte. Ein Erdbeben traumatisiert, auch, wenn das eigene Leben verschont bleibt. Es reicht, dass es Dinge um einen herum fortreißt. Oder sie trocken und schrumpelig werden lässt.

Das gewaltige Rumpeln hielt noch mehrere Minuten lang an, dann senkte sich wieder absolute Stille über alles. Alice war so erschöpft, dass sie – zum eigenen Erstaunen – erneut bleischwere Müdigkeit überkam. Die Dämmerung war noch nicht angebrochen, als sie das nächste Mal erwachte. Das unermüdliche, rhythmische Rauschen des Meeres war zu hören. Alice stand auf und ging ans Fenster. Es war, als stünde sie auf einer einsamen Insel mitten im Ozean, umspült von unendlich feiner Gischt, welche die Wellen, eine nach der anderen, stur und unbeirrbar aus der Ferne herbeitrugen und an Land warfen.

Zweiter Teil

Zweimal am Tag sperrten die Gezeiten Alice ein und ließen sie erst ein paar Stunden später wieder frei. Wenn Springtide war, schlich sich das Wasser an den Entwässerungsgräben entlang sogar ganz um das Haus herum und ließ vor Alices Hintertür allerhand seltsames Treibgut zurück …

4. Atile’is Insel

Der Nebel schien aus den tiefsten Tiefen des Meeres aufzusteigen und alles ringsum zu verschlucken. Er war überall, so wie Kabang. Nach einer Weile kam es Atile’i vor, als befände er sich längst auf dem Meeresgrund. Er hatte aufgehört zu rudern. In einem Nebel wie diesem hatte rudern keinen Sinn mehr. Es war jetzt sieben Tage her, dass er Wayowayo hinter sich zurückgelassen hatte, und inzwischen war er davon überzeugt, dass Ruder gegen das offene Meer völlig machtlos waren. Er verstand nun, warum die Wayowayo eine unsichtbare Grenze um die äußersten Fanggebiete gezogen hatten, über die niemand hinausfuhr – zu groß war die Gefahr, es nicht mehr zurückzuschaffen. Es gab noch eine weitere Realität, die sich aufdrängte: Er hatte seine Essens- und Trinkwasservorräte aufgebraucht. Doch obwohl sein Verstand ihm sagte, dass seine Situation hoffnungslos war, weigerte sich sein Körper aufzugeben. Er fing an, Meerwasser zu trinken.

Gegen Mitternacht begann es zu regnen. Regen und Nebel verwischten die Schwelle zwischen Meer und Himmel. Atile’i fragte sich, ob er vielleicht schon das Meerestor passiert hatte. In den Überlieferungen der Wayowayo fand man dort, wo Regen und Nebel vergehen, ein Tor, das Tor des Meeres. Hinter diesem Tor lag die Wahre Insel, der Sitz Kabangs und seines Gefolges aus Meerestieren und Wassergeistern. Wayowayo war in Wirklichkeit lediglich ein schattenhaftes Abbild davon. Die meiste Zeit lag die Wahre Insel tief unter dem Meer, aber manchmal, in bestimmten schicksalhaften Momenten, kam sie an die Oberfläche.

Atile’i verkroch sich unter dem eigens aus Palmenblättern geflochtenen Regenschutz, doch es machte kaum einen Unterschied, denn auch darunter goss es in Strömen. »Der Fisch ist weg, der Fisch ist weg«, murmelte er vor sich hin. In der Sprachwelt der Wayowayo bedeutete das so viel wie: Gib’s auf. Er wagte es nicht, einen so blasphemischen Gedanken auszusprechen, aber in seinem Herzen fragte er sich, wie ein Gott über das Meer herrschen sollte, wenn es auf offener See doch so eindeutig schien, dass es weitaus mächtiger war als jede Gottheit. Das Meer selbst war gottgleich.

Bei Tagesanbruch stellte Atile’i fest, dass sein Tailawaka im Begriff war zu sinken. Vergeblich und doch alternativlos schöpfte er Wasser. Erst als das Boot fast vollgelaufen war, gab er es auf und begann zu schwimmen. Atile’i war der mit Abstand beste Schwimmer unter den Wayowayo seines Alters. Seine Beine waren geschmeidig wie Fischschwänze und seine Hände schienen das Meer geschwind zweizuteilen, als seien es Flossen. Doch auf offener See war ein Mensch nutzloser als eine Qualle. Selbst einer wie Atile’i. Er schwamm mit aller Macht, es kam ihm gar nicht in den Sinn, aufzugeben. Wie eine Ameise, die in einen Teich gefallen ist. Sie kennt weder Verzweiflung, noch weiß sie, was Hoffnung bedeutet. Ihr Körper wehrt sich einfach so lange, bis alle Kräfte aufgezehrt sind.

Obwohl sein Geist schon gegen Kabang gefrevelt hatte, begann sein Mund dennoch zu beten: »O allmächtiger Kabang, der Du selbst dem Meer sein Wasser nehmen könntest! Hast Du Dich auch von mir abgewendet, so flehe ich Dich dennoch an: Mach, dass meine Gebeine zu Korallen werden und zurück in die Heimat treiben. Auf dass Ussula sie aufsammeln möge.« Als sein Gebet beendet war, verlor er das Bewusstsein.

Als Atile’i zu sich kam, trieb er noch immer auf dem Meer. Ihm war, als hätte er sich im Traum einer Insel genähert, an deren Ufer eine Gruppe junger Männer auf ihn gewartet hatte.

Sie hatten allesamt traurige Augen und dort, wo ihre Hände hätten sein sollen, wuchsen ihnen Flossen. Ihre Körper waren mit dunklen Flecken übersät, so als hätten sie ihr Leben damit zugebracht, sich auf rauen Meeresfelsen hin und her zu wälzen. Als er mit seinem Tailawaka näher heran paddelte, sprach ein grauhaariger Junge ihn an: »Ein Blauflossen-Thunfisch hat uns vor ein paar Tagen gesagt, dass du kommen würdest, um dich unserem Stamm anzuschließen.« Die anderen Jünglinge verfielen unterdessen in einen traurigen Singsang, der auf- und abbrandete wie melancholische Meereswellen. Es war ein Lied, das die Wayowayo sangen, wenn sie auf See hinausfuhren. Atile’i konnte gar nicht anders, als mit einzustimmen:

Wenn Wind und Wellen

sich gegen uns stellen:

Unser Gesang hält sie ab.

Wenn Wind und Regen

sich über uns legen:

Oh, mein Mädchen,

dann musst du dich sorgen,

dass wir zu Thunfischen geworden

Zu Thunfischen geworden …

Der Gesang der jungen Männer plätscherte traurig vor sich hin wie Regen auf dem Ozean. Er hatte etwas Beruhigendes, so wie das Funkeln der Sterne die Dunkelheit tröstet. Doch dann rief ein einäugiger Junge: »Hört doch! Sein Gesang ist ganz anders als unserer. Völlig anders. Er klingt, als sei er allein auf einer einsamen Insel gestrandet.«

In diesem Moment prallte eine große Welle gegen Atile’is Boot. Er verlor das Gleichgewicht und fiel aus dem Traum heraus.

Als er erwachte, stellte Atile’i fest, dass er tatsächlich auf einer Insel gestrandet war. Sie erstreckte sich scheinbar endlos in sämtliche Richtungen und bestand aus lauter sonderbaren, ineinander verwobenen und verkeilten Gegenständen in allen nur erdenklichen Formen und Farben. Ein merkwürdiger Geruch hing in der Luft. Die Sonne war bereits aufgegangen. Wellen hatten Atile’is Kleidung und seinen Schmuck fortgerissen und ihn fast komplett entblößt. Doch der Verlust des Chicha-Biers, das Ussula ihm mitgegeben hatte, schmerzte ihn weit mehr. Beim Gedanken daran merkte er, wie trocken sein Mund war. Zum Glück hatte er die Sprechende Flöte noch, denn irgendwie war es ihm gelungen, sie selbst im bewusstlosen Zustand fest zu umklammern.

Das muss die Totenwelt sein, dachte Atile’i. Er lief etwas umher. Große Teile der Insel schienen nicht sehr stabil zu sein, an manchen Stellen gab der Boden plötzlich nach wie eine Fallgrube. Und es gab mit Meerwasser gefüllte Senken, die mehrere Mannslängen tief waren.

Ein rundes, bunt glänzendes Objekt erregte Atile’is Aufmerksamkeit. Wenn er es in einem bestimmten Winkel zur Sonne hielt, strahlte es blendend hell auf, und wenn er es vor sich hielt, erschien darin ein dunkles, mit Flecken und Schürfwunden übersätes Gesicht. Wie war es möglich, dass ein so harter Gegenstand aus Wasser bestand, fragte er sich. Denn so musste es sein, wie sonst hätte er sich darin widerspiegeln können?

Es dauerte nicht lange, da fiel Atile’i auf, dass die Insel über und über mit bunten Säcken bedeckt war. Anders als bei Säcken aus Pflanzenfasern sammelte sich in diesen Säcken Wasser an. Zwar waren die meisten davon undicht und das Wasser fiel platschend heraus, sobald man sie aufhob, aber Atile’i fand nichtsdestotrotz Muscheln, Seesterne und allerhand merkwürdigen Krimskrams darin. Auf Wayowayo gab es diese Säcke ebenfalls. Die weißen Männer hätten sie zurückgelassen, sagten die Alten. Doch seit einigen Jahren begegneten sie einem auch draußen auf See. Die Insulaner benutzten die Säcke als Wasserspeicher, denn sie hielten dem Zahn der Zeit besser Stand als jedes noch so harte Gestein.

Atile’i öffnete eine Muschel und schlang sie hinunter. Er probierte etwas Wasser aus einem der Säcke. Es schmeckte schmutzig und abgestanden, war aber zweifelsohne Süßwasser. Ihm kamen vor Freude beinahe die Tränen. Wenn es Trinkwasser gab, würde er überleben. Trinkwasser bedeutete Leben.

Atile’i erkundete weiter die Insel, bis die Sonne ihren höchsten Punkt längst überschritten hatte. Er fand ein paar Krebse und Fische, die sich in diversen Gegenständen verheddert oder verklemmt hatten. Während er sie roh verspeiste, näherte sich die Sonne immer weiter dem Horizont, und ehe er sich’s versah, war es Nacht geworden. Er hatte ein paar nasse Fetzen gefunden, die an Kleidungsstücke erinnerten. Zwar waren sie viel zu weich – seine Haut war das aus Flachs gewebte Tuch gewöhnt, das es auf Wayowayo gab –, aber er brauchte sie nur zu trocknen, dann hatte er etwas zum Anziehen. Er hatte außerdem einige Flaschen aufgelesen, die so viel Auftrieb besaßen, dass sie auf dem Wasser schwammen. Atile’i faszinierten die vielen Farben, in denen sie vorkamen, vor allem aber dachte er sich, dass sie ihm sicher noch von Nutzen sein könnten, zum Beispiel um ein Boot zu bauen.

Schließlich muss das hier das Totenreich sein. Und wer weiß, was man im Totenreich so alles braucht? Er schichtete die Flaschen und ein paar andere merkwürdige Gegenstände, die ihm interessant erschienen, zu einem großen Haufen auf und betete, dass aus dem Meer kein Regen werden und die Sonne seine Funde am nächsten Tag trocknen möge.

Als die Nacht hereinbrach, kam Atile’i zu dem Schluss, dass er doch noch nicht tot sein konnte, denn der Mythologie Wayowayos zufolge schien die Sonne in der Totenwelt ein halbes Jahr lang ununterbrochen, bevor der Mond für das nächste halbe Jahr die Regentschaft übernahm. Der Zeitrhythmus hier war jedoch offensichtlich derselbe wie auf Wayowayo. Zumindest hatte sich der vergangene Tag nicht wie ein halbes Jahr angefühlt.

Auf dem Ozean ist es nachts nicht so stockfinster, wie die meisten Menschen glauben. Das Licht der Sterne und des Mondes fällt durch die Wolkendecke, und auch aus dem Meer dringt zuweilen plötzlich ein wundersames Glimmen nach oben, das einen regelrecht blenden und am Einschlafen hindern kann. Am Rand der Insel sitzend blickte Atile’i staunend auf das geheimnisvolle Schauspiel hinab und fragte sich, was die Zukunft wohl noch für ihn bereithielt.

Als der Mond begonnen hatte sich zu neigen, spürte Atile’i plötzlich, dass er nicht allein war. Er fand sich umringt von den jungen Männern aus seinem letzten Traum, die amüsiert zusahen, wie er vor sich hin grübelte. Atile’i grüßte sie mit einer Geste, durch die man auf Wayowayo »wohlwollende Gesinnung« signalisierte – die Handflächen nach oben, die Finger leicht gekrümmt – und wollte eben fragen, da antwortete ein Jüngling mit einem klaffenden Riss quer über dem Bauch bereits:

»Du hast richtig geraten. Wir sind keine Menschen. Wir sind Geister. Vor dir versammelt stehen die Seelen aller Zweitgeborenen Wayowayos.«

»Ihr habt mich erwartet.«

»Ja.«

»Dann ist es so, wie ich vermutet habe. Das hier ist das Totenreich. Oder eine Insel auf halbem Wege dorthin.«

»Das Meer sei mit dir. Ehrlich gesagt wissen wir auch nicht, was dies für ein Ort ist. Wir lassen uns treiben, mal hierhin, mal dorthin, aber diese schwimmende Insel ist uns unbekannt. Sie war früher nicht hier«, sagte der grauhaarige Junge aus dem Traum.

»Seid ihr gekommen, um mich zu euch zu holen?«

»Nein, wir haben keine Macht über Leben und Tod. Wir warten darauf, dass du zu uns stößt, aber im Moment lebst du noch und wir können dir bloß weiter zusehen«, erklärte ein junger Mann mit einer Wunde am Brustkorb.

»Die Zweitgeborenen Wayowayos bleiben auch im Tod ein Teil des Meeres«, fügte der Junge mit den grauen Haaren hinzu. Die anderen brummten zustimmend.

Die Geister der Zweitgeborenen logen nicht. Sie betraten die Insel wirklich zum ersten Mal. »Wir haben uns vor ein paar Tagen am Seevogelfelsen getroffen, um unser neuestes Mitglied willkommen zu heißen – also dich. Da erst haben wir den Rand dieser schwimmenden Insel entdeckt. Wir waren bei deiner Abschiedszeremonie dabei und lauschten dem Gesang der Ältesten, in dem sie die Weisheit Kabangs, die Fülle Wayowayos, deinen Mut und Ussulas Schönheit priesen. In Gestalt einer Herde von Pottwalen begleiteten wir dich tagsüber auf deiner Reise, bis dein Tailawaka unterging. Du musst verstehen, wir dürfen einem Zweitgeborenen weder helfen noch schaden. Wir dürfen nur tatenlos zusehen. Deine Kraft hat uns überrascht, du bist geschwommen wie ein Fisch und einfach nicht ertrunken. Wir waren die ganze Zeit in der Nähe und sahen zu, wie eine Meeresströmung dich zu dieser Insel brachte«, berichtete der Grauhaarige, welcher der Anführer zu sein schien.

Ein stämmiger Jüngling, dem sämtliche Zähne fehlten, übernahm das Wort. Sein Mund wirkte wie ein großes, dunkles Loch: »Am Anfang kam uns diese Insel sehr seltsam vor. Wir glaubten zuerst, Kabang hätte sie für dich geschaffen. Als Falle. Oder als Prüfung.«

»Aber dann ist uns etwas aufgefallen«, fuhr Grauhaar fort.

»Was? Was ist euch aufgefallen?«

»Die Insel driftet unaufhörlich. Womöglich wird sie irgendwann weiter schwimmen, als die Geisterseelen der Wayowayo folgen können.«

»Weiter als ihr folgen könnt?«

»Ja, wir können uns nicht beliebig weit von Wayowayo entfernen. Es gibt da eine Art unsichtbare Grenze.«

»Heißt das, wenn die Insel sich über diese Grenze hinaus bewegt und ich noch lebe, könnt ihr mich nicht mehr begleiten?«

»Das Meer sei mit dir. Wenn du dann noch lebst, wird deine Seele sehr einsam sein und ganz allein auf einem Ozean treiben, der keine Grenzen mehr kennt.«

»Sollte ich dann nicht besser sofort ins Wasser springen und mich ertränken, wenn ich nur so zu euch kommen kann?«

»Das darfst du auf gar keinen Fall! Wenn ein Wayowayo sich selbst das Leben nimmt, wird er zu einer Qualle. Quallen erkennen sich nicht einmal untereinander wieder. Das willst du sicher nicht.«