0,99 €
Carlo Graf Calzego di Monte Minuto war einer der reichsten Grubenbesitzer im carrarischen Marmorgebiet. So reich, daß er sich nur noch wenig um den Bergwerksbetrieb kümmerte und sich ganz seiner einzigen, großen Liebhaberei widmete: dem Sammeln von Marmorproben. In einem eigens dafür eingerichteten Saal seines Palazzo bewahrte er eine Kollektion von mehreren tausend Täfelchen, Kuben, Kugeln und Pyramiden, die aus den verschiedensten Marmorarten der ganzen Welt gefertigt waren. Er behauptete, daß seine Sammlung vollständig sei – mit Ausnahme gewisser neuseeländischer Gesteinsarten, deren er noch nicht habhaft geworden war. Zum unbestrittenen Kanon der Weltliteratur gehört dieses Meisterwerk eines Ausnahmekünstlers mit anhaltendem und vielfältigem Einfluss auf den lesenden Menschen und die Literaturgeschichte – bis heute. Spannend und unterhaltend, vielschichtig und tiefgründig, informativ und faszinierend sind die E-Books großer Schriftsteller, Philosophen und Autoren der einzigartigen Reihe "Weltliteratur erleben!".
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2013
Theodor Däubler
Der Marmorbruch
Was war das für ein seltsamer, dichter Staub, der die Pinienstämme im Wald von Migliarino versilberte, als schiene der Mond? Wie ein metallisch glänzender Strom schlängelte sich die Straße durch die Sommernacht, und wenn ein Auto darauf vorüberglitt, brachen schwere, durchleuchtete Wolken flatternde Brandbänder ins Gebüsch und übersamteten mit ihren winzigen glitzernden Kristallen Pinienwedel und Brombeerhecken.
Mario Marin hielt sein Auto an; der Staub hatte die Scheinwerfer verschleiert und ihnen den klaren Blick genommen. Er stieg aus, putzte das Glas und wollte gerade wieder ans Steuerrad zurückkehren, als er im Licht seines Reflektors eine Gestalt erkannte, die stille zwischen den Stämmen stand. Geblendet schloß der Wanderer die Augen. Sein Gesicht zog sich in hundert Falten zusammen wie eine dicke Schnecke, die sich verscheucht in ihr Gehäuse zwängt; die vielen Runzeln seiner rostbraunen Haut drängten sich um die fleischige Nase, die fuchsigen Augenbrauen schlängelten sich unter dem ebenfalls roten Haarbusch hervor, der ihm tief in die Stirne hing, und die schwere, borstige Oberlippe klemmte sich krampfhaft unter das Nasenbein.
Als der Rotkopf seine kleinen, beweglichen Augen öffnete, erkannte ihn Mario sofort. Es war Lucidus Meccherini aus Marina Bassa.
»Sie wissen wohl nicht mehr, wer ich bin?« rief er dem nächtlichen Wanderer zu. Es fiel ihm auf, daß Lucidus heftig zusammenschrak.
»Erinnern Sie sich an den Obersten Marin?« Er nickte.
»Ich bin Mario, sein Sohn.«
Und Lucidus zeigte sich plötzlich beruhigt, trat näher, schüttelte Mario die Hand und schwätzte mit sichtlichem Wohlbehagen: »Sie sind Mario? Der kleine Mario! Gott, wie groß Sie geworden sind! Mit einem Male ein stattlicher junger Mann. Oder vielleicht doch nicht so rasch? Denn zehn Jahre sind gewiß vergangen, seit ich Sie zum letzten Mal gesehen habe. Denken Sie, zehn Jahre!«
»Und damals mag ich höchstens fünfzehn gewesen sein.«
»Ihr eigener Wagen?« fragte Lucidus, der das Auto neu gierig betrachtet hatte.
»Ja. Seit kurzer Zeit.«
»Also weit gebracht? Nicht wahr? Und was treiben Sie jetzt?«
»Ich wohne in Mailand. Bin Redakteur beim ›Secolo‹. Und wie geht es Ihnen?«
»Wie man's nimmt«, sagte Lucidus. Er schien Sorgen zu haben.
»Aber erzählen Sie mir lieber, was Sie in unsere Gegend treibt.«
»Wenn man seine Jugendsommer in Marina verbracht hat, dann kann einem wohl die Lust ankommen, den alten, lieben Ort einmal wiederzusehen. Ich habe seit gestern Ferien, und da bin ich heute von Mailand heruntergefahren. Denken Sie, nicht eine einzige Panne!«
»Und jetzt?«
»Nur der Staub. Euer dicker weißer Marmorstaub. Er hatte mir die Scheinwerfer vollkommen zugedeckt.«
»Es sind in letzter Zeit besonders viele Marmortransporte von Carrara gegen Pisa zugerollt. Seitdem sind die Straße entsetzlich.«
»Und da wandern Sie so munter durch die Nacht, alter Abenteurer? Wollen Sie mich nicht ein Stück begleiten?
Lucidus stieg ein. So fuhren sie langsam durch den W und Lucidus erzählte. Mario erfuhr nun, daß Marina Bass schon lange nicht mehr der stille, bescheidene Ort aus der Zeit seiner Kindheit war. Neue Hotels und Villen waren baut worden; das eleganteste Publikum von Rom, Mailand und Turin traf sich auf diesem kleinen Stück tyrrhenischen Strandes.