Der Mensch im Tier - Norbert Sachser - E-Book

Der Mensch im Tier E-Book

Norbert Sachser

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Beschreibung

Säugetiere trauern und sie tricksen; sie sind einfühlsam, lernen und kommunizieren oft auf hohem Niveau. Sie freuen und sie ärgern sich – mit denselben Reaktionen von Körper und Gehirn wie bei uns Menschen. Tiere haben eine Persönlichkeit. Was unterscheidet uns eigentlich noch von ihnen? Und was können wir von ihnen lernen? Norbert Sachser, einer der weltweit führenden Tierverhaltensforscher, präsentiert darüber seine eigenen, bedeutenden Forschungen und insgesamt den letzten Stand des Wissens. Wir erfahren, wie Hunde Empathie zeigen, Mäuse Alzheimer entkommen, Meerschweinchen sozialen Stress vermeiden und zu welch bemerkenswerten Leistungen Menschenaffen, aber auch Raben fähig sind. Weltbild und Forschungslage in der Tierverhaltensforschung haben sich dramatisch verändert. Der berühmte Gegensatz nature or nurture, ererbt oder erworben, ist längst ein alter Hut. Wichtig ist heute die Erforschung des Zusammenspiels von Genen und Umwelt. Sachser spricht von einer «Revolution im Tierbild» – und ihren Folgen für unseren Umgang mit Wildtieren und Haustieren. «Einer der bedeutendsten deutschen Verhaltensbiologen. Seine Erkenntnisse haben das wissenschaftliche Bild vom Tier wesentlich verändert.» Deutschlandfunk

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Seitenzahl: 310

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Prof. Dr. Norbert Sachser

Der Mensch im Tier

Warum Tiere uns im Denken, Fühlen und Verhalten oft so ähnlich sind

 

 

 

Über dieses Buch

Säugetiere trauern und sie tricksen; sie sind einfühlsam, lernen und kommunizieren oft auf hohem Niveau. Sie freuen und sie ärgern sich – mit denselben Reaktionen von Körper und Gehirn wie bei uns Menschen. Tiere haben eine Persönlichkeit. Was unterscheidet uns eigentlich noch von ihnen? Und was können wir von ihnen lernen? Norbert Sachser, einer der weltweit führenden Tierverhaltensforscher, präsentiert darüber seine eigenen, bedeutenden Forschungen und insgesamt den letzten Stand des Wissens. Wir erfahren, wie Hunde Empathie zeigen, Mäuse Alzheimer entkommen, Meerschweinchen sozialen Stress vermeiden und zu welch bemerkenswerten Leistungen Menschenaffen, aber auch Raben fähig sind.

Weltbild und Forschungslage in der Tierverhaltensforschung haben sich dramatisch verändert. Der berühmte Gegensatz nature or nurture, ererbt oder erworben, ist längst ein alter Hut. Wichtig ist heute die Erforschung des Zusammenspiels von Genen und Umwelt. Sachser spricht von einer «Revolution im Tierbild» – und ihren Folgen für unseren Umgang mit Wildtieren und Haustieren.

 

«Einer der bedeutendsten deutschen Verhaltensbiologen. Seine Erkenntnisse haben das wissenschaftliche Bild vom Tier wesentlich verändert.»

Deutschlandfunk

Vita

Norbert Sachser, geboren 1954, ist Professor für Zoologie und leitet das Institut für Verhaltensbiologie an der Universität Münster. Er studierte Biologie, Chemie und Soziologie, promovierte in Bielefeld und habilitierte sich am Lehrstuhl für Tierphysiologie in Bayreuth. Der international renommierte Forscher gilt als Wegbereiter der deutschen Verhaltensbiologie.

Inhaltsübersicht

Widmung

Vorwort

Motto

Kapitel 1 Typisch Mensch, typisch Tier?

Das Studium des Verhaltens mit biologischen Methoden

Eine kurze Geschichte der Verhaltensbiologie

Der rote Faden des Buches

Kapitel 2 Der rote Emil ist nicht gern alleine

Wie ich zur Verhaltensforschung kam

Die soziale Intelligenz der Hausmeerschweinchen

Hormone kommen ins Spiel

Was Stress auslöst und was ihn puffert

Die verheerenden Auswirkungen sozialer Instabilität

Warum manche Tiere nicht stressfrei miteinander leben können

Der Segen guter sozialer Beziehungen

Fazit

Kapitel 3 Wenn die Katze spielt, geht es ihr gut

Wohlergehen und Emotionen: lange vernachlässigte Themen der Verhaltensbiologie

Hormone und Wohlergehen

Verhalten und Wohlergehen

Verhaltensstörungen

Spiel und positive Emotionen

Umwelt und Wohlergehen

Die Tiere selbst befragen

Optimisten und Pessimisten

Emotionen

Vom artgemäßen und tiergerechten Leben der Tiere

Fazit

Kapitel 4 Was ist angeboren, was erworben?

Behavioristen und klassische Ethologen

Auslösemechanismen bei Tier und Mensch

Klassische Wege zur Untersuchung angeborenen Verhaltens

Moderne Verhaltensgenetik

Determinieren Gene das Verhalten?

Das Zusammenspiel von Genen und Umwelt: dumme und schlaue Ratten

Das Zusammenspiel von Genen und Umwelt: Was Mäuse über die Alzheimer-Krankheit verraten

Das Zusammenspiel von Genen und Umwelt: Was uns das Serotonintransporter-Gen lehrt

Epigenetik

Fazit

Kapitel 5 Von klugen Hunden und intelligenten Raben

Rico, der geniale Border-Collie

Habituation, eine einfache Form des Lernens

Assoziatives Lernen: klassische Konditionierung

Assoziatives Lernen: operante Konditionierung

Können Tiere denken?

Werkzeuggebrauch, Lernen von anderen, Kultur

Haben Tiere ein Ich-Bewusstsein?

Eine weitere große Überraschung: die kognitiven Leistungen der Vögel

Fazit

Kapitel 6 Tierpersönlichkeiten

Das soziale Umfeld während der Kindheit

Die pränatale Beeinflussung des Verhaltens

Maskulinisierte Töchter und infantilisierte Söhne: Störung oder Anpassung?

Umwelt, Gene und eigene Interessen in den frühen Phasen der Entwicklung

Wie Erfahrungen während der Adoleszenz Einfluss auf das Verhalten nehmen

Adoleszenz: eine Phase der Anpassung

Die Entdeckung der Individualität

Fazit

Kapitel 7 Sie helfen und sie töten

Darwins Problem

Von Irrtümern und Legenden

Die Bedeutung der Verwandtschaft: Belding-Ziesel rufen Alarm

William Hamilton und die Verwandtenselektion

Helfen zwischen Nichtverwandten

Das Töten von Artgenossen zum eigenen Vorteil

Männchen und Weibchen

Zur Soziobiologie der wilden Meerschweinchen

Fazit

Kapitel 8 Tiere wie wir

Fazit

Benutzte und empfohlene Literatur

Für Claudi

Vorwort

Die meisten von uns interessieren sich von Kindheit an für Tiere. Ihr Verhalten fasziniert uns. Ganz gleich ob im Web, im TV oder in den Print-Medien: Was Tiere machen, garantiert immer hohe Aufmerksamkeit. Doch das, was die Gesellschaft über Tiere denkt, wie sie ihr Verhalten deutet und erklärt und wie sie mit den Tieren umgeht, verändert sich im Laufe der Zeit. Und gerade in den vergangenen Jahren erleben wir einen fundamentalen Wandel.

Die wissenschaftliche Disziplin, die hierfür maßgeblich verantwortlich zeichnet, ist die Verhaltensbiologie. Sie beschreibt das Verhalten der Tiere, ermittelt die Ursachen, die ihm zugrunde liegen, und analysiert die Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Dieses Buch wendet sich an alle, die sich für das Verhalten von Tieren und den Wandel des wissenschaftlichen Tierbildes interessieren und erfahren möchten, was die Forschung tatsächlich über das Denken, Fühlen und Verhalten von Tieren weiß.

Bis zur Fertigstellung dieses Buches war es ein weiter Weg. Erste Ideen, die ihm zugrunde liegen, entstanden bereits Mitte der 1990er Jahre. Damals lud mich der Priester und Zoologe Rainer Hagencord ein, einen Vortrag vor der katholischen Hochschulgemeinde in Münster zu halten. Angesichts immer größer werdender ökologischer und bioethischer Problemstellungen hatte er es sich auf die Fahnen geschrieben, den interdisziplinären Dialog zwischen den Naturwissenschaften einerseits sowie Theologie und Philosophie andererseits voranzubringen. Ich wählte als Vortragsthema «Der Mensch: Die Krone der Schöpfung? Über das Denken, Fühlen und Verhalten der Tiere». Hier entwickelte ich erstmals anhand verhaltensbiologischer Daten und Argumenten die Kernaussage, die in diesem Buch vertreten wird: Wir Menschen sind den Tieren nähergerückt; es steckt sehr viel mehr Mensch im Tier, als wir uns vor wenigen Jahren noch haben vorstellen können. Wie sehr diese These in den folgenden Jahren durch die Erkenntnisse der Verhaltensbiologie untermauert werden sollte, ahnte ich damals nicht.

Der Titel dieses Buches – «Der Mensch im Tier» – geht auf ein gleichnamiges Projekt bei den UniKunstTagen 2000 in Münster zurück, welches, initiiert durch meinen Kollegen Reinhard Hoeps, das Gespräch zwischen Naturwissenschaft und Kunst suchte. Die Interaktion der Künstlerinnen und Künstlern mit uns Biologen führte nicht nur zu bemerkenswerten Kunstwerken – Silke Rehbergs «Meerschweinchen in Blau», Rundbilder aus glasierten Terrakotta-Reliefs, prangen seitdem prominent an der Fassade unseres Institutsgebäudes. Sie schärfte auch mein Bewusstsein dafür, dass nicht nur sehr viel Tier im Mensch zu finden ist, sondern auch umgekehrt sehr viel Mensch im Tier. Und das ist für mich seitdem die wesentlich spannendere Perspektive.

Dass es Jahre später zu diesem Buch kam, ist letztlich der Überzeugungskraft und Hartnäckigkeit meines Lektors Frank Strickstrock zu verdanken. Er war auf das Statement «Wir erleben gegenwärtig eine Revolution des Tierbildes» aufmerksam geworden, das ich ursprünglich in einem Gespräch mit dem Spiegel abgegeben hatte. Bei seinem Besuch in Münster fragte er, ob ich mir vorstellen könne, ein Sachbuch über dieses Thema zu schreiben. Ich stand der Idee zunächst zögernd gegenüber, ließ mich in den folgenden Treffen aber immer stärker dafür begeistern.

Nun liegt das Buch vor! Ich behandle sechs Themen der Verhaltensbiologie, die zentral für die grundlegende Veränderung des wissenschaftlichen Tierbildes sind und dazu geführt haben, die Kluft zwischen Mensch und Tier ganz wesentlich zu verringern. Um Missverständnissen vorzubeugen: In die Auswahl der Themen gingen zugegebenermaßen auch meine persönlichen Forschungsinteressen ein und natürlich kann sie nur einen Ausschnitt der zeitgenössischen Verhaltensbiologie widerspiegeln. Für die Leserinnen und Leser sei angemerkt: Jedes Kapitel dieses Buches ist aus sich heraus verständlich; die einzelnen Kapitel bauen nicht aufeinander auf. Wen also das Thema «Wohlergehen, Emotionen und ein tiergerechtes Leben» am meisten interessiert, der kann mit Kapitel 3 beginnen, wer sich lieber zuerst mit den «Tierpersönlichkeiten» beschäftigen möchte, startet mit Kapitel 6.

 

Allein hätte ich meinen Weg in der Wissenschaft so nicht gehen können, und ohne die Unterstützung anderer würde es dieses Buch nicht geben. Deshalb gilt mein Dank vielen! Schon meine Eltern haben mein Interesse an Forschung von klein auf an gefördert und mich auf meinem Weg bedingungslos unterstützt. Meine akademischen Lehrer und Mentoren, allen voran Klaus Immelmann, Hubert Hendrichs und Dietrich von Holst, haben mich durch ihr Vorbild geprägt und mir gezeigt, was «gute Wissenschaft» ist. Unsere Forschung der letzten Jahrzehnte wäre nicht ohne die großartigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in meinen Teams möglich gewesen, von denen viele heute selbst Professorinnen und Professoren sind oder andere wichtige Positionen bekleiden. Unverzichtbar für diese Forschung war immer auch der wissenschaftliche Austausch mit Forscherinnen und Forschern aus der ganzen Welt. Dank an die Kolleginnen und Kollegen der «Münster Graduate School of Evolution», mit denen ich in den letzten Jahren viele stimulierende Diskussionen weit über die Grenzen des eigenen Faches hinaus geführt habe.

Ferner möchte ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft danken, weil sie unsere Studien seit Jahrzehnten finanziell großzügig unterstützt. So wurden unsere Forschungsergebnisse, die in Kapitel 2 eingehen, in dem Projekt «Sozialphysiologie» gefördert und eine Reihe der in Kapitel 3 und 4 beschriebenen Studien gehen auf unsere Projekte im Sonderforschungsbereich «Furcht, Angst, Angsterkrankung» zurück. Viele der in Kapitel 6 dargestellten Einsichten haben wir im Rahmen der Forschergruppe «Frühe Erfahrung und Verhaltensplastizität» sowie des Sonderforschungsprogramms «Das Individuum und seine ökologische Nische» gewonnen, und unsere in Kapitel 7 beschriebenen Forschungsarbeiten wurden im Schwerpunktprogramm «Genetische Analyse von Sozialsystemen» durchgeführt.

Als eine erste Version des Buchs fertiggestellt war, haben sich eine Reihe geschätzter Verhaltensbiologinnen und Verhaltensbiologen bereit erklärt, einzelne Kapitel aufmerksam durchzusehen. Herzlichen Dank dafür an Oliver Adrian, Rebecca Heiming, Niklas Kästner, Sylvia Kaiser, Helene Richter und Tobias Zimmermann. Bedanken möchte ich mich auch bei Claudia Böger, meiner Frau. Als promovierte Geisteswissenschaftlerin hat sie meine Forschung seit mehr als drei Jahrzehnten interdisziplinär und konstruktiv begleitet. Ihre kritische Durchsicht des Manuskripts und ihre vielen hilfreichen Vorschläge haben wesentlich zur Entstehung dieses Buches beigetragen.

 

Münster, im März 2018

Norbert Sachser

Tat tvam asi

Diese Worte in Sanskrit ließ der berühmte Evolutionsbiologe Bernhard Rensch vor mehr als 50 Jahren groß und deutlich an die Wand des Tierhaltungsraums seines Instituts an der Universität Münster malen; so berichtete seine Schülerin Gerti Dücker. Sie bedeuten «Das bist Du».

Kapitel 1Typisch Mensch, typisch Tier?

Die Revolution des Tierbildes – eine Einführung

In der Verhaltensbiologie hat eine Revolution des Tierbildes stattgefunden. Sie hat weitreichende Folgen für das Selbstverständnis des Menschen und seine Beziehung zu Tieren. Noch vor wenigen Jahrzehnten lauteten zwei wesentliche verhaltensbiologische Dogmen: Tiere können nicht denken, und über ihre Emotionen können keine Aussagen getroffen werden. Heute hält dieselbe Wissenschaft beide Aussagen für falsch und vertritt das genaue Gegenteil: Tiere mancher Arten sind zu einsichtigem Verhalten fähig; sie können denken. Sie erkennen sich im Spiegel, und bei ihnen sind zumindest Ansätze von Ich-Bewusstsein vorhanden. Tiere mancher Arten haben Emotionen, die denen des Menschen bis in verblüffende Details vergleichbar sind. Dieselben Situationen, die in uns positive oder negative Gefühle hervorrufen, zum Beispiel, wenn wir uns verlieben oder von einem Partner trennen, bewirken dies offenbar auch bei unseren tierlichen Verwandten.

In der Tat: Das Tierbild der modernen Verhaltensbiologie hat in den vergangenen Jahrzehnten einen so gravierenden Wandel erfahren, dass von einem Paradigmenwechsel gesprochen werden kann. So ist der Gegensatz vom vernunftgesteuerten Homo sapiens einerseits und dem instinktgesteuerten Tier andererseits schon lange nicht mehr haltbar, und es stellt sich die Frage: Was unterscheidet uns denn eigentlich von den Tieren? Wie viel Mensch steckt bereits im Tier?

Parallel zu dieser Entwicklung in den Biowissenschaften hat sich auch die öffentliche Wahrnehmung davon, wie nah wir Menschen den Tieren stehen, entscheidend verändert. Wenn Biologiestudierenden vor einigen Jahrzehnten Fotos von einem Goldfisch, einem Schimpansen und einem Menschen mit der Bitte präsentiert worden wären, spontan zwei Kategorien zu bilden, so wäre das Ergebnis eindeutig ausgefallen: Mehr als 90 Prozent hätten den Menschen in die erste Kategorie eingeordnet, den Schimpansen und den Fisch in die zweite – weil sie ja Tiere sind. Wenn heute Studierenden der Biologie im ersten Semester dieselbe Frage gestellt wird, so ergibt sich ein völlig anderes Bild: Deutlich mehr als 50 Prozent sehen den Menschen und den Schimpansen gemeinsam in einer Kategorie und den Goldfisch in der anderen. Offenbar sind Mensch und Tier einander nähergerückt.

Bestätigt wird dies durch das Schicksal eines dritten Dogmas. Jahrzehntelang wurde gelehrt: Tiere verhalten sich zum Wohle der Art. Sie töten in der Regel keine Artgenossen und helfen einander bis zur Aufopferung. Heute wissen wir, dass das so nicht stimmt. Vielmehr tun Tiere alles, damit Kopien ihrer eigenen Gene mit maximaler Effizienz in die nächste Generation gelangen, und wenn es dafür hilfreich ist, so bringen sie auch Artgenossen um. Offenbar sind Tiere nicht die «besseren Menschen».

Auch in anderen Bereichen verwischt sich die Kluft zwischen Mensch und Tier. So führen bei beiden die gleichen Merkmale der sozialen Umwelt zu Stress, und ganz ähnliche Faktoren können den Stress bei Mensch und Tier effektiv puffern. Gene und Umwelt spielen bei beiden auf die gleiche Art und Weise zusammen und formen so das Denken, Fühlen und Verhalten. Auch bei Tieren verläuft die Entwicklung des Verhaltens nicht starr: Umwelteinflüsse, Sozialisation und Lernen können sie von der vorgeburtlichen Phase bis ins Erwachsenenalter modifizieren. Letztlich erscheinen auch Tiere bei näherer Betrachtung individualisiert, und deshalb wird in der Verhaltensbiologie mittlerweile von Tierpersönlichkeiten gesprochen.

Dieses Buch wird zeigen, wie und warum sich das wissenschaftliche Bild vom Verhalten der Tiere so fundamental verändert hat. Der Schwerpunkt wird dabei auf einer Tiergruppe liegen, zu der wir als Menschen biologisch gesehen ebenfalls gehören: den Säugetieren, die mit fast fünfeinhalbtausend Arten die unterschiedlichsten Lebensräume unseres Planeten besiedeln. Löwen und Zebras bewohnen die Savanne, Gorillas und Orang-Utans die tropischen Regenwälder; Fenneks leben in Sandwüsten, Eisbären in der Polarregion; Maulwürfe und Nacktmulle führen ein unterirdisches Leben, Fledermäuse und Flughunde haben sich den Luftraum erschlossen, Wale und Robben sind perfekt an das Leben im Wasser angepasst.

Mit den Säugetieren haben wir Menschen sehr viel gemeinsam, beispielsweise den Großteil unserer Gene. Die Übereinstimmung mit unseren nächsten Verwandten, den Bonobos und Schimpansen, beträgt in diesem Punkt fast 99 Prozent. Oder blicken wir auf den Aufbau des Gehirns: Er ist bei allen Säugetieren prinzipiell identisch. Insbesondere die stammesgeschichtlich alten Teile, etwa das limbische System, zeigen Übereinstimmungen bis in kleinste Details. So dürfte beispielsweise die Furchtreaktion beim Anblick einer Schlange bei Menschen, Schimpansen und Totenkopfaffen durch exakt dieselben neuronalen Prozesse gesteuert sein. Oder die physiologischen Regulationssysteme: Bei allen Säugetieren einschließlich des Menschen sind es die gleichen Hormone, die es dem Organismus ermöglichen, mit Stresssituationen fertigzuwerden, sich an wechselnde Umweltbedingungen anzupassen oder sich fortzupflanzen. Tatsächlich ist die Produktion der Sexualhormone Testosteron und Östradiol, der Stresshormone Adrenalin und Cortisol oder des Hormons der Liebe, Oxytocin, kein «Privileg» der Menschen, sie kommen vielmehr bei den unterschiedlichsten Arten in gleicher Form vor, von der Fledermaus über das Nashorn bis zum Delfin.

Aus Ähnlichkeiten in den Genen, der Organisation des Gehirns oder der Funktion des Hormonsystems kann aber nicht automatisch auf Gemeinsamkeiten im Denken, Fühlen und Verhalten geschlossen werden. Dazu bedarf es schon der gezielten Untersuchung dieser Merkmale sowohl beim Menschen als auch beim Tier. Die wissenschaftliche Disziplin, die sich dieser Aufgabe bei den Tieren widmet, ist die Verhaltensbiologie. Einer ihrer Gründerväter, der Nobelpreisträger Nikolaas Tinbergen, hat dieses Forschungsgebiet knapp und treffend als «das Studium des Verhaltens mit biologischen Methoden» definiert.

Das Studium des Verhaltens mit biologischen Methoden

Was diese Definition besagt, lässt sich sehr einfach am Verhältnis von Tierkenntnis und verhaltensbiologischem Wissen verdeutlichen: Tierkenntnis ist sicher eine notwendige Voraussetzung für verhaltensbiologische Untersuchungen; sie ist aber keine hinreichende Fähigkeit, um wissenschaftliche Aussagen über das Verhalten der Tiere zu treffen. Die beiden Begriffe sind also keineswegs gleichbedeutend. Nicht jeder, der mit Tieren umgeht und Aussagen über das Verhalten von Tieren macht, ist damit ein Verhaltensforscher, wenngleich Menschen mit engem Kontakt zu Tieren über eine ausgezeichnete Kenntnis des Verhaltens ihrer Tiere verfügen können. Meine Großmutter zum Beispiel lag mit den Prognosen über das Verhalten unseres Hundes immer richtig. Man tat gut daran, Warnungen wie «Pass auf, gleich wird er beißen» ernst zu nehmen. Ihr Wissen war aber keineswegs Wissen in einem verhaltensbiologischen Sinne. Wenn ich sie gefragt hätte, woher sie es bezieht, hätte sie gesagt: «Das weiß ich eben», oder: «Das sieht man doch.» Es handelte sich um intuitives Erkennen, das durch Erfahrung erworben wurde. Natürlich können Erfahrungs- und intuitives Wissen genauso zutreffen wie wissenschaftliche Erkenntnis. Das Problem ist nur: Es muss nicht so sein, und es ist sehr schwer zu entscheiden, wann es so ist und wann nicht. Nehmen wir nur einmal Eigenschaften, die der Volksmund vielen Tieren zuordnet und die als Beleidigung Eingang in den menschlichen Wortschatz gefunden haben: die diebische Elster, die dumme Gans, die falsche Schlange oder die Rabenmutter. Ob solche Zuschreibungen zutreffend sind oder nicht, kann letztlich nur durch verhaltensbiologische Untersuchungen geklärt werden. Und diese zeigen: Es handelt sich um Vorurteile. Wissenschaftlich belegen lassen sich diese Aussagen nicht.

Was genau zeichnet verhaltensbiologisches Wissen also aus? Wie bei jeder wissenschaftlichen Erkenntnis muss vermittelt werden können, mit welchem Vorgehen und welchen Methoden diese Erkenntnis erzielt worden ist. Das traf auf die Tierkenntnis meiner Großmutter eben nicht zu. Es reicht für verhaltensbiologische Untersuchungen nicht aus, sich vor eine Gruppe von Tieren zu setzen, ihr Verhalten auf sich einwirken zu lassen und danach seine subjektiven Eindrücke zu schildern. Zunächst einmal müssen die Verhaltensweisen der Tierart, die wir untersuchen, in einem sogenannten Ethogramm aufgelistet und definiert werden. Anschließend werden die für die jeweilige Fragestellung geeigneten Verhaltensweisen mit einer angemessenen Datenerfassungsmethode registriert. In Untersuchungen zum sozialen Leben der Tiere würde beispielsweise festgehalten, wie häufig und wie lange jedes Tier soziopositives, das heißt freundliches Verhalten gegenüber jedem anderen Gruppenmitglied, zeigt, wie häufig es zum Initiator oder Ziel von aggressivem Verhalten wird, welches Tier wie häufig der nächste Nachbar anderer Tiere ist und welches Männchen sich mit welchem Weibchen paart. Früher ausschließlich mit Bleistift und Papier festgehalten, erfolgt die Aufnahme der Verhaltensdaten heute computergestützt mit Hilfe anspruchsvoller Software, ebenso wie die Auswertung der Daten und die statistische Absicherung der Ergebnisse.

Bleiben wir noch ein wenig bei den Untersuchungen zum sozialen Leben der Säugetiere. Sie zeigen ebenfalls, wie entscheidend da die richtige Wahl der Datenerfassungsmethode ist. Als vor einigen Jahrzehnten die ersten Studien im natürlichen Habitat der Tiere durchgeführt wurden, kam häufig die Methode der Ad libitum-Datenerfassung zum Einsatz: Alle Tiere einer Gruppe wurden gleichzeitig beobachtet, und die Wissenschaftler registrierten alle Verhaltensweisen, die sie bemerkten. Dies wirft jedoch ein riesiges Problem auf, welches die Wahrnehmungspsychologie seit langem kennt: Wir Menschen richten unsere Aufmerksamkeit vor allem auf das, was laut, auffällig und markant ist, und vernachlässigen Ereignisse, die leise, unauffällig und subtil ablaufen. In vielen Säugetiergesellschaften ist das Verhalten der Männchen, vor allem in Interaktionen mit Artgenossen, hervorstechender, ausdrucksstärker und lauter als das der Weibchen; Auseinandersetzungen mit anderen Männchen sind häufig durch auffällige Vokalisation charakterisiert. Wendet man die Ad libitum-Datenerfassungsmethode an, werden zwangsläufig dazu deutlich mehr Daten von den Männchen als von den Weibchen gesammelt. Dies dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, dass die Männchen in vielen Säugetiergesellschaften als dominant und tonangebend, die Weibchen eher als passiv und unterlegen beschrieben worden sind.

Nachdem dieses methodische Problem erkannt worden war, wurde die Ad libitum- durch die Methode der Fokustierbeobachtung ersetzt. Hier wird nach einem zuvor festgelegten Plan jedes Tier der Gruppe gleich lange beobachtet, und zwar unabhängig davon, was die anderen Tiere gerade tun. Auf diese Weise wird erreicht, dass tatsächlich jedes Tier der Gruppe und mit derselben Aufmerksamkeit beobachtet wird. Die so erfassten Daten trugen wesentlich dazu bei, das Bild von der Rolle der Weibchen in Säugetiergesellschaften zu revidieren. Heute wissen wir: Sie sind keineswegs passiv; sie interagieren nur häufig auf subtilere Art und Weise als die Männchen, ohne dabei weniger erfolgreich zu sein. So konstatieren neuere Lehrbücher der Verhaltensbiologie, dass es in Affengesellschaften häufig die Weibchen sind, die die wichtigsten Entscheidungen treffen.

In der Zusammenschau präsentieren verhaltensbiologische Untersuchungen zum sozialen Leben der Säugetiere eine große Vielfalt: Viele Arten, insbesondere der Primaten, leben dauerhaft in festen Gruppen, die aus mehreren erwachsenen Männchen und mehreren erwachsenen Weibchen bestehen. Sehr viele Säugetierarten leben aber auch als Einzelgänger, beispielsweise der Tiger. Einige Arten organisieren sich in Harems, so die Steppenzebras. Bei anderen Arten finden sich enge, zum Teil lebenslange Bindungen zwischen den Weibchen einer Gruppe, wie bei den Elefanten, die deshalb auch als das stärkste Matriarchat im Tierreich bezeichnet werden. Für einige wenige Arten wie die Geparden wurden langfristige Bindungen zwischen Männchen beschrieben. Bei einer kleinen südamerikanischen Affenart, dem Braunrückentamarin, treten regelmäßig Harems aus einem Weibchen und zwei Männchen auf. Interessanterweise kommt die vom Menschen favorisierte Lebensform, die Monogamie, bei den nichtmenschlichen Säugetieren nur selten vor: Nicht mehr als drei bis fünf Prozent der Arten organisieren sich in Paaren, wie beispielsweise die nordamerikanische Präriewühlmaus. Keiner unserer nächsten biologischen Verwandten – Bonobo, Schimpanse, Gorilla, Orang-Utan – lebt dauerhaft in dieser Form.

Verhaltensbiologische Erkenntnis erfordert nicht nur, dass die Untersuchungen methodisch sauber durchgeführt werden. Die ermittelten Ergebnisse müssen auch reproduzierbar sein. Wenn eine Arbeitsgruppe in einem Experiment in Berlin zeigt, dass Bienen sich am Stand der Sonne orientieren können, dann muss dieses Ergebnis auch für andere Forscher in London oder Tokio mit demselben Experiment nachweisbar sein.

Wie wichtig das Kriterium der Reproduzierbarkeit ist, lässt sich wunderbar an einer historischen Studie zeigen, in der es um die kognitiven Fähigkeiten eines Pferdes ging. Vor dem Ersten Weltkrieg erregte Wilhelm von Osten großes Aufsehen mit seinem Pferd, dem klugen Hans. Es konnte scheinbar einfache arithmetische Aufgaben bewältigen, die ihm von seinem Besitzer gestellt wurden – addieren, subtrahieren, dividieren –, und die Lösungen durch Hufscharren oder Kopfnicken korrekt anzeigen. Dass ein Pferd eine solche geistige Leistung erbringen könnte, wurde bald von den damaligen Wissenschaftlern angezweifelt. Sie forderten eine Untersuchung, der Wilhelm von Osten auch zustimmte. In dieser Studie zeigte sich zunächst: Der kluge Hans war in der Lage, die Rechenaufgaben auch dann zu lösen, wenn sie nicht von seinem Besitzer, sondern von fremden Personen gestellt wurden. Wenn allerdings keine der anwesenden Personen das Ergebnis der Rechenaufgabe kannte, war auch der kluge Hans nicht mehr in der Lage, die richtige Lösung zu präsentieren. Das Pferd, so stellte sich heraus, verfügte über eine exzellente Sinneswahrnehmung, die es ihm erlaubte, feinste Nuancen in der Körperspannung der anwesenden Personen wahrzunehmen und hieraus zu schließen, wann es mit dem Hufscharren oder Kopfnicken aufhören musste. Rechnen konnte es aber nicht.

Dennoch hat der schlaue Hans die Forschung nachhaltig geprägt. Heute ist allgemein akzeptiert: Kognitive Leistungen von Tieren lassen sich nur dann wissenschaftlich sauber nachweisen, wenn sie als sogenannte Blindstudien durchgeführt werden: Der Experimentator darf die Lösung der Aufgabe, die dem Tier gestellt wird, nicht kennen. Nur so ist gewährleistet, dass es zu keiner unbewussten Hilfestellung kommt – dem «Clever-Hans-Effekt». Wilhelm von Osten war sicher kein Scharlatan. Er war von den kognitiven Fähigkeiten seines Pferdes fest überzeugt. Auch heute schreiben viele Haustierbesitzer ihren Hunden oder Katzen herausragende kognitive Fähigkeiten zu, zum Beispiel: «Mein Hund versteht jedes Wort.» Ob dem tatsächlich so ist, kann aus der Alltagserfahrung allein jedoch nicht beurteilt werden. Diese Lektion hat der schlaue Hans uns eindrucksvoll gelehrt.

Die ureigene Methode der Verhaltensbiologie ist also die objektive und reproduzierbare Erfassung des Verhaltens. Je nach Fragestellung werden aber auch Techniken aus benachbarten Disziplinen hinzugezogen. So wird zur Positionsbestimmung von Tieren während des Vogelzugs modernste Satellitentechnik angewandt; der Fortpflanzungs- oder Stresszustand wird durch Hormonmessungen analysiert, und die Bestimmung von Vaterschaften oder Verwandtschaftsbeziehungen findet mit Hilfe molekulargenetischer Methoden statt. Durch den Einsatz solcher Techniken können Erkenntnisse gewonnen werden, die allein durch die Beobachtung des Verhaltens nicht möglich sind. Ein Beispiel: Unsere einheimischen Singvögel leben in sozialer Monogamie und wurden mehrheitlich als der Inbegriff der Treue betrachtet. Die Überprüfung der Vaterschaften mit Hilfe des genetischen Fingerabdrucks ergab jedoch ein völlig anderes Bild: Der Großteil der Nachkommen, die sich im Nest befinden, stammt häufig nicht von dem Männchen, das zu diesem Nest gehört und das die Jungen füttert. Fremdgehen kommt offensichtlich nicht nur bei Menschen vor.

Eine kurze Geschichte der Verhaltensbiologie

Seit es Menschen gibt, haben sie sich für die Tiere ihres Lebensraums und deren Verhalten interessiert: um ihnen als Gefahr zu entgehen, um sie als Nahrung zu erlegen oder auch um sich an ihnen zu erfreuen. Die steinzeitlichen Höhlenmalereien von Altamira und Lascaux, die zu den ältesten Kunstwerken der Menschheitsgeschichte gehören, sind ein besonderes Zeugnis der Mensch-Tier-Beziehung in dieser frühen Zeit. Seit Tausenden von Jahren erschaffen Menschen dank ausgezeichneter Tierkenntnis durch Züchtung Haustiere aus Wildtieren und machen sie zu dauerhaften Begleitern ihres alltäglichen Lebens. Schafe, Schweine, Rinder und Ziegen wurden bereits vor etwa 10000 Jahren domestiziert, und der Hund könnte bereits seit 30000 Jahren ein treuer Gefährte des Menschen sein.

Vor etwa zweieinhalbtausend Jahren begannen die griechischen Philosophen, sich Gedanken über das Wesen von Mensch und Tier zu machen: Aristoteles sah einen fundamentalen Unterschied zwischen beiden, der sich vor allem in der fehlenden Vernunft der Tiere zeigte. Diese Sicht ist bis heute im Bewusstsein weiter Teile der Gesellschaft verankert: Der Mensch besitzt Vernunft, das Tier folgt seinen Instinkten.

Erste Ansätze empirisch-wissenschaftlicher Betrachtungen des tierlichen Verhaltens, die sich auf große Erfahrung im Umgang mit den Tieren gründeten, finden sich im Mittelalter. Kaiser Friedrich II., von Zeitgenossen Stupor mundi, das Staunen der Welt, genannt, verfasste im 13. Jahrhundert das Werk «De arte venandi cum avibus»/«Über die Kunst, mit Vögeln zu jagen». Es gilt als das erste wissenschaftliche Buch der abendländischen Vogelkunde. Wenn man so will, ist es auch die erste Publikation der Verhaltensbiologie.

In der Neuzeit beschrieben und systematisierten seit dem 16. Jahrhundert Naturforscher wie Konrad Gesner, Carl von Linné oder Jean-Baptiste de Lamarck die Tiere und Pflanzen, darunter viele Arten aus der von Europäern erstmals bereisten Welt. In diesen Schriften finden sich auch immer wieder Schilderungen und Überlegungen zum Verhalten der Tiere. Ansätze zu einer Verhaltensbiologie als wissenschaftlicher Disziplin gab es bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts allerdings nicht.

Als Vater der Verhaltensbiologie kann – wie für viele andere biologische Teildisziplinen auch – der britische Naturforscher Charles Darwin gelten. In seinem 1859 veröffentlichten Buch «On the Origin of Species»/«Die Entstehung der Arten» legte er die Grundzüge der Evolutionstheorie dar, wie wir sie auch heute noch für richtig halten. Darwin verstand unter Evolution zweierlei: zum einen die Veränderung von Arten im Laufe der Zeit. Das heißt: Alle Tier- und Pflanzenarten wurden nicht ein für alle Mal gleichbleibend erschaffen, sondern verändern sich ständig in Aussehen und Verhalten. Zum anderen: die Abstammung von gemeinsamen Vorfahren. Das heißt: Alle heute auf der Erde existierenden Arten lassen sich auf gemeinsame Vorfahren zurückführen. Gehen wir beispielsweise acht bis zehn Millionen Jahre zurück, so finden wir weder Menschen noch Schimpansen auf unserem Planeten. Es existierte jedoch eine inzwischen ausgestorbene Affenart, von der sich sowohl der Schimpanse als auch der Mensch herleiten lässt. Darwin belegte nicht nur, dass eine Evolution stattgefunden hat, sondern er erkannte auch die Triebfeder hinter allen evolutiven Veränderungen: die natürliche Selektion.

Was ist unter diesem Schlüsselbegriff der Biologie zu verstehen? Darwin wusste, dass alle Organismen eine nahezu unbegrenzte Fähigkeit besitzen, sich fortzupflanzen. Sie erzeugen weit mehr Nachkommen, als Elterntiere vorhanden sind. Dieses gewaltige Vermehrungspotenzial wird jedoch nicht realisiert; vielmehr bleibt die Anzahl von Individuen einer Population mehr oder weniger konstant. Das heißt, der Großteil der Nachkommen geht zugrunde. Nur wenige überleben bis zur Geschlechtsreife, und noch weniger pflanzen sich anschließend fort. Deshalb muss es, laut Darwin, einen starken Wettbewerb ums Überleben und um knappe Ressourcen wie Nahrung, Fortpflanzungspartner oder geeigneten Lebensraum geben, den sogenannten Kampf ums Dasein. Es ist keinesfalls dem Zufall überlassen, welche Tiere überleben und sich fortpflanzen und welche zugrunde gehen. Vielmehr werden Individuen, die aufgrund ihrer erblichen Ausstattung besser an ihre Umwelt angepasst sind, weil sie zum Beispiel leichter Nahrung und Paarungspartner finden oder Fressfeinden mit höherer Wahrscheinlichkeit entgehen, eher überleben und einen höheren Fortpflanzungserfolg erzielen als Artgenossen, die in dieser Hinsicht weniger fähig sind. Die genetische Ausstattung, die es den Eltern erlaubt hat, zu überleben und sich erfolgreich fortzupflanzen, wird an die Nachkommen weitergegeben, während die genetische Ausstattung der Individuen, die sich nicht fortpflanzten, verloren geht. Durch diesen Vorgang der natürlichen Selektion werden die Tiere immer besser an ihre Umwelt angepasst.

In «The Origin of Species» ist ein Kapitel ausschließlich dem Verhalten gewidmet. Hier legt Darwin dar: Instinkte und das durch sie kontrollierte Verhalten werden genau wie alle anderen Merkmale des Organismus auch durch das Wirken der natürlichen Selektion verändert und damit besser an die Umwelt angepasst. Damit nimmt er ein zentrales Thema der Verhaltensökologie, eines wichtigen Teilgebiets der zeitgenössischen Verhaltensforschung, vorweg: die Anpassung des Verhaltens an die ökologischen Bedingungen. Darwin beschreibt ferner die Ähnlichkeit von Instinkten bei nah verwandten Arten, auch wenn sie in weit voneinander entfernten Teilen der Welt leben. Er führt beispielsweise die Drosseln an, von denen sowohl die südamerikanischen als auch die europäischen Arten ihr Nest mit Schlamm auskleiden. Dass nah verwandte Arten in ihrem Ethogramm mehr gemeinsame Verhaltensweisen aufweisen als entfernt verwandte Spezies, wird Jahrzehnte später ein zentrales Dogma der Vergleichenden Verhaltensforschung sein.

1872 publizierte Darwin ein weiteres Buch: «The Expression of the Emotions in Man and Animals»/«Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren». Darin vertritt er die Ansicht: Bestimmte Formen der Mimik, insbesondere wenn sie basale Emotionen wie Freude, Trauer oder Zorn widerspiegeln, sind kulturunabhängig und damit angeboren. Ferner könnten einige Tierarten vergleichbare Emotionen wie wir Menschen besitzen, die sich in einer ähnlichen Mimik ausdrücken. Das Buch wurde bald nach dem Erscheinen ein Bestseller; in der Wissenschaft setzte es sich allerdings nicht durch und geriet lange Zeit nahezu in Vergessenheit. Ab den 1960er Jahren knüpfte Irenäus Eibl-Eibesfeldt an Darwins Thesen an und begründete die Humanethologie. Diese Teildisziplin der Verhaltensbiologie versucht jene Anteile im Verhalten des Menschen zu ergründen, welche angeboren sind. Tatsächlich konnte Eibl-Eibesfeldt universelle Gemeinsamkeiten in der Mimik des Menschen feststellen, als er Emotionen wie Freude, Trauer oder Ekel von Ethnien in Afrika, Südamerika und Asien verglich.

Die Emotionen der Tiere waren in der Verhaltensbiologie nach Darwin weit über ein Jahrhundert lang kein Thema gewesen; die These gemeinsamer Emotionen bei Mensch und Tier galt lange als politisch unkorrekt. In jüngerer Zeit, in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren, hat sich das allerdings grundlegend geändert: Heute sind Emotionen ein zentrales Forschungsgebiet der Verhaltensbiologie, und vielleicht werden wir in diesem Zusammenhang eine Renaissance von Darwins «Expression of the Emotions» erleben.

Nach Charles Darwin interessierte sich etwa ein halbes Jahrhundert lang der Großteil der Biologen nicht speziell für das Verhalten der Tiere: Systematik, Physiologie und Entwicklungsbiologie bildeten die Schwerpunkte der Forschung. Erst dann entstand durch die Schriften von Konrad Lorenz, Nikolaas Tinbergen und Karl von Frisch das Gebiet, das wir heute als Verhaltensbiologie bezeichnen.

Karl von Frisch erforschte, was Tiere mit ihren Sinnen wahrnehmen, wie sie sich orientieren und wie sich untereinander verständigen. So wies er erstmals nach: Fische können hören, Bienen sehen Farben, und sie orientieren sich mit Hilfe eines Sonnenkompasses. Bekannt wurde er einem breiten Publikum vor allem durch seine Untersuchungen zur Kommunikation. So fand er heraus: Wenn eine Biene auf einem Erkundungsflug eine lohnende Futterquelle findet, so teilt sie ihren Stockgenossinnen durch die Aufführung eines sogenannten Schwänzeltanzes mit, in welcher Richtung und Entfernung sich die Ressource befindet und um welche Nahrung es sich handelt. Karl von Frisch war der erste Wissenschaftler, der das Verhalten der Tiere durch die Abfolge logisch aufeinander aufbauender Experimente erforschte.

Einen noch größeren Einfluss auf die Entstehung der Verhaltensbiologie, die in ihren Anfangszeiten auch Ethologie oder Tierpsychologie genannt wurde, hatten die kongenialen Forscher Konrad Lorenz und Nikolaas Tinbergen. Erst durch ihre Arbeiten wurde in der Biologie akzeptiert: Das Verhalten kann genauso mit wissenschaftlichen Methoden untersucht werden wie alle anderen Merkmale der Tiere auch, beispielsweise ihre Anatomie, Morphologie oder Physiologie. Erst durch sie wurde die Beobachtung des Verhaltens als ernstzunehmende Methode etabliert. In seinen klassischen Studien beschrieb Lorenz das Verhalten verschiedener Entenarten bis in seine kleinsten Einheiten, die er als Erbkoordinationen bezeichnete. Er betrachtete sie also als angeboren, und sie waren bei allen Tieren einer Art weitestgehend gleich. Man könnte sagen, ein Stockerpel in Peking verhält sich genauso wie ein Stockerpel in Berlin. Der Vergleich der Erbkoordinationen bei verschiedenen Arten wie Stockenten, Madagaskarenten, Spießenten, Löffelenten, Krickenten, Pfeifenten oder Mandarinenten wiederum zeigte: Je näher die Spezies miteinander verwandt waren, desto mehr gemeinsame Erbkoordinationen wiesen sie auf. Die vergleichende Verhaltensforschung war geboren.

Durch seine Beobachtungen an Enten und Gänsen erkannte Lorenz auch: Diese Tiere besitzen keine angeborene Kenntnis des Aussehens ihrer Art, vielmehr wird diese erst durch Prägung erworben. In einem fest umrissenen Zeitfenster kurz nach dem Schlüpfen werden die Küken auf das fixiert, was sich in ihrer Nähe bewegt und Laute von sich gibt. Im natürlichen Lebensraum ist das in aller Regel die Mutter, der die Jungen dann folgen. Wenn in dieser Phase aber nicht die Mutter, sondern Konrad Lorenz in der Nähe der Küken umherlief und dabei «Komm, komm, komm» rief, wurden die Küken unwiderruflich auf ihn geprägt. Hatten sie später die Wahl zwischen der Entenmutter und Konrad Lorenz, liefen sie zielgerichtet dem Wissenschaftler nach.

Lorenz entwickelte ferner wichtige Modellvorstellungen von der Steuerung des Verhaltens: Demnach aktivieren Schlüsselreize in der Umwelt der Tiere angeborene Auslösemechanismen, und dadurch kommt es zur Ausführung der zugehörigen Instinktbewegungen, wie die Erbkoordinationen auch genannt wurden. In der Folge konnte Tinbergen experimentell belegen, dass diese Annahmen für viele Tierarten richtig sind. Dringt beispielsweise ein Rivale in das Territorium eines Stichlings ein, so wird er mit Instinktbewegungen aus dem Bereich des Droh- und Kampfverhaltens reagieren. Was veranlasst den Stichling zu dieser Aggression? Es ist die rote Bauchunterseite des Eindringlings, die als Schlüsselreiz fungiert: Eine naturgetreue Stichlingsattrappe ohne rote Bauchunterseite löst nämlich im Versuch keinerlei Aggression aus. Ein Stück Holz hingegen, dessen untere Hälfte rot angemalt wurde, führt zu heftigen Angriffen, obwohl sie einem Stichling nicht im Entferntesten gleicht.

Lange herrschte die Meinung vor, das Verhalten der Tiere sei ausschließlich als Reflex auf Umweltreize zu verstehen. Lorenz erkannte jedoch den fundamentalen Unterschied zwischen dem Auftreten von Instinktbewegungen und der Auslösung von Reflexen. Letztere werden immer durch den entsprechenden Außenreiz induziert: Wenn beispielsweise ein Luftstrom das Auge trifft, läuft automatisch der Lidschlagreflex ab.

Im Gegensatz dazu werden Instinktbewegungen keineswegs reflexartig durch Schlüsselreize aktiviert. Ob dies geschieht, hängt vielmehr von der Vorgeschichte der Instinktbewegung ab. Wenn sie erst vor kurzer Zeit schon einmal ausgeführt worden war, wird es schwieriger sein, sie auszulösen, als wenn sie schon lange nicht mehr abgelaufen war. Am Beispiel von Instinktbewegungen aus dem Bereich der Nahrungsaufnahme wie Beißen, Kauen, Schlingen, Schlucken ist dies einfach zu erklären: Wenn ein Hund gerade satt ist, wird ein Knochen diese Instinktbewegungen nicht auslösen; wenn er jedoch lange nicht mehr gefressen hat, wird derselbe Knochen diese Verhaltensweisen induzieren. Gleichermaßen gilt für die Männchen nahezu aller daraufhin untersuchten Spezies: Im Anschluss an eine Kopulation sinkt die Motivation für weiteres Sexualverhalten mit dem Weibchen ab. Ist einige Zeit vergangen, löst dasselbe Weibchen die Paarung sogleich wieder aus. Ob Instinkthandlungen auftreten oder nicht, hängt eben nicht nur von den Umweltreizen ab, sondern auch von inneren, im Tier gelegenen Faktoren.

In diesen Anfangszeiten der Verhaltensbiologie untersuchten Lorenz, Tinbergen, von Frisch und ihre immer größer werdende Zahl von Schülerinnen und Schülern viele unterschiedliche Spezies, insbesondere Vogel-, Fisch- und Insektenarten. Die Wissenschaftler waren vor allem davon fasziniert, dass diese Tiere offenbar ein angeborenes Wissen besitzen, wie sie sich zu verhalten haben und damit perfekt an ihren Lebensraum angepasst sind. So weiß eine Grabwespe auch ohne Kontakt zu ihren Eltern und ohne es gelernt zu haben, wie und welche Beute sie zu suchen hat und wie ein perfektes Nest beschaffen sein sollte. Die Quelle dieses Wissens nannten die Verhaltensbiologen wie bereits Charles Darwin: Instinkt; und sie gingen wie Darwin davon aus, dass Instinkte im Laufe der Evolution durch das Wirken der natürlichen Selektion geformt wurden.

Die Begeisterung für dieses Thema spiegelt sich im Titel des ersten Lehrbuches der Verhaltensbiologie wider: Tinbergens «The Study of Instinct»/«Instinktlehre», das 1951 erschien. Zusammengefasst war es das zentrale Ziel dieser frühen Phase der Verhaltensbiologie, instinktives, das heißt angeborenes Verhalten zu verstehen. Zwar halten wir aus heutiger Sicht längst nicht alle der damals entwickelten Modellvorstellungen für zutreffend, so über die Hierarchie der Instinkte oder das Zusammenspiel von Umweltreizen und inneren Faktoren bei der Auslösung instinktiven Verhaltens. In der Summe bleibt aber die herausragende Leistung von Lorenz, Tinbergen und von Frisch bestehen: Durch sie war das Studium des Verhaltens zu einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin geworden, die das Bild vom Verhalten der Tiere gravierend verändert und geprägt hatte. Für diese Leistung wurde den drei Forschern 1973 der Nobelpreis verliehen.

Den Kompass für die Weiterentwicklung der Verhaltensbiologie bis in die heutige Zeit lieferte Nikolaas Tinbergen. In seinem Artikel «On aims and methods of ethology»/«Ziele und Methoden der Ethologie» gab er vor mehr als 50 Jahren den theoretischen Rahmen vor. Demnach können und sollen für jedes Verhaltensphänomen – von der Organisation des Insektenstaates über den Vogelgesang bis hin zum Werkzeuggebrauch der Schimpansen – Erklärungen auf vier unterschiedlichen Ebenen angegeben werden: auf der kausalen, der lebensgeschichtlichen, der funktionalen und der stammesgeschichtlichen.

Was ist damit gemeint? Wenn zum Beispiel nach einer Erklärung für den Gesang des Buchfinken gefragt wird, so können vier unterschiedliche Antworten gegeben werden. Die erste lautet: Die zunehmende Länge der Tage im Frühjahr stellt einen Umweltreiz dar, der von den Vögeln wahrgenommen wird und zur Produktion des Sexualhormons Testosteron im Hoden der Männchen führt. Das Testosteron wird mit dem Blutstrom in das Gehirn transportiert, wo es bestimmte Zentren aktiviert, von denen dann Nervenimpulse an die zum Singen notwendigen Muskeln geleitet werden. Dies ist eine kausale Erklärung. Verdeutlicht wird der Mechanismus des Verhaltens.

Auf dieselbe Frage kann aber auch zweitens geantwortet werden: Ein Buchfink singt, weil er es von seinem Vater während einer für das Gesangslernen sensiblen Phase so gelernt hat. Dies ist eine lebensgeschichtliche Erklärung. Fokussiert wird auf die Ontogenese des Verhaltens, wobei unter Ontogenese der Zeitraum von der Befruchtung der Eizelle bis zum Tod des Individuums verstanden wird.