Der Metzger fällt nicht weit vom Stamm - Thomas Raab - E-Book

Der Metzger fällt nicht weit vom Stamm E-Book

Thomas Raab

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Beschreibung

Der große Metzger, der kleine Metzger und der Ernst des Ablebens. Der Pausenhof – ein Jahrmarkt der Feindlichkeiten Als Willibald Adrian Metzger am ersten Tag nach den Sommerferien zufällig Zeuge eines Streits zwischen Großvater und Vater eines Schülers wird, fühlt er sich zuerst nur unangenehm an seine eigene Kindheit erinnert: Der Schulanfang hat für ihn schließlich noch nie etwas Gutes bedeutet. Zuerst wirkt der Zank unter schlagkräftiger Zuhilfenahme diverser Schultüten recht harmlos, dann aber fallen wüste Drohungen – und der Großvater bricht leichenblass zusammen. Willibalds Blick fällt auf den ängstlichen Enkel, der fluchtartig den Ort verlässt. Als er ihn schließlich einholt, trifft der Metzger mit dem rundlichen und melancholisch wirkenden Buben nicht nur auf eine kleine Version von sich selbst, sondern auch auf Verdachtsmomente, die den Familienstreit in einem beunruhigenden Licht erscheinen lassen. Wieder einmal fällt dem schrulligen Metzger ein Fall vor die Füße, den er eigentlich gar nicht gewollt hat. Und dieses Mal ist er auch noch stärker darin verstrickt, als ihm lieb ist … Der Metzger – ein Original Der Metzger, das ist einer, der alte Dinge liebt. Als Restaurator kennt er die Schönheit eines Gegenstands, wenn dessen abgenutzte Oberfläche eine Geschichte erzählt. Er ist einer, der gerne allein ist, manchmal allerdings war er auch einsam, bevor Danjela in sein Leben trat und es heller und schöner machte. Er ist einer, der in der Schule gemobbt wurde, weil er zu klug und zu weich war für die wilden Bubenspiele am Pausenhof. Einer, der gerne Rotwein trinkt, mitunter viel zu viel. Doch auch, wenn mit dem Wein manchmal die Melancholie kommt, weiß er um die schönen Seiten des Lebens. Und um die lustigen. Vor allem aber ist der Metzger einer, dem das Verbrechen immer wieder vor die Füße fällt, manchmal stolpert er sogar mitten hinein. Und dann muss er, sehr zu seinem Leidwesen, aber zur Freude einer großen Leserschaft, die gemütliche Werkstatt verlassen und Nachforschungen anstellen … Der Raab – ein Kultautor Der Raab, das ist einer, der einen unverwechselbaren Stil hat. Schräger Humor, authentische Charaktere, Wortwitz, feine Gesellschaftskritik; vor allem eine extrem gute Beobachtungsgabe und zugleich die Fähigkeit, die Beobachtungen treffend-komisch aufs Papier zu bannen, das ist die Mischung, die ihn so erfolgreich gemacht hat. Beim Lesen ist es zuweilen schwer zu entscheiden, ob man gespannt der Auflösung entgegenfiebern oder sich lieber doch möglichst viel Zeit lassen möchte, um das Lesevergnügen voll auszukosten. Und vielseitig ist er, der Raab – er schreibt nicht nur verschiedene Kriminalromane, sondern auch Drehbücher. In "Der Metzger fällt nicht weit vom Stamm" begegnet der Metzger seinem Alter Ego – und der Raab beweist in dieser morbid-charmanten Kriminalgeschichte, dass er auch die Kurzform des Krimis meisterhaft beherrscht!

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Thomas Raab

Der Metzger fällt nicht weit vom Stamm

Eine Kriminalgeschichte

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Stübchen eins
Der große Ernst
Ave Caesar
Auf die Plätze, fertig …
Anton & Ernst, die erste
Ossi und der Tongagraben
Stübchen zwei
Die forsche Helene
Der Werner-Opa und AC/DC
Löwenzahn und Vanille
Anton & Ernst, die zweite
Hugo und Batman
Stübchen drei
Der kleine Wessely
Frühaufsteher und andere Helden
Maxi und der Nikolo
Helene und der Löwenkönig
Ein letztes Mal
Anton & Ernst, die dritte
Stübchen vier
Der kurzsichtige Willi
Hugh und die Zimtschnecke
Auch ein X-Man
Waltraud und Chucky
Das Dirndl und der Spitz
Wenn Engerln reisen
Stübchen fünf
Der letzte August
Anton & Ernst, die vierte
Winter im August
Fatzen und Pferdeleberkäs
Anton & Ernst, die letzte
Thomas Raab
Zum Autor
Impressum

In meinem kleinen Apfel,

da sieht es lustig aus:

es sind darin fünf Stübchen

grad wie in einem Haus.

In jedem Stübchen wohnen

zwei Kernchen, schwarz und fein,

die liegen drin und träumen

vom lieben Sonnenschein …

Kinderlied nach einer Melodie vonWolfgang Amadeus Mozart

Stübchen eins

Der große Ernst

Ave Caesar

Er hätte gewarnt sein müssen und einfach zu Hause bleiben an diesem 15. August: den Feiertag genießen, sich des Lebens erfreuen, vielleicht zwischendurch ein Eis holen, eine Klobasse oder Käsekrainer, und es gemütlich angehen. Klingt ja nicht umsonst nur anderswo wie eine Hochschaubahn, ein Aufputschmittel, ein Kräuterbitter: Ferragosto, halb Italien steht Kopf, während sich hierzulande die ganze Geschichte eher nach Bummelzug anhört, einer Pensionistenreise zu irgendeinem Heurigen, einem Wanderausflug zu einem Lebensbaumkreis oder einer Schifffahrt über den Bodensee: Maria Himmelfahrt.

Alles also ziemlich entspannt.

Willibald Adrian Metzger aber wollte es anders, war an diesem Tag der Einsamkeit und Hitze in den Gewölbekeller seiner Werkstatt geflüchtet, stand geschäftig vor der Werkbank, und was dann hereinkam, wird ihm auf Lebzeiten immer wieder Alpträume bescheren, den Schweiß auf die Stirn zaubern und diese Gewissheit verpassen: „Ich hab ihn umgebracht! Umgebracht.“

Aber selbst schuld.

Er mochte ihn eben noch nie. Den August.

Drei davon sind dem Metzger in seinem Leben schon untergekommen. Und erfreuliche Begegnung war da bisher keine dabei. Wenn das also kein böses Omen ist, was dann!

Nummer eins:

Clarissa Hohenecker-August, Frau Doktor der Zahnheilkunde. Das „Heil“ die reinste Verhöhnung, denn der Goldschmied Atilla Konitschek, gleich um die Ecke, hatte mit seinen dreiundachtzig Jahren noch ein ruhigeres Händchen.

Nummer zwei:

Das Wirtshaus Zum sonnigen August. Wenn Willibald Adrian Metzger eines aus jeder Gulaschsuppenverkostung dieses Planeten herausschmeckt, dann die Konservendose von Felix. Was allerdings selbst ihm verborgen bleibt, ist das Ablaufdatum. So durchgeputzt hat es ihn schon lang nicht mehr, der ganze Körper ein sich öffnendes Gefäß.

Nummer drei:

Der Monat August höchstpersönlich. Keinen einzigen hat der Metzger im Alter zwischen sechs und achtzehn Jahren erlebt, dessen einunddreißig Tage er nicht heruntergezählt hätte, als stünde ihm ein Haftantritt bevor. Und dieses Gefühl ist ihm geblieben.

Wie gesagt, er hätte also gewarnt sein müssen, als an diesem 15. August derart schwunghaft seine Werkstatttür aufgestoßen wurde, so energisch hat sich das Glöckchen darüber schon lang nicht mehr gemeldet.

„Hilft einem hier keiner?“

„Tut mir leid, wir haben feiertags geschlossen!“ Und dieses ‚Wir‘ hört sich natürlich wunderbar bedeutungsvoll an, insbesondere als Einmannbetrieb.

„Dann sind Sie also entweder die Putzfrau, ein Einbrecher oder ein Schwarzarbeiter, weil geschlossen schaut definitiv anders aus.“

Schrill die Begrüßung, bohrend, weiblich. So dachte der Metzger zumindest, bis ihm ein junger Mann gegenüberstand. Um die dreißig Jahre alt, klein, zierlich, eine gepflegte Erscheinung, elegant gekleidet, die Haare seitlich kurz, oben lang und sorgsam nach hinten gekämmt, der Gang aufrecht mit leichtem Hohlkreuz, um dieser Welt, wenn schon nicht seine Größe, dann zumindest wie ein Oberbefehlshaber seinen Stolz zu präsentieren. Habt Acht. Rechts schaut. Wenn es einen Übervater Zeus gäbe und unter seinen Gschrappen noch ein Gott der Eitelkeit vakant wäre, hier stünde der perfekte Kandidat.

‚Nein danke!‘, war der erste Impuls des Restaurators, ‚ich muss mir wirklich nicht alles eintreten!‘

Dann aber sah er sie direkt vor seiner Werkstatt aus der geöffneten Schiebetüre eines Kleinbusses herauslachen. Prächtig die Rundungen, glatt wie ein gläsernes Panoramadach hinauf in den Himmel, ausladend der Körper, aber doch von attraktiver Zartheit. Keine schönere Italienerin war dem Metzger bisher untergekommen, von einer Berührung ganz zu schweigen.

„Venezianisch!“, ging er die Treppe empor, hinter ihm der kleine Feldmarshall mit schneidigem Ton: „In terra di ciechi beato chi ha un occhio solo!“

„Heißt jetzt was?“

„Im Land der Blinden ist der Einäugige gut dran!“, kam es spitz wie ein Messer in den Rücken retour, und das „Trottel!“ hat sich der Metzger zum Glück nur gedacht. Auch aus Ehrfurcht diesem Anblick gegenüber: „Chippendale, neunzehntes Jahrhundert. Eine herrliche Anrichte haben Sie da!“, strich er behutsam über ihren Körper.

Jaja, so leicht ist ein Mannsbild zu betören. Nur ein bisschen Glanz und Äußerlichkeit, das reicht – die entsprechenden Nebenwirkungen natürlich inklusive.

Und auch der Metzger hätte dringend seine Finger von dieser Angelegenheit lassen sollen. Aber nein. „Also gut. Und wie machen wir das jetzt? Wer ist vorne?“, wollte er wissen, bevor es die Stufen abwärts ging, das schwere Möbelstück in Händen.

„Was für eine beunruhigend eindimensionale Frage für einen an sich räumlichen Beruf! Wenn Sie nicht grad auf Stelzen stehen, bin ich doch ganz offensichtlich einen Kopf kleiner! Wer, glauben Sie, geht dann wohl besser zuerst?“ Höflich hört sich anders an. Auch unterwegs: „Aufpassen! Nicht so schnell verdammt, ich seh da hinten nichts. Oder wollen Sie mich umbringen?“

Als hätte er eine Vorahnung.

„Und hier hol ich meine Eleonora in drei Wochen wieder ab! Sieben Uhr. Passt das? Oder sind Sie so ein Langschläfer und kein Frühaufsteher?“, deutet er dann auf den an der Wand hängenden Kalender, und der Metzger verstand nicht recht.

„Wen holen Sie ab?“

„Na, meine Italienerin hier!“

„Sie haben ihr einen Namen gegeben?“

„Das will ich wohl meinen!“

Gefällt dem Metzger natürlich, so ein Ansatz. Der Rest aber weniger. „Drei Wochen, sagen Sie? In Anbetracht all meiner anderen Arbeiten ist das viel zu wenig Zeit.“

„Dann eben einundzwanzig Tage oder fünfhundertvier Stunden oder dreißigtausendzweihundertvierzig Minuten. Reicht das? Und für das zweite Stück geb ich Ihnen noch zwei Wochen drauf!“

„Welches zweite Stück?“

So ist das eben, wenn sich ein triebgesteuertes Wesen von Äußerlichkeiten blenden lässt, da kann dann der tiefe Blick ins Innere recht hässlich werden. Worauf die unterste Schublade der Anrichte geöffnet wurde und dem Metzger das Grausen kam.

„Also, Herr Metzger. Kann man da noch etwas machen, oder kann man da noch etwas machen?“

„Wenn ich ehrlich sein soll, ist das schon ein ziemlich trauriger Anblick!“

„Na, das will ich mir ansehen, wie Sie so frisch ans Kreuz genagelt dann auch noch glücklich dreinschauen!“

„Frisch? Ich würde sagen, das gute Stück stammt aus der Rokokozeit!“

Der Metzger hat in seiner beruflichen Laufbahn ja schon viel an hässlichen Exemplaren gesehen, aber dieses Stück hier schlug alles. Ein färbiger, teils vergoldeter Holzjesus, der Lack stellenweise ausgebrochen, die Dornenkrone monströs, das Gesicht von Blut überströmt, der ganze Körper eine Wunde. Wer sich so etwas zwischen den Ficus, den Fernseher und den Einbauschrank in sein Wohnzimmer, die Küche oder gleich ins Schlafzimmer hängt, braucht sich dann wirklich nicht zu wundern, warum ihm nur selten nach Lachen zumute und die Geschichte mit dem Leben, der Liebe und Leichtigkeit ein elendes Kreuz ist.

„Also, Herr Metzger! Können Sie ihn jetzt herrichten?“

„Jetzt sicher nicht. Das wird eine zeitaufwendige Bastelei! Freilegen, Abschleifen. Und allein ihn neu zu bemalen und wieder halbwegs so aussehen zu lassen wie zuvor, ist ein Kunstprojekt.“

„Für Bastel- und Künstlerbedarf hat bei uns grad um die Ecke ein neuer Fachmarkt aufgemacht über zwei Etagen und …“

„Ob sich die Arbeit überhaupt rechnet, ist die Frage.“

„Na, das Rechnen überlassen Sie wohl besser mir!“

Nein, Freunde werden die beiden Herren keine mehr, das wusste der Metzger in diesem Moment bereits. Mit Menschen kennt er sich schließlich ein wenig aus. So zurückgezogen er nämlich lebt, so aufmerksam ist sein Blick. Wie aus der Luke eines Hochstandes. Und Neukundschaften sind für den Forschungseifer des Metzger und seiner von Berufs wegen ausgeprägten Beobachtungsgabe ein ganz besonderer Happen. Kaum betritt so ein unbekannter Gast seine Werkstatt, läuft bei ihm der innere Fragebogen auf Hochtouren. Alter? Familienstand? Beruf?

„Also, geht das in Ordnung? Ja oder ja?“, wurde sein Gegenüber nun immer ungehaltener, tippte dabei mit dem gepflegten Nagel seines Zeigefingers auf die Werkbank, richtete sich noch aufrechter empor. Und während der Metzger seine Antwort gab, kam ihm schon ein erster beruflicher Verdacht.

„Da muss ich Sie enttäuschen. Zum Gehen bring ich es nicht, aber mit dem Rest bemüh ich mich!“, schob er diesem Lackaffen einen Schmierzettel entgegen, durfte sich dabei ein „Aha, ein Witzbold also!“ anhören, sah seinen Verdacht somit gestärkt, reichte dem Herrn einen Bleistift: „Bitte Ihren Namen und die Telefonnummer hinterlassen, damit ich Sie erreichen kann!“, und war sich schließlich völlig sicher. Denn der Selbstverrat, mit Blick auf die stumpfe Mine, hätte eindeutiger nicht ausfallen können.

„Was soll das sein? Schreibwerkzeug jedenfalls keines, maximal ein Zeppelin. Dagegen ist jede Kubanische ein Spickmesser. Irgendein Mandala oder eine Pocahontas kann ich Ihnen damit grau einfärben, Malen nach Zahlen. Haben Sie keinen Bleistiftspitzer?“

„Und an welcher Schule unterrichten Sie?“, konnte sich der Metzger nicht verkneifen, während er ihm seine Füllfeder reichte. Das damit angefertigte Schriftbild jedenfalls hätte wohl jeder Germanist dieser Welt mit einem Nicht genügend abgestraft und jeder Psychiater an das Bundeskriminalamt weitergeleitet. Für den Restaurator natürlich kein Problem. In der Apotheke ums Eck könnte er mit seinen grafologischen Fähigkeiten aushilfsweise anfangen, Rezepte entziffern.

„Als Mathematiklehrer nehm ich an, hab ich recht.“

„Sie nehmen aber viel an, und recht haben wollen Sie damit auch noch?“, warf Schrammel dem Metzger einen abfälligen Blick zu. August Schrammel, um genau zu sein.

Ein August mitten im August, obendrein an einem 15., Maria Himmelfahrt. Da schwingt der Tod ja schon mit. Und umgekehrt natürlich auch, denn so einen Schrammel als Mathelehrer kann man sich wahrscheinlich nur wünschen, um ein ganzes Schuljahr gleich im Vorhinein innerlich abzuhaken, sich auf eine Ehrenrunde einzustellen. Und mit diesem Gedanken sollte der Metzger goldrichtig liegen.

„Wie gesagt, sieben Uhr, passt das?“

„Wenn es sein muss!“

„Geht bei mir nicht anders, tägliche Tagwache fünf Uhr! Der frühe Vogel fängt den Wurm. Schreckliche Entwicklung, wie da immer weniger Menschen zeitig aufstehen, um zu arbeiten und in immer mehr Familien nur mehr die Kinder aus den Federn kriechen, um zur Schule zu gehen.“

Und mit jedem Satz mehr aus diesem Schrammel-Mund wurde die Sehnsucht des Metzger größer, er möge nun bitte endlich verschwinden.

„Und eines rat ich Ihnen! Passen Sie mir ja gut auf meine Eleonora auf!“, fiel dann auch der Abschied erwartungsgemäß nicht freundlicher aus.

Ach, engelhafte Eleonora. Si ego artefix, tu mea Musa.

Als könnte der Restaurator irgendjemandem Leid zufügen, schon gar nicht einer derart herrlichen venezianischen Chippendale-Anrichte, wie Eleonora zweifelsohne eine ist. Der Herr Schrammel hingegen wird sich seiner Gesundheit wegen noch wünschen, die Werkstatt nie betreten zu haben.

Drei Wochen ist das jetzt her.

Oh, du armer August. Ave Caesar, morituri te salutant.

Auf die Plätze, fertig …

Und los.

Der Ernst ist wieder da.

Willibald Adrian Metzger hat ihn völlig übersehen. Und schuld darin ist Eleonore. Gut, er selbst natürlich auch ein wenig.

Es gibt eben Menschen, die vor Verlassen des Eigenheimes jedes Tageshoroskop in- und auswendig kennen, folglich schon im Vorhinein über all ihre Leben bestens Bescheid wissen: das Seelen-, Beziehungs-, Sexual-, Berufsleben … und die der anderen natürlich auch. Völlig logisch natürlich, weil doch der Saturn grad direktläufig wird, Chiron rückläufig, wechselt in die Fische, Mars in den Löwen, Venus in den Krebs und Quinkunx Saturn, dafür Saturn Sextil Neptun, Mars Quadrat Uranus, Pluto Trigon Jupiter, Sonne Opposition Saturn, Konjunktion Merkur, und überhaupt Sonne und Mond in Jungfrau. Alles Schweine eigentlich.

Der Metzger zählt jedenfalls nicht dazu. Für ihn ist die Astrologie artverwandt mit jeder Börsenspekulation und somit wahrlich keine Sternstunde menschlicher Gehirnsubstanz.

Folglich ergeht es ihm jetzt, kaum auf die Straße getreten, als säße er plötzlich in irgendeinem Vergnügungspark hinter dem Steuer eines Box-, Knupp-, Tutschi-, Puff- oder Putschautos. Kurz: Autodrom. Zack, zack, zack. Auweh, Auweh, Auweh.

„Was soll diese Raunzerei, du Jammerlappen! Gewöhn dir das schleunigst ab, weil nur den Spaß allein im Leben, den gibt’s nicht!“, hat ihn sein Vater immer schon wissen lassen. „Drum schreib dir das hinter deine Ohrwascheln, mein Sohn: Dem Ernst des Lebens entkommt man nicht!“

Stimmt natürlich nur bedingt.

Ein Blick auf den Kalender hätte dem Metzger an diesem Morgen nämlich gereicht, um seine Notiz SB darauf zu lesen. All die bunten Einträge aus seiner Kindheit wären ihm ins Gedächtnis gerückt: Großeinkauf bei Löwa, Tagesausflug zu Herzmansky, Museumsbesuch mit Willibald, Kontrolle Leistenbruch bei Dr. Jordan,dazu seine Mutter, wie sie die jeweiligen Spalten beschriftet und mit dem entsprechenden Buntstift einfärbt. Grün für diesen heutigen Tag, weil: „Grün ist die Farbe der Hoffnung, verstehst du, Willi?“ Liebevoll die Drohung des Vaters aushebeln, darum ging es ihr.

SB. Der Ernsti ist wieder da, freu dich darauf!

Dazu ein Herzchen und ein lachender Kreis. Und wäre dieses Punkti-Punkti-Strichi-Strichi-fertig-ist-das-Mondgesichti damals schon ein Mitglied jener unsäglichen Emoji-Sippschaft gewesen, gegen die sogar die Lutz-Familie als Sympathieträger durchgeht, der einst kleine Willibald Adrian hätte zuerst einen großen Kackhaufen danebengesetzt, dann ein Schwallkotz-Smiley und schließlich einen Sarg.

Das gilt übrigens bis heute, denn kaum etwas kann ihm seither derart gestohlen bleiben wie jegliche Erinnerung an diesen elenden Ernst. Ein Elend.

Und gestohlen bleiben kann ihm grad jede Menge.

Es geht ihm eben gar nicht gut. Was natürlich kein Wunder ist, wenn die einzigen beiden Freunde ein wortkarger Hausmeister namens Petar Wollner und ein sprachloses Rotweinregal sind. Entsprechend gleicht sein Kalender einem Schaubild der Traurigkeit. Keine Farben, keine Familien- oder privaten Einträge, keine Verabredungen weit und breit, keine Mondgesichter, und Herzerl schon gar keines.

Niente.

Wenn es aktuell eine Frau an seiner Seite gibt, dann vielleicht die alte Hilde Hawlitschek in der Nebenwohnung.

Gestern, am Sonntag, den 3. September, lief bei ihr wieder ganztags der Fernseher und somit auch die Lindenstraße Folge 770 namens Das Maß ist voll. Und jedes Wort konnte der fernsehlose Metzger durch das dünne Gemäuer herüber in seine Einsamkeit verstehen.

„Einen, sagen wir mal, wunderschönen Guten Morgen allerseits. Wie geht’s?“

„Danke gut! Und Ihnen?“

„Sehr gut!“

Kürzlich hat ihm die alte Hawlitschek im Stiegenhaus ganz aufgelöst einen ihrer Alpträume geschildert, die ein ums andere Mal von derart visionärer Weitsicht sind, dagegen war der Nostradamus nur ein kurzsichtiges Würstel: „Hoff, du hast mich nicht schreien gehört, Willi, aber das war so schrecklich: dass in zwanzig Jahren, wenn ich dann ziemlich sicher längst tot bin, auch die Lindenstraße der Sendeschluss ereilen wird. Unvorstellbar Willi, oder? Wie sollen die zukünftigen Generationen ohne Lindenstraße anständige Menschen werden!“ Ja, Willi nennt sie ihn, wie seine Mutter, Gott hab sie selig. Alles hat eben ein Ende. Eines Tages auch die Lindenstraße. Aus. Schluss. Finito.

„Und, habt ihr mich vermisst, wenigstens ein ganz kleines bisschen!“

„Ach ja, schon. Aber wir haben ja wahnsinnig viel zu tun. Wenn du nur so gut bist und nachher Frau Günsel anrufst, sie hat eine Option auf einen Flug nach Tijuana …“

Nachschauen musste er, der Metzger, wo das liegt. Tijuana? Mexiko, Pazifikküste, direkt an der südlichen Grenze des US-amerikanischen San Diego. Aktueller Präsident: Bill Clinton.

„Wer will dahin?“, flüsterte er. „Die Frau Günsel vielleicht, aber ich sicher nicht! Schon gar nicht allein!“

Ja, allein. Und ohne Hoffnung.

Kein Horoskop weit und breit, das ihm an diesem 3. September 2000 verraten hätte, wie sehr der Mars eines Tages als läufiger Löwe zur Venus wechseln wird, und dann ordentlich Trigon, Quinkunx, sogar Sextil zum Quadrat und vor allem Sonne, Sonne, Sonne. Übersetzt: „Sei geduldig, Willibald. Die guten Jahre stehen dir erst bevor. Du wirst über den größten Peiniger deiner Schulzeit, von dem du heute noch schlecht träumst, stolpern und so deine große Jugendliebe Danjela Djurkovic wiedersehen. Sie wird dir das Leben retten, deinen Heiratsantrag nicht ablehnen und eines Tages deine und die Hawlitschek-Wohnung mit Leben füllen! Dauert aber noch ein paar Jährchen. Und bis dahin bleibt dir nichts anderes übrig, als dich mit der Gegenwart zufriedenzugeben!“

Sprich dem Jahr 2000.

Und da darf der ahnungslose Metzger jetzt nicht gänzlich undankbar sein. Immerhin wurde die angekündigte Millennium-Apokalypse heil überstanden und jede Prophezeiung als reinste Geschäftemacherei überführt. Wenigstens diese Sorge ist somit Geschichte.

Dafür aber hat Österreich dank eines gebrochenen Wortes grad frisch die erste ÖVP-FPÖ-Regierung unter Schüssel-Haider im Parlament sitzen und sich vor lauter Mitfreude über den nun legitimierten Rechtsruck eine europaweite Ächtung eingetreten. Ein paar Kilometer weiter westlich probiert sich ein schmieriger Geschäftsmann namens Donald Trump erstmals als republikanischer Präsidentschaftskandidat und erntet nur Hohn, ist ja auch die reinste Schnapsidee so was: ein hirnloser Weiberheld im Weißen Haus. Ein paar Kilometer weiter östlich hingegen wird Wladimir Wladimirowitsch Putin schon im ersten Wahlgang mit 52,9 Prozent zum russischen Präsidenten gewählt. Ja, und gleich nebenan schafft es die Generalsekretärin der CDU Angela Merkel zur Bundesvorsitzenden ihrer Partei, während hierzulande irgendein Jugendlicher in Wien Meidling zeitgleich mit Ausstrahlung der Lindenstraße Folge 769 (lästigerweise namens Das Spiel ist aus) vierzehn Jahre alt wird und sich möglicherweise wünscht, eines Tages der jüngste zukünftige und hoffentlich nicht auch erste jemals durch einen Misstrauensantrag abgesetzte österreichische Bundeskanzler zu werden. Träumen wird man ja wohl noch dürfen, und wie hat der Metzger-Papa schon immer gesagt: „Drum schreib dir das hinter deine Ohrwascheln, mein Sohn: Dem Ernst des Lebens entkommt man nicht!“

So also betritt der Metzger an diesem Morgen ahnungslos die Straße und traut seinen Augen ob all des Trubels nicht. Wohlgemerkt müden Augen, denn die letzten Tage hat der Restaurator durchgehend in seiner Werkstatt verbracht.

Mit Eleonora.

Man gönnt sich ja sonst nichts.

Abgesehen davon steht dieses „Und hier hol ich meine Eleonora wieder ab! Sieben Uhr“ unmittelbar vor der Tür. Ergo lautete die Devise der letzten Tage: arbeiten, arbeiten, arbeiten, zwischendurch Fastfood, sprich Flüssignahrung, Rotwein, und sich im hinteren Werkstattbereich auf der Chaiselongue zur Ruhe legen.

Jetzt ist der Metzger ja ein Mensch jener Sorte, der an irgendeiner Supermarktkassa steht und garantiert genau bei ihm die Papierrolle ihr trauriges Ende erreicht oder das Wechselgeld, oder ein Stromausfall alle Systeme lahmlegt. Logisch ging ihm dann auch mitten in der Nacht, justament vor dem Finale, die Politur aus.

So also soll ihn sein erster Weg an diesem Morgen in ein entsprechendes Fachgeschäft führen – lautet zumindest der Plan.

Denn schon nach den ersten Schritten wird er von einem Fließen erfasst, davon kann der aktuell sehr stockende Verkehr nur träumen. Menschenmassen. Der Gehsteig ist ein Laufweg geworden. Sogar die so angenehm stille Nebenstraße, deren Parkreihen nun wochenlang wie ein nahezu zahnloses Gebiss in den Himmel grinsen durften, gleicht einer Werbefläche für jede x-beliebige, ungarische Dentalklinik. Jede Lücke geschlossen. Nichts mehr frei. Hollywoodlächeln. Das ganze Grätzel zurückgepfiffen von irgendwo. Ausland, Inland, Meer, Berg, Strand. Völlig egal. Alle wieder da. Und der Metzger weiß Bescheid, erkennt ihn auf Anhieb: ‚Hallo Ernstl.‘

Die Zeit kennt eben kein Erbarmen. Ruckzuck geht das, Jahr für Jahr. Zweiundsechzig Tage dahin wie ein Hundertmeterlauf. Der Juli und August stehlen sich hinterrücks vorbei, als wären sie gar nicht erst da gewesen, und eine Wolke der Aufgeregtheit, Fiebrigkeit legt sich über die Stadt. Von nun an nämlich ist es für einen Großteil der Bevölkerung vorbei mit der Gewaltenteilung, sind Legislative, Exekutive und Judikative wieder vereint unter Dach und natürlich Fach: Mathe, Deutsch, Englisch, Physik …

SB. Schulbeginn. Hurra.

Er ist also wieder da. Der Ernst des Lebens.