Der Milosevic-Prozess - Germinal Civikov - E-Book

Der Milosevic-Prozess E-Book

Germinal Civikov

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Beschreibung

Am 11. März 2006 wurde Slobodan Milosevic tot in seiner Zelle in Den Haag aufgefunden. Damit fand der sogenannte "Prozess des Jahrhunderts" gegen den Präsidenten des dritten und letzten Jugoslawien ein jähes, unerwartetes Ende. Germinal Civikov, während des Prozesses von Beginn an als Journalist anwesend, berichtet in diesem Buch vom Verlauf und Wesen des Verfahrens, wie er es beobachtet hat. Die Beweisführung der Anklage erfuhr ein komplettes Fiasko, das Verfahren erwies sich als politischer Schauprozess, in dem Richter und Ankläger in ihren Rollen oft nicht zu unterscheiden waren, während die so genannte "Wahrheitsfindung" zu einer Farce geriet, deren Drehbuch politischen Vorgaben folgte.

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Seitenzahl: 354

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Germinal Civikov Der Milošević-Prozess

© 2006 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien Lektorat: Erhard Waldner Umschlaggestaltung: Gisela Scheubmayr

ISBN: 978-3-85371-812-4 (ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-264-1)

Fordern Sie einen Gesamtprospekt des Verlages an: Promedia Verlag Wickenburggasse 5/12 A-1080 Wien

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Der Autor

Germinal Civikov wurde 1945 in der bulgarischen Donaustadt Russe geboren und lebt seit 1975 in den Niederlanden. Er studierte in Sofia und Leiden Germanistik und Slawistik und war bis 2004 Redakteur bei der Südosteuropa-Redaktion der „Deutschen Welle“. Seine kritischen Beobachtungen zum Milošević-Prozess veröffentlichte der Autor ab 2002 in zahlreichen Artikeln für niederländische, deutsche und bulgarische Zeitungen.

2004 war er an dem zweiteiligen Dokumentarfilm „Der Fall Milošević“ beteiligt, den der Regisseur Jos de Putter für das niederländische Fernsehen drehte und der dort mehrmals zu sehen war.

Jos de Putter, Jahrgang 1959, gehört zu den führenden niederländischen Filmemachern. Im Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks VPRO drehte er 2004 den zweiteiligen Dokumentarfilm „De zaak Milošević“ („Der Fall Milošević“).

Cathrin Schütz, geboren 1971 in Friedberg/Hessen, studierte Politikwissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Von ihr erschien Ende 2003 das Buch „Die NATO-Intervention in Jugoslawien. Hintergründe, Nebenwirkungen und Folgen“.

Inhalt

VORWORT ZUR 2. AUFLAGE
DER BEOBACHTER
DIE ÜBERFÜHRUNG
DIE ANKLAGE UND IHRE ZEUGEN
Insider
Opfer
Täter
Politiker und hochrangige Militärs
DIE SACHVERSTÄNDIGEN
DER ERSTE ZEUGE DER ANKLAGE
PADDY ASHDOWNS FELDSTECHER I
DER INSIDER RATOMIR TANIĆ
DAS NEIN UND SEIN PREIS – DER INSIDER RADOMIR MARKOVIĆ
DOBRO, GOSPODINE LAZAREVIĆU!
DER INSIDER ALEKSANDAR VASILJEVIĆ
DER INSIDER ZORAN LILIĆ
DER INSIDER BORISAV JOVIĆ
K WIE KAFKA
27. Mai 2002
3. Juni 2002
4. Juni 2002
6. September 2002
9. Januar 2003
DER FALL RAČAK UND SEINE ZEUGEN
KAPETAN DRAGAN
„ES IST NICHT SACHE DES ZEUGEN, AUF DIESE FRAGE ZU ANTWORTEN“
ŠUMAR, WO BIST DU?
DAS GERICHTSLABORATORIUM
ANWÄLTE DER ANKLAGE
DER LETZTE ZEUGE DER ANKLAGE
CARLA DEL PONTE IST GLÜCKLICH
DER TIEFERE SINN EINES „JOINT CRIMINAL ENTERPRISE“
DIE VERTEIDIGUNG
DER AUFSTAND DER ZEUGEN
DIE RUSSEN KOMMEN
HAMLET IN DEN HAAG
EPOCHE DER LÜGNER
ZEITVERSCHWENDUNG
BILD UND GEGENBILD
NOTFALLS OHNE DEN ANGEKLAGTEN?
DIE SKORPIONE
WER LÜGT DENN DA?
PADDY ASHDOWNS FELDSTECHER II
PRAGMATISCH UND EMPIRISCH
NICHT MEHR SCHLACHTEN!
DER LETZTE ZEUGE
WIE MILOŠEVIĆ GESTORBEN WURDE
SCHLUSSWORT
GEDANKEN ÜBER DAS ERBE DES MILOŠEVIĆ-PROZESSES (von Cathrin Schütz)
GLOSSAR
ABKÜRZUNGEN
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VORWORT ZUR 2. AUFLAGE

SlobodanMilošević: Und Sie sagen als Zeuge hier aus, dass ich Jugoslawien zerstört habe, während Sie selber für Jugoslawien waren?

Stipe Mesić: Nicht ich bin hier angeklagt…

Slobodan Milošević: Darüber würde doch jedes Kind in Jugoslawien lachen.

Stipe Mesić: Ich denke, wir können das sehr schnell klären. Nicht ich bin hier angeklagt.

Slobodan Milošević: Das ist es ja eben, das ist es ja eben.*

„Die Geschichte hat die Geographie gefressen.“

(Paul Celan)

Die heute Zwanzigjährigen kennen dieses Land nicht mehr aus eigener Erfahrung. Nur historische Landkarten zeugen noch von Jugoslawien, errichtet nach dem Ersten Weltkrieg wie für die Ewigkeit auf den Ruinen des Habsburger und des Osmanischen Reiches. Ein künstlicher Staat sei es gewesen, hieß es bereits in den 1980er Jahren, als Jugoslawien in den Strudel einer wirtschaftlichen und politischen Krise geriet. Ein künstlicher Staat – das war wohl die implizite Botschaft – ist etwas Unnatürliches und eigentlich Unerwünschtes. Sollte man so einen Staat nicht lieber seinem natürlichenSchicksal überlassen und gelegentlich der Natur etwas nachhelfen? Natürliche Staaten gibt es freilich nicht, sind sie doch alle Artefakte eines politischen Willens und in dem Sinne künstlich, die Bundesrepublik Deutschland nicht anders als die untergegangene Bundesrepublik Jugoslawien. Damit hatte sich allerdings eine völkische Staatsidee zurückgemeldet, die man im Schutt des Zweiten Weltkrieges für begraben hielt. Etwas bösartiger hieß es, Jugoslawien sei ein sich überlebter Entwurf der Siegermächte im ersten Weltkrieg gewesen, ein von „den Serben“ dominierter Staat, den es eigentlich nie hätte geben dürfen. Schließlich war auch von einem „Völkergefängnis Jugoslawien“ die Rede, aus dem die freiheitsliebenden Völker ausbrechen wollen. Wen konnte es dann noch wundern, als der Westen Ende 1991/Anfang 1992 seine völkerrechtlichen Bedenken fallen ließ und die einseitig erklärte staatliche Souveränität von Slowenien und Kroatien anerkannte?

Nein, der Erhalt Jugoslawiens war keine Option in der Balkan-Politik der westlichen Wertegemeinschaft. Aus unterschiedlichen Interessen wollte der Westen offensichtlich die Auflösung Jugoslawiens und er hat sie diplomatisch, politisch und militärisch vorangetrieben. Während des gesamten Prozesses von Stabilisierungsversuchen und Zerfall galt seine Unterstützung nur den sezessionistischen Kräften. Wer hingegen an Jugoslawien festhielt und sich für den Erhalt der Föderation einsetzte, konnte in den Augen des Westens keine Gnade finden. Um nur ein Beispiel zu nennen: Während der frisch gewählte kroatische Präsident Franjo Tudjman, der aus seiner faschistischen Gesinnung keinen Hehl machte, 1992 in den europäischen Metropolen mit allen Ehren begrüßt wurde, bekam der jugoslawische Prämier Milan Panić, ein aus den USA eingereister biederer Geschäftsmann, einen eisigen Empfang in Bonn, bei dem ihm der Kanzler Helmut Kohl vor allen Kameras den Händedruck verweigerte. Daher hätte man erwartet, dass man den endgültigen Zerfall Jugoslawiens als ein erwünschtes Ergebnis begrüßen würde, als einen Erfolg politischen Handelns, an dem führende westliche Politiker sich verdient gemacht haben. Es ist aber nicht so. Die westlichen Politiker gehen sehr bescheiden mit ihren Verdiensten für die Auflösung Jugoslawiens um. Keiner von ihnen will sich damit schmücken, am liebsten reden sie nicht darüber. Der Ausdruck „die Zerstörung Jugoslawiens“ scheint sprachlich negativ besetzt zu sein. Es ist von einer Schuld die Rede, mit der man jemanden belasten kann. Die westlichen Politiker, die so gut sie nur konnten die Desintegration Jugoslawiens vorangetrieben haben, wollen freilich an dieser Schuld nicht mittragen. Diese liege voll und ganz – und das lassen uns die Medien auch heute noch wissen – bei jenem Mann in Belgrad, der es bis zu seinem bitteren Ende nicht lassen konnte, an Jugoslawien festzuhalten, nämlich beim serbischen und danach jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milošević.

Diese Behauptung auch strafrechtlich zu beweisen, schickte sich 1999 der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien an, hier kurz Jugoslawien-Tribunal genannt. Unter den 66 Klagepunkten der drei Anklageschriften gegen Milošević – Völkermord, Vertreibung, Deportation und die ganze Palette von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, begangen in Kroatien, Bosnien und Kosovo – findet sich freilich keiner, der „Zerstörung von Jugoslawien“ oder ähnlich lautet. Es wird aber immer wieder ausdrücklich hervorgehoben, Milošević habe die Zerstörung von Jugoslawien betrieben, damit er auf dessen Ruinen im Geiste seiner nationalistischen Gesinnung ein Groß-Serbien errichten könne. Also gab sich die Anklagebehörde viel Mühe, die nationalistische Gesinnung des Angeklagten zu beweisen, denn wie käme er sonst zu seinen großserbischen Absichten und Plänen, die ihm ein Völkermord und zahllose andere Kriegsverbrechen wert waren. Wichtig schien es der Anklagebehörde des Tribunals in diesem Zusammenhang auch, die Schuld von Milošević zu beweisen, Jugoslawien bewusst zerstört zu haben, und zwar, indem er zu diesem Zweck ein „gemeinsames verbrecherisches Unternehmen“ („joint criminal enterprise“) organisiert und angeführt habe.

Der Belastungszeuge, der den Beweis liefern sollte, war kein geringerer als Stipe Mesić. 1990 saß er als gewählter Vertreter des damals noch jugoslawischen Kroatiens in der jugoslawischen Bundespräsidentschaft, in der er erst als Vizepräsident und ab Juni 1991 als letzter Präsident tätig war, um es danach zum Präsident des unabhängigen Kroatiens zu bringen. Stipe Mesić schaffte es also in relativ kurzer Zeit zum Präsidenten zweier verschiedener Staaten gekürt zu werden, erst des jugoslawischen Bundesstaates und später des nicht mehr jugoslawischen Kroatiens. Diese einzigartige politische Laufbahn des Zeugen musste seiner Aussage ein besonderes Gewicht verleihen. Also schleuderte am 2. Oktober 2002 der kroatische Präsident Stipe Mesić ins Gesicht des gestürzten jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milošević, dieser und sein Regime hätten planmäßig an der Zerstörung Jugoslawiens gearbeitet. Mesić habe Milošević schwer belastet, indem er ihm die Schuld an der Zerstörung Jugoslawiens vorgeworfen habe – berichteten die Medien.

Was im Kreuzverhör von dieser schweren Belastung übrig blieb, konnte man nur im Gerichtssaal erfahren. Milošević zitierte die Antrittsworte des Zeugen, als er im Juni 1991 das Amt des Präsidenten Jugoslawiens übernommen hatte. „Ich bin nach Belgrad gekommen, um der letzte Präsident Jugoslawiens zu sein“, habe Mesić erklärt. Einige Monate später, nach der Unabhängigkeitserklärung Kroatiens, sei Mesić nach Zagreb zurückgekehrt und habe vor dem dortigen Parlament erklärt: „Ich habe den Auftrag erfüllt, Jugoslawien gibt es nicht mehr“. Der Zeuge widerspricht heftig. Er habe sich eigentlich für eine jugoslawische Konföderation eingesetzt, die Milošević abgelehnt hätte. Es handelt sich aber um zwei öffentliche Statements, sie haben nun einmal den Wortlaut, den sie haben, daran kann man nichts ändern. Dann verweist der Angeklagte auf ein Buch, das Mesić 1992 geschrieben hat. Es sind seine politischen Memoiren, erschienen unter dem Titel „Wie wir Jugoslawien zerstört haben“. Der Angeklagte zitiert aus einem Presse-Interview, das Mesić anlässlich seines Buches gegeben hat. Auf die Frage, wie er denn zum Titel seines Buches gekommen sei, habe Mesić Folgendes erklärt: "Mein ursprünglicher Titel lautete Wie ich Jugoslawien zerstört habe. Herr Genscher hat mir aber angedeutet, dass in Europa so ein Titel vielleicht nicht gut ankommen würde. Genscher hat noch hinzugefügt, dass wir alle zu der Zerstörung von Jugoslawien beigetragen hätten. Dies schien mir akzeptabel und daher kommt es, dass der Titel meines Buches jetzt so lautet.“ Ob das so stimme, will der Angeklagte wissen. Ja, das sei korrekt, bestätigt Mesić und ergänzt mit einigem Stolz, dass sein Buch eine zweite Auflage erreicht habe, dann aber unter dem Titel „Wie Jugoslawien zerstört wurde“.

Ist das nicht interessant? Von seiner persönlichen Täterschaft („Wie ich Jugoslawien zerstört habe“) geht der Autor Stipe Mesić zur kollektiven über („Wie wir Jugoslawien zerstört haben“) und endet bei einer anonymen Täterschaft („Wie Jugoslawien zerstört wurde“). Und dies alles, weil ihm der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher geraten habe, seine Angeberei etwas zurückzuschrauben, denn in Europa komme man als Zerstörer Jugoslawiens nicht gut an. (Übrigens geht Genscher in seinen eigenen Memoiren äußerst behutsam mit seinem eigenen Verdienst um, Jugoslawien zu Grabe getragen zu haben, da könnte sich Mesić nur ein Beispiel nehmen.) Mit seiner öffentlichen Prahlerei, persönlich die Zerstörung Jugoslawiens herbeigeführt zu haben, muss Mesić der Anklagebehörde des Tribunals besonders brauchbar und günstig aufgefallen sein. Soll doch der Zeuge, der Milošević vor dem Gericht und aller Öffentlichkeit belastet, Jugoslawien planmäßig zerstört zu haben, einer sein, der sich selber mit dieser Leistung brüstet! Und Stipe Mesić tut es. Als Zeuge der Anklage wirft er Milošević dasjenige vor, was er voll Stolz für sich selber beansprucht und in alle Welt hinausposaunt hat. Man muss halt auf der richtigen Seite stehen, nicht wahr, auf der Seite derjenigen, die Anklagen erheben. Stipe Mesić, der seine politische Karriere als einer der Zerstörer Jugoslawiens gemacht hat und stolz darauf ist, darf andere belasten, Jugoslawien zerstört zu haben. Und er genoss es, das war ihm im Gerichtssaal anzusehen. Will ihm das jemand übel nehmen? Die Richter auf jeden Fall nicht, vielleicht fanden sie das ganze Spektakel sogar amüsant.

Die Zeugenaussage von Stipe Mesić war von keiner besonderen Bedeutung für den Milošević-Prozess, sie war aber sehr typisch als Verfahrensweise einer Strafjustiz, die es bisher nicht gab. Diese schien einen besonderen Gefallen daran zu finden, ihren prominentesten Angeklagten durch einen Zeugen zu belasten, der selber dasjenige betrieben hat, was er dem Angeklagten vorwirft, davon aber unbelastet bleibt und sich nicht zu verantworten braucht. Das empört natürlich immer wieder den Angeklagten, und wenn er dann im Kreuzverhör fragt, wie komme denn der Zeuge dazu, ihm die Verbrechen zu unterstellen, die er selber begangen hat, und wenn der Zeuge ihm dann erwidert: ja, aber nicht ich bin hier angeklagt, Herr Milošević – dann schmunzelt der Ankläger Geoffrey Nice vergnügt und tuschelt erheitert mit seinem Team. Dadurch verliert die Beweisführung der Anklage ihren Sinn, wenn dieser sein sollte, der Wahrheitsfindung und der Gerechtigkeit näherkommen zu wollen. Sie gewinnt aber eine gleichsam ästhetische Dimension, die kein normales Strafverfahren zu bieten vermag.

So behaupten manche Zeugen, jugoslawische Flugzeuge hätten ihr Dorf in Schutt und Asche gelegt, Milošević aber kann nachweisen, dass es sich um Luftangriffe der NATO gehandelt haben muss. Dann holt er zu einer Tirade gegen die NATO aus, die Richter schalten ihm das Mikrophon ab, tuscheln kurz miteinander und ermahnen ihn freundlich: Das macht doch alles keinen Sinn, Herr Milošević, als Jurist müssten Sie das wissen, nicht die NATO ist hier angeklagt!

Zu den Gepflogenheiten dieser neuen Strafjustiz gehörten auch die vielen anonymen „beschützten“ Zeugen und „geschlossenen Sitzungen“, wobei die öffentliche Sitzung auf langen Strecken des Prozesses zur Ausnahme wurde. Was durfte man im Besuchersaal nicht hören oder sehen? Was wollte man der Öffentlichkeit vorenthalten? Als ein Laie auf dem Gebiet des Strafrechts versteht man möglicherweise nicht alles richtig. Auch ein Laie weiß aber, dass man sich als Zeuge strafbar macht, wenn man nicht die Wahrheit spricht, dass der Ankläger auch der Wahrheitsfindung verpflichtet ist und dass der Richter sich nicht wie ein Assistent der Anklage verhalten darf. Wie soll man sich dann Folgendes erklären: Der Ankläger zeigt den Richtern drei Fotos: ein Hemd, eine ärmellose Weste und eine Jacke, die jeweils drei übereinstimmende Einschusslöcher aufweisen. Dann erklärt er, dass die Kleidungsstücke seinem Zeugen gehören. Dieser habe eine Massenerschießung von 147 Kosovo-Albanern überlebt, die aus kurzem Abstand mit einem schweren Maschinengewehr niedergemäht wurden. Dabei seien zwei Opfer auf ihn niedergestürzt und haben ihn bedeckt. Später habe er gemerkt, dass die Kugeln durch Jacke, Weste und Hemd gegangen waren, ohne ihn zu verwunden. Dann richtet sich der Ankläger an den Zeugen, ein älterer und finster blickender Mann. Was sehe er auf dem Foto, wisse er, was das ist? Das sei sein Hemd, erklärt der Zeuge resolut. Sein Hemd, das von Kugeln durchlöchert ist. Kann der Zeuge zeigen, wo die Kugeln hindurchgegangen sind? Da, da und da, weist der Zeuge auf die Löcher. Nächstes Foto, bitte, sagt der Ankläger, und es folgen Weste und Jacke. An der Jacke kann er das dritte Loch nicht erkennen, wo ist es denn, ärgert sich der Zeuge; er wisse ganz genau, dass es drei Löcher gab. Abschließend erklärt er, dass es diese Löcher in seiner Kleidung vor der Erschießung nicht gab, das sei er sich ganz sicher. Die Richter hören sich alles gelassen an. Dann kommt das Kreuzverhör. Wie kann der Zeuge erklären, dass die Kugeln eines Maschinengewehrs seine Kleider durchbohrt, ihn aber unversehrt gelassen haben, fragt der Angeklagte. Der Zeuge erklärt feierlich, es sei Gottes Hand gewesen, die ihn beschützt habe, und dass er gekommen sei, um vor diesem hohen Gericht die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sprechen. Milošević ist von dieser wunderlichen Erklärung des Zeugen nicht ganz überzeugt und fragt nach: „Wissen Sie denn nicht, dass ein Maschinengewehr aus acht Meter Entfernung mit Sicherheit zwei Körper, wenn nicht auch mehr durchbohren würde?“ Dann greift der Richter ein: „Der Zeuge kann nur darüber aussagen, was ihm geschehen ist. Er kann nur seine Beschreibung des Geschehenen geben.“ Der Ankläger hieß Dirk Ryneveld, der Richter hieß Richard May, der Zeuge hieß Milazim Thaqi und zugetragen hat sich das alles am 14. Juni 2002.

Würde es in einem normalen Strafverfahren ein Ankläger wagen, einen solchen Zeugen dem Richter vorzuführen? Und dann allen Ernstes Fotos von drei durchlöcherten Kleidungsstücken vorzulegen, um jeden Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit auszuräumen? Wenn jemand meinen würde, es handle sich um einen pikanten Einzelfall, der sei eines Besseren belehrt: ähnliche Pikanterien kommen im Milošević-Prozess zu Dutzenden vor. Und kein einziges Mal wurde ein Belastungszeuge, der offensichtlich gelogen hat, vom Richter auch nur ermahnt, dass er sich damit strafbar mache. Irgendwann hat man Mühe, diesen Prozess als Strafverfahren ernst zu nehmen. Irgendwann wird man voreingenommen und glaubt keinem Zeugen der Anklage mehr. Aber auch angesichts der in Raum und Zeit überdimensionalen Anklage, die gleichsam als „work in progress“ während des laufenden Prozesses mehrfach geändert wurde, stellte sich immer öfter die Frage, wozu dies alles. Ich glaube, man hatte sich vorgenommen, ein von Politikern und Medien erzeugtes Bild vom Zerfall Jugoslawiens, in dem Milošević der Oberschurke ist, auch noch in einem Prozess gegen ihn strafrechtlich zu beweisen. Wenn aber das Bild nicht stimmt und wenn sich der Angeklagte zu verteidigen weiß, hat man ein Problem. Um dieses Problem zu lösen und ihrem Auftrag gerecht zu werden, meinten Richter und Ankläger wohl, im Milošević-Prozess locker mit ihrer Berufsethik umgehen zu dürfen. Weil es wenig gute Zeugen gibt, lässt man gleich 400 antreten. Wenn der Angeklagte reihenweise Zeugen der Lüge überführt, versucht man, ihm einen Pflichtverteidiger aufzuzwingen. Wenn ein Zeuge sich widerspricht, rückt ihm der Richter die Antwort zurecht und ermahnt den Angeklagten, den Zeugen nicht zu verwirren. Wenn ein prominenter Belastungszeuge wie NATO-Oberbefehlshaber Wesley Clark sich bedrängt fühlt, verlässt er kurz den Saal, um sich mit Ex-Präsident Bill Clinton telefonisch zu beraten. Wenn der Ankläger es nötig findet, erhebt er mitten im laufenden Verfahren eine neue Anklage. Etwa „Völkermord“. Wenn ein Anklagepunkt unhaltbar wird, ändert er den Wortlaut. So war Milošević für das Gericht irgendwann kein Nationalist mehr, er habe aber den Nationalismus zu seinen großserbischen Zielen instrumentalisiert, hieß es. Irgendwann hatte er auch kein „Groß-Serbien“ mehr vor Augen, er wollte aber, so die Anklage, ein „größeres Serbien“; oder „einen Staat für alle Serben“, was auch immer das bedeuten möge. Milošević, hieß es, habe seine Verbrechen als Leiter eines gemeinsamen verbrecherischen Unternehmens begangen. Als die Beweise ausblieben, hieß es, die Angehörigen dieses gemeinsamen Unternehmens brauchten nicht dieselben Ideen zu teilen, konnten miteinander verfeindet sein, brauchten sich gar nicht zu kennen, ja, brauchten gar nicht voneinander zu wissen. Das hat es alles gegeben, das hat man alles beobachten können und die Richter hießen es gut. Und irgendwann waren fünf Jahre um, der Prozess war ein Scherbenhaufen und der Angeklagte war tot.

Ob Milošević gute oder schlechte Politik gemacht hat, steht hier nicht zur Debatte. Auch nicht, ob es eine gute oder schlechte Idee war, Jugoslawien, irgendein Jugoslawien als Staatsform erhalten zu wollen. Dieses Buch ist keine historische oder strafrechtliche Studie. Es hat einen eher empirischen Charakter, indem es von Beobachtungen im Gerichtssaal berichtet und sich bemüht, dies wahrnehmungsgetreu zu tun. Es besteht zum großen Teil aus mehreren einzelnen Geschichten. Dabei wird die Subjektivität des Wahrgenommenen und der Auswahl der Geschichten nicht in Abrede gestellt. Freilich musste ich oft staunen, wie sehr sich andere Medienberichte von meinen unterschieden, und zwar nicht nur in der Bewertung, sondern schon in der sachlichen Wiedergabe. Über die Zeugenverhöre, die besonders ungünstig für die Beweisführung der Anklage verliefen, wurde überhaupt nicht berichtet. Daher nehme ich es gelassen, sollte man mir selektive Einseitigkeit vorwerfen. Gerade durch die selektive Einseitigkeit der führenden Medien entstand in der Öffentlichkeit das Bild einer Erfolgsgeschichte dieses unseligen Prozesses, die nur durch die Versuche des Angeklagten getrübt wurde, den Rechtsgang zu sabotieren. Das ist nicht wahr. In Wirklichkeit war die Beweisführung der Anklage ein einziges Fiasko, und zwar schon mit den ersten Belastungszeugen. Als dann die Zeugen der Verteidigung hinzukamen, war das Fiasko komplett.

Wie es z. B. um die Beweislage in der Bosnien-Anklage gegen Milošević bestellt war, konnte man bald nach seinem Tod an zwei wichtigen Dokumenten ablesen: am bosnischen „Atlas der Kriegsverbrechen“ 2009 und am Urteil des Internationalen Gerichtshofs (IGH) von 2007 in der Klage Bosniens gegen Serbien wegen Völkermordes. Im „Atlas“, veröffentlicht vom bosnischen „Zentrum für Ermittlungen und Dokumentationen“, werden namentlich alle 97.207 im Krieg getöteten muslimischen, serbischen und kroatischen Zivilisten und Soldaten genannt. Nach dieser neuesten Ermittlung der Opferzahl gibt es also keine 250.000 bis 300.000 muslimischen Opfer, wie es uns die Medien weißmachen wollten. Das Bild ändert sich zusätzlich, wenn man die Zahl der Kriegsopfer in Relation zu den ethnischen Bevölkerungsgruppen setzt. Die Muslime, 44 Prozent der Bevölkerung, haben 66 Prozent der Opfer zu beklagen. Die Serben, 31 Prozent der Bevölkerung, stellen 26 Prozent der Opfer. Die übrigen 8 Prozent der Opfer sind Kroaten, die einen Bevölkerungsanteil von 17 Prozent ausmachten. Die Zahl der im Krieg getöteten und verschollenen Muslime beläuft sich auf etwa 64.000. In Relation zu ihrem Bevölkerungsanteil haben also die Muslime mehr als doppelt so viel Opfer zu beklagen als die Serben. Dies lässt sich aber z. T. auch dadurch erklären, dass die bosnischen Muslime auch gegeneinander gekämpft und dass sie auch mit den Kroaten Krieg geführt haben. Nicht alle Opfer auf muslimischer Seite haben also die bosnischen Serben zu verantworten. Alle drei Bevölkerungsgruppen haben sich gegenseitig Schreckliches angetan, eine herausragende Mordlust oder eine Völkermordabsicht der Serben ist allerdings nicht zu erkennen. Beim zweiten Dokument handelt es sich um das Urteil einer höchsten gerichtlichen Instanz. Am 26. Februar 2007 hat der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag sein Urteil in der Klage Bosniens gegen Jugoslawien bzw. Serbien gesprochen. Zwar übernahm der IGH ohne weitere Überprüfung die Entscheidung des Jugoslawien-Tribunals, die Massenmorde um Srebrenica im Juli 1995 seien als Völkermord einzustufen. Sein Urteil aber lautete, es gebe keine Beweise, dass die Führung in Belgrad am Krieg in Bosnien beteiligt gewesen war, dass die politische und militärische Führung der bosnischen Serben von Belgrad kontrolliert wurde und dass Belgrad für den Srebrenica-Völkermord eine Verantwortung trägt. Die Beweise, die der IGH für sein Urteil benötigte, ließ er sich vom Jugoslawien-Tribunal geben. 13 der 15 Richter beim IGH haben dann diese Beweise offensichtlich anders gewogen und bewertet als die Ankläger des Tribunals und mit ihnen auch die Medien. Zwar ist der IGH nur für zwischenstaatliche Konflikte zuständig, die Kompetenz, strafrechtliche Beweise nach ihrer Stichhaltigkeit einzuschätzen, muss man ihm wohl lassen. Und wenn es seinem Urteilsspruch zufolge keine ausreichenden Beweise gibt, dass Belgrad am Bosnien-Krieg beteiligt gewesen sei, die serbisch-bosnische Führung kontrolliert habe und für den Srebrenica-Völkermord die Verantwortung trage, dann kann man dieses Urteil ohne weiteres auf die Beweislage in der Bosnien-Anklage gegen Milošević beziehen. Nur war der Angeklagte zu diesem Zeitpunkt schon ein Jahr tot.

„Ich war sprachlos“ – lässt die ehemalige Chefanklägerin Carla del Ponte in ihrem 2010 erschienenen Buch wissen, was sie 2007 von diesem Urteil des IGH hielt **. Sie war empört. Ehrlicherweise verheimlicht sie in ihrem Buch jedoch nicht, dass sie sich sofort um eine Umdeutung dieses Urteils bemühte, damit es günstiger bei der Öffentlichkeit ankomme. Und tatsächlich erklärte sie 2007 in den Medien, mit dem Urteil des IGH sehr zufrieden zu sein, weil es den Tatbestand des Srebrenica-Völkermords bestätige und Belgrad vorwerfe, nicht vollständig mit dem Tribunal zusammenzuarbeiten.*** Und siehe da, auch die Medien begrüßten einstimmig das Urteil des IGH, wonach Serbien verurteilt worden sei, nicht alles unternommen zu haben, den Srebrenica-Völkermord zu verhindern. Da war Antonio Cassese, langjähriger Präsident des Jugoslawien-Tribunals, schon aufrichtiger in seiner Reaktion. Auch er empörte sich über das Urteil des IGH, brachte aber seine Empörung auf den folgenden Punkt: „Und wenn Ex-Präsident Milošević noch am Leben wäre, hätte man ihn von der Anklage des Völkermords freigesprochen.“**** Ein Freispruch für Milošević aufgrund Mangel an Beweisen, das wäre ja die reinste Katastrophe, meinte wohl Richter Cassese. Wie gut, dass Milošević nicht mehr am Leben war.

Germinal Civikov Den Haag, im Juli 2013

* Aus dem Verhör des ehemaligen Präsidenten Kroatiens Stipe Mesić als Zeuge der Anklage am 2. Oktober 2002.

** Carla del Ponte, Im Namen der Anklage. Meine Jagd auf Kriegsverbrecher und die Suche nach Gerechtigkeit, Frankfurt/Main 2010, S. 457ff.

*** In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26.2.2007.

**** In: La Repubblica/Der Standard vom 28.2.2007.

DER BEOBACHTER

Irgendwann im 20. Jahrhundert wurde aus dem Beobachter ein Fachmann, jemand, der sich auf das Beobachten spezialisiert hat. Er beobachtet nicht einfach so, nein, von ihm wird erwartet, sich im Beobachten auszukennen. Der Flaneur, der nicht nur als literarische Figur aus dem 19. Jahrhundert gelassen durch Straßen und Passagen streift, tätigte seine letzten Beobachtungen in Walter Benjamins „Passagen-Werk“, um dann für immer zu verschwinden. Heutzutage gibt es alle möglichen Beobachter, nicht nur als Berichterstatter, sondern auch als Wahlbeobachter, als Beobachter bei lokalen oder internationalen Konflikten, als Beobachter bei Unterhandlungen und allen möglichen Disputen. Der Beobachter hat sich heute auch eine aktivere Rolle angeeignet, als man auf Grund dieser Bezeichnung erwarten würde. Er beschränkt sich nicht einfach auf das Beobachten allein. Nein, auf Grund der simplen Tatsache, dass er beobachtet, strukturiert und beeinflusst er das, was er beobachtet. Der Blick des Beobachters schreibt gleichsam die Beobachtung.

Dies wird vom Beobachter manchmal sogar erwartet. So soll zum Beispiel die Anwesenheit von Beobachtern garantieren, dass Wahlen frei und fair verlaufen, während bei Konflikten die Wahrnehmer oft verkappte Vermittler sind.

Trotzdem erwarten wir immer noch, dass der Beobachter beobachtet, „was der Fall ist“. Mit der Komplexität des Kontextes dessen, „was der Fall ist“, und mit dem Zunehmen der damit zusammenhängenden Interessen wird auch die Rolle des Beobachters zunehmend delikater. Ein Bespiel par excellence dafür ist das Jugoslawien-Tribunal und insbesondere der Prozess gegen den ehemaligen Präsidenten Jugoslawiens, Slobodan Milošević.

Die Behandlung dieses Prozesses in den Medien ist von mehreren Besonderheiten in der Art seiner Beobachtung gekennzeichnet. Vom ersten Augenblick an, schon als Slobodan Milošević in das Gefängnis in Scheveningen eingeliefert wurde, sahen wir keinen „Angeklagten“, sondern einen „Verurteilten“. So haben wir das Bild von einem Mann in schemenhafter Ferne zu deuten gelernt, der von mehreren Polizisten umringt durch irgendein Tor geschleust wird. Unsere Beobachtung solcher Bilder ist keineswegs unbelastet. Sie stützt sich auf ihr vorausgegangene Beobachtungen, auf Bilder, die ihren eigenen Kontext schaffen. Die Beobachtung wird durch die Syntax gestaltet, in der sich das Beobachtete darbietet.

Im Fall Milošević blieb diese Syntax unverändert: Milošević saß nicht als ein Angeklagter im Gerichtssaal, sondern als ein Täter. Das wurde schon in der ersten Gerichtssitzung klar, als der Richter ihn mit der Bemerkung abfertigte, „seine Zeit sei nun vorbei“. War es danach überhaupt noch möglich, wirklich zu beobachten, ohne Vorurteile wahrzunehmen? Auf Grund der Berichterstattung über den Prozess in den Medien können wir feststellen, dass diese Syntax unverändert blieb. Sooft Milošević zu sehen war, etwa in den Fernsehnachrichten, wurde sein Auftreten immer wieder als „arrogant“ und „überheblich“ beschrieben. Wie stark eine solche Syntax ist, zeigt uns das so genannte Kuleschow-Prinzip, das der bekannte sowjetische Filmregisseur Lew Kuleschow schon in den 1920er Jahren untersuchte. Als Ergebnis seiner Experimente stellte sich heraus, dass der Zuschauer die Neigung hat, dem Bild eine Bedeutung ausschließlich auf Grund des Kontextes zuzuschreiben, in dem es präsentiert wird. So wirkt z. B. ein und das selbe Bild eines Mannes vor seinem Suppenteller, abhängig davon, welche Mitteilung dem Bild vorausging, „traurig“, „böse“ oder „zufrieden“. Im Fall von Milošević war es „der Schuldige“ und ein Schuldiger lässt sich einfacher als überheblich und arrogant präsentieren als jemand, der die Tatsachen so gut kennt wie kaum ein anderer. Denn gerade dieses Bild bot sich jedem dar, der sich die Mühe nahm, sich eine Gerichtssitzung im Internet anzusehen. Wer aufmerksam zuschaute, sah einen Angeklagten, der mit sehr treffenden Argumenten die Aussagen der Zeugen der Anklage zu widerlegen wusste. Immer wieder. Dies passte aber nicht ins Bild und wurde daher als Arroganz dargestellt.

Die Beobachtungen der Berufsbeobachter wurden im Lauf des Prozesses immer kafkaesker. Eine mit dem Prädikat „Tribunal-Kennerin“ apostrophierte Niederländerin etwa, die im öffentlichen Rundfunk und Fernsehen über den Prozess gegen Milošević berichtete, bemerkte zum Abschluss der Beweisführung der Anklage, der Beweis sei, dass es keinen Beweis gebe. Damit unterstellte sie, dass der Angeklagte den vorhandenen Beweis wohl vernichtet haben muss oder dass er und seine Kumpane immer schon ganz geheim an einem finsteren Plan gearbeitet haben – womit die Schuld des Angeklagten schon bewiesen wäre.

Ich selbst stand längere Zeit außerhalb des ganzen Geschehens, also nahm ich wie die meisten anderen auch nur das wahr, was mir die Medien auftischten. Bis mich eines Tages Germinal Civikov auf die Semiotik dieser ganz speziellen Geschichtsschreibung aufmerksam machte, die den Namen „Jugoslawien-Tribunal“ trägt. Ich war überrascht, dies zu hören. Ich kannte Germinal, als er sich noch mit Literaturwissenschaft beschäftigte und ich als Student in Leiden eifrig seine Seminare besuchte. Später, als ich Dokumentarfilme zu drehen begann, zogen wir für einen Film über die politische Wende in Bulgarien zusammen durch dieses Land. Germinal war bestimmt keiner, der auch nur im Entferntesten Sympathien für das Regime eines Milošević hegte. Also beschloss ich, mir diesen Prozess zusammen mit ihm anzusehen. Es war tatsächlich erstaunlich. Der Dokumentarfilm „Der Fall Milošević“, den ich dann 2004 für das niederländische Fernsehen (VPRO) drehte, trägt noch die Spuren dieses meines Staunens. Ich denke, dass eine ähnliche Erfahrung auch den Leser dieser Berichte erwartet: die Berichte eines Beobachters, wie wir ihn heute nur noch selten antreffen.

Jos de PutterDen Haag, im Juni 2006

DIE ÜBERFÜHRUNG

Als am 28. Juni 2001 Slobodan Milošević ins Scheveninger Gefängnis bei Den Haag überführt wurde, gab es zunächst ein einprägsames Bild, das weltweit in den Wohnzimmern flimmerte. Es hatte etwas Unwirkliches und gleichzeitig etwas beklemmend Echtes an sich. Im eisigen Licht, mitten in der Nacht, rannten Figuren lautlos um einen Hubschrauber herum, wobei zwei Männer einen gefesselten dritten vor sich herschubsten und im gespensterhaften Halbdunkel eines riesigen Bauwerks verschwanden. Dass diese Szene so beklemmend wirkte, war dem fahlen und klebrigen Licht geschuldet, das vor allem durch das Amateurhafte der wackeligen Aufnahme entstand. Erst dadurch wirkte die Szene echt. Der Mann bot zwar keinen Widerstand, doch freiwillig schritt er auch nicht, auf keinen Fall.

Das Bauwerk kannte ich nur zu gut, steht es doch am Pompstationsweg, der zu den Dünen und weiter zum Strand führt. Zwei mächtige Türme, die ein Fort mimen, und ein mächtiges Eichentor dazwischen. 24 Sekunden läuft die Bildersequenz mit der Ankunft von Slobodan Milošević an diesem Ort und verkündet: Der „Schlächter des Balkan“ wird seiner verdienten Strafe zugeführt. Der niederländische Filmemacher Jos de Putter hat aus dieser Amateuraufnahme eine Art Vorspann für seinen Dokumentarfilm „De zaak Milošević“ („Der Fall Milošević“) geschnitten. Wer die Aufnahme gemacht habe, müsse ein schlauer Vogel sein, meinte de Putter. Denn jedes Mal, wenn auf dem Bildschirm Milošević im eisigen Licht von zwei Männern wie ein Dieb in der Nacht weggeführt wird, kassiert der anonyme Filmamateur Tantiemen.

In den nächsten Monaten und Jahren sollte ich diesen „Dieb in der Nacht“ besser kennen lernen: er hinter dem Panzerglas im Gerichtssaal 1 am Churchillplein in Den Haag; ich oft ganz allein im anfangs überfüllten Zuschauerraum. Da saß man wie vor einem riesigen Aquarium – ein Eindruck, den man besonders stark bei den vielen „geschlossenen Sitzungen“ hatte, wenn die Akteure des endlosen Theaterstücks, genannt „Jahrhundertprozess“, wie im Stummfilm sprachen und gestikulierten. Die Hauptperson dieses spannenden, absurden und tragischen Stücks, Slobodan Milošević, war mir bis zu diesem Zeitpunkt als Staatsmann und Machthaber nicht sonderlich sympathisch, obgleich weniger widerlich als seine Rivalen in Zagreb und Sarajevo. Er war zwar auch in meinen Augen ein autoritärer und populistischer Machthaber, allerdings kein Diktator. Schon dadurch, dass er sich für die Erhaltung Jugoslawiens einsetzte, schien er mir weit weniger schlimm als seine Kontrahenten, die in ihrer Machtgier auf die Karte des Separatismus setzten, die nationalistischen Egoismen aufstachelten und die Vernichtung des gemeinsamen föderativen Staates programmatisch anstrebten. Die Erhaltung des gemeinsamen föderativen Staates sah ich nämlich als eine Vorbedingung für eine bessere Zukunft der jugoslawischen Völker. Dass Milošević für den blutigen Zerfall Jugoslawiens die volle Schuld zugesprochen bekam, während seine nationalistischen Rivalen in der westlichen politischen Öffentlichkeit als liberale Demokraten begrüßt und unterstützt wurden, machte mir den Belgrader Machthaber sympathischer. Zugleich entbrannte in den westlichen Medien eine bisher ungekannte Hetze gegen die Person des „Serbenführers“ und bald auch gegen „die Serben“ überhaupt.

Den Verlauf, die Hintergründe und die Hintermänner der blutigen zehnjährigen Agonie dieses Staates, dessen Entstehung auf dem Balkan 1918 ein wahrscheinlich einmaliger und nicht wiederholbarer Glücksfall für seine Völker war, will ich hier unbesprochen lassen. Die mediale Orchestrierung dieser Tragödie aber übertraf mit ihrer propagandistischen Einseitigkeit und Gehässigkeit alles, was ich als gebürtiger Bulgare, der auch eine Zeitspanne Stalinismus miterlebt hat, von den freien Medien der freien Welt, zu der ich mich bekenne, je erwartet hätte. Als Rundfunk-Redakteur bei der „Deutschen Welle“ in Köln hatte ich leichten Zugang zu vielen Informationsquellen sowie auch ein berufliches Interesse an der Art und Weise der Berichterstattung und Kommentierung der Ereignisse im jugoslawischen Raum. Es ist mir bis heute nicht ganz klar, warum zahllose Korrespondenten und politische Beobachter so geflissentlich ihren Beitrag zu diesem Zerrbild lieferten. Vorurteile hat freilich ein jeder, obgleich man diese als Journalist zu kontrollieren wissen müsste. Sich als Journalist dazu herzugeben, mit professionellem Eifer die Lügen der Propagandazentralen einer der kriegführenden Parteien als Bericht in die Welt zu schicken, hat aber nichts mehr mit allzu menschlicher Voreingenommenheit zu tun. Man braucht nur die Zeitungen der 1990er Jahre durchzublättern, um sich diese journalistische Schmach wieder anzusehen. Mitunter war es so schlimm, dass man den Eindruck gewann, die Medien seien gleichgeschaltet, was überhaupt nicht stimmte. (Nie habe ich z. B. als Nachrichtenredakteur oder Autor bei der „Deutschen Welle“ auch nur den geringsten Druck erfahren, anders zu schreiben, als ich es tat, noch sind mir Fälle gemaßregelter Kollegen bekannt, die sich erlaubt haben, vom Mainstream abzuweichen.)

Auf die Person von Slobodan Milošević gerichtet, zeichneten die Medien bald das Bild des „großserbischen Nationalisten“, der vier Kriege vom Zaun brach, um Jugoslawien zu zerstören und ein Groß-Serbien zu errichten. Dieses Bild trug maßgeblich dazu bei, es westlichen Politikern zu erleichtern, am 24. März 1999 ohne nennenswerten öffentlichen Widerstand die NATO zu einem Bombenkrieg gegen Rest-Jugoslawien zu missbrauchen. Dieses Bild auch strafrechtlich zu bestätigen, schickte sich im März 1999 der so genannte „Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien“ an. Den Schlagzeilen und Berichten zum Tod von Milošević am 11. März 2006 war zu entnehmen, dass auch das komplette Fiasko der Anklage nach fünfjähriger Prozessführung diesem Bild nichts anhaben konnte.

In weiterer Folge will ich mich hauptsächlich auf das beschränken, was ich bei den Sitzungen und Zeugenverhören des „Jahrhundertprozesses“ durch die Jahre hindurch als regelmäßiger Besucher im Gerichtssaal 1 wahrgenommen und notiert habe. Angesichts der insgesamt mehr als 400 Zeugen und 450 Sitzungstage des Prozesses kann ein Bericht darüber nur auf einer restriktiven Auswahl von Fakten und Ereignissen beruhen. Er hat unvermeidlicherweise fragmentarischen Charakter. Und es ist ein persönlicher Bericht, gewiss. Die dargestellten Fakten und Ereignisse sind jedoch durchaus typisch, charakteristisch und repräsentativ. Während des Prozesses habe ich auch alle möglichen Zeitungsberichte über das Verfahren gelesen und mich dabei oft genug gefragt, ob ich denn dieselbe Sitzung und Zeugenvernehmung beobachtet hatte wie der betreffende Autor. Ich gebe zu, ich selbst war durchaus voreingenommen. Aber dies hielt mich nicht davon ab, nach dem zu urteilen, was ich im Gerichtssaal hörte und sah.

Meine Voreingenommenheit hatte ihren Grund: Die Anklage gegen Milošević wurde mitten im so genannten Kosovo-Krieg erhoben und es schien mir gar nicht überzeugend, dass die angreifende Kriegspartei den Präsidenten des angegriffenen Staates wegen Kriegsverbrechen anklagte. Mein Verdacht, es handle sich um einen als Strafverfahren getarnten politischen Prozess, erhärtete sich mit der Erweiterung der Anklage nach Beendigung des Krieges. Und ich fühlte mich schließlich in dieser meiner Voreingenommenheit durch die Art und Weise bestätigt, wie die Richter den Prozess führten und wie sie auf die ersten falschen Zeugenaussagen (nicht) reagierten.

Es erübrigen sich hier Stellungnahmen zu der Legitimität des Tribunals überhaupt und auch zu den rechtlichen Fragwürdigkeiten im Fall des Milošević-Prozesses – sie sind als bekannt vorauszusetzen und außerdem sollte man sie den Experten überlassen. Was allerdings die Zeugen betrifft, so darf man als aufmerksamer Beobachter eine begründete Meinung dazu haben. Hinsichtlich der Anklage will ich mich auf die Feststellung beschränken, dass sie im Prinzip das Bild und die Bewertung von den Kriegen und Konflikten des jugoslawischen Zerfalls nachvollzog, die uns die Medien seit 1990 dargeboten haben. In grober Vereinfachung liegt diesem Bild zufolge die Schuld für die Kriege und für die sie begleitenden Verbrechen beim erst serbischen und dann rest-jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milošević. Das von ihm angeführte „Serboslawien“ habe Slowenien, Kroatien, Bosnien und den Kosovo als Aggressor angegriffen, um auf den Ruinen des zerfallenden Jugoslawien ein Groß-Serbien zu errichten. In diesem Zusammenhang wurde uns der „Serbenführer“ Milošević als ein zweiter Hitler dargestellt, der in Bosnien Konzentrationslager betreiben ließ und im Kosovo eine blutige „ethnische Säuberung“ unternahm, die erst die NATO mit Hilfe einer „humanitären Intervention“ durch „Luftschläge“ zu stoppen vermochte.

Mäßiger im Ton und in sachlicher Konkretisierung richtete sich die Anklage auf die Bestätigung ebendieses Bildes. Die Medien, die es produziert haben, begrüßten die Eröffnung des Milošević-Prozesses mit einem schlichtweg gigantischen Aufwand an Aufmerksamkeit und Übertragungstechnik. Sehr bald aber saßen im leeren Saal wie verloren einige Journalisten für hauptsächlich ex-jugoslawische Medien. Hatte dieser rapide Interessenschwund bei den Medien vielleicht mit der Tatsache zu tun, dass sich im „Jahrhundertprozess“ die Medienwahrheit über Milošević und die jugoslawischen Kriege nicht bestätigen lassen wollte und dass sich im Prozessverlauf eine andere, komplexere Wahrheit aufbaute, mit der die Medien nichts anzufangen wussten und die sie schlicht nicht wahrhaben wollten? „Missbrauch der Redefreiheit“, kritisierte der Berliner Tagesspiegel schon am 20. Februar 2002 die Richter, die dem Angeklagten zu viel Fragerecht einräumten. Die Basler Zeitung ärgerte sich am 6. März 2002 über „Miloševićs suggestive Fragerei“, das Hamburger Abendblatt titelte am 13. März 2002 „Wie Milošević in Den Haag Zeugen unter Druck setzt“, während das Tagblatt am 5. März 2002 unter dem Titel „Propaganda aus Den Haag“ Milošević einen „Inquisitor“ nannte, „der Belastungszeugen beim Kreuzverhör in Widersprüche verwickelt“. „Angeklagter, Ankläger, Richter – in einer Person“, monierte am 15. März 2002 Die Presse aus Wien. Besonders zeichnete sich aber der Weser Kurier am 5. November 2002 mit einem Kommentar unter dem Titel „Im Zweifel gegen den Angeklagten!“ aus. Der Autor Wolfgang Holz äußerte darin die Befürchtung, ein Urteil gegen den Kriegsverbrecher werde immer fraglicher. Daher plädierte er als Pionier einer zeitgemäßeren Rechtskultur allen Ernstes dafür, in dieser Gerichtsverhandlung, die Milošević zu seiner Propaganda missbrauchen und damit dem demokratischen Wandel in Jugoslawien schaden würde, das Prinzip „in dubio pro reo“ auszusetzen. Auch die in Zweifel gebrachte Zeugenaussage, so der Autor, sollte als Beweis gegen diesen Schurken gelten.

Die Rechtsprechung übernahmen der vorsitzende Richter Richard May (Großbritannien) unter dem Beistand der Richter Patrick Robinson (Jamaika) und O-gon Kwon (Südkorea). Anfang 2004 gab (der am 1. Juli 2004 verstorbene) Richard May sein Amt allerdings aus gesundheitlichen Gründen auf. Zu seinem Nachfolger wurde der schottische Richter Lord Iain Bonomy ernannt, während Patrick Robinson den Vorsitz übernahm. Die Anklage führte Hauptankläger Geoffrey Nice (Großbritannien), gelegentlich abgelöst von einem anderen Ankläger seines vielköpfigen Teams. Es wurden auch drei „amici curiae“ („Freunde des Gerichts“) ernannt: Steven Kay (Großbritannien), Branislav Tapušković (Serbien) und Mischa Wladimiroff (Niederlande). Diese drei erfahrenen Juristen wurden beauftragt, während der Anklägerhälfte des Prozesses auf dessen korrekten Verlauf zu achten und dem Angeklagten, der sich selbst verteidigte, beizustehen.

Lebenslänglich sollte er kriegen, versprach die Chefanklägerin des Jugoslawien-Tribunals, Carla del Ponte, unserer Wertegemeinschaft und sie hielt Wort.

DIE ANKLAGE UND IHRE ZEUGEN

Die erste Anklage des Jugoslawien-Tribunals gegen den damaligen jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milošević wurde am 27. Mai 1999 erhoben. Mitangeklagt wurden der Präsident Serbiens, Milan Milutinović, der Innenminister Serbiens, Vlajko Stojiljković, der Generalstabschef Dragoljub Ojdanić und der Vizeregierungschef Jugoslawiens, Nikola Sainović. Ihnen wurden Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen, besonders Mord, Vertreibung und andere Menschenrechtsverletzungen. Die Anklagen bezogen sich auf Straftaten ausschließlich seit Jahresbeginn im Kosovo. Die Einsätze gegen die Kosovo-Albaner seien mit dem Ziel ausgeführt worden, einen beträchtlichen Teil der kosovo-albanischen Bevölkerung aus dem Kosovo zu entfernen, um die serbische Herrschaft über diese Provinz zu sichern. Um die Vertreibungen zu erleichtern, hätten die Einheiten Jugoslawiens und Serbiens mit Absicht sowie unter Androhung und Anwendung von Gewalt eine Atmosphäre der Angst und der Unterdrückung geschaffen. Es gebe eine glaubwürdige Grundlage dafür, dass die Angeklagten für die Vertreibung von 740.000 Kosovo-Albanern und für die Ermordung von 340 Kosovo-Albanern strafrechtlich verantwortlich seien, erklärte die damalige Chefanklägerin Louise Arbour. Das Dokument enthielt einen Anhang mit den Namen von 340 Albanern, die seit dem 1. Januar 1999 angeblich von serbischen Soldaten, Polizisten oder Milizen ermordet worden waren, wie auch kurze Beschreibungen von sechs Massakern. In den vorangegangenen fünf Monaten seien ausreichend Beweise für die persönliche Verantwortung der fünf Beschuldigten zusammengetragen worden, beteuerte Louise Arbour.

Wie war das möglich? Frau Arbour hatte noch keine Ermittler im Kosovo, die für Beweise hätten sorgen können. Ihre Anklage muss sich zu diesem Zeitpunkt zwangsläufig auf kaum überprüfbare Behauptungen gestützt haben, die man größtenteils in den Flüchtlingslagern in Mazedonien und Albanien gesammelt oder einfach aus den Medien geholt hatte. Nach Angaben der neuen Chefanklägerin Carla del Ponte stützten sich die Anklagepunkte auf Beweismaterial für Verbrechen, die seit Beginn des laufenden Jahres zusammengetragen wurden. Die Ermittlungen würden weitergehen und sowohl die Anklagepunkte als auch die Liste der Angeklagten seien nicht endgültig. Anders gesagt – der Anklage war keine gründliche Voruntersuchung vor Ort vorausgegangen und das eigentliche Beweismaterial sollte erst nachgeliefert werden. Trotzdem akzeptierten die Richter diese Anklage, deren politische Natur schon zu diesem Zeitpunkt klar zutage trat und nicht einmal ernsthaft verhüllt wurde. Die NATO bombardierte Jugoslawien schon volle zwei Monate, die Liste der militärischen Ziele war längst aufgearbeitet und es wurden verstärkt auch zivile Ziele angegriffen. Dementsprechend wuchs die Liste der Kollateralschäden (das zukünftige „Unwort des Jahres 1999“) und die Spannung unter den Bündnispartnern näherte sich der Zerreißprobe, während der bombardierte Präsident kein Zeichen eines Einlenkens gab und sich nach wie vor weigerte, sich dem Willen der so genannten internationalen Gemeinschaft zu beugen. In diesem Kontext war der politische Zweck der Anklage in Wortlaut und Timing klar ersichtlich, wie sehr sich Frau Arbour nachher auch Mühe gab, diesen Verdacht auszuräumen. Hatte sie ja zu allem Überfluss zwei Tage vor der offiziellen Verlesung der Anklage diese erst mit dem US-Präsidenten William Clinton in Washington besprochen. „Realpolitisch kommt die Anklage zum genau richtigen Zeitpunkt“, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 28. Mai 1999. „Die Anklage in Den Haag ist daher nicht nur aus völkerrechtlichen Gründen zu begrüßen; sie erschwert auch fatale Kompromisse mit einem Aggressor und erhöht den Druck auf das atlantische Bündnis, eine nicht leichte, aber längst fällige Entscheidung zu treffen.“ In einer Presseerklärung ließ die Chefanklägerin verlautbaren, dass Milošević nun nicht mehr als ein Partner bei irgendwelchen Verhandlungen über eine friedliche Regelung des Konfliktes in Betracht kommen könne. Dieser unverblümt politische Charakter der Kosovo-Anklage störte die überwältigende Mehrzahl der westlichen Medien kaum.

Im Oktober 2001 wurde gegen Milošević die Kroatien-Anklage erhoben, einen Monat später die Bosnien-Anklage. Die Kroatien-Anklage warf Milošević vor, als Präsident Serbiens 1991 und 1992 für die Vertreibung von 170.000 Nicht-Serben aus ihrer Heimat und den Mord an Hunderten Zivilisten verantwortlich gewesen zu sein. In der Bosnien-Anklage wurde er beschuldigt, während der Jahre 1992 bis 1995 die Verantwortung für das Töten von Tausenden bosnischen Muslimen und bosnischen Kroaten getragen zu haben. Diese Anklage enthielt auch die schwerste Beschuldigung gegen Milošević, nämlich den Tatbestand des Völkermordes. Im April 2002 wurden die drei Anklagen zu einem einheitlichen Prozess zusammengeführt. Die von der Appellationskammer des Tribunals akzeptierte Begründung der Anklagebehörde lautete, dass es im verbrecherischen Handeln des Angeklagten immer nur eine Strategie, ein Schema und einen Plan gegeben habe. Er habe nämlich ein gemeinsames verbrecherisches Unternehmen („joint criminal enterprise“) angeführt, dessen Ziel die Schaffung von Groß-Serbien durch gewaltsame Vertreibung der nicht-serbischen Bevölkerung gewesen sei.

Zum Beweis der Anklage gegen Slobodan Milošević rief die Behörde der Chefanklägerin Carla del Ponte, die im September 1999 dieses Amt von Louise Arbour übernahm, vom 18. Februar 2002 bis 12. Februar 2004 insgesamt 296 Zeugen auf und verhörte sie in der Folge. Schon der erste Zeuge der Anklage, Mahmut Bakalli, der frühere Vorsitzende der Kommunistischen Partei des Kosovo und spätere Berater der UĆK bei den Verhandlungen in Rambouillet, war kein Erfolg. Am 19. Februar 2002 scheiterte Bakalli gründlich im Kreuzverhör mit seiner Behauptung, die serbischen Behörden hätten im Kosovo ein Apartheid-System für die Albaner eingeführt. Vollen Ernstes behauptete er u.a., Milošević hätte im Kosovo ein ApartheidSystem errichtet, indem er dort dasselbe Schulprogramm eingeführt habe wie im Rest Serbiens. Ob er als Soziologieprofessor erklären könne, was Apartheid bedeute, fragte Milošević den Zeugen. Schnell zeichnete sich in der Beweisführung der Anklage ein Grundprinzip ab, das lautete: Je monströser die zur Last gelegte Beschuldigung, desto dünner der Beweis und desto unzuverlässiger der Zeuge. Ein Großteil der Zeugen berichtete von Verbrechen der serbisch-jugoslawischen Polizei und Armee, die sie beobachtet hätten oder deren Opfer sie persönlich gewesen seien. Angesichts der zahlreichen Verbrechen, die zweifelsohne überall verübt worden waren, ist es erstaunlich, dass viele gerade dieser Zeugen sich unglaubwürdig machten. Im Kreuzverhör widersprachen sie sich oft oder mussten sachliche Unwahrheiten in ihrer Aussage erklären. 

Ganz allgemein können die Zeugen der Anklage folgenden Gruppen zugeordnet werden:

Insider

Es handelt sich um Personen aus der nächsten Umgebung des Angeklagten, die dem so genannten inner circle