Der mit dem Hut - Stefan Imhof - E-Book

Der mit dem Hut E-Book

Stefan Imhof

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Beschreibung

"Der mit dem Hut" erzählt die Geschichten von Bruno, Eric und Wenzel, deren Lebenswege sich im Verlauf von vierzig Jahren immer wieder kreuzen. Ruth, Bauerntochter und Wirbelwind, taucht da und dort auf und mischt sich in die Schicksale der drei Männer. Bruno flieht aus Stadt und Studium in die Berge und lässt sich von einem Stall voller Rinder die Einsamkeit und von Ruth guten Sex erklären. Eric trägt seinen Hut sogar im Café, lehrt Bruno Hölderlin lesen und organisiert eine Begräbnisfeier vor seinem Tod. Wenzel, der Politiker, hat gern die Nase vorn und die Dinge im Griff. Ein geheimnisvolles Tagebuch lässt ihn zwar den Kopf schütteln, bringt aber seine Beziehung zu Ruth wieder in Fahrt. Bruno liest Gedichte von Jan Skácel, Eric liebt die späten Streichquartette von Beethoven und Wenzel hängt am Seil seiner Erinnerung und hört den Todesschrei eines abstürzenden Freundes. Alle versuchen sie auszubrechen aus Altem und Herkömmlichem und aufzubrechen in ein neues und freieres Leben. Manchmal helfen Literatur und Musik dabei, öfter aber die Liebe in ihren so unterschiedlichen Erscheinungsweisen. Der Roman umfasst die Jahre von 1980 bis 2020 und spielt in der Schweiz.

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Inhaltsverzeichnis

bruno lässler, der student

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

eric jaccottet, beratung & mediation

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

wenzel koszinsky, der gemeindepräsident

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

bruno lässler, der student

1

zögern und stolpern und stehen bleiben

einer blieb in der bahnhofhalle stehen. er passte nicht dorthin, aber das schien kaum jemandem aufzufallen. einzig einer mit einer sonderbar roten kappe drehte sich zu ihm um, mit einem lächeln irgendwo zwischen erschaudern und erstaunen. als bruno aus dem zug stolperte und kurze zeit später in der bahnhofhalle stand, wussten seine füsse, dass etwas nicht mehr stimmte. sie hatten den untersten tritt des eisenbahnwagens verpasst oder übersprungen, waren beim ungeschickten überholen eines älteren reisenden, der mit unförmigem gepäck zurechtzukommen versuchte, nochmals eingeknickt und verwuchsen nun beim stehen in dieser mit menschen und lärm vollgestopften halle mit dem kalten betonboden, mit abwasserrohren, stromleitungen und armierungseisen. bruno, zwanzigjähriger student aus der provinz, hätte an die uni gehen sollen, in seiner agenda standen vorlesungen und seminare, seine tasche war gefüllt mit notizblock und büchern, er hatte einen plan. aber seine füsse verweigerten den dienst.

der mit dem hut war ihm schon mehrmals aufgefallen, damals, in diesem herbst, er hatte ihn aber noch nicht kennengelernt. von der schönen kellnerin kannte er nur die langen haare und das traurige lächeln, nach ihrem namen zu fragen hatte er sich noch nicht getraut. dass er im militärdienst schon bald einem unteroffizier aus dem prättigau begegnen würde, mit dem ihn eigenartig viel verbinden wird, auch davon hatte er damals noch keine ahnung. und er wusste nicht, dass weit hinten im schächental ruth am fenster stand und muster aufs glas zeichnete.

nur seine füsse wussten etwas. sie zögerten und stolperten und blieben schliesslich stehen.

2

möglichkeiten

zu hastig verlasse ich den zug, der unterste tritt ist mir zu viel. doch der sprung gelingt nicht, die landung ist ungeschickt und schmerzt. ich schaue mich um, überall leute, rasch in den zug hinein oder aus dem bahnhof hinaus. alle gehen irgendwohin. keiner bemerkt mein herausfallen aus diesem zug, der mich ohne mein dazutun hier in die stadt gebracht hat. vor mir flimmert noch die welt von ALEXIS SORBAS. ich bin am strand von kreta und höre, wie sorbas auf dem santuri spielt. meine augen schwimmen im griechischen meer. vorhin im zug, während meine hände automatisch das buch in der tasche verstauten, erschien das münster im regendunst, die reihe schöner, alter häuser, der grosse platz mit den vielen autos, der graue bahnhof. ich hatte gelesen: mit dem körper ganz der mutter erde gehören. mit der seele ganz der mutter erde gehören. mit dem geist ganz der mutter erde gehören. jetzt ist alles weg. nur langsam tröpfelt die welt in den leeren kopf zurück, ungenau und unwillig lasse ich den bahnhof herein. auf der treppe überhole ich einen älteren reisenden mit zwei grossen koffern. ist es sorbas? am strand sah er anders aus, er trug einen bart, am kinn leicht ergraut. neben mir, mitten in dieser bahnhofhalle, hält ein verrückter oder ein betrunkener in einem grossen schwarzen mantel und mit einer grellroten narrenkappe auf dem kopf eine rede:

"manch einer erschrickt beim anhalten oder landen oder aufprallen und entdeckt erstaunt, dass nicht nur leute herumstehen, sondern dass er mit dabei ist, hineingefallen unter die menschen. sein ungeschicktes ankommen hat sie allerdings erschreckt, so dass sie geflohen sind, und er sich nach dem aufrappeln und kronerichten allein wiederfindet in weiter landschaft. höchstens ein paar neugierige sind in der nähe geblieben, schauen scheu herüber und warten auf ein zeichen."

ich könnte ins seminar gehen. die arbeit gelang dort zwar noch nie gut. zu viele menschen, die räume sind mir nicht vertraut, meine bücher fehlen und meine musik. aber ich könnte kaffee trinken dort, freunde treffen vielleicht. der eine weg zum seminar führt nach der uni in die stille gasse, wo die gärten mit grossen bäumen und breiten sträuchern die alten häuser vor dem lärm der stadt beschützen. ich habe das gefühl, durch einen park zu gehen. hinter den bäumen die häuser. in den häusern menschen. alte menschen, vielleicht einsame menschen. ich gehe an den häusern und an den menschen vorbei und freue mich über die büsche. ich weiss nicht, was in den häusern geschieht. vielleicht würde ich gebraucht. es ruft nur niemand, ich auch nicht. einer steht vielleicht am fenster und wartet auf ein rufen. weil beide warten, ruft keiner. also gehe ich an den häusern vorbei und freue mich über die büsche. einer müsste rufen. nach den gärten der parkplatz und der hintereingang, der gleich in die bibliothek führt. in der mitte steht der kopierapparat. früher haben mönche bücher abgeschrieben. heute kopieren studenten bücher. das geht schneller und es bleibt mehr zeit zum studieren, so werden die menschen klüger. im aufenthaltsraum die tiefen, weichen sessel, auf den beiden tischen büchern und papiere, dazwischen essensreste. zwei leere joghurtbecher stehen vor einer vierbändigen ethik. rasch gehe ich hinauf. der andere weg zum seminar führt hinter den häusern mit den alten gärten an der mensa vorbei, auf beiden seiten autos. an der mauer schwarz gesprayt: gott ist tot. darunter die plakette mit dem berner wappen: evangelisch-theologisches seminar. das ist der haupteingang. ich ziehe immer an der tür, obschon ein kleines schild angebracht ist: stossen. wenn ich es falsch mache, freue ich mich, ich habe es immerhin versucht. an der türe wirbt ein kleines plakat für eine ess-paketeaktion für polen. auf einem anderen zettel stehen die aktuellen prüfungsdaten. yoga kann man machen. nur von sorbas steht nichts. im engen gang hänge ich meine jacke auf. oben im lesesaal beugen sich rücken über die theologie. das bild ist eindrücklich. an den wänden halten andere rücken die wissenschaft zusammen. aussen an der türe steht silentium. ich frage mich, ob ich trotzdem grüssen darf, wenn ich eintrete. aber ich frage mich nur leise. beinahe herrscht grabesstille, theologen arbeiten so. ich setze mich, mein blick geht an den rücken vorbei zum fenster, draussen die fabrik, dahinter der himmel, daran wolken und wind. aber den sehe ich nicht. ich sehe sorbas, er tanzt am strand und lässt mich nicht in ruhe.

vielleicht die universitätsbibliothek. ich gehe die ganze altstadt hinunter. fast bis zum münster, das ich ja schon gesehen habe im regendunst. auf dem grossen platz muss ich einem tram ausweichen. bei einer metzgerei stinkt es nach fisch. auf dem bundesplatz merke ich, dass es leicht regnet. ich lerne, wie ich regendunst zuerst sehen, dann vergessen und schliesslich spüren kann. die baustelle beim zytglogge und dann schon bald der kühle gang, die münstergasse. ein bisschen unheimlich, mitten in der stadt, mitten im maschinenlärm und menschenlärm plötzlich stille. ehrfurcht spüre ich, oder furcht. oder so etwas. dann die schwere türe, der hohe eingangsraum, wie in einer kirche. oben im katalogsaal sitzen nicht viele menschen, es ist montag. es ist angenehm. aber etwas in meinem ohr tanzt immer noch zum santuri.

das café in der altstadt. ruhig, nicht zu viele menschen. ich suche einen tisch in einer ecke und schlage die zeitung auf. die schöne kellnerin mit den langen, schwarzen haaren und dem traurigen lächeln. ja, hagebuttentee mit zitrone, wie immer. sie nickt, wiederholung ist schon fast ein stück heimat. ich lese. die grossen parteien diskutieren über die friedensbewegung. ich denke an sorbas, wie er einem, der nicht griechisch sprach, vortanzte, was er ihm sagen wollte. und der hat alles verstanden und sie haben ein glas wodka darauf getrunken. ich betrachte die kellnerin, wie sie sich bewegt. sie hat einen weichen gang und geht flink zwischen den tischen hindurch, es ist beinahe ein tanzen. sie lächelt, das macht ihr gesicht schön. sie lächelt jeden gast an. ich könnte rauchen im altstadtcafé oder lesen oder einfach der kellnerin zuschauen.

aber ich stehe immer noch in der bahnhofhalle und finde mich noch weniger zurecht als vorher. hier kennt mich keiner, hier sieht keiner, dass ich mit sorbas verwandt bin, ich bin richtig allein, mitten in dieser menschenmenge. ich sollte vielleicht jemanden ansprechen. einer, der an mir vorbeigeht, wird sorbas sicher auch kennen und ihn so lieben wie ich. vielleicht schaue ich gerade jetzt in ein augenpaar, das von kreta träumt und dem die graue bahnhofhalle auch schwierigkeiten bereitet. ich weiss nicht, wie augen aussehen, wenn sie von kreta träumen. ich könnte die menschen ansprechen und fragen, wie ein missionar oder ein bettler. oder ich könnte von solchen augen träumen. oder sie mir vorstellen.

3

das warme tuch

der narr mit der roten kappe dreht sich um zu mir:

"wer beim stolpern aus dem zug heftig oder ungeschickt landet und aufprallt in diesem leben, das eigentlich zu ausbildung und beruf und so richtigem erwachsenenleben führen sollte, wer nach diesem stolpern und aufprallen sich nur schwer aufrappeln kann und auch nach einiger zeit noch nicht ins fliessende und selbstverständliche gehen kommt, wer also weiterhin schwierigkeiten hat, nicht vom fleck kommt, die orientierung nicht nur verloren hat, sondern sie auch nicht mehr sucht, wer zu keinem entschluss kommen kann, ob jetzt dieser weg eingeschlagen werden soll oder jener, wer plötzlich das gehen selbst verlernt hat oder es zumindest verlernt zu haben scheint, der bleibt dann wirklich in der bahnhofhalle stehen, verzweifelt ob der vielen menschen, die alle nicht schnell genug ihre ziele erreichen können, verzweifelt auch ob der schier unendlich grossen zahl von möglichkeiten, die sich ihm anbieten. und während dieses verzweifelns, das er übrigens ganz genau beobachten kann, schmerzhaft und manchmal sogar qualvoll, verliert er auch noch seine letzte kraft und seinen letzten willen und er bleibt einfach stehen, mitten in diesem gewimmel, in diesem lärm, in dieser nützlichen geschäftigkeit, da bleibt er stehen, ohne aufgabe, ohne ziel und richtung, ohne irgendeinen menschen, der ihn jetzt grüsst und ihm einen guten tag wünscht und ihn so retten würde vor dem loch, in das er langsam hineinfällt und das sich um ihn herumlegt wie ein warmes tuch, das man sich noch so gerne um schultern und nacken legt und das einen erst ein bisschen später sein gewicht spüren lässt, ein grosses gewicht, ein gewicht, das jeden in die knie zwingt."

4

schreiben und lesen und nachdenken

ein anderer ging auch ab und zu durch die bahnhofhalle, reiste mit unbekannten menschen nach mailand oder paris, nach biel oder bümpliz. dass er immer einen hut trug, fiel unter all den reisenden nicht auf. er schaute sich gerne um, das offene, die vielen möglichkeiten faszinierten ihn. meistens setzte er sich später in ein café in der altstadt, dort war es schön still. er konnte lesen oder nach innen singen, wenn er mit seinen lieblingsgedichten allein war. er ist mir gleich aufgefallen, damals, in diesem kleinen café in der altstadt, wie er dort sass am runden tisch. er trug einen hut, so fiel er auf, obwohl er nichts tat. fast. er las in einem buch. erst viel später sollte ich erfahren, dass er hölderlin las, damals. heute bin ich versucht zu behaupten, es damals schon geahnt zu haben. dass sein kaffee schon lange erkaltet war und dass er rauchte – auch das waren behauptungen im nachhinein, die zwar passen würden, an die ich mich aber nicht wirklich erinnere. eigentlich bleiben von damals nur der hut und das buch. ich hatte den sorbas dabei, damals, setzte mich auch zum lesen ins café, nahm den kretischen sand aus der tasche und das meer und die sonne und den weiten himmel und liess mich berühren von der freien, ja beinahe wilden art seines denkens. ich habe ihn oft gesehen, den mit dem hut, und er war der einzige, der in diesem café den hut auf dem kopf hatte. mir ist aufgefallen, dass er unter diesem hut kaum je eine seite umblätterte in seinem buch. eines nachmittags stand ein gast abrupt auf und stiess dabei mit der kellnerin zusammen, zwei tassen kaffee fielen zu boden. keine grosse sache, aber immerhin ein bisschen unruhe und aufregung, entschuldigungen, eine putzaktion. der mit dem hut schien davon keine notiz zu nehmen, er schaute in sein buch und liess sich durch verschütteten kaffee und scherben nicht aus der ruhe bringen. ich stellte mir vor, dass der mit dem hut ein philosoph war, der den ganzen tag nachdenkt und abends dann in einem dicken buch eine weitere seite füllt mit gedanken über gott und die welt.

später lernte ich ihn kennen und war oft bei ihm zu besuch. ich staunte nicht einmal wirklich, als ich feststellte, dass meine vorstellungen vom schreibenden philosophen so falsch nicht waren. der mit dem hut wohnte hinter der universität, in einem jener alten häuser mit den grossen gärten und den hohen bäumen. eric jaccottet, mediation & beratung, stand auf einem messingschild neben der haustüre. im ersten stock bewohnte er zwei hohe, grosse zimmer, das eine zum garten hin, der platz vor dem fenster bot sich geradezu an für seinen schreibtisch. da schrieb er, der mit dem hut, da las er und da dachte er nach. im anderen zimmer stand sein bett. das war für ihn nicht mehr so wichtig, seitdem er allein schlief. der blick von seinem schreibtisch ging zwar in den garten, aber nicht in die weite, die häuser auf der anderen strassenseite waren zu hoch. der mit dem hut sass gerne an seinem schreibtisch. täglich machte er einen spaziergang, meistens richtung altstadt. vor der uni sah er die jungen leute, die dort in der sonne sassen und rauchten und diskutierten. dann stieg er die treppe hinunter, die ihn in die bahnhofhalle brachte. von den menschen und den reisezielen auf der anzeigetafel liess er sich geschichten erzählen von nah und fern. manchmal ging er weiter, in sein lieblingscafé in der altstadt. dort sass er dann, der mit dem hut, trank kaffee und las hölderlin.

5

die sonne im gesicht und den kalten wind im nacken

auch iris ging oft durch diese bahnhofhalle. auf dem weg zur arbeit im altstadtcafé brachte sie der vorortszug direkt dorthin, wo man auf den wartet, der mit dem zug ankommt, oder wo manchmal verrückte oder betrunkene ihre reden an die menschheit halten. auf dem weg nach hause ging sie durch diese bahnhofhalle, wenn sie mit einer freundin durch die läden gezogen war oder später, wenn sie im kino eine weite reise gemacht hatte. die bahnhofhalle war für sie ein durchgangsort, sie kannte die verschiedenen auf- und abgänge, sie wusste, mit welcher treppe sie am schnellsten zu ihrem ziel kam. sie musste nie nachdenken, wenn sie neben all diesen menschen ihre wege ging.

eines nachmittags war ich bei einer studienkollegin zu hause. barbara wohnte in einer kleinen studentenwohnung, viele bücher, spärliche einrichtung. wir hatten an spinozas ethik gearbeitet, tranken kaffee dazu und plauderten nicht nur über philosophische fragen. später hat mich barbara auf diesen nachmittag angesprochen und mich gefragt, ob ich mich an die erotische spannung erinnern könne, die damals zu spüren war zwischen uns. ich wurde verlegen, erinnerte mich nur noch an den gips an ihrem gebrochenen bein, an die aussicht aus dem fenster gegen westen, wo sich schwarze wolken zu einem gewitter versammelten, und an zwei vertrackte textstellen, die wir lateinisch lasen, weil wir die deutsche übersetzung nicht wirklich verstanden. als ich damals aufbrach aus dieser studentenwohnung und unter dem beginnenden regen zur haltestelle des vorortzuges eilte, hatte ich jedenfalls nur lateinische formulierungen im kopf. ich war zu früh und musste auf meinen zug warten. menschen stiegen aus, schauten prüfend und missbilligend in den schwarzen himmel, spannten regenschirme auf und eilten weg, nach hause wahrscheinlich. plötzlich ein leiser aufschrei neben mir und schon kullerten äpfel und karotten auf den boden und mir zwischen die füsse. eine einkaufs-tüte war gerissen. ich bückte mich, sammelte auf, was ich in die finger bekam, und reichte es der besitzerin, die ich erst jetzt anschaute. ich erkannte sie sofort. sie packte die sachen in eine andere tasche und eilte dann über die strasse, wo sie gleich in einem hauseingang verschwand. im zug freute ich mich darüber, dass ich eben der schönen kellnerin aus dem altstadtcafé einkäufe vom boden zusammengelesen hatte und dabei meine schwierigkeiten mit spinoza vergessen konnte. auch der regen war weg und barbaras gips und der leere kopf und die schweren beine, die ich manchmal hatte in der bahnhofhalle. alles war weg wegen karotten und äpfeln und der schönen kellnerin. und ich stellte mir vor, wie sie jetzt zu hause ihre einkäufe auspackte, andere kleider anzog, bequemere, wie sie sich etwas zu trinken machte, kaffee oder tee, und wie sie sich dann auf dem sofa ausstreckte und zu ihrem buch griff, endlich, wo sie doch den ganzen tag am fortgang der geschichte herumstudiert hatte.

am nächsten tag bedankte sich die kellnerin nochmals, als sie mir den tee brachte, offensichtlich hatte sie mich auch erkannt. ich fragte sie nach ihrer lektüre, abends, nach der arbeit. sie schaute mich erstaunt an. ich erklärte, dass ich mir vorgestellt hatte, wie sie zu hause in einem buch lesen würde, ich sprach erstaunlich lange und ausführlich, und auf dem gesicht der kellnerin erschien nach dem staunen ein leichtes lächeln. sie war aber sichtlich froh, als jemand nach ihr rief und noch etwas bestellen oder zahlen wollte. ich nahm einen schluck aus meiner tasse, packte meine lektüre aus und versuchte zu lesen. sorbas lockte mich zum strand, hatte aber ein bein im gips und plauderte mit der kellnerin, er hatte einen regenschirm aufgespannt und das meer war nur eine schmale bucht zwischen münster und bahnhof. das lesen wollte nicht gelingen. ich versuchte es tapfer, aber eigentlich wartete ich nur, bis die kellnerin nochmals zu meinem tisch kommen würde mit einer antwort.

sie kam und später wurde daraus eine halbe stunde auf der münsterplattform, mit ein bisschen sonne im gesicht und einem kalten wind im nacken. sie hatte tatsächlich gelesen am vorabend, sie lese gern und oft, sie könne dabei jeweils ein anderes, fremdes leben ausprobieren. dann erzählte sie von ihrem buch, von einer unglücklichen liebe und von einer mutigen frau, die eines tages gegen ihre gewohnheiten und gegen die ratschläge von freunden aufstand und wegging aus ihrem leben, das gar nicht wirklich ihr eigenes leben war, aufstand von ihrem sofa und wegging aus ihrer wohnung und aus ihrer stadt und ihrem land und anderswo einen neuanfang versuchte. sie erzählte mit ihrer weichen, warmen stimme, leicht stockend und mit jedem wort deutlicher merkend, dass sie mit der geschichte von dieser mutigen frau aus dem buch, dass sie mit diesem erzählen gleichzeitig einen plan entwarf für ein eigenes leben, einen eigenen traum und eine eigene sehnsucht. sie meinte staunend zu mir, dass sie gar nicht gewusst hätte, dass erinnerung auch in die zukunft weisen könne. ich hörte ihr zu, ihre worte verzauberten mich, ich stand mit dieser frau aus dem buch zusammen auf und ging hinaus und in die fremde und ich war der prinz auf einem prunkvoll geschmückten pferd und ich kämpfte um die frau im fremden land und die frau war die schöne kellnerin und ich führte sie nach hause, wir feierten hochzeit und wenn wir nicht gestorben sind und so weiter.

dann erzählte ich von sorbas und von kreta und vom tanzen und auch ein bisschen von meinem eigenen aufbrechen, von dem ich allerdings meistens nur träumen würde. ich sprach von aufbruch und abschied, von lebensentwürfen und sehnsuchtsorten. ich redete mich in eine begeisterung hinein und merkte erst nach einer weile, dass die schöne kellnerin tränen in den augen hatte. ich weiss nicht, ob sie erst bei meinem erzählen zu weinen anfing oder ob schon ihr eigenes stockendes sprechen und erzählendes aufbrechen zu stark war, zu stark wurde. sie hatte tränen in den augen, aber sie lächelte dazu. dann legte sie behutsam ihre hand auf meinen arm, unsere geschichten miteinander verbindend und unsere träume und sehnsüchte.

"ich muss jetzt wieder arbeiten gehen. ich danke dir. wir sind weit gereist und haben abenteuer erlebt, und es ist, als kennten wir uns schon seit langer zeit."

als mich barbara später nach der erotischen spannung an jenem nachmittag fragte, konnte ich mich noch an den gips, die schwarzen wolken und spinoza erinnern, aber das war alles unwichtig geworden, ohne bedeutung, ohne klang und ohne farbe und schon gar ohne irgendwelche spannung. was aber da war in meiner erinnerung, stark und leuchtend und tönend, das waren äpfel und karotten auf dem asphalt, das war eine bank auf der münsterplattform mit sonne im gesicht und einem kalten wind im nacken, das war diese hand auf meinem arm und das war das schöne gesicht der kellnerin, mit der ich endlich worte gefunden hatte.

6

beinaheliebesgeschichten

später, sehr viel später war ich zu einer kleinen geburtstagsfeier eines kollegen eingeladen. ich ging hin, vielleicht aus langeweile oder aus einem pflichtgefühl heraus, vielleicht wegen der schönen frau meines kollegen. es kam so, wie ich befürchtet hatte: zu viele menschen, zu viele worte. aber die frau war da, ihre schönheit und ihre anmut besänftigten meinen wachsenden unmut. es gelang mir, mich recht schnell wieder zu verabschieden, und auf dem kurzen weg zur haustüre wollte ich die schöne frau des hauses umarmen, wie ich das schon oft getan hatte. aber ich war ungeschickt oder sie wollte nicht oder wir verstanden beide die körpersprache des anderen nicht oder zu spät. jedenfalls kam es zu keiner umarmung, sondern zu einem halb misslungenen händeschütteln, nein, lediglich zu einer berührung unserer hände, ein berühren war es, ein hauch nur von einer berührung, eine vorstellung beinahe nur davon. am schluss einer gross gedachten abschiedsgeste berührten sich einfach noch unsere finger. und in wenigen bruchteilen einer kleinen und schmalen und blassen sekunde erzählten diese fingerkuppen eine liebesgeschichte, sie erzählten von einer eigenartigen liebe von anfang an, von einer starken verbundenheit von weit her und von einem klaren wissen darum, dass es genügt, wenn diese liebesgeschichte nur gerade jetzt geschieht. eine fingerkuppenliebesgeschichte, ohne aufregung, ohne verwicklung. einfach nur so.

früher gab es auch schon so eine beinaheliebesgeschichte ohne aufregung und ohne verwicklung. ich war damals noch in der schule, ganz am schluss, kurz vor der universitätszeit. ein schulfest in einem kleinen landschloss, laute musik, viel alkohol, ich da mittendrin im festgewimmel, nicht sehr geübt oder erprobt in solchen dingen. irgendwann, sicher schon müde und nicht mehr ganz sicher auf den beinen, streifte ich planlos über das festgelände, plauderte hier einen moment und da, wollte mich dann wieder aufmachen, wusste allerdings weder weshalb noch wohin, ich ging hinter einer kollegin durch, die auf einem stuhl sass. für einen kurzen moment legte ich meine hand auf ihre schulter, hielt dabei aber in meinem weggehen nicht einmal inne, vielleicht war es sogar nur ein mich-festhalten, damit ein wankendes gehen nicht in einem sturz ende. eine beiläufige berührung im vorübergehen. martha, auf dem stuhl, war seit vier jahren mit mir in der gleichen klasse, wir hatten oft gescherzt und diskutiert miteinander in dieser zeit. aber zu etwas, was auch nur annähernd liebesgeschichte hätte genannt werden können, war es nie gekommen. wenn ich mich richtig erinnere, nicht einmal in meinen träumen. jetzt gab es plötzlich diesen moment, in dem ich hinter dem stuhl hindurchging und ihr die hand auf die schulter legte. in einer blitzschnellen reaktion und mit einer erstaunlichen selbstverständlichkeit und ohne sich umzusehen legte martha in diesem moment, in diesem kurzen moment einfach ihre hand auf meine hand. und die sekunde wuchs an zu einer ewigkeit, in der einfach alles einfach anders war. nach dieser ewigkeit war das fest immer noch da und die zeit gab sich einen ruck und begann wieder zu ticken und vorwärtszueilen und die ewigkeit wurde schmal und schrumpfte, und mir wurde die musik zu laut und der alkohol unerträglich und die menschen zu viel. später ging ich nach hause, noch müder und noch unsicherer auf den beinen.

still leuchten die drei geschichten in meiner erinnerung, die hand auf der schulter am schulfest und die fingerkuppen am geburtstagsfest und die hand auf dem arm auf der münsterplattform. ich denke daran und gehe durch mein leben, das immer noch oftmals ein stolpern ist, aber ich gehe mit einem lächeln in den fingerkuppen, mit einer wärme in den händen und einer sanften kraft im arm.

7

die kunst des gehens

eines tages habe ich ihn gesehen, hinter der uni, in einem jener gärten. er stand einfach da, in keiner sichtbaren tätigkeit, er schaute auf den boden, nicht suchend, er stand still und fiel mir trotzdem auf oder vielleicht gerade deshalb. jedenfalls blieb ich stehen, erstaunt zuerst und erfreut, ihn erkennend, klar, er war es, der mann mit dem hut aus dem altstadtcafé. jetzt begegnete ich ihm hier, auf meinem arbeitsweg, den ich schon oft gegangen war und dabei doch nicht ins arbeiten gefunden hatte. jedenfalls blieb ich stehen. ich hatte den mann bis jetzt nur in jenem café gesehen, sitzend, und er ist mir dort zwar aufgefallen, mit seinem hut und mit dem buch, aber ich habe nie mit ihm gesprochen. ich freute mich, ihn hier zu sehen, und ich staunte auch, dass der mann einfach nur so dastand, den kopf gegen den boden gerichtet, als ob er etwas betrachtete. aber ich sah nichts, keine interessante prozession irgendwelcher käfer, keine kunstvolle oder zufällige anordnung herbstfarbener blätter und auch keine feuerschrift in den dornen. ich machte einen schritt auf den gartenzaun zu und blieb abermals stehen. ich wollte eigentlich grüssen, etwas sagen, in kontakt treten auf jeden fall. da bemerkte mich der mit dem hut, er hob seinen kopf, drehte sich zu mir und schaute mich an. ich konnte in seinem gesicht nicht lesen, ob er mich erkannte und auch erstaunt war, ich bemerkte nicht, ob er sich ärgerte wegen der störung oder ob er sich freute über die abwechslung. er schaute mich einfach an, sicher drei, vier sekunden. dann lächelte er und machte einen schritt auf mich zu.

"schön, dass du einmal stehenbleibst, ich kenne dich, ich habe dich gesehen, du gehst oft diesen weg. wenn du in diese richtung gehst, habe ich den eindruck, dass du einen schweren gang tun musst, jeder schritt braucht besondere kraft und auch mut, bei jedem schritt ein bisschen mehr. wenn du zurückkommst, bist du meistens auf der flucht oder endlich befreit, da sind deine schritte leichter und schneller, obwohl sie gar nicht wissen, wohin sie gehen."

der mann mit dem hut sprach ganz ruhig, mit leiser stimme, fast ohne melodie, irgendwie unbeteiligt. es war ein selbstverständliches sprechen ohne jegliche aufgeregtheit oder erwartung. er schaute mich immer noch an, lächelte immer noch und musterte meine tasche.

"welches buch trägst du denn heute mit dir herum?"

obwohl ich noch nie mit einem menschen in solcher art gesprochen hatte, war ich ganz ungezwungen, griff in meine tasche und streckte ihm ALEXIS SORBAS entgegen. ein leuchten erschien in seinem gesicht, er blätterte in dem taschenbuch mit den zahlreichen gebrauchsspuren, las da und dort ein paar worte und gab mir das buch zurück.

"kreta ist schön, und alexis sorbas ist eine starke figur. da hast du dir einen guten freund ausgesucht."

ich erzählte davon, wie ich immer im zug lese und dann beim aussteigen schwierigkeiten habe, bis ich mich vom meer und von der griechischen sonne lösen kann. ich erzählte, wie ich manchmal in der bahnhofhalle stehe und gelähmt bin, nichts mehr höre, nichts mehr wirklich wahrnehme, nichts mehr empfinde und nichts mehr weiss.

"nichts wissen ist eigentlich gut, dann bist du offener für die welt und die dinge und die menschen."

und dann erzählte auch er von der bahnhofhalle, wie er, in früheren jahren, sich gar nicht gern dort aufgehalten habe, weil er sich immer aufgeregt habe über die menschen, die ohne sich umzuschauen nur ihren zielen hinterhereilten und dabei das ziel verloren. da habe er sich geärgert, hätte ab und zu gerne ganz laut eine rede halten wollen, mitten in der bahnhofhalle, eine mahnrede, vielleicht gar eine predigt. selbstverständlich habe er das nie wirklich gemacht, das wäre lächerlich gewesen und hinterher wäre sein ärger wohl noch grösser gewesen. und wer hätte ihm schon zugehört, in der bahnhofhalle? heute aber gehe er gern durch diese halle, heute sei das ganz anders für ihn, all die menschen würden ihm ihre geschichten erzählen, er lasse sich gern im bahnhof inspirieren, heute sei er zum glück auch nicht mehr so stark mit sich und seinem ärger beschäftigt. wir schwiegen beide. zwei, drei blätter fielen vom baum und in der ferne hörte man die sirene eines krankenwagens. ich fragte ihn noch, was er denn am boden betrachtet habe, vorhin. er schüttelte leicht den kopf.

"ich habe nichts betrachtet, ich habe nach innen geschaut. manchmal suche ich eine erinnerung, um den tag besser verstehen zu können."

später verabschiedete ich mich von eric jaccottet, der mich eingeladen hatte, einmal meinen tee mit zitrone bei ihm zu trinken. einer schönen kellnerin würde ich da zwar nicht begegnen, aber für ein gespräch wäre sicher zeit und raum. ich fühlte mich befreit, achtete beim gehen auf meine schritte, versuchte zu spüren, ob ich kraft oder mut brauchte beim gehen, bemerkte nichts davon, aber ich ging, setzte schritt vor schritt, ich ging einfach weiter, den gärten entlang und den herbstblättern entlang und den büschen entlang und am seminar vorbei und ich musste an diesem tag nirgends mehr hingehen, ich brauchte kein ziel mehr, keine aufgabe, keinen sinn. die wenigen worte mit dem alten mann waren genug für den ganzen tag. und viel für ganz lange.

8

schnaps in der bauernstube

ich fuhr nicht jeden tag in die stadt, stolperte nicht jeden tag aus dem zug und stand nicht jeden tag fremd und allein gelassen in der grossen bahnhofhalle. einmal besuchte ich samuel, meinen bauernfreund aus dem emmental. zuerst standen wir im warmen stall, die kühe blieben stumm, dafür plauderten wir später am küchentisch umso lebhafter. samuel klagte über dies und das, wie bauern häufig klagen, über den tiefen milchpreis und das nasse wetter, über zunehmenden bürokram und überhaupt. auch ich kam ins jammern, erzählte davon, dass ich mit meinem leben nicht mehr zufrieden sei, dass ich nicht wirklich zielgerichtet studiere und dass ich ganz grundsätzlich zweifeln würde, dass alles wackle, sinnlos werde und brotlos. ich gestand meinem freund, dass ich ihn beneiden würde um die selbstverständlichkeit seines lebens, das zwar ab und zu streng sei, das ihm aber doch einen inhalt, eine struktur biete und, klar, auch verantwortung und gebundensein.

"ich selbst fühle mich im moment mit nichts verbunden, höchstens mit büchern von schriftstellern, die alle schon längst gestorben sind, die aber in meinem kopf herumschwirren und für verwirrung sorgen. ich bin nicht gebunden, also frei. aber ich bin auch nirgends mit etwas verbunden, also allein. und ich flattere herum, manchmal hüpfe ich, eigentlich möchte ich tanzen, meistens ist es aber ein stolpern."

samuel schnitt brot und käse und brachte speck aus der vorratskammer. der mit schnaps verdünnte kaffee wärmte von innen und legte einen schleier um meine sinne, ich vergass die bahnhofhalle und die universität und fühlte mich wohl in der bauernküche und mit dem leichten stallgeruch in der nase.

der schnaps löste meine zunge und ich hielt an jenem emmentaler abend eine rede, die mich einige wochen später aus der stadt heraus und in die berge führen sollte.

"siehst du, du hast einen hof, einen stall voller kühe, eine heimat und eine aufgabe und schon bald eine eigene familie. das ist viel und du bist nicht mehr so frei und unbeschwert wie in jenen tagen, als wir uns kennenlernten. dafür weisst du aber, was du zu tun hast und wo du hingehörst. ich fahre vier- oder fünfmal pro woche in die stadt, gehe an die uni und in die bibliothek, lese viele bücher, treffe einige bekannte und sehr wenig freunde, mache ständig etwas, habe aber nichts zu tun, und was ich später einmal sein oder werden möchte, davon habe ich keine ahnung. vieles an meinem studium gefällt mir schon, aber die menschen dort verstehe ich nicht, weder die studenten noch die professoren. ich bin fremd. manchmal, wenn ich aus dem zug steige und in der bahnhofhalle stehe, blicke ich mich um, habe keine ahnung, wohin ich gehen soll, meine beine werden schwer und mein kopf leer, und all die menschen, die eilig, strebsam und zielgerichtet neben mir vorbeigehen, schauen mich mitleidig oder spöttisch an, beginnen mich herumzuschubsen, lachen mich aus und werfen mich schliesslich unter einem grossen hallo in den chindlifresserbrunnen oder in den bärengraben. prost!"

die gläser duckten sich und schwiegen, mein freund schnitt noch ein bisschen speck und leerte die flasche selbstgebrannten. ob ich an jenem abend eine grellrote narrenkappe trug, weiss ich beim besten willen nicht mehr. zwei gläser später hatte mein bauernfreund eine idee, er kaute einen moment darauf herum wie auf einem zähen stück speck, kratzte sich am kopf und hielt auch eine rede.

"weisst du, das tönt ziemlich kompliziert bei dir und wahrscheinlich verstehe ich nicht alles. aber mir scheint, dass du etwas anderes tun solltest. in der bahnhofhalle stehen und nicht wissen wohin – mein gott! aber vielleicht habe ich da eine idee. du verstehst ja ein bisschen etwas von der landwirtschaft und hast keine angst vor kuhdreck. ich habe einen bekannten in der innerschweiz, der sucht immer einen helfer in den wintermonaten, dezember bis februar oder märz. er hat einen kleinen stall oben auf dem berg und möchte eigentlich das jungvieh über den winter dort lassen. wenn's dann aber richtig schneit, ist für ihn die fütterung viel zu aufwendig. er sucht einen knecht, der dort leben und zu seinem vieh schauen würde. man muss nicht melken, nur füttern und misten, also keine grosse sache, aber die muss täglich gemacht werden. knechte gibt's heute nicht mehr, und einen richtigen angestellten kann oder will er nicht bezahlen. und wer möchte schon für drei oder vier monate dort auf den berg hinauf, nur mit rindviechern und viel schnee, aber ohne menschen."

mein freund schaute mich ernst an und füllte noch einmal unsere gläser.

"wenn ich dich so erzählen höre von deinem leben und deiner unzufriedenheit, dann denke ich plötzlich, dass das vielleicht etwas für dich sein könnte. es ist sehr einfach dort oben, heizen mit holz und wasser vom brunnen, im stall stehen zehn bis fünfzehn stück jungvieh, füttern und misten. verdienen würdest du nicht viel und du hättest ganz viel zeit für dich. du wärst zwar allein, aber halt angebunden, und hättest etwas zu tun."

später standen wir im stall, samuel erklärte mir, wie ich so einem rindvieh ansehen würde, ob es gesund sei, ich war nicht mehr sicher auf den beinen, fühlte mich aber schon beinahe als bauer. mein kopf war nicht mehr klar, das nicht, aber er war nicht mehr so leer wie jeweils in der bahnhofhalle, da hatte sich eine idee eingenistet, unverhofft und weder erahnt noch erträumt, eine idee, die schnell grösser wurde und es sich bequem machte, die mich nicht mehr losliess und die mir bei jedem kleinsten einwand, den ich vorbringen konnte, sofort ein argument lieferte, das mich verstummen liess. drei monate auf einem berg. ich als bauer. ich weiss nicht. aber das gefühl war gut, die bahnhofhalle wurde klein, die fragen verstummten. und das stolpern über die türschwelle ins gästezimmer hatte einen handfesten grund.

einer mit einer roten kappe sass in der stallecke und hatte zugehört. mehrmals musste er ein lachen unterdrücken. als er allein war, stand er auf, zuckte mit den schultern und gabelte kuhscheisse in eine karre.

9

nach unten befehlen und nach oben gehorchen

ein weiterer taucht auf, erfrischend unkompliziert und mit beiden füssen in stiefeln, die meistens die richtung kennen, wie ja in der militärischen welt fast alles einfach und eindeutig erscheint. ein prättigauer unteroffizier mit polnischem namen ist zwar eine seltenheit, sein dialekt und sein verhalten liessen wenzel koszinsky aber verschwinden zwischen uniformen und reih und glied, sogar sein ausgesprochener ehrgeiz fiel in diesem rahmen nicht auf. das schneidige befehlen und gehorchen hatten eine befreiende und stärkende wirkung auch auf zögerliche und komplizierte wesen. bruno gelang jedenfalls in dieser eigenartigen männerwelt ein anderes auftreten, sicherer, leichter auch, vielleicht manchmal sogar ein bisschen frech. bruno und wenzel, ein eigenartiges paar, wie sie da im militärischen umfeld einander begegnen, zwei wesen aus unterschiedlichen welten, unversehens verbunden durch diesen automatismus von befehl und gehorsam, aneinander geraten durch den zufall der militärbürokratie, der unteroffizier mit dem einfachen und klaren auftrag, den unbrauchbaren soldaten zur schiesswache auf den pass zu fahren. der eine befiehlt nach unten, weil er nach oben gehorcht, der andere tut einfach, was ihm gesagt wird, nicht so sehr, weil er gehorchen will, sondern weil sich dieses tun anbietet als kleine rettung vor leerem kopf und schweren füssen. dass dieses tun wenig sinnerfüllt ist und schnell ins komische fallen kann, tut nichts zur sache. es geht bruno gut beim ungestörten ausführen seines auftrags.

10

nietzsche auf 2000 m.ü.m.

vor dem winter erlebte ich ein anderes abenteuer, sinnigerweise im militär, obwohl doch in unserem land der militärdienst alles andere als abenteuerlich gilt. ich hatte wegen prüfungen meinen regulären wiederholungskurs verschoben und war nun für drei wochen in einer ostschweizer kompanie aufgeboten. an jenem montag stieg ich gutgelaunt mit meiner ausrüstung in den zug, in meinem gepäck steckte ein arztzeugnis. wegen eines kleinen unfalls im frühling, als mir bei einer militärischen übung der gehörschutz im dümmsten moment herausfiel, war ich von jeglichem schiessen mit scharfer munition befreit. der ostschweizer kommandant war nicht zufrieden, als er mich noch am ersten tag ins büro zitierte.