mein onkel stanislaus - stefan imhof - E-Book

mein onkel stanislaus E-Book

Stefan Imhof

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Beschreibung

'mein onkel stanislaus' geht in die weite Welt, um die Liebe zu suchen. Er findet allerlei, auch Liebe, jedenfalls Geschichten davon oder darüber. Seine Welt ist klein: Da ist seine Stadt, das Krankenhaus, die Buchhandlung, das Café. Seine Welt ist gross: Da ist der Fluss und das versteckte Tal mit dem kleinen See und da ist der grosse Himmel. Manchmal schüttelt die Kirche ihren Turm und während der ganzen zwei Tage liegt ein feiner Duft aus einer warmen Backstube in der Luft.

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Inhaltsverzeichnis

1. die grosse reise

2. schnürchen, die man nicht mehr brauchen kann

3. der fall aus dem paradies

4. föhrenlektionen

5. ein steppenwolf, ein clown und ein taugenichts

6. die zigarre in der garage

7. sich der grösse nach hinstellen

8. katzen füttern und pflanzen giessen

9. wozu hat er denn einen kopf?

10. feste burg ist unser gott

11. zwischen bäumen und felsen

12. komm gut wieder nach hause

13. die laute sechzehntelpause

14. geometrie im garten

15. auf die heimat warten

16. schreibend etwas erledigen

17. was ist mit dir?

18. tief vergraben und gut gesichert

19. der raum vom einen zum anderen

20. anders und fremd und unwirklich

21. mein schiff geht unter

22. engel in dunklen bauernstuben

23. und vor allem öffnend

24. tapfer irgendwie

25. am richtigen platz

26. der feine duft an deinem hals

27. sein ziel erreicht haben

28. wie kommen schatten und trauer in dein gesicht?

29. an der bäckerei vorbei

30. seltsam frei und stark und zuversichtlich

31. widerhaken

32. einigermassen trotzig

33. im kaffeehaus

34. nasse socken

35. ich liebe dich

36. sturzflug

37. schreib und sing und erledige deine dinge

38. ein weg, der zu einem noch nicht bekannten ziel führt

39. ein sonderbar helles lied

40. ich liebe dich

41. gerade das und gerade deshalb

42. all die klänge jenseits des gesprochenen worts

43. auf den mond warten

44. unendlich genau und unendlich leicht

45. jeder bei sich und nahe beieinander

46. könig über ein grosses land

47. es sei denn, das gehen selbst sei eine heimat

48. bäume und berge und blassblauer himmel

49. ohne anstrengung?

50. ordnen und auffädeln

51. hinaus ins offene

52. obwohl rechts ein schöner rosenstrauch steht

53. woher ein lebensprozess jetzt gerade seinen schwung nimmt

54. stocken und stolpern und stottern

55. ferien, genau, süden

56. eine liebe aus dem herzen heraus

57. tapferkeit vor dem freund

58. beinahe elegant

59. bist du auch schon einmal gestorben?

60. genau, der tod

61. wir reden doch schon miteinander

62. kein fehler weit und breit

63. immerhin wehen ständig die winde

64. und ihr herz wurde schwer und wurde leicht

65. die sonne trocknet nicht nur meine tränen

66. der wilde weg

67. der hund sagte nichts

68. das fell glänzt und glitzert

69. wie hast du das gemeint mit der liebe?

70. eine lektion für das leben

71. und selten wirklich mutig

72. man sollte nicht angst haben

73. das fenster stand offen

74. das leben geht in die andere richtung

75. das leben geht in die andere richtung

1 die grosse reise

die frau meines onkels stanislaus lag schon eine ganze weile wach im grossen bett, sie hatte das vogelgezwitscher bemerkt und das schattenspiel, das die aufgehende sonne mit hilfe des apfelbäumchens auf die wand zauberte. sie war auch schon einen moment auf dem balkon gestanden und hatte hinausgeschaut in die welt und auf die dinge.

die nacht hatte dem hügel gegenüber einen grauen schal umgelegt. jetzt zog die sonne dem wald den dunst aus der krone und malte damit ein bild an den himmel, geschwind verwischt vom wind. so wuchs die landschaft hervor, hügel hinter hügel, mit leisem schritt entfernte sich der horizont, breitete seine arme gegen norden und gegen süden und umarmte die welt, die sich ihm auftat.

der kühle morgen hatte die frau schliesslich wieder zurückgeschickt ins bett und neben ihren mann. sie war in gedanken noch bei diesem horizont und bei den versen, die sie gestern vor dem schlafengehen gelesen hatte. sie konnte sie nicht aufsagen, abertäuschung kam darin vor und traum und trennung, diese drei worte nahe beieinander.

"hast du nicht gut geschlafen, stanislaus? du warst unruhig und es schien mir, du hättest einige kämpfe auszufechten gehabt."

"ich weiss nicht, wie ich geschlafen habe", meinte stanislaus, "ich war weit weg und bin wohl noch nicht ganz angekommen. heute will ich in die weite welt hinaus, um die liebe zu suchen."

seine frau schaute ihn an und wollte dies und das sagen zur weiten welt und zur liebe. um ihre augen herum spielte etwas, was stanislaus leichten spott genannt hätte. er schaute aber in die ferne, und sie konnte das augenspiel wegwischen, bevor es schaden angerichtet hätte.

"könntest du mir vorher noch den rücken massieren?"

sie schlug die decke zurück, zog sich das nachthemd über den kopf und wandte sich stanislaus zu.

"bitte."

sie lächelte, rutschte zu ihm hinüber und drehte sich auf den bauch.

stanislaus brummte zustimmend und wandte sich seiner frau zu. er küsste die weiche stelle zwischen den schulterblättern und begann ihren rücken zu massieren. er berührte seine frau gern und manchmal staunte er darüber, dass er bei diesem tun nie ganz unterscheiden konnte, in welche richtung die energie floss, die er in seinen händen spürte, und dabei dachte er dann, dass er vielleicht doch noch physik studieren sollte, denn das mit der energie und mit dem hin und her interessierte ihn wirklich, und wenn er seine frau berührte, dann geschah da ganz viel, was er nicht verstand, was er nur geniessen konnte. und bei all diesem denken berührte er seine frau und massierte ihren rücken und eigentlich wollte er in die weite welt hinaus, und jetzt machten seine hände eine andere reise, und er dachte an die liebe, die er suchen wollte, und seine hände dachten an den rücken, der gross wurde und über schultern und hüfte hinauswuchs, und seine frau lächelte noch immer.

"was du dir vorgenommen hast, stanislaus, wird eine grosse reise werden. komm vorher noch zu mir."

damit drehte sie sich auf den rücken und zog stanislaus zu sich.

"für die weite welt werde ich heute kaum zeit haben, aber beim suchen möchte ich einen moment dabeisein."

2 schnürchen, die man nicht mehr brauchen kann

später stand mein onkel stanislaus im arbeitszimmer. beim zusammenpacken seiner dinge kamen ihm die schnürchen in den sinn und die schatztruhe und der steinbruch. sie hatten besuch gehabt, sein freund, der lehrer, war dagewesen. von einem steinbruch hatte er erzählt, wo er sätze sammelt aus früheren jahren. mein steinbruch ist eine schatztruhe, hatte er gesagt, eine sammlung.

wie damals, vor mehr als vierzig jahren, als wir beim umziehen auf dem neuen dachboden in einem verstaubten schrank noch allerlei von der vorbesitzerin fanden. mir ist eine abgegriffene schuhschachtel in erinnerung geblieben. 'schnürchen, die man nicht mehr brauchen kann' stand mit zittriger schrift auf den deckel geschrieben. die schachtel war randvoll gefüllt mit schnurresten, kurzen und sehr kurzen, einzeln verschlauft, sehr ordentlich, viele farben, alle denkbaren sorten von schnüren und schnürchen, alle mehrmals gebraucht und irgendwann in dieser schachtel entsorgt. zu kurz oder zu alt oder zu unpassend. reste, bruchstücke, hobelspäne eines langen und sparsamen lebens. selbst was keine verwendung mehr fand, wurde aufbewahrt. eine schatztruhe.

er sammle auch bruchstücke und hobelspäne, bei ihm seien es sätze zu seinem alten traum, sätze zu seiner einsamkeit und zu seinem fremdsein unter den menschen, sätze auch zu seinen büchern und zu seiner musik. du weisst ja, stanislaus, ich träume seit vierzig jahren davon, mein eigenes buch zu schreiben. und ich staune, wie oft ich in diesen jahren in meinen tagebüchern und briefen davon geschrieben habe. der lehrer hatte bei diesen worten in die ferne geschaut, und fast schien es meinem onkel stanislaus, als sähe er tränen in den augen seines freundes. schau, hier! hatte er schliesslich gesagt und eine schachtel aus seinem grossen rucksack gezogen. das hier ist eine schatztruhe und ein steinbruch. da fährt man hinein und wieder heraus, holt sich etwas, entsorgt altlasten und trümmer aus niedergerissenem, vielleicht schaut man sich lediglich um. sollte sich eine linie zeigen, eine spur, à la bonheur! im moment ist da nichts. aber unsere augen sind oft stumpf, blind und fixiert auf längst bekanntes. vielleicht findet das langsame schauen unversehens da oder dort einen schatz und einen satz, den man aufhebt, abstaubt und anblickt. vielleicht erzählt er eine gute geschichte, die ein neues licht wirft auf dies und das, was man so ein leben nennt.

damit hatte der lehrer die schachtel geöffnet und einen stapel papier in die hand genommen. es waren unterschiedliche blätter, handschrift, schön geschriebene briefe, aber auch notizzettel, maschinengeschriebenes, listen, verse, weisse und farbige blätter, eine bunte sammlung von papier mit diesen geheimnisvollen zeichen drauf, mit denen wir uns geschichten aufschreiben. und da steht dein ganzes leben drin? hatte mein onkel stanislaus gefragt. in letzter sekunde konnte er verhindern, dass spott hineinspukte in seine frage. nicht das ganze, es beginnt mit dem jahr 1977, da lebte ich noch bei meinen eltern, nicht in diesem alten haus mit der geheimnisvollen schuhschachtel, sondern in haus meiner kindheit und frühen jugend. ein sechzehnjähriger gymnasiast, noch grün hinter den ohren, schon recht belesen, aber noch ohne erfahrung im leben und im lieben. da beginnen sie, diese blätter, und sie gehen bis ins neue jahrtausend hinein.

3 der fall aus dem paradies

"wie bist du auf das jahr 1977 gekommen?"

die frage nach dem anfang. sie ist nicht einfach zu beantworten. und wie immer ist die antwort eine entscheidung. sonst kommen wir zu adam und eva, aber dann sind wir im paradies, und immer alles mit dem apfel beginnen lassen, ich weiss nicht. schliesslich sei es ganz einfach gewesen, hatte der lehrer dann noch hinzugefügt, die erste aufzeichnung, die für ihn mehr war als nur ein stück aus kindertagen, sei ein tagebucheintrag aus dem jahr 1977 gewesen, eine notiz zu seiner neujahrslektüre. das ist lange her, 1977, da gab es in persien noch einen schah und in berlin eine mauer. ein sechzehnjähriger gymnasiast mit flaumigem bart trifft an einem feriensee ein mädchen, in das er sich verguckt. er hat wenig erfahrung in liebesdingen, aber es ist sommer und das zittern ist ganz schnell ganz stark. allerdings beginnt das jahr nicht mit dem sommer.

mein onkel stanislaus stand in seinem arbeitszimmer und lächelte. er spürte noch die weichen arme seiner frau, er hörte noch die worte seines freundes und hatte nun die dinge für seinen tag zusammen. bevor er in die weite welt hinaustrat, ging er in die küche, von der ein duft beinahe wie aus einer backstube durch das haus zog.

4 föhrenlektionen

später setzte sich mein onkel stanislaus den hut auf und zog los. unter der alten föhre schaute er einem eichhörnchen zu, das elegant seinen sieg gegen die schwerkraft demonstrierte und ihm dabei zuzwinkerte. seine frau hatte beim frühstück von versen und drei worten gesprochen. während der kaffee langsam in die kanne tröpfelte, hatte sie erfolglos nach dem gedicht gesucht. täuschung und traum und trennung. welcher gedanke stellt diese drei wörter in eine reihe? und jetzt schaute mein onkel stanislaus dem eichhörnchen zu und dachte an seinen eigenen traum. die föhre wuchs ihm dabei unter den füssen hervor und in den himmel hinauf, die gekreuzten äste schufen rahmen für all die traumbilder, die er in den baum stellte. das eichhörnchen schaute sie sich kurz an, turnte aber unbeeindruckt weiter und machte aus der galerie wieder ein turngerät oder eine bühne. mein onkel stanislaus liebte diese föhre für ihre grösse und ihre unerschütterliche ruhe. die wurzeln hatten ihm zwar drei steinplatten angehoben und verschoben, aber das unebene gehört eben dazu, das wusste stanislaus. ihre äste zeigten ihm den himmel und ihre nadeln machten den wind sichtbar, seine föhrenlektionen, tag für tag. die bilder aus seinem traum liess er in den ästen hängen.

er hatte sich von vielen dingen getrennt letzte nacht. zuerst von seinen büchern, er hatte sie verbrannt, im eigenen garten hatte er eine tonne hingestellt und darin feuer gemacht, dann trug er ein buch nach dem andern hinunter und warf es ins feuer, nachdem er es noch einmal gelesen hatte. anschliessend fuhr er mit seinem auto zum kleinen see in der nähe, stieg aus, liess es langsam hineinrollen und wartete, bis der see wieder ruhig dalag. schliesslich nahm er seine kleider, zerschnitt sie und nähte aus den stücken eine grosse decke, die er über seinen schreibtisch legte.

an dieser stelle war der traum abgebrochen, stanislaus hatte sich aufgesetzt und auf die decke gestarrt, die über ihm und seiner frau auf dem grossen bett lag. und mein onkel stanislaus wollte hinaus in die weite welt, um die liebe zu suchen.

mit einem letzten kühnen sprung verschwand das eichhörnchen aus seinem blickfeld und raschelte hinter den haselsträuchern herum. mein onkel stanislaus schüttelte den kopf, verscheuchte die traumgespinste und machte sich wieder ans losziehen. vor den letzten drei metern bis zum gartentor fürchtete er sich. mehrmals war es in letzter zeit vorgekommen, dass er da, kurz bevor er den arm ausstreckte, um das tor zu öffnen, zurückschreckte, aufgeregt in sein zimmer eilte und dann ratlos vor dem schreibtisch stand. dass er auf dem weg vom gartentor zurück zum schreibtisch vergessen konnte, was er vergessen hatte, gab ihm zu denken. an diesem morgen nun konzentrierte sich stanislaus auf sein vorhaben, auf seine tasche und die dinge, die er eingepackt hatte, er tastete nach schlüssel, feuerzeug und brieftasche, er prüfte die schuhbändel und den sitz des hutes, griff im letzten moment noch einmal in die tasche, um sicher zu sein, dass er stifte und papier eingepackt hatte, dann war das gartentor erreicht und er konnte aufatmen. er öffnete es, blickte noch einmal zurück, winkte seiner frau, die mit der kaffeetasse auf dem balkon stand, und machte seinen ersten schritt in die weite welt.

5 ein steppenwolf, ein clown und ein taugenichts

gewohnheitsmässig schaute mein onkel stanislaus in den himmel hinauf, er hielt nicht ausschau nach einem engel, er wollte einfach abschätzen, ob es regen geben könnte oder gar ein gewitter. in den erzählungen des lehrers hatte sich am anfang des jahres 1977 ein gewitter zusammengebraut, ein gewitter, gegen das kaum ein regenschirm gewachsen war.

das jahr beginnt nicht mit dem sommer.

was er damit gemeint habe, hatte mein onkel stanislaus seinen freund gefragt. da war das mädchen aus den ferien und es war sommer. aber da muss vorher noch etwas anderes gewesen sein. was war denn wichtiger als das mädchen, damals? das ist nicht die frage, damals nicht und auch später nicht. das mädchen vom feriensee ist ganz schnell ganz wichtig geworden in meinem leben. ernsthaft und solid und treu und heirat und familie, alles ziemlich schnell und alles schön und gut. und viele jahre ist das alles ja auch ganz ordentlich gelaufen. aber das jahr hat eben nicht im sommer und nicht an diesem see angefangen und das habe ich erst viel später begriffen. aber das ist eine längere geschichte.