Der Mythos und der Mensch - Roger Caillois - E-Book

Der Mythos und der Mensch E-Book

Roger Caillois

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Beschreibung

Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs legt der französische Soziologe und Kulturtheoretiker Roger Caillois mit Der Mythos und der Mensch eine Kulturen und Zeiten übergreifende Studie über die Bedeutung der Einbildungskraft für die Welt der Erkenntnis und das menschliche Handeln vor. Von Beschreibungen sogenannter ›Naturvölker‹ über Legenden aus dem alten China bis hin zum literarischen Paris des 19. Jahrhunderts: Auf individueller wie auf sozialer Ebene kommen im Mythos, so Caillois' radikale These, grundlegende Prinzipien zum Ausdruck, die der Mensch mit der Natur teilt, sodass ihm die Natur umgekehrt wiederum als Bild und Ausdruck dieser Prinzipien erscheinen kann. Ausgehend von der Durkheim-Schule und den Forschungen Marcel Mauss' konfrontiert Caillois das Denken über den Mythos mit den Erkenntnissen deutscher, englischer und amerikanischer Soziologie. Von Vertretern der Kritischen Theorie wurde seine Vorstellung einer falschen Totalität von Mensch und Natur angegriffen, doch zugleich gilt es die analytische Qualität eines Denkens anzuerkennen, das radikal auf die Wirklichkeit zielt.

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ROGER CAILLOIS

DER MYTHOS UND DER MENSCH

Herausgegeben von Anne von der Heiden und Sarah Kolb

Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Peter Geble

August Verlag

INHALT

Hinweis [1937]

Vorwort von 1972

I. Funktion des Mythos

II. Der Mythos und die Welt

1. Die Gottesanbeterin

2. Mimetismus und legendäre Psychasthenie

III. Der Mythos und die Gesellschaft

1. Die Ordnung und das Kaiserreich

2. Schattenspiele auf Hellas

3. Paris, ein moderner Mythos

Schluss

Nachwort des Übersetzers

Editorische Anmerkungen

HINWEIS [1937]

Die vielfältigen Formen, in denen sich die Einbildungskraft zu erkennen gibt, sind in ihrer Gesamtheit nicht eben häufig untersucht worden. Statt die einen durch die andern zu erhellen, widmete man sich der Literaturgeschichte, der Mythographie, der normalen und pathologischen Psychologie usw. und unterteilte damit die Einheit des Geisteslebens willkürlich in ebenso viele autonome Provinzen, deren Gegebenheiten selten miteinander konfrontiert werden, es sei denn aus dem eitlen Bestreben, einige grobe und flüchtige Bestimmungen daraus zu ziehen, die so allgemein gehalten sind, dass es schwerfällt, sie zu bestreiten. Häufig wird auf diese Weise das mythische, das poetische, das kindliche und das krankhafte Denken auf eine Stufe gestellt. Mehr als ein paar Sentenzen eines Mystikers, die eine oder andere Ansicht eines Dichters, einige Formulierungen von Lévy-Bruhl, Piaget oder Freud braucht es dazu nicht. Man scheint nicht zu begreifen, dass es für eine allgemeine Phänomenologie der Einbildungskraft wesentlich fruchtbarer wäre, die Unterschiede herauszuarbeiten, als ferne Analogien zu behaupten.

Allein unter der Bedingung, von Anfang an die spezifischen Merkmale der verschiedenen Äußerungsformen der Einbildungskraft klar zu benennen, wird es möglich, für alle erfassten Tatsachen so etwas wie eine vollständige Klassifikation ins Auge zu fassen, die sie in einer systematischen und derzeit noch schmerzlich vermissten Ordnung zusammenfassen würde.

Bereits jetzt ist es jedoch möglich, einen vorläufigen und natürlich noch sehr partiellen und schematischen Entwurf eines solchen Gebäudes vorzustellen: So ist man etwa bei der Untersuchung der Feenmärchen und der fantastischen Märchen zu der Auffassung gelangt, dass die ersteren der Ausdruck einer Seele seien, die höheren, aber wohlgesonnenen Mächten unterworfen ist, die letzteren dagegen der eines rebellischen, auf seine eigene Kraft stolzen Wesens, das sich gegen die höheren Mächte mit den übernatürlichen Mächten des Bösen verbündet.1 Zugleich, aber unabhängig davon wurde behauptet, dass der religiöse Mensch sich den höheren Mächten respektvoll beuge, während der Zauberer sich bemühe, sie zu bezwingen.2 Es genügt, diese beiden Ergebnisse nebeneinander zu stellen, um zu erkennen, wie eng die beiden Klassen von Tatbeständen miteinander verbunden sind und welch zusätzliche Überzeugungskraft die Erklärungen durch diese Parallelisierung gewinnen.

Indessen schreitet die Systematisierung voran, wobei die ethnographische Forschung zuletzt zwei grundlegende geistige Haltungen als repräsentativ für einen bestimmten Gegensatz identifizierte: den Schamanismus, der die Macht des Einzelnen im Kampf gegen die natürliche Wirklichkeitsordnung zum Ausdruck bringt, und den Manismus, der durch Hingabe und die Suche nach der Einswerdung von Ich und Nicht-Ich, von Bewusstsein und Außenwelt geprägt ist.3 Nun ist das genau die in demselben System festgestellte Unterscheidung zwischen dem Poetischen und dem Magischen: »Es ist selbstverständlich, dass in den geistigen Schöpfungen der Menschheit und ihren Dichtungen das Wunderbare auftritt als Phänomen der aus Hingabe erwachsenen Mystik, das Zauberische aber aus dem primitiven Bedürfnis des ›Ich‹, sich von der unfassbaren Wirklichkeit freizumachen und so Machtmittel aus der Magie zu gewinnen.«4

Diese Dichotomie steht selbst wiederum in einem größeren Zusammenhang, der die doppelte Grundlage der geistigen Äußerungsformen erst deutlich macht: Mit der Magie wird man jede auf Eroberung ausgehende Haltung in Verbindung bringen, mit der Mystik jede Form des Sich-Verströmens. Bei letzterer ist die Sinnlichkeit bestimmend. Charakteristisch für sie ist eine gewisse Passivität: Im Extremfall wird man sie ihrem Wesen nach theopathisch nennen. Die Magie hingegen ist mit dem Verstand verbunden und mit dem Willen zur Macht. Sie ist ein Versuch, das Bewusstseinsfeld auszuweiten und die übersinnliche Welt mit einzubeziehen. Durch diesen zugleich aggressiven und wissenschaftlichen Aspekt lässt sie sich als theurgisch kennzeichnen.5

Aber auch der Übergang zum Sozialen ist auf allen Ebenen der Konstruktion möglich: Wie wir gesehen haben, wurden Religion und Magie einander entgegengesetzt, die eine als eine Haltung der Unterwerfung, die andere als eine Haltung, die auf Zwang zurückgreift. Die Soziologen hingegen stellen sie als zwei Phänomenbereiche gegenüber: der eine, »systematisch, geordnet, obligatorisch«, die Religion; der andere, »ungeordnet, fakultativ oder kriminell«,6 die Magie. Dabei müssen sich diese beiden Gesichtspunkte nicht ausschließen, im Gegenteil: Es ist durchaus denkbar, dass eine bestimmte geistige Haltung generell von einem bestimmten Verhalten im Hinblick auf die soziale Gruppe begleitet wird, sei es, dass sie es zur Folge hat, sei es umgekehrt, dass sie selbst eine Folge der sozialen Stellung des Einzelnen und seiner unmittelbaren Reaktionen auf die Gesellschaft ist.

Diese Beispiele sollten genügen, um zwar noch nicht die allgemeine Architektur der Systematisierung, aber doch den Mechanismus ihres Aufbaus erahnen zu lassen; es geht darum, einen breiten Phänomenbereich, dessen vielfältige Elemente voneinander abhängig sind, als organische Totalität in den Blick zu nehmen. Unser ganzes Bemühen gilt somit dem Versuch einer Synthese: Das Ziel besteht darin, unter seinen äußerst wandlungsfähigen Äußerungsformen eine Funktion des Geistes zu erfassen, vielleicht die flexibelste und geschmeidigste von allen, die sich unbegrenzt zu verkleiden weiß und auf den scheinbar unfruchtbarsten Gebieten Nahrung findet. Manche Querbezüge, die wir zwischen dem einen und anderen der heterogenen Gebiete herzustellen versuchen, werden gewiss willkürlich und wenig gesichert erscheinen. Ohne einen gewissen Mut zur Parteinahme wird man jedoch nicht darauf hoffen können, die diesbezüglichen Forschungen zu einer Abkehr von ihrer exzessiven Atomisierung zu bewegen.

Daher haben die in diesem Band zusammengestellten Studien auch kein anderes Ziel, als im Labyrinth der Beobachtungstatsachen die Kreuzungen, die kritischen Stellen, die Punkte ausfindig zu machen, an denen die sonst völlig divergierenden Gegebenheiten sich überschneiden. Sie beschäftigen sich vor allem mit dem charakteristischsten unter ihnen, dem Mythos, und bemühen sich, durch die Analyse eines besonders aufschlussreichen Beispiels sein Wesen und seine Funktion zu definieren. Dabei gilt es, die verschiedenen Bestimmungen zu präzisieren, die (von den Elementargesetzen der Biologie bis hin zu den überkomplexen Gesetzen, welche die sozialen Phänomene regieren) dazu beitragen, die mythischen Kollektivvorstellungen zur exemplarischen Äußerungsform des imaginativen Lebens zu machen. Tatsächlich ist im Mythos das Zusammenspiel der geheimsten, heftigsten Strebungen des individuellen Psychismus und des gebieterischen, beunruhigenden Drucks der sozialen Existenz am leichtesten zu erfassen. Mehr bedarf es nicht, um ihm eine herausragende Stellung einzuräumen und ihm einige der wesentlichen Probleme zuzuordnen, die sowohl die Welt der Erkenntnis als auch die des menschlichen Handelns berühren.

Man möge daher nicht allzu überrascht sein, wenn die Ebene der tatsächlich oder scheinbar unparteiischen Beobachtung im Verlauf der folgenden Essays zuletzt zugunsten der Ebene der Entscheidung ver lassen wird. In dem Maße, wie der Gegenstand der Untersuchung der heutigen Wirklichkeit näher rückt und stärker am Wesen der aufgeworfenen Probleme teilhat, drängen die abschließenden Formulierungen immer stärker in den Bereich der Verantwortlichkeit: Sie beziehen sich nicht mehr auf das Definitive und Abgeschlossene, auf die Vergangenheit. Sie suchen sozusagen den Anschluss an die Zeit und rücken Entwicklungen in den Blick, die ihr Ende noch nicht gesehen haben. Ohne sich ihrem Wesen nach zu verändern, sind sie darum nicht mehr feststellend, sondern gebieterisch. Vielleicht wird gegenwärtig von manchen Geistern nichts mehr ersehnt als ein Vorstoß, der es möglich macht, ohne schlechtes Gewissen von der Konzeption zur Tat überzugehen. Jedenfalls verdient eines festgehalten zu werden: Gerade dadurch, dass die Methode, die diesen Untersuchungen zugrunde liegt, darauf angelegt war, sie in ein totales, nichts auslassendes System einzubinden, vermochten dieselben Untersuchungen bei Fragen, die durch menschliches Handeln zu lösen sind, Elemente einer Antwort zu geben, die frei sind von jeder Zweideutigkeit, Ängstlichkeit und Willkür.

Paris, Juni 1937

1 Józef Hieronim Retinger, Le Conte fantastique dans le romantisme français, Paris: B. Grasset 1909, S. 6f.

2 Das ist insbesondere die Position von James George Frazer.

3 Leo Frobenius, Kulturgeschichte Afrikas, Zürich: Phaidon 1933, S. 295.

4 Ebd., S. 242.

5 Evelyn Underhill, Mystik. Eine Studie über Natur und Entwicklung des religiösen Bewusstseins im Menschen, München: E. Reinhardt 1928.

6 Marcel Mauss, »Review [Ohne Titel]«, in: L’Année Sociologique X (1905–1906), S. 223–226, hier: S. 224; siehe auch Henri Hubert u. Marcel Mauss, »Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie«, in: Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie, Bd. I: Theorie der Magie/Soziale Morphologie, München: Hanser 1974, S. 43–179. Übersetzungen von Zitaten sind, wenn nicht anders angegeben, vom Übersetzer, P. G.

VORWORT VON 1972

Dieses Buch ist vor mehr als 30 Jahren entstanden. Dass es heute als Taschenbuch erscheint, ist ein Zeichen dafür, dass es seine Aktualität nicht völlig verloren hat, obwohl es in einen Bereich fällt, in dem es nur wenige Titel gibt, die nicht schnell (und immer schneller) veralten und überholt sind.

Als ich es erneut las, fand ich nichts, was ich zurücknehmen müsste. Es zeugt eher von Illusionen, die ich nicht mehr teile. Jedenfalls habe ich keinerlei Korrekturen daran anzubringen. Im Gegenteil, es beweist mir die Einheit, die Kontinuität, die Hartnäckigkeit einer weitverzweigten, mitunter fast schon disparat erscheinenden Forschung, deren ursprüngliche Intuition sich jedoch bereits explizit in diesem ersten Bekenntnis meiner Interessen zu erkennen gibt. Die nachfolgenden Bücher, Der Mensch und das Heilige, Méduse & Cie, Die Spiele und die Menschen, L’Incertitude qui vient des rêves, Instincts et société, Bellone ou la pente de la guerre, Cases d’un échiquier, ja sogar Pontius Pilatus führen meistenteils nur dessen Programm aus oder sind Weiterentwicklungen des einen oder anderen Kapitels, wenn nicht nur eines einfachen Satzes. Es sind im Grunde nur meine Beschreibungen von Mineralien, die der vorliegende Band noch nicht ankündigt. Aber der Umschwung der inneren Haltung, dem sie sich verdanken, war für mich selbst nicht vorauszusehen.

Abgesehen davon kann ich nur mit Freude feststellen, mit welcher Treue ich an meinen Anfängen festhielt, einer Treue, von der ich nicht angenommen hätte, dass sie derart tyrannisch sein würde.

R. C.

Januar 1972

I

FUNKTION DES MYTHOS

Und meine Mutter schützend, die mich säugte, Pflanz’ ich zu Füßen ihr den Drachenzahn.

Gérard de Nerval

Es sieht nicht so aus, als wäre die Fähigkeit, Mythen hervorzubringen oder zu leben, schon durch die Fähigkeit ersetzt worden, sich über sie Klarheit zu verschaffen. Zumindest muss man zugeben, dass die Deutungsversuche fast immer enttäuschend waren: Die Zeit hat, wie im Fall von Troja, die Trümmer dieser Versuche wahllos übereinandergeschichtet. Dabei sind diese Ablagerungen durchaus lehrreich, und ein Tiefenschnitt würde vielleicht die großen Linien einer gewissen Dialektik freilegen.

Bei der Untersuchung dieses Gegenstands gehört es nicht zu den geringsten Überraschungen, die ungeheure Heterogenität des Materials festzustellen, das sich der Analyse darbietet. Nur selten, so scheint es, ist ein und dasselbe Erklärungsprinzip unter demselben Blickwinkel und im selben Umfang zweimal erfolgreich. Am Ende fragt man sich sogar, ob es nicht für jeden Mythos ein eigenes Erklärungsprinzip bräuchte, gerade so, als wäre jeder Mythos – als Organisation einer irreduziblen Besonderheit – seinem Erklärungsprinzip wesensgleich, sodass dieses von jenem nicht ohne einen deutlichen Verlust an Eindringlichkeit und Verständnistiefe getrennt werden könnte. Die Annahme, die Welt der Mythen wäre homogen und könnte nur mit einem einzigen Schlüssel erklärt werden, entspringt einer geistigen Haltung, der es vor allem darauf ankommt, das Selbe im Anderen zu erfassen, das Eine in der Vielfalt. Freilich steuert sie hier allzu rasch ihr Ziel an: Hier wie auch sonst zählt das Ergebnis, wenn die Herleitung es vorhersehbar macht oder wenn ein Schiedsrichter es im Voraus bekanntgibt, weniger als der konkrete Weg seines Zustandekommens.

Wie dem auch sei, es ist unstrittig, dass der Mythos, der an oberster Stelle des gesellschaftlichen Überbaus und der geistigen Aktivitäten steht, seiner Natur nach eine Antwort auf die unterschiedlichsten, sich überschneidenden Einwirkungen darstellt, die sich in ihm auf eine komplexe Art und Weise verdichten. Daraus folgt aber auch, dass die Analyse eines Mythos ausgehend von einem Erklärungssystem, so begründet es sein mag, den Eindruck eines nicht zu behebenden Mangels hinterlassen muss und tatsächlich hinterlässt; es bleibt ein irreduzibler Rest, dem man – als Reaktion hierauf – sogleich eine entscheidende Bedeutung beimisst.

Jedes System ist somit wahr durch das, was es setzt, und falsch durch das, was es ausschließt. Der Anspruch, alles erklären zu wollen, kann das System rasch zu einer Art Deutungswahn führen, wie es den Sonnentheorien (Max Müller und seine Schüler), den Astraltheorien (Stucken und die panbabylonische Schule) und erst kürzlich den erbärmlichen psychoanalytischen Versuchen (C. G. Jung etc.) ergangen ist. Dabei ist es durchaus möglich, dass der Deutungswahn auf diesem Gebiet seine Berechtigung hat, gelegentlich sogar eine wirkungsvolle Untersuchungsmethode darstellt. Dennoch ist er wegen seines Ausschließlichkeitsanspruchs extrem gefährlich. Es geht nicht mehr darum, das Prinzip durch Daten zu verifizieren und es so flexibel zu halten, dass es im Kontakt mit Widerständen, auf die es stößt, an Tiefe und Weite gewinnt und ihm ein gewisser Austausch erlaubt, das Erklärte im Zuge des Erklärens zu durchdringen. Es geht dann nur noch darum, die unterschiedlichsten Tatsachen vermittels eines Abstraktionsprozesses, der sie mitsamt ihrer konkreten Merkmale ihrer eigentlichen Wirklichkeit beraubt, gewaltsam an die Starrheit eines verknöcherten und a priori für notwendig und ausreichend erachteten Prinzips anzupassen. Darüber hinaus ist klar, dass der uneingeschränkte Geltungsanspruch eines Erklärungssystems ihm zuletzt jegliche Bestimmungsgenauigkeit und folglich jeden Erklärungswert raubt, mit einem Wort, dass er es unterminiert. Sowie man jedoch all diese gedanklichen Fehlentwicklungen als solche erkannt hat, das heißt, sowie alle Fälle ausgesondert sind, bei denen die Erklärung durch eine erzwungene Angleichung der Tatsache an das Prinzip ersetzt wird, wie auch alle Fälle, bei denen ein Erklärungsprinzip außerhalb seines spezifischen Geltungsbereichs missbräuchlich zur Anwendung kommt, gibt es in den früheren Bemühungen um eine Deutung der Mythen nichts, was eine unwiderrufliche Verurteilung verdienen würde.

Alle haben um die Mythen ein engmaschiges Bestimmungsnetz gelegt und dabei die Bedingungen ihrer Genese herausgearbeitet, seien sie natürlicher, geschichtlicher, gesellschaftlicher oder rein menschlicher Art. Es ist hier nicht der Ort, die Abfolge der verschiedenen Schulen nachzuzeichnen oder die Kritik an ihnen zu erneuern. Im Übrigen gibt es zu diesem Punkt genügend Werke, die das Thema mit mehr oder weniger Erfolg behandelt haben.1 Für den Augenblick genügt es, das dialektische Schema ihrer Entwicklung darzustellen. Im Wesentlichen scheint sie sich von außen nach innen vollzogen zu haben. Eine erste Bestimmungsebene stellen die Naturphänomene dar: Der Tageslauf der Sonne, die Mondphasen, die Mond- und Sonnenfinsternisse und die Stürme bilden für die Mythen sozusagen eine erste Hülle, einen universellen Wertträger, der jedoch nur einen sehr geringen Einfluss hat. Vor allem sollte man daraus nicht den Schluss ziehen, dass die Mythologie eine Art poetische Übersetzung atmosphärischer Phänomene sei,2 und damit Schlegel folgen, der sie definiert als »ein[en] hieroglyphische[n] Ausdruck der umgebenden Natur in [einer] Verklärung von Fantasie und Liebe«.3 Die natürlichen Phänomene sind lediglich ein Rahmen, sie sind nur als eine ursprüngliche Erdbedingtheit4 der Seele oder zumindest der fabulatorischen Funktion zu betrachten. Geschichtsschreibung, Geographie und Soziologie präzisieren ihrerseits und übereinstimmend die Voraussetzungen der Genese der Mythen und ihrer Entwicklung. Auch die Physiologie trägt das ihre bei, angefangen bei der Mythologie des Alptraums5 bis hin zu jener des Gähnens und Niesens.6 Selbst die Gesetze des mythischen Denkens und die psychologischen Notwendigkeiten ihrer Struktur können bestimmt werden.7 Es wäre unsinnig, die Bedeutung der Beiträge dieser verschiedenen Disziplinen zu leugnen. Namentlich die Deutung der Mythen hätte sicher viel zu gewinnen, würde sie sich an den von der Geschichtsschreibung und der Soziologie beigebrachten Erkenntnissen orientieren und ihre Interpretationen auf sie stützen. Mit Sicherheit ist das der Weg des Heils. Die geschichtlichen und sozialen Daten liefern die wesentlichen Rahmenbedingungen der Mythen und die Forschung bewegt sich, wie man weiß, fast ausschließlich und mit zunehmendem Erfolg in dieser Richtung. Mehr ist dazu nicht zu sagen: Für jeden, der auch nur ein wenig mit den Arbeiten und Methoden der heutigen Mythographie vertraut ist, ist ihr Wert unmittelbar einsichtig. Doch trotz all dieser Bemühungen und ihrer bemerkenswerten Ergebnisse ist nicht zu leugnen, dass der Eindruck eines Abstands bleibt. Man erkennt sehr wohl die Mitwirkung der erwähnten Bestimmungen, seien sie natürlicher, geschichtlicher oder gesellschaftlicher Natur, man sieht indes nie den hinreichenden Grund. Anders gesagt, diese Bestimmungen können nur von außen wirken; es sind, wenn man so will, die externen Komponenten der Mythologie; jedem, der eine gewisse Vertrautheit im Umgang mit Mythen besitzt, ist indes bewusst, dass diese zugleich von innen durch eine spezifische Dialektik der Selbst-Erzeugung und Selbst-Kristallisation gelenkt werden, die ihr eigener Antrieb und ihre eigene Syntax ist. Der Mythos ist das Ergebnis einer Konvergenz dieser beiden bestimmenden Strömungen, der geometrische Ort ihrer gegenseitigen Begrenzung und ihres Kräftemessens; sein Inhalt bildet sich – aus innerer Notwendigkeit – aus äußeren Einwirkungen und Gegebenheiten, die teils empfehlend, teils nötigend, teils richtungsweisend sind; und da nichts deren Einfluss auszugleichen schien, hielt man sie – trotz des stets empfundenen Ungenügens – fast immer für ausreichend, um den Mythen gerecht zu werden.

Offensichtlich lassen sie jedoch den Kern der Frage unbeantwortet: Woher rührt die starke Wirkung der Mythen auf die Sinnlichkeit? Welchen affektiven Nöten sollen sie antworten? Welche Befriedigungen sollen sie verschaffen? Schließlich gab es Zeiten, in denen ganze Gesellschaften ihnen Glauben schenkten und sie durch Riten gegenwärtig hielten. Und selbst jetzt, da sie erloschen sind, werfen sie weiterhin ihren Schatten auf die Vorstellungen der Menschen und versetzen sie in Unruhe. Trotz ihrer beträchtlichen Irrtümer muss man der Psychoanalyse zugutehalten, dass sie sich dieses Problems angenommen hat. Bekanntlich waren ihre Bemühungen meist nicht sehr glücklich. Der Wunsch, auf die Analyse der Mythen um jeden Preis ein Erklärungsprinzip zu übertragen, das man schon auf die ganze Psychologie nur missbräuchlich ausdehnen kann – die mechanische und blinde Verwendung eines dümmlichen Symbolismus, die vollkommene Unkenntnis der Schwierigkeiten, die der Mythologie eigen sind, die Unzulänglichkeit der Dokumentation, die zu allen Nachlässigkeiten des Dilettantismus einlädt –, hat zu Ergebnissen geführt, von denen man nur hoffen kann, dass sie schnellstens in Vergessenheit geraten. Man sollte die Schwächen ihrer Anhänger aber nicht als Argument gegen die Lehre selbst benutzen. Die Psychoanalyse hat das Problem in seiner ganzen Schärfe gestellt, und indem sie die Prozesse der Übertragung, der Verdichtung und der Überdeterminierung definierte, hat sie die Grundlagen für eine verlässliche Logik der affektiven Einbildungskraft gelegt; vor allem hat sie durch den Begriff des Komplexes eine grundlegende psychologische Wirklichkeit in den Blick gerückt, die im besonderen Fall der Mythendeutung noch eine wesentliche Rolle spielen könnte.

Wie dem auch sei, will man die letzte Funktion der Mythen verstehen, so wird man diese Richtung einschlagen und neben der Psychoanalyse bei Bedarf auch die Biologie heranziehen müssen, um ihre Daten mit Blick auf ihre Rückwirkung auf die menschliche Psyche neu zu interpretieren. Vergleicht man die vollkommensten Modelle der zwei divergierenden Entwicklungen im Tierreich, Entwicklungen, die jeweils zum Menschen und zu den Insekten führten, so liegt es nahe, nach Entsprechungen zwischen den einen und den anderen zu suchen, insbesondere zwischen dem Verhalten der einen und der Mythologie der anderen – wenn es denn zutrifft, wie Bergson vorschlägt, dass die mythische Vorstellung (das quasi halluzinatorische Bild) dazu bestimmt ist, in Ermangelung des Instinkts das Verhalten hervorzurufen, das der Instinkt, wäre er vorhanden, auslösen würde.8 Um einen élan vital oder etwas dergleichen kann es sich jedoch nicht handeln. Der Instinkt ist nicht in jedem Fall eine rettende oder lebenserhaltende Kraft, auch hat er nicht immer eine pragmatische Schutz- oder Verteidigungsfunktion. Die Mythologie liegt jenseits (oder diesseits, wie man möchte) der Kraft, die das Lebewesen in seinem Sein beharren lässt, jenseits des Selbsterhaltungstriebs. Der prinzipielle Utilitarismus oder genauer die Hypothese eines den Erscheinungen des Lebens innewohnenden nützlichen Zwecks ist das Ergebnis des Rationalismus. Soweit man weiß, hat dieser die Mythologie aber noch nicht in sich integriert, und dies wird ihm auch nur gelingen, wenn er Zugeständnisse macht, sei es durch Wandlung, sei es durch Erweiterung, aufgrund des osmotischen Gleichgewichts, das sich, worauf ich bereits hingewiesen habe, stets zwischen dem Erklärenden und dem Erklärten herstellt.9 Die Mythen sind keineswegs Schutzvorrichtungen, die an den gefährlichen Wendepunkten angebracht sind, um das Leben des Einzelnen oder der Art zu verlängern.10 Um mich auf das Zeugnis eines Mannes zu berufen, dem man eine gewisse (philologisch genaue) Kenntnis der Mythologie nicht absprechen kann, möchte ich daran erinnern, dass Nietzsches »orgiastische Selbstvernichtung«* eine ganze Reihe von Forderungen voraussetzt, die in eine andere Richtung weisen. Jedenfalls ist man weit entfernt von dem allzu berühmten Selbsterhaltungstrieb.

Dies vorausgeschickt, das heißt nachdem die allgemeinen Beziehungen zwischen den grundlegenden Bestimmungen der Mythologie geklärt sind, empfiehlt es sich, ihre Struktur zu untersuchen. Zunächst sind zwei Erzählsysteme festzustellen: eines in vertikaler Konzentration und eines in horizontaler Konzentration (wenn es nicht allzu gewagt erscheint, diese Systeme mit einer dem ökonomischen Vokabular entlehnten Metapher zu definieren). Es handelt sich dabei um zwei sich ergänzende Muster, deren Überschneidungen relativ frei, soll heißen, situationsabhängig sind, da sie nur von äußeren (historischen) Bestimmungen der Mythologie abhängen und nicht von inneren (psychologischen) Notwendigkeiten. So ließe sich erklären, dass ein mythisches Thema nie das ausschließliche Privileg eines Helden ist, dass die Beziehungen zwischen beiden im Gegenteil überaus variabel sind.

Man kann somit die Mythologie der Situationen von der der Helden unterscheiden. Die mythischen Situationen können dann als Projektion psychologischer Konflikte (die sich meistenteils mit den Komplexen der Psychoanalyse decken) interpretiert werden und der Held als Projektion des Individuums selbst: ein Idealbild, das seiner gedemütigten Seele als Kompensation ein Mindestmaß an Größe verleiht. Das Individuum scheint psychologischen Konflikten ausgeliefert, die (mehr oder weniger, je nach ihrer Beschaffenheit) mit der Kultur und dem Gesellschaftstyp, dem es angehört, variieren. Dieser Konflikte ist es sich meist nicht bewusst, insofern sie sich ganz allgemein aus der sozialen Struktur selbst ergeben und ein Ergebnis der Zwänge sind, die auf seinen elementaren Wünschen lasten. Aus dem gleichen Grund, aber mit gravierenderen Folgen, ist es dem Individuum unmöglich, aus diesen Konflikten einen Ausweg zu finden. Es könnte dies nur durch eine Tat erreichen, die von der Gesellschaft und folglich von ihm selbst verurteilt wird, denn sein Bewusstsein ist stark von den sozialen Verboten geprägt und gewissermaßen ihr Garant. Das Ergebnis ist, dass es der tabuisierten Tat gegenüber wie gelähmt ist und die Ausführung dem Helden überträgt.

Bevor wir uns diesem Aspekt der Frage zuwenden, müssen wir anhand von Beispielen zeigen, dass es durchaus möglich ist, die Märchenmotive wie auch die eigentlich mythischen Themen auf dramatische Situationen zurückzuführen, deren Eigenheit darin besteht, in einer besonderen Welt bestimmte Kristallisationen psychologischer Virtualitäten zu konkretisieren: Die Situation von Ödipus, dem Mörder seines Vaters und Gatten seiner Mutter, jene von Herakles zu Füßen der Omphale, von Polykrates, der seinen Ring ins Meer warf, um die Gefahren allzu großen Glücks abzuwenden, jene von Abraham, Jephte und Agamemnon, Königen, die ihre Nachkommenschaft opferten, von Pandora, künstliche Frau und Giftmädchen*, ja sogar die Begriffe der Hybris und der Nemesis, die in der Mythologie eine so große Rolle spielen,11 sind unmittelbar überzeugende Beispiele.

Hier nun ist dem Begriff des Helden seine ganze Bedeutung zu geben: Im Grunde ist er bereits im bloßen Bestehen der mythischen Situationen enthalten. Der Held ist per definitionem derjenige, der für sie eine Lösung sucht, einen glücklichen oder unglücklichen Ausgang. Das Individuum leidet nämlich vor allem daran, dass es in dem Konflikt, dem es ausgeliefert ist, keinen Ausweg sieht. Jede Lösung, selbst eine gewaltsame oder gefährliche, erscheint ihm wünschenswert, die sozialen Verbote machen sie ihm jedoch unmöglich, mehr noch psychologisch als materiell. Es setzt daher den Helden an seine Stelle, und dieser ist naturgemäß derjenige, der die Verbote verletzt. Als Mensch ist er schuldig, als mythische Gestalt ist er es nicht weniger, er bleibt von seiner Handlung beschmutzt, und die Reinigung, falls sie notwendig ist, ist niemals vollständig. Aber im besonderen Licht des Mythos, im Licht der Größe,12erscheint er uneingeschränkt gerechtfertigt. Der Held ist somit derjenige, der den Konflikt löst, in dem das Individuum gefangen ist; daher sein höheres Recht wenn nicht auf das Verbrechen, so doch auf die Schuld, wobei die Funktion dieser idealen Schuld darin besteht, dem Individuum, das sie sich erwünscht, ohne sie auf sich nehmen zu können, eine gewisse Erleichterung zu verschaffen.13

Doch das Individuum kann sich nicht immer mit Erleichterungen zufriedengeben, es braucht die Tat, das heißt, es kann sich nicht ewig mit einer virtuellen Identifikation mit dem Helden, mit einer ideellen Befriedigung begnügen. Es will die wirkliche Identifikation, die tatsächliche Befriedigung. Daher wird der Mythos meist von einem Ritus begleitet, denn wo die Verletzung des Verbots geboten ist, ist sie nur in der mythischen Atmosphäre möglich, und der Ritus führt in sie ein. Man erfasst hier das Wesen des Festes: Es ist ein gestatteter Exzess,14durch den das Individuum dramatisiertund damit zum Helden wird, der Ritus verwirklicht den Mythos und erlaubt, ihn zu leben. Daher sind die beiden häufig miteinander verbunden: Streng genommen ist ihre Verbindung unauflöslich und tatsächlich war ihre Trennung stets der Grund ihres Niedergangs. Getrennt vom Ritus verliert der Mythos wenn nicht seine Daseinsberechtigung, so doch einen erheblichen Teil seiner erregenden Kraft. Er wird dann nicht mehr gelebt und ist nur mehr Literatur – wie der größte Teil der griechischen Mythologie, wie sie die Dichter der klassischen Zeit überliefert haben: unwiderruflich verfälscht und normalisiert.

Die Beziehung zwischen Literatur und Mythologie kann indes erst dann in ihrem wahren Licht in Erscheinung treten, wenn die Funktion der Mythologie geklärt ist. Wenn nämlich die Mythologie für den Menschen nur in dem Maße packend ist, in dem sie psychologische Konflikte individueller oder sozialer Art zum Ausdruck bringt und für sie eine ideale Lösung bietet, dann ist schwer zu verstehen, warum sich diese Konflikte nicht unmittelbar in der ihnen eigenen psychologischen Sprache artikuliert haben und stattdessen das Dekor – oder sollte man sagen die Heuchelei? – von ausfabulierten Geschichten angenommen haben. Es würde freilich nicht weiterführen, einen Begriff wie den des prälogischen Denkens einzuführen, denn gerade die Vorgängigkeit, die dieser Begriff impliziert, müsste hier begründet werden. Auch kann man sich nur schwer mit dem angeblichen Bedürfnis nach Phantasie, Träumerei oder Dichtung, das man dem Menschen großzügig zuspricht, zufriedengeben, denn es gibt nicht wenige, die darauf sehr gut verzichten könnten, und bei anderen ist es oft die Folge einer Schwäche oder der Preis für eine Stärke. Zu glauben, die Notwendigkeit des Fabulierens käme von der ›Zensur‹, ist nicht weniger problematisch, denn es gibt kaum Beispiele dafür, dass die Idee unheilvoller gewesen wäre als das Bild. Die Konvention des Fabulierens scheint ihren Ursprung somit anderswo zu haben: in den Eigenschaften des Fabulierens selbst, genauer noch in der Tatsache, dass die Vielstimmigkeit der mythischen Projektion eines Konflikts eine Vielzahl beunruhigender Resonanzen gestattet, die den Mythos zu dem machen, was er von Anfang an zu sein schien: zu einem mächtigen Ausdrucksmittel der Sinnlichkeit.15

In diesem Sinne ist es wohl möglich, von einer inneren Mythologie zu sprechen. Schon Plutarch scheint diese Vorstellung im Blick zu haben, wenn er schreibt: »Die Mathematiker sagen, der Regenbogen sei ein Scheinbild der Sonne, und er komme mit seiner Buntheit dadurch zustande, dass der Sehstrahl unter der Wirkung der Wolke zurücklaufe; ebenso ist der Mythos hier bei uns das Erscheinungsbild einer gewissen Wahrheit, ein Bild, das unser Denken auf etwas anderes hin reflektiert. Hierauf deuten die Opferriten hin, in denen das Traurige und Finstere in Erscheinung tritt, sodann die Anlage der Tempel, die sich einerseits weiten zu Flügelbauten und reinlichen Wandelgängen unter offenem Himmel, andererseits aber verborgene dunkle Räume unter der Erde für die heilige Kleidung haben, welche Grabgewölben und Totenbezirken gleichen.«16 Eine gewisse Wahrheit, die unser Denken auf etwas anderes hin reflektiert: Tatsächlich scheint die Syntax der Mythologie eine perspektivische Organisation der verschiedenen Ebenen des Gefühlslebens zu umfassen. Die Analyse des Mittagskomplexes, bei dem die Schichtung überdeutlich ist, weist eindeutig in diese Richtung: Stillstand und Willenlosigkeit in der Hitze des Mittags, Ermattung der Sinne und des Bewusstseins, erotische Angriffe durch lüsterne Dämonen, allgemeine Passivität und Lebensüberdruss (acedia); im Gegensatz dazu Gespenster, die in der Zeit des kürzesten Schattens nach dem Blut der Lebenden lechzen, in der Geisterstunde, wenn der Stern im Zenit die Natur mit der Flut des Todes überschwemmt.17

Damit ist die erste Dialektik der Wirkungen der mythischen Situation bestimmt: eine Dialektik der affektiven Zuspitzung des Gegebenen. Die zweite ist eine Dialektik der Überschneidung: Tatsächlich kommt es nur selten vor, dass eine mythische Situation nicht eine oder mehrere andere – zumindest teilweise – umfasst. So hat im vorangehenden Beispiel der Mittagskomplex Gemeinsamkeiten mit dem Vampirismus und den Vegetationsdämonen;18 ebenso ist das Thema des Giftmädchens* mit dem Thema des Unsterblichkeitstranks verknüpft19 und der Komplex des Polykrates mit dem des Ödipus.20 Es ist dann Aufgabe der Komparatistik, eine klare Unterscheidung vorzunehmen zwischen den Fällen, in denen die Verbindung zwischen diesen Themen situationsabhängig ist, und jenen, in denen sie das Ergebnis der inneren Mythologie ist, denn es ist undenkbar, dass sich eine Verbindung, die sich über verschiedene Kulturen hinweg als beständig erweist, nur aus deren Struktur und ihrer Einwirkung auf die individuelle Einbildungskraft erklären ließe.

Auf diese Weise kann das Studium der Mythologie zu einem Verfahren der psychologischen Tiefenerkundung werden. Tatsächlich liegt der hinreichende Grund des Mythos in seiner Überdeterminierung, das heißt in der Tatsache, dass er ein Knotenpunkt psychologischer Prozesse ist, deren Koinzidenz weder zufällig sein kann noch vorübergehend oder persönlich (der Mythos hätte dann als solcher keinen Erfolg und wäre nur ein Märchen*)21 noch künstlich (die Determinierungen wären völlig andere, die Merkmale wären es ebenfalls und folglich auch die Funktion).22 Wir können das Gerüst ihrer Organisation somit erkennen und auf diesem Weg – verlässlicher als die Psychoanalyse es unternommen hat – die unbewussten Determinierungen des menschlichen Gefühlslebens aufdecken, denen freilich die wertvollen Ergänzungen der vergleichenden Biologie zur Seite gestellt werden müssen, insofern die Vorstellung in manchen Fällen den Instinkt ersetzt und das wirkliche Verhalten einer Tierart die psychologischen Virtualitäten des Menschen zu erhellen vermag.

Wenn man vom Studium der Mythen die Bestimmung dieser triebhaften oder psychologischen Kräfte nicht erwarten kann, ist es sinnlos, es aufzunehmen, denn es gibt gewiss Disziplinen von unmittelbarerem Interesse. Mit Sicherheit ist nichts hinderlicher, vielleicht sogar schädlicher, als eine nutzlose Wahrheit – denn sie ist nur eine Erkenntnis und demzufolge ein gravierendes Hindernis für die Erkenntnis, die totalitär ist oder gar nicht.

Doch damit nicht genug: Diese triebhaften Kräfte sind nicht untergegangen. Verfolgt, enteignet und in ihrem Auftreten »schüchtern, roh und rebellisch«, bevölkern sie nach wie vor die Vorstellungen der Träumer, mitunter die Säle der Gerichte und die Zellen der Asyle. Sie können, wenn man es bedenkt, erneut Anspruch auf die höchste Macht erheben. Sie können sie sogar, die Gegenwart bietet sich dazu an, erringen. Von den gedemütigten Mythen zu den triumphierenden Mythen ist der Weg vielleicht kürzer, als man es sich vorstellt. Genügen würde ihr Übergreifen auf die Gesellschaft. Heute, wo die Politik so unbeschwert von Erlebnis und Weltanschauung spricht, den grundlegenden Hang zur Gewalt ins Kalkül zieht und sogar von Symbolen und Riten Gebrauch macht – wer möchte es für unmöglich halten?

1 Vgl. Jean Réville, Les Phases successives de l’histoire des religions, Paris: E. Leroux 1909; Otto Gruppe, Geschichte der klassischen Mythologie und Religionsgeschichte, Leipzig: B.G. Teubner 1921; Henry Pinard de la Boullaye, L’Étude comparée des religions, Paris: G. Beauchesne 1922–1925.

2 Genauso wenig kann man ernsthaft annehmen, die Mythologie stelle eine vorläufige oder sich allegorisch ausdrückende Wissenschaft dar. Sicherlich können die vermeintlichen Mythen Platons diese Funktion erfüllen, aber niemand wird sich einfallen lassen, sie mit der wirklichen Mythologie, der Mythologie als »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« gleichzusetzen, wie auch niemand die Fiktion der »Flachwesen«, die in den Darstellungen der Relativitätstheorie für gewöhnlich dazu dienen, eine vierdimensionale Welt vorstellbar zu machen, als einen Mythos betrachten wird.

3 Friedrich Schlegel, »Rede über die Mythologie«, in: ders., Kritische Schriften, München: Hanser 31971, S. 496–503, hier: S. 502.

4 Der Ausdruck stammt von Carl Gustav Jung. Vgl. ders., »Die Erdbedingtheit der Psyche«, in: Mensch und Erde (= Der Leuchter. Weltanschauung und Lebensgestaltung, Bd. XIII), hg. v. Hermann Keyserling, Darmstadt: O. Reichl 1927, S. 87–137.

5 Vgl. Wilhelm Heinrich Roscher, Ephialtes. Eine pathologisch-mythologische Abhandlung über die Alpträume und Alpdämonen des Klassischen Altertums, Leipzig: B. G. Teubner 1900.

6 Pierre Saintyves, L’Éternuement et le bâillement dans la magie, l’ethnographie et le folklore médical, Paris: E. Nourry 1921.

7 Vgl. die Werke von Ernst Alfred Cassirer und Lucien Lévy-Bruhl. Mit größerer Entschiedenheit schreibt Victor Henry: »Der Mythos geht dem Menschen voraus: Jede Wahrnehmung einer äußeren Tatsache in einem mit Bewusstsein begabten Organismus ist ein potenzieller Mythos; die Welt im Gehirn eines höheren Tiers übersetzt sich in eine Reihe von Mythen, das heißt von augenblicklichen Vorstellungen, die ebenso schnell verblassen, wie sie hervorgerufen wurden; je mehr das Gedächtnis und das Bewusstsein zwischen diesen Wahrnehmungsblitzen des Nicht-Ichs Verbindungen herstellen, desto mehr schält sich der Mythos heraus und behauptet sich, desto mehr auch steigt das Tier auf der Stufenleiter der Lebewesen auf.« Victor Henry, La Magie dans l’Inde antique, Paris: Dujarric 1904, S. 242, Anm. 1.

8 Henri Bergson, Die beiden Quellen der Moral und der Religion, in: ders., Materie und Gedächtnis und andere Schriften, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1964, S. 325ff. Es ist kaum nötig, daran zu erinnern, dass für Bergson der ganze Unterschied darin liegt, dass der Mensch von der Intelligenz und das Insekt vom Instinkt beherrscht wird, was Bergson zufolge auf die Aussage hinausläuft, »dass in der Natur des Insekts die Handlungen vorgebildet sind, beim Menschen dagegen nur die Funktion«. Ebd., S. 326.

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