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Viola Maybach hat sich mit der reizvollen Serie "Der kleine Fürst" in die Herzen der Leserinnen und Leser geschrieben. Alles beginnt mit einem Schicksalsschlag: Das Fürstenpaar Leopold und Elisabeth von Sternberg kommt bei einem Hubschrauberunglück ums Leben. Ihr einziger Sohn, der 15jährige Christian von Sternberg, den jeder seit frühesten Kinderzeiten "Der kleine Fürst" nennt, wird mit Erreichen der Volljährigkeit die fürstlichen Geschicke übernehmen müssen. "Der kleine Fürst" ist vom heutigen Romanmarkt nicht mehr wegzudenken. E-Book 1: Der Anruf kam um Mitternacht E-Book 2: Wo bist du, Adriana? E-Book 3: Das verräterische Foto E-Book 4: Sarahs süßer Skandal E-Book 5: Liebe Gäste - böses Blut E-Book 6: Die Prinzessin aus der Wildnis E-Book 7: Die verkaufte Braut E-Book 8: Du darfst ihn nicht heiraten! E-Book 9: Verkaufe: Schloß und Prinzessin! E-Book 10: Das größte Glück auf Erden E-Book 11: Sei tapfer, Leontine! E-Book 12: Bezauberndes Schloßgespenst E-Book 13: Wach geküßt! E-Book 14: Nach dem großen Feuer E-Book 15: Der Graf aus Südamerika E-Book 16: Liebe auf den dritten Blick E-Book 17: Das Geheimnis der schönen Fremden E-Book 18: Wenn du lügst... E-Book 19: Ein Mann aus besten Kreisen E-Book 20: Er liebt eine Prinzessin E-Book 21: Hochzeit ohne Braut! E-Book 22: Wenn das Herz nicht vergißt... E-Book 23: DIE und keine andere! E-Book 24: Gräfin Ilona - schön, aber verarmt! E-Book 25: Das verflixte Erbe E-Book 26: Wetten, er liebt mich... E-Book 27: Die Gräfin, der Tod und das Glück E-Book 28: Schön, aber total durchgeknallt... E-Book 29: Gestohlenes Glück E-Book 30: Hör auf dein Herz, Agata! E-Book 31: Im Schatten der schönen Schwester E-Book 32: Gutsherrin gesucht E-Book 33: Die Frau mit dem roten Hut E-Book 34: Der Mann meiner Freundin E-Book 35: Niemals werde ich dich lieben! E-Book 36: Nur die Unschuld vom Lande? E-Book 37: Die stolze Gräfin E-Book 38: Eins zu null für Prinz Claus! E-Book 39: Mein Herz gehört mir! E-Book 40: Traumhochzeit - ja oder nein? E-Book 41: Der geheimnisvolle Graf E-Book 42: Ihre letzte Chance E-Book 43: Dreifaches Glück E-Book 44: Die einsame Prinzessin E-Book 45: Ein dunkles Geheimnis...
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Seitenzahl: 5727
Veröffentlichungsjahr: 2019
Der Anruf kam um Mitternacht
Wo bist du, Adriana?
Das verräterische Foto
Sarahs süßer Skandal
Liebe Gäste – böses Blut
Die Prinzessin aus der Wildnis
Die verkaufte Braut
Du darfst ihn nicht heiraten!
Verkaufe: Schloß und Prinzessin!
Das größte Glück auf Erden
Sei tapfer, Leontine!
Bezauberndes Schloßgespenst
Wach geküßt!
Nach dem großen Feuer
Der Graf aus Südamerika
Liebe auf den dritten Blick
Das Geheimnis der schönen Fremden
Wenn du lügst…
Ein Mann aus besten Kreisen
Er liebt eine Prinzessin
Hochzeit ohne Braut!
Wenn das Herz nicht vergisst…
Die und keine andere!
Gräfin Ilona – schön, aber verarmt!
Das verflixte Erbe
Wetten, er liebt mich…
Die Gräfin, der Tod und das Glück
Schön, aber total durchgeknallt…
Gestohlenes Glück
Hör auf dein Herz, Agata!
Im Schatten der schönen Schwester
Gutsherrin gesucht
Die Frau mit dem roten Hut
Der Mann meiner Freundin
Niemals werde ich dich lieben!
Nur die Unschuld vom Lande?
Die stolze Gräfin
Ein zu Null für Prinz Claus!
Mein Herz gehört mir!
Traumhochzeit - ja oder nein?
Der geheimnisvolle Graf
Ihre letzte Chance
Dreifaches Glück
Die einsame Prinzessin
Ein dunkles Geheimnis
Du wirst nie erwachsen, Lucie!
Die Schöne – mit den zwei Gesichtern
Erst der Unfall – dann das Glück!
Der schöne Theodor
Nur Mut, Stephanie!
»Mein Lieber«, sagte Fürst Leopold von Sternberg zu seinem jüngeren Freund, dem Grafen Alexander von Herzfeld, »ich bin ganz deiner Ansicht. Wenn es ums Heiraten geht, darfst du auf niemanden hören als auf dich selbst.«
»Das sagst du so einfach«, erwiderte der Graf niedergeschlagen. »Du kennst unsere Familie, Leo. Meine Eltern wünschen sich Enkel, sie möchten sich aus dem öffentlichen Leben nach und nach zurückziehen. Das können sie aber erst, wenn ich verheiratet bin – jedenfalls sehen sie das so. Und deshalb setzen sie mich unter Druck, mittlerweile recht massiv.«
Leopold lächelte. Er war ein Mann, der die meisten anderen überragte mit seiner Größe von 1,92 Meter, weshalb er, nicht nur von den Angestellten im Schloß, gelegentlich »der große Fürst« genannt wurde, während sein fünfzehnjähriger Sohn Christian liebevoll-zärtlich »der kleine Fürst« hieß, obwohl auch er bereits 1,70 Meter maß. Aber natürlich bezogen sich diese Beinamen nicht nur auf die Körpergröße, sondern vor allem auf die derzeitige Stellung der beiden. »Der kleine Fürst« war vorerst noch ein Prinz, würde aber eines Tages den Fürstentitel von seinem Vater übernehmen.
»Alle Eltern wünschen sich für ihre Kinder nur das Beste, Alex«, sagte Leopold. »Und sie möchten sie glücklich sehen. Das ist bei deinen Eltern nicht anders, du solltest es ihnen nicht übel nehmen.«
»Aber hören soll ich nicht auf sie?« fragte Alexander.
»Natürlich nicht. Glaubst du etwa, ich hätte mir seinerzeit vorschreiben lassen, wen ich heirate? Nie im Leben!«
»Du hast ja deine Elisabeth auch schon recht früh gefunden«, entgegnete Alexander.
Leopold, der bis dahin am Fenster gestanden hatte, ging hinüber zum Kamin, in dem ein munteres Feuer brannte. Alexander saß in einem der gemütlichen Lehnsessel davor und starrte in die Flammen. Der Fürst nahm neben ihm Platz. »Ja«, bestätigte er mit warmer Stimme, in der die zärtlichen Gefühle für seine Frau mitschwangen, »das habe ich, und es war ein großes Glück, Alex. Ich hoffe sehr, daß auch du dieses Glück bald finden wirst. Das ganze Leben verändert sich, wenn man einen Menschen an seiner Seite hat, den man liebt. Alles wird reicher und schöner.«
»Wenn ich diese Frau nun aber nicht finde?« fragte Alexander. »Dafür gibt es schließlich keine Garantie, wie du weißt.«
Leopold wandte den Blick von den Flammen ab, um seinen Freund anzusehen. Der Graf war ein schwieriger Mann, niemand wußte das besser als er. Oft genug verschreckte Alexander durch sein schroffes Wesen selbst Menschen, die ihm nahestanden. Sie hatten einander vor dieser Begegnung auf Schloß Sternberg lange nicht gesehen, denn Alexander war eine Weile für die Firma, in deren Vorstand er saß, im Ausland gewesen. Dort hatte er viel gelernt, aber umgänglicher und liebenswürdiger war er nicht geworden.
Leopold bedauerte das, denn vor allem für den Grafen selbst wurde das Leben dadurch nicht leichter. Selbst der kleine Fürst, sonst aufgeschlossen und interessiert an neuen Kontakten, war Alexander gegenüber zurückhaltend, fast sogar ablehnend, geblieben. Er kannte den Grafen kaum, da dessen letzter Besuch sehr lange zurücklag – aber Zuneigung auf den ersten Blick hatte er für den Freund seines Vaters gewiß nicht empfunden.
»Du wirst die Richtige finden«, sagte Leopold ruhig. »Aber vielleicht mußt du dich auch ein wenig mehr bemühen, Alex, deine guten Seiten nicht immer zu verstecken.«
Der Kopf seines Freundes flog herum. »Wie meinst du das?« fragte der Graf betroffen. »Ich verstecke doch nichts!«
»Du bist nicht gerade liebenswürdig im Umgang – jedenfalls nicht, wenn es um Leute geht, die du nicht kennst«, fuhr Leopold unbeirrt fort. »Zuerst muß man sich dein Vertrauen erobern, dann erst zeigst du, daß du ein gutes Herz hast und sogar Humor.«
»Ist das wirklich so?« murmelte Alexander. »Ich selbst nehme das gar nicht so wahr.«
»Ja, ich weiß«, bemerkte Leopold lächelnd, »das ist ja das Problem. Du bist mißtrauisch, und das läßt du die Menschen spüren. Sie fühlen sich dann schnell unbehaglich in deiner Gesellschaft. Ich dachte, dein langer Auslandsaufenthalt hätte dich in dieser Hinsicht vielleicht ein wenig aufgelockert, aber das scheint nicht der Fall zu sein.«
Alexander hatte sich von dem Schock einer so deutlichen Kritik bereits erholt. »Du bist immer noch der Alte, Leo«, sagte er. »Du nimmst kein Blatt vor den Mund. Wie konnte ich das nur vergessen?«
»Verzeih mir«, bat der Fürst. »Aber mir liegt viel an dir, das weißt du. Ich sähe dich gern glücklich, und deshalb sage ich dir offen, was diesem Glück vielleicht im Wege steht: Nur du selbst, Alex.«
»Keiner kann aus seiner Haut heraus«, erwiderte Alexander. »Ich habe nicht deinen leichtfüßigen Charme, dein heiteres Lächeln, deinen Optimismus. Und ich kann auch nicht so tun als ob.«
»Das sollst du doch auch gar nicht! Aber du könntest gelegentlich einfach deinem Glück vertrauen, statt immer gleich mit dem Schlimmsten zu rechnen.«
Bevor der Graf etwas erwidern konnte, betrat Fürstin Elisabeth, Leopolds Gattin, den Salon. Mit ihren hellblonden, gelockten Haaren, die sie aufgesteckt trug, und ihrer schlanken Figur wirkte sie auf den ersten Blick wie ein junges Mädchen, zumal auch ihre Bewegungen den Eindruck jugendlicher Spannkraft erweckten. Erst aus der Nähe bemerkte man, daß sie ganz so jung nicht mehr war, wenn auch niemand auf die Idee gekommen wäre, daß sich ihr vierzigster Geburtstag näherte. Sie war eine schöne Frau, die ihrem Sohn die klaren Gesichtszüge vererbt hatte.
Beide Männer erhoben sich nun höflich, um sie zu begrüßen. »Störe ich?« fragte sie, als sie
neben ihnen Platz genommen hatte.
»Du störst nie, Lisa«, antwortete Graf Alexander. »Im Gegenteil, würde ich sagen. Dein Mann hat mir eben ein paar unangenehme Wahrheiten über meinen Charakter gesagt. Ich hatte vergessen, wie deutlich er werden kann, deshalb bin ich über dein Kommen wirklich dankbar. Wer weiß, was ich mir sonst noch hätte anhören müssen.«
Elisabeth warf Leopold einen fragenden Blick zu. Er lächelte und beugte sich vor, um nach ihrer Hand zu greifen. »Er übertreibt, Liebste«, sagte er. »Ich habe ihm nur geraten, sein gutes Herz nicht immer hinter einem allzu schroffen Auftreten zu verbergen.«
Sie lächelte ebenfalls. »Ich wollte gerade mit dir schimpfen«, sagte sie, »aber wenn es so ist, lasse ich das lieber sein.« Sie wandte sich dem Grafen zu. »Leo hat recht, Alex«, sagte sie mit ihrer weichen, melodischen Stimme. »Du vermittelst manchmal ein falsches Bild von dir, und das ist schade. Du weißt, wie sehr wir dich schätzen. Wir möchten, daß andere das auch tun, aber sie lernen dich gar nicht gut genug kennen.«
»Wenn du es so sagst, kann ich es ja kaum noch als Kritik auffassen«, erwiderte Alexander. »Es klingt ja fast wie ein Kompliment.«
»Es IST ein Kompliment«, stellte die Fürstin fest. Sie erhob sich sehr anmutig wieder aus ihrem Sessel. »Ich gehe in den Westflügel zu Sofia. Wir beide haben einiges miteinander zu besprechen. Bis später, ihr beiden.«
Wieder erhoben sich die Männer und nahmen erst Platz, als sie den Salon verlassen hatte. »Du bist zu beneiden, Leo«, murmelte Alexander.
»Ja, ich weiß«, erwiderte der Fürst.
Danach schwiegen sie beide und hingen ihren Gedanken nach, während sie den züngelnden Flammen im Kamin zusahen.
*
»Er ist ein Scheusal!« sagte Anna von Kant mit so entschiedener Stimme, daß ihr Cousin Prinz Christian von Sternberg keine Einwände erhob. Er war im Grunde ihrer Meinung, nur hätte er es nicht ganz so scharf formuliert.
Als hätte er ihr doch widersprochen, fragte Anna kämpferisch: »Hast du ihn vielleicht schon einmal lächeln sehen?«
»Nein«, mußte Christian zugeben und machte nun doch einen Versuch, Graf Alexander zu verteidigen. »Aber Papa hat gesagt, er ist nett, man muß ihn nur erst näher kennenlernen.«
»Kein Bedarf«, stellte Anna fest. Sie war sonst ein eher zurückhaltendes Mädchen, das wohl abwog, bevor es eine Meinung äußerte, der neue Gast auf Schloß Sternberg hatte es sich mit ihr jedoch überraschend schnell verdorben. »Hoffentlich bleibt er nicht lange.« Sie schob ihr energisches kleines Kinn nach vorn, um ihren Worten mehr Nachdruck zu verleihen. Ihre blonden Haare ringelten sich bis auf die Schultern. Seit sie eine Zahnspange trug, lächelte sie seltener.
»Noch eine Woche oder so, glaube ich.« Christians Gesicht, das dem seiner Mutter glich, war nachdenklich. Die dunklen Haare hatte er von seinem Vater geerbt.
Sie saßen in einem der Pferdeställe, ganz hinten, wo sie nicht leicht zu finden waren. Es war ihr Lieblingsplatz. Oft war auch Annas Bruder Konrad dabei, aber seit er sechzehn geworden war, fand er vieles, was ihm vor kurzem noch gefallen hatte, »kindisch«. Er setzte sich jetzt öfter ab, was ihm vor allem der ein Jahr jüngere Christian übel nahm.
»Noch eine Woche!« stöhnte Anna. »Das ist ja endlos. Er ist doch schon seit mehreren Tagen da.«
»Ach, komm schon, Anna, wir kriegen ihn doch kaum zu sehen. Die meiste Zeit sind wir in der Schule oder haben andere Dinge zu tun.«
»Aber bei jeder Mahlzeit sitzt er am Tisch und zieht ein komisches Gesicht«, beschwerte sich Anna. »Sonst geht es immer lustig zu bei uns. Seit er da ist, wird viel weniger gelacht. Oder ist dir das etwa noch nicht aufgefallen?«
»Doch, natürlich. Ich glaube, er hat Sorgen, deshalb sieht er immer so unglücklich aus. Und dafür kann er ja nichts, Anna. Er führt ständig lange Gespräche mit Papa – vor dem Kamin.«
»Soll Onkel Leo ihm irgendwie helfen?«
»Keine Ahnung, ich weiß nicht, worum es geht, und mir erzählen sie es bestimmt nicht. Es scheint geheim zu sein.«
Dieses Wort erregte augenblicklich Annas Interesse. Sie war erst zwölf und liebte es, Geheimnisse zu ergründen. »Sollen wir versuchen, es herauszufinden?« fragte sie mit leuchtenden Augen.
Christian schüttelte den Kopf. »Was soll an seinen Sorgen schon interessant sein?« fragte er. »Ich will gar nicht wissen, weshalb er so schlechte Laune hat. Echt, Anna, es interessiert mich nicht.« Er gähnte.
»Du bist schon fast so blöd wie Konny«, murrte seine jüngere Cousine. »Der interessiert sich auch für nichts mehr, nur noch für Mädchen und Mutproben und heimliches Rauchen und Trinken.«
»Heimliches Rauchen und Trinken?« fragte Christian, schlagartig wieder hellwach. »Konny?«
Anna verzog schuldbewußt das Gesicht. »Ich wollte nicht petzen«, sagte sie kleinlaut. »Aber ich habe ihn schon ein paar Mal dabei beobachtet. Er hat ein paar ältere Freunde, die bringen ihm das bei.«
»Er soll sich bloß nicht erwischen lassen«, meinte Christian, der Rauchen und Trinken einerseits blöd fand, andererseits aber zeigte man dadurch, daß man erwachsen und nicht länger ein Kind war. Er wäre auch gern erwachsen gewesen, aber vom Rauchen wurde ihm schlecht – und Alkohol schmeckte ihm einfach nicht. Er hatte beides, gemeinsam mit seinem Vater, bereits ausprobiert. »Siehst du?« hatte dieser anschließend gesagt. »So toll, wie man denkt, ist es nicht. Und warum willst du dir etwas angewöhnen, das krank macht und viel Geld kostet?«
Christian hegte allerdings den Verdacht, daß ein zweiter oder dritter Versuch vielleicht zu einem anderen Ergebnis führen würde. Bei Gelegenheit würde er es allein ausprobieren, das hatte er sich bereits vorgenommen.
»Konny läßt sich nicht erwischen«, bemerkte Anna. »Er macht es nie hier, immer nur nach der Schule, wenn er mit seinen Kumpels unterwegs ist.«
»Woher weißt du das eigentlich? Verfolgst du ihn?«
»Habe ich auch schon gemacht«, gab Anna freimütig zu. »Wenn er es zu toll treibt, erzähle ich es Mama. Ich will schließlich nicht, daß mein großer Bruder Probleme kriegt. Aber ich glaube, er hat schon fast wieder genug von seinen neuen Freunden.«
Sie hörten, wie sich Stimmen näherten. Daraufhin sprangen sie mit einem Satz auf und verschwanden durch eine der kleinen Hintertüren des Stalls. Schloß Sternberg war ihr Zuhause, sie kannten hier jeden Stein und jeden Winkel. Wenn sie nicht wollten, daß man sie fand, dann konnten sie sich – beinahe – in Luft auflösen. Und genau das taten sie jetzt.
*
Fürstin Elisabeth saß mit ihrer Schwester, der Baronin Sofia von Kant, in deren gemütlichem »Damensalon« im Westflügel von Schloß Sternberg. Die Baronin wohnte hier mit ihrem Mann Friedrich und den Kindern Anna und Konrad. Für Elisabeths Sohn Christian waren Sofias Kinder wie Geschwister, worüber das Fürstenpaar sehr froh war. Christian war nämlich ein Einzelkind geblieben, zum Kummer seiner Eltern, die sich eine große Familie gewünscht hatten. Aber ihr sehnlicher Kinderwunsch war nur das eine Mal in Erfüllung gegangen.
Da Schloß Sternberg über mehr als ausreichend Platz verfügte, war es schließlich naheliegend gewesen, Elisabeths Schwester Sofia und ihren Mann zu fragen, ob sie nicht zu ihnen ziehen wollten. Die beiden hatten nicht lange überlegt, und seit über zehn Jahren bewohnten sie nun den Westflügel von Sternberg und fühlten sich dort sehr wohl.
Sofia, eine rundliche Frau von lebhaftem Temperament und heiterem Gemüt, ähnelte ihrer zarten Schwester Elisabeth äußerlich kaum – von den blonden Locken einmal abgesehen. »Du meinst also, ich soll ihr nicht absagen?« fragte sie jetzt.
»Aber warum denn, Sofia? Annabelle ist eine reizende Person, ich würde mich sehr freuen, sie wiederzusehen.«
»Na ja, aber Graf Alexander wäre sicherlich weniger begeistert«, gab Sofia zu bedenken. »Er ist schon ein eigenartiger Mann, Lisa. Wenn ich nicht wüßte, daß er einen guten Kern hat...« Sie brach ab, während sie ihrer Schwester einen vielsagenden Blick zuwarf.
»Ich weiß, was du meinst, aber seine Anwesenheit kann uns doch nicht daran hindern, Besuch von Menschen zu empfangen, die uns lieb und teuer sind«, entgegnete die Fürstin. »Wir werden von Annabelles bevorstehendem Besuch gar nichts verlauten lassen, Sofia, dann hat Alex auch keine Gelegenheit, sich negativ darauf einzustimmen.«
»Aber sag Leo Bescheid«, bat Sofia, »ich möchte nicht, daß er sich irgendwie überfahren fühlt.«
»Leo wird sich genau wie ich über Annabelles Besuch freuen«, versicherte Elisabeth. »Gibt es einen besonderen Grund für ihr Kommen?«
»Nein, wir haben uns nur so lange nicht gesehen, daß ich sie schon ein paar Mal gefragt habe, ob sie uns nicht wieder einmal besuchen will. Ich bin ja nicht so unabhängig wie sie. Und seit ihre Eltern im Ausland leben, bekomme ich die praktisch auch nicht mehr zu Gesicht.«
Prinzessin Annabelle von Klawitz war die Tochter einer Freundin von Sofia – und längst auch selbst eine Freundin für die Baronin geworden. Der Altersunterschied hatte die beiden Frauen nicht daran gehindert, sich eng aneinander anzuschließen. Annabelle war ein regelmäßiger Gast auf Schloß Sternberg, auch die Kinder freuten sich immer, sie zu sehen.
»Das wird ein interessantes Zusammentreffen zwischen Annabelle und Alexander«, meinte Elisabeth. »Hoffentlich reißt er sich ein wenig zusammen. Leo redet ihm gerade ins Gewissen.«
Sofia nickte ernst. »Das ist auch nötig, wenn du mir diese Bemerkung erlaubst, Lisa. Mir ist selten ein Mensch begegnet, der so wenig umgänglich ist wie er.«
»Das ist ja das Problem«, seufzte die Fürstin. »Glaubst du, wir wüßten das nicht? Er stößt alle Leute vor den Kopf – bis auf die, die ihn schon sehr lange und sehr gut kennen, wozu wir gehören. Aber alle anderen...«
»Wehe, er kränkt Annabelle!« sagte Sofia. Dann lachte sie. »Na ja, er könnte es versuchen – aber sie weiß sich zu wehren. Wenn du also meinst, es gäbe keine Einwände gegen ihr Kommen, sage ich ihr zu, ja?«
»Tu das unbedingt.« Elisabeth erhob sich. »Wir sehen uns beim Abendessen, Sofia. Wo stecken die Kinder eigentlich?«
»Anna und Christian sind irgendwo in der Nähe, Konrad hatte eine Verabredung mit Freunden, er wird aber bald zurückkommen.«
Elisabeth umarmte ihre Schwester und machte sich auf den Rückweg zum Ostflügel, den sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn bewohnte.
*
Zwei Tage später war Graf Alexander allein auf dem Schloßgelände unterwegs. Er hatte einen längeren Ausritt hinter sich, verspürte aber das Bedürfnis, noch eine Weile allein zu bleiben, und so erkundete er das weitläufige Gelände hinter den Pferdeställen. Schließlich gelangte er an ein weit abseits liegendes, halb verfallenes Gebäude, das seine Neugier weckte. Er umrundete es auf der Suche nach einer offenen Tür, als ihm plötzlich Rauch in die Nase stieg. Zugleich meinte er, von innen ein Geräusch zu hören – etwas wie einen erstickten Aufschrei, gefolgt von Schlagen und Trampeln. »Hallo!« rief er. »Ist da drin jemand?«
Ihm antwortete lediglich ein Husten, und so fiel er in Laufschritt, noch immer auf der Suche nach einem Eingang. Er fand schließlich eine schief in den Angeln hängende Holztür, die nur angelehnt war. Er stieß sie auf und blickte entsetzt auf eine Gestalt, die vergeblich versuchte, ein rasch größer werdendes Feuer auszutreten.
Er zog seine Jacke aus und stürzte vorwärts. Mit der ausgebreiteten Jacke versuchte er die Flammen zu ersticken. Sie fanden hier reichlich Nahrung, weil das Gebäude offenbar früher einmal als Scheune gedient hatte, denn auf dem Boden fanden sich noch Getreidereste.
»Zieh deine Jacke aus und mach es wie ich!« sagte Alexander – denn die Gestalt, die das Feuer zu löschen versucht hatte, war niemand anders als Christian, der kleine Fürst.
Obwohl sie nun zu zweit waren, brauchten sie noch mehrere Minuten, bis sie auch die letzte kleine Flamme erstickt hatten. Danach lehnten sie sich keuchend an die Wand der alten Scheune. Christians Gesicht war geschwärzt, der Schweiß lief ihm an den Schläfen hinunter. Alexander war sicher, daß er nicht besser aussah. Noch war er auf der Hut und ließ seine Blicke hin und her schweifen, ob nicht doch irgendwo noch ein vergessener Funke glühte. Aber das war nicht der Fall, es war ihnen offenbar tatsächlich gelungen, den Brand zu löschen. Gerade noch rechtzeitig.
»Danke«, sagte Christian. »Sie sind genau zur rechten Zeit gekommen.«
»Ja, das scheint mir auch so«, erwiderte Alexander. »Darf ich fragen, wie das passiert ist?«
Zuerst bekam er keine Antwort, dann gestand der Junge kleinlaut: »Ich habe geraucht.«
»Ausgerechnet hier«, stellte Alexander entgeistert fest. »Und dann?«
»Mir ist glühende Asche runtergefallen«, fuhr Christian fort. »Das habe ich zuerst nicht gemerkt, bis es mir plötzlich ganz warm wurde an den Füßen. Da bin ich aufgesprungen und habe gesehen, daß der Boden um mich herum schon brannte. Ich habe Panik gekriegt und zuerst gar nichts gemacht. Dann habe ich versucht, das Feuer auszutreten...« Er brach ab und setzte schließlich verlegen hinzu. »Danach sind Sie zum Glück gekommen.«
»Jeder, der hier hereinkommt, wird sofort sehen und natürlich auch riechen, was passiert ist«, stellte Alexander fest. Er ging zu der schiefen Tür und öffnete sie weit, damit der Rauch besser abziehen konnte. Er war zum Teil aber schon durch das defekte Dach und die leeren Fensterhöhlen entwichen.
»Hier kommt keiner rein«, erklärte Christian. »Oder höchstens einmal im Jahr. Papa wollte das Gebäude schon mal wieder herrichten lassen, aber es liegt so weit abseits, daß es immer wieder in Vergessenheit gerät. Neulich hat er mal gesagt, daß er es abreißen lassen will.«
Alexander betrachtete ihn nachdenklich. »Was ist am Rauchen so interessant?« fragte er. »Schmecken dir Zigaretten?«
Der kleine Fürst schüttelte den Kopf. »Beim ersten Mal habe ich es mit Papa zusammen versucht, da fand ich es furchtbar. Ich wollte aber wissen, ob es vielleicht daran lag, daß Papa dabei war, deshalb habe ich es noch einmal versucht.«
»Und?« fragte Alexander.
»Es hat immer noch scheußlich geschmeckt. Und ich versuche es nicht noch einmal, das können Sie mir glauben. Das hat mir jetzt echt gereicht.«
»Na, hoffentlich«, meinte Alexander. »Und wie willst du jetzt ins Schloß kommen, ohne daß dich jemand sieht? Dein Aussehen ist nämlich sehr verräterisch, weißt du?«
»Ihres auch«, erwiderte Christian.
»Tatsächlich? Also, wie kommen wir jetzt ungesehen ins Schloß?«
»Ich weiß einen Schleichweg«, gestand Christian zögernd. »Wollen Sie mich denn nicht verpfeifen?«
»Wieso sollte ich? Es ist ja nichts weiter passiert, niemandem ist ein Schaden entstanden, so weit ich das sehen kann. Allerdings solltest du in den nächsten Tagen vielleicht noch ein bißchen aufräumen hier. Ich meine, die verkohlten Reste zusammenkehren und so.«
»Das mache ich«, versprach Christian eifrig. »Kommen Sie, ich führe Sie zurück ins Schloß. Es gibt einen unterirdischen Gang, wenn wir den erreicht haben, sind wir sicher. Bis dahin müssen wir uns allerdings anschleichen.«
Dieses »Anschleichen« bereitete Alexander ungeahntes Vergnügen – wie überhaupt das ganze Abenteuer, sobald keine Gefahr mehr bestanden hatte. Er fühlte sich in seine Jugendzeit zurückversetzt und hatte zum ersten Mal seit langem alles vergessen, was ihm das Leben derzeit so schwer machte.
Als er die Gästesuite erreicht hatte und sich im Spiegel betrachtete, brach er in Gelächter aus. Gut, daß ihn niemand gesehen hatte, er bot wahrhaftig einen abenteuerlichen Anblick mit den Rußspuren im verschwitzten Gesicht, den verklebten Haaren und der verschmutzten Kleidung!
Unter der Dusche pfiff er vergnügt vor sich hin. Er hatte als Junge natürlich auch heimlich geraucht – welcher Junge hätte das nicht getan? Aber er hatte dabei nie etwas in Brand gesteckt. Dieses Mißgeschick würde dem kleinen Fürsten eine Lehre sein, und mehr konnte man sich eigentlich nicht wünschen.
*
»Ach, Annabelle«, sagte Baronin Sofia und drückte die schöne junge Frau liebevoll an sich, »wie freue ich mich, dich wieder einmal hier zu haben.«
Prinzessin Annabelle von Klawitz erwiderte die Umarmung nicht minder herzlich. »Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Sofia«, versicherte sie. »Liebe Grüße von Mama soll ich dir ausrichten – sie und Papa kommen nächstes Jahr mal wieder für einen längeren Besuch nach Deutschland.«
»Das glaube ich erst, wenn ich sie sehe«, lächelte Sofia. »Ist alles in Ordnung bei euch?«
»Ja, danke. Abgesehen davon, daß ich immer noch keine Anstalten mache, mich zu verheiraten, haben meine Eltern, glaube ich, an mir nicht allzu viel auszusetzen.«
Sofia lachte. »Laß du dir nur ruhig Zeit, du bist doch noch so jung, Annabelle.«
»Das sage ich ja auch immer, aber sie sehen das anders. Sie machen sich Sorgen um mich, auch wenn das ganz unnötig ist. Ich kann schließlich gut auf mich selbst aufpassen.«
Das stimmte allerdings. Annabelle arbeitete in einer Privatbank, und dort hatte sie trotz ihrer Jugend bereits einen verantwortungsvollen Posten inne. Sie wollte auf eigenen Füßen stehen und sich nicht auf das Vermögen ihrer Eltern verlassen – eine Haltung, die Sofia teilte. So wünschte sie es sich auch für ihre eigenen Kinder.
»Ich denke, deine Eltern sind sehr stolz auf dich«, meinte sie. »Übrigens bist du derzeit nicht der einzige Gast hier auf Sternberg.«
»Wie schön«, freute sich Annabelle. »Je mehr Leute hier sind, desto besser, finde ich. Wer ist es denn?«
»Du wirst ihn kaum kennen: Graf Alexander von Herzfeld, ein guter Freund von Leo.«
»War er nicht lange im Ausland?« fragte Annabelle.
»Ganz richtig, ja. Jetzt ist er wieder hier – und… nun ja, du wirst sehen, daß er nicht ganz einfach im Umgang ist.«
»Was soll das denn heißen?« fragte Annabelle verwundert. »Jemand, der mit Leo befreundet ist, kann doch nicht schwierig sein.«
»Wenn du dich da mal nicht irrst. Er begegnet Menschen, die er nicht kennt, mit Mißtrauen – und entsprechend benimmt er sich.«
»Ich muß ja nicht mit ihm reden«, erklärte Annabelle sorglos. »Soll er sich halt mit Leo unterhalten, den kennt und mag er. Ich rede dann mit dir, Lisa und den Kindern, da habe ich Unterhaltung genug.«
Sofia hegte die Befürchtung, daß es vielleicht ganz so einfach nicht werden würde, doch das sagte sie nicht laut. Vielleicht zeigte sich Graf Alexander aber auch von einer bisher unbekannten Seite und war charmant und liebenswürdig ihrer jungen Freundin gegenüber?
Das wäre, dachte sie, eine wahrhaft angenehme Überraschung.
*
Christian blieb angespannt, als er vor dem Abendessen den großen Salon betrat, in dem sich bereits Anna und Konrad sowie sein Vater und Graf Alexander eingefunden hatten. Er war nicht sicher, ob der Besucher nicht doch eine Bemerkung zu dem Brand und dessen Ursache machen würde, doch nichts dergleichen geschah. Er schien also Wort zu halten, und das brachte den kleinen Fürsten dazu, sein Urteil über den Gast zu ändern. Jemand, der sich so verhielt, konnte unmöglich ein Scheusal sein, wie Anna ihn genannt hatte, auch wenn er nicht unbedingt liebenswürdig wirkte auf den ersten Blick.
Die Kinder verließen den Salon und machten sich auf den Weg in die Küche, wo sie immer gern gesehen waren. Die junge Köchin Marie-Luise Falkner hatte sie noch nie weggeschickt – wie es früher, bei ihrer Vorgängerin, fast immer der Fall gewesen war.
»Was ist los?« fragte Christians Cousin Konrad. »Wieso hast du den Grafen die ganze Zeit so angestarrt? Hat er sich wieder unmöglich benommen?«
»Ich habe ihn nicht angestarrt«, behauptete Christian. »Und er hat sich auch nicht unmöglich benommen.«
»Ich bin doch nicht blind!« rief Konrad. »Du hast geguckt, als wenn du darauf wartest, daß er ein weißes Kaninchen aus seiner Weste zaubert.«
Christian ärgerte sich, daß er sich nicht besser beherrscht hatte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als weiterhin hartnäckig zu leugnen. Zum Glück erreichten sie gleich darauf die Küche und wurden von Marie-Luise freundlich aufgefordert, die Teigtaschen zu probieren, die sie als Vorspeise servieren wollte.
»Was täte ich ohne meine Vorkoster?« rief sie vergnügt.
Die Teigtaschen waren, wie nicht anders zu erwarten, köstlich, aber sie bekamen jeder nur eine, da die junge Köchin behauptete, sie habe sonst nicht genug. »Es ist nämlich noch ein Gast angekommen, von dem ich nichts wußte – und wir wollen uns ja nicht blamieren und die Gäste hungrig vom Tisch aufstehen lassen, nicht wahr?«
Letzteres war natürlich eine maßlose Übertreibung, denn es war immer genug da, um bei jeder Mahlzeit auch mehrere überraschende Gäste bewirten zu können – aber die Kinder beharrten nicht auf einem Nachschlag, sondern verließen die Küche sofort wieder: Einen neuen Gast hatte ihnen gegenüber bisher niemand erwähnt, und dem Geheimnis, warum er ihnen verschwiegen worden war, wollten sie unverzüglich auf den Grund gehen.
*
»Ein weiteres Gedeck?« fragte Alexander, als sie den Salon betraten, in dem die Mahlzeiten eingenommen wurden. Beide Familien nahmen Mittag- und Abendessen gemeinsam ein, nur gefrühstückt wurde getrennt.
Leopold lächelte. »Ja, meine Schwägerin hat eine liebe Freundin zu Besuch.« Er hörte Stimmen in seinem Rücken und drehte sich um: »Da sind sie schon.« Er ging Sofia, Annabelle und seinem Schwager Friedrich entgegen. »Willkommen bei uns, Annabelle. Es ist sehr schön, dich wieder einmal hier zu haben. Du kennst Graf von Herzberg noch nicht, glaube ich. Alex, dies ist Prinzessin von Klawitz.«
Alexander, der noch eben ausgesprochen guter Laune gewesen war und Leopold mit einigen Scherzen erstaunt und auch erfreut hatte, stand da, als hätte er einen Stock verschluckt. Seine Miene war eisig geworden, seine Stimme ebenfalls. Auf Annabelles freundliches: »Schön, daß wir uns endlich persönlich begegnen«, murmelte er etwas Unverständliches, wobei er eine knappe Verbeugung andeutete. Die dargebotene Hand der Prinzessin schien er nicht zu sehen.
Leopold zog die Augenbrauen in die Höhe, während Sofia hörbar die Luft einzog. Das fing ja noch schlechter an als befürchtet! Sie bat Annabelle mit einem Lächeln um Verzeihung.
Der plötzliche Temperatursturz in der Stimmung wurde zumindest kurzfristig überdeckt von Elisabeths Eintreffen, die den Gast ihrer Schwester mit großer Herzlichkeit begrüßte und dann sagte: »Bitte, nehmt Platz.«
Alexanders Gesicht war zu einer Maske erstarrt, seine Augen funkelten vor Zorn, den er nur mühsam unter Kontrolle halten konnte. Elisabeth, die an seiner einen Seite saß, entging das nicht. Sie beugte sich zu ihm hinüber und raunte ihm zu: »Du kannst uns später erzählen, was dich so zornig macht, aber ich bitte dich herzlich, uns dieses Essen nicht zu verderben.«
Er nickte kaum merklich mit dem Kopf, seine Miene jedoch hellte sich nicht auf.
»Darf ich dann servieren lassen, Durchlaucht?« fragte Eberhard Hagedorn, der silberhaarige Butler, der schon seit vielen Jahren im Schloß seinen Dienst versah. Er war perfekt in allem, was er tat, Elisabeth und Leo schätzten ihn sehr.
»Ja, bitte, Herr Hagedorn«, erwiderte Elisabeth.
Die Stimmung beim Essen war angespannt, obwohl sich die Schloßbewohner alle miteinander redlich bemühten, das zu überspielen. Annabelle ging auf diese Bemühungen nur zu gern ein, da sie sich nicht erklären konnte, was Graf Alexander dazu veranlaßte, sich ihr gegenüber so unhöflich zu benehmen. Da dieser, wenn überhaupt, nur einsilbige Antworten gab auf jede Frage, die ihm gestellt wurde, wandten sich die anderen nach einiger Zeit ausschließlich an die Prinzessin. Alexander hatte ja deutlich genug gemacht, daß er nicht mit Fragen oder Bemerkungen behelligt werden wollte.
Die Mahlzeit wäre vielleicht halbwegs friedlich zu Ende gegangen, wenn nicht Annabelle ganz zum Schluß ein Mißgeschick passiert wäre. Vielleicht war sie durch die anhaltende Unfreundlichkeit des zweiten Gastes nervös, vielleicht war es einfach eine Ungeschicklichkeit, jedenfalls stieß sie ein Glas Rotwein um, und das mit so viel Schwung, daß sich ein Teil des Getränks auf Alexanders Teller ergoß.
»Oh, Entschuldigung«, rief sie erschrocken, »das tut mir schrecklich leid.«
»Ich bitte dich, Annabelle«, sagte Sofia, »es ist ja nichts passiert...«
Eberhard Hagedorn war bereits zur Stelle, unauffällig und leise wie immer, um die Folgen des kleinen Unfalls zu beseitigen.
Alexander jedoch dachte nicht daran, es dabei zu belassen. »Bemerkenswert ungeschickt«, sagte er in seinem eisigsten Tonfall. »Ich kann vermutlich von Glück sagen, daß mir das Glas nicht gleich ins Gesicht geflogen ist.«
Sekundenlang verstummten alle und sahen ihn entgeistert an. Sein Benehmen war auch bisher schon hart am Rande der Unhöflichkeit gewesen, doch diese Bemerkung übertraf alles, was er sich bisher geleistet hatte.
»Alex, ich bitte dich!« Leopolds Stimme klang ruhig, aber sie hatte einen warnenden Unterton.
Christian, Anna und Konrad verfolgten das Geschehen am Tisch mit großen Augen, während Annabelle wachsbleich geworden war und Anstalten machte, sich zu erheben, um die Runde zu verlassen. Sofia jedoch legte ihr eine Hand auf den Arm und hielt sie so zurück.
»Du hattest offenbar einen unangenehmen Tag, Alex«, setzte nun Elisabeth hinzu, »anders kann ich mir deine Bemerkung wirklich nicht erklären. Und keinesfalls ist es eine Entschuldigung für das, was du soeben zu Annabelle gesagt hast.« Sie sah ihn unverwandt an, und unter diesem Blick gab er schließlich nach.
»Ich entschuldige mich«, sagte er steif zu Annabelle, sah sie dabei jedoch nicht an.
Er blieb noch bis zum Ende der Mahlzeit, danach bat er, ihn zu entschuldigen und zog sich zurück.
Leopold folgte ihm. »Bitte erklär mir das, Alex«, sagte er.
»Sag du mir eins«, forderte der Graf statt einer Antwort: »Ist es Zufall, daß sie hier ist?«
Leopold betrachtete ihn verwundert. »Was für eine Frage!« rief er. »Natürlich ist es Zufall. Die Prinzessin und ihre Mutter sind seit langem mit meiner Schwägerin Sofia befreundet. Annabelle besucht uns regelmäßig.«
»Mir kannst du nichts erzählen«, erklärte Alexander. »Entschuldige mich jetzt bitte, Leo. Ich bedaure, daß ich euch Unannehmlichkeiten bereitet habe – aber ich möchte über diese Angelegenheit jetzt nicht mehr sprechen.«
Leopold ließ ihn gehen, obwohl »diese Angelegenheit« für ihn damit nicht erledigt war. Er würde zu einer anderen Zeit noch einmal darauf zurückkommen, denn er fand, daß sein Freund ihm eine Erklärung schuldete.
»Und?« fragte Elisabeth, als er sich wieder an den Tisch setzte.
»Ich habe ihn leider nicht bewegen können, mir sein Verhalten zu erklären«, antwortete er. »Ich entschuldige mich noch einmal für meinen Freund, Annabelle. Er ist kein umgänglicher Mensch, das wußten wir bereits, aber so wie heute habe ich ihn nie zuvor erlebt.«
Annabelle bemühte sich um ein Lächeln, was ihr freilich nicht besonders gut gelang. »Wenn ich wenigstens wüßte, was er gegen mich hat«, sagte sie.
»Er kann nichts gegen dich haben, da er dich ja gar nicht kennt«, stellte Sofia fest. »Und jetzt laßt uns bitte das Thema wechseln, ja?«
Zuerst blieb die Stimmung verkrampft, aber im Laufe des Abends gelang es doch, die Erinnerung an Graf Alexanders beispiellose Unhöflichkeit wenn nicht zu vergessen, so doch wenigstens zu verdrängen, und später, als die Kinder zu Bett gegangen waren, wurde sogar vereinzelt herzlich gelacht.
Aber es hatte schon schönere Abende auf Schloß Sternberg gegeben, darin waren sich Elisabeth und Leopold einig, als sie sich schließlich in ihre Schlafgemächer zurückzogen.
»Ich rede morgen noch einmal mit ihm«, versprach der Fürst seiner Frau.
»Und wenn er nicht einsichtig ist, bitte ihn, uns ein anderes Mal zu besuchen«, erwiderte Elisabeth.
Er sah sie betroffen an. »Meinst du? Wäre das nicht eine Überreaktion?«
»Das finde ich nicht, Leo. Er hat sich unmöglich benommen, anders kann man es nicht nennen.«
Er mußte zugeben, daß sie recht hatte. Als sie zu Bett gegangen waren, zog er sie liebevoll in seine Arme, wo sie bald darauf einschlief. Er selbst blieb jedoch noch recht lange wach, in sorgenvolle Gedanken über seinen jüngeren Freund verstrickt, dessen schroffes Wesen sich im Ausland nicht nur nicht abgemildert, sondern im Gegenteil eher noch deutlichere Konturen angenommen hatte.
*
»Wieso verteidigst du ihn eigentlich auf einmal?« wollte Anna aufgebracht wissen. »Er hat Annabelle absichtlich beleidigt, Chris!«
Sie sollten eigentlich längst schlafen, waren jedoch viel zu aufgeregt, um Ruhe zu finden. Nie zuvor hatte sich jemand auf Schloß Sternberg so benommen wie Graf Alexander – jedenfalls konnten sie sich nicht daran erinnern. Dennoch hatte Christian vorsichtig versucht, ihn in Schutz zu nehmen, war jedoch sofort auf Annas erbitterten Widerspruch gestoßen.
Jetzt machte er einen erneuten Versuch. »Er war nicht freundlich zu Annabelle, das stimmt – aber es kann ja sein, daß er seine Gründe dafür hat!«
»Gründe, Gründe!« wiederholte Anna. »Der braucht doch gar keine Gründe, um unfreundlich zu sein. Der ist immer unfreundlich. Heute hat er sich bloß noch gesteigert.«
»Kann ja sein«, murmelte Christian. Es fiel ihm schwer, den Grafen zu verteidigen, ohne zu erklären, wieso er das tat. Aber er wollte nicht unbedingt über seine »Heldentat« in der alten Scheune erzählen, also blieb ihm nichts anderes übrig. »Trotzdem glaube ich, daß er einen Grund hatte,
er war nämlich nur zu Annabelle so richtig gräßlich, zu niemandem sonst.«
»Sie hat ihm garantiert nichts getan, Annabelle ist der netteste Mensch, den ich kenne«, rief Anna kämpferisch.
An dieser Stelle kam Konrad ihr zu Hilfe, der sich bis dahin zurückgehalten hatte. »Das stimmt«, sagte er. »Und ich verstehe auch nicht, warum du auf einmal anders über ihn redest als vorher, Chris.«
»Ich finde nur, daß man niemanden verurteilen soll, bevor man nicht alle Tatsachen kennt«, erklärte Christian, dem allmählich die Argumente ausgingen. Aber um nichts in der Welt würde er gestehen, daß er von Alexander dabei erwischt worden war, wie er eine Scheune in Brand gesteckt hatte – und daß der Graf ihm geholfen hatte, den Brand zu löschen, ohne etwas darüber verlauten zu lassen.
»Tatsachen? Was denn für Tatsachen?« fragte Konrad. »Er ist über sie hergefallen, als hätte sie ein Verbrechen begangen. Und sie hatte Tränen in den Augen, das ist dir doch wohl nicht entgangen? Außerdem kannten sie sich vorher gar nicht, also kann sie ihm nichts getan haben. Also hör auf mit dem Gefasel.«
»Genau!« bekräftigte Anna, die es genoß, ihren großen Bruder einmal auf ihrer Seite zu haben. Meistens hielten nämlich Konrad und Christian zusammen.
Der kleine Fürst wußte, wann er verloren hatte, und so sagte er jetzt mit einem übertriebenen Gähnen: »Ja, ja, schon gut, wahrscheinlich habt ihr recht. Und jetzt bin ich müde und gehe schlafen. Bis morgen.« Mit diesen Worten verließ er die beiden und wanderte zurück zum Ostflügel.
Er hatte Anna und Konrad gegenüber nicht erwähnt, daß auch er brennend gern gewußt hätte, warum sich der Graf zu einem solchen Affront gegenüber der Prinzessin hatte hinreißen lassen. Aber vermutlich würde er das nie erfahren.
*
In Annabelles schönen Augen standen Tränen, als Sofia sie in ihre Suite begleitet hatte. Der Abend war zwar äußerlich unbeschwert zu Ende gegangen, aber jetzt, wo sie mit der Baronin allein war, kam die Kränkung, die Alexander ihr zugefügt hatte, sofort wieder hoch. »Was bildet er sich denn ein?« fragte sie. »Noch nie in meinem Leben hat es jemand gewagt, mich so zu behandeln. Und warum? Was habe ich ihm getan? Ich bin ihm heute zum ersten Mal begegnet!«
»Ja, ich weiß«, erwiderte Sofia. »Leo wird morgen noch einmal versuchen, mit ihm zu reden. Ich kann es dir nicht erklären, Annabelle. Ich weiß zwar, daß der Graf kein einfaches Wesen hat, aber so wie heute abend habe ich ihn noch nie erlebt.«
»Man könnte ja meinen, ich hätte ihm persönlich etwas angetan. Er hatte kaum meinen Namen gehört, als er auch schon vereiste.«
»Kann es sein, daß es zwischen euren Familien mal einen Streit gab, von dem du nichts weißt?« fragte Sofia.
»Mit Sicherheit nicht, über solche Dinge wird bei uns zu Hause ganz offen gesprochen. Ach, vergiß es, Sofia. Ich werde versuchen, dem Mann aus dem Weg zu gehen.«
»Bei den Mahlzeiten wird das schwer möglich sein«, erwiderte die Baronin nachdenklich.
»Oder ich reise ab und komme ein anderes Mal wieder.«
»Auf keinen Fall, so weit kommt es noch, Annabelle! Das werde ich nicht dulden.«
»Aber noch einmal lasse ich mich von ihm nicht so behandeln, Sofia.«
»Dazu wird es auch bestimmt nicht kommen«, versicherte die Baronin und hoffte nur, daß sie mit dieser Äußerung recht hatte. »Wirst du trotzdem schlafen können?«
»Ich werde es versuchen«, erwiderte Annabelle. Sie umarmte ihre Gastgeberin. »Danke für deine Unterstützung, Sofia. Vielleicht geschieht ja über Nacht ein Wunder, und morgen ist der grantige Graf die Liebenswürdigkeit in Person.«
»Schön wär’s«, bemerkte Sofia beim Verlassen der Gästesuite, aber im stillen setzte sie hinzu: Wetten würde ich nicht darauf.
Als sie zu ihrem Mann zurückkehrte, stand er an einem der Fenster ihres Schlafzimmers und spähte nach draußen. »Es soll ein Unwetter im Anmarsch sein«, sagte er. »Eine Front atlantischer Kaltluft.«
»Heute nacht?« fragte sie und stellte sich neben ihn, um ebenfalls in die Nacht hinauszusehen. Der Wind hatte offenbar aufgefrischt, denn die Bäume im Schloßpark bogen sich. Weitere Wetterveränderungen konnte sie nicht feststellen.
Baron Friedrich legte einen Arm um die Schultern seiner Frau und zog sie an sich. »Nein, es wird uns erst morgen erreichen, gegen Abend – so jedenfalls lautet die Vorhersage.«
»Müssen wir uns Sorgen machen?« fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Ich wüßte nicht, warum. Jedenfalls nicht um uns. Und die Leute unten im Tal wissen, daß bei starkem Regen die Wassermassen von hier oben nach unten fließen – es hat ja in der Vergangenheit schon einige Überschwemmungen gegeben.«
»Die letzte liegt aber schon ziemlich lange zurück«, meinte Sofia.
Als sie im Bett lagen, fragte er: »Hast du Annabelle ein wenig beruhigen können?«
»Ein wenig vielleicht, aber sie fragt sich natürlich, was in Alexander gefahren ist.«
»Das fragen wir uns wohl alle«, erwiderte Friedrich nachdenklich.
*
Annabelle hatte, allem Ärger und aller Verletztheit zum Trotz, gut geschlafen, und nach einem reichhaltigen Frühstück war das Abendessen des vergangenen Tages beinahe vergessen.
»Ob ich ein bißchen ausreiten könnte?« fragte sie.
»Rede mit Fritz darüber«, bat Sofia. »Das Wetter soll schlechter werden, und du weißt ja, daß Pferde manchmal nervös reagieren auf solche Umschwünge.«
»Aber die Sonne scheint!« entgegnete Annabelle erstaunt. »Und der Wind von heute nacht hat sich auch schon wieder gelegt. Es ist ideales Wetter zum Ausreiten.«
»Ich stimme dir zu, daß es danach aussieht«, sagte Sofia, »aber ich bitte dich trotzdem, mit Fritz zu reden, Annabelle. Er schien sich gestern abend Sorgen zu machen wegen der Wettervorhersage.«
»Na, schön, aber wenn er nicht sehr gute Gründe vorbringt, werde ich an meinem Plan festhalten«, erklärte Annabelle. »Bis später, Sofia.«
Sie verließ den Westflügel über einen Seiteneingang und schlenderte gemächlich hinüber zu den Pferdeställen. Die Luft war frisch und klar, und mit einem Mal freute sie sich unbändig darüber, daß sie hierher gefahren war, um ein paar Tage auszuspannen. Sie hatte so hart gearbeitet in der letzten Zeit, daß sie sich diese Urlaubstage wahrhaftig verdient hatte.
Auf der Suche nach Baron Friedrich wäre sie beinahe mit dem Mann zusammengestoßen, dem sie an diesem Morgen am allerwenigsten begegnen wollte: Graf Alexander. »Oh, Entschuldigung«, sagte sie erschrocken und ärgerte sich gleich darauf über sich selbst. Er hatte ebenso wenig aufgepaßt wie sie, hätte also ebenso viel Grund gehabt, sich zu entschuldigen – woran er aber selbstverständlich nicht dachte.
Statt dessen traf sie einer dieser eisigen Blicke, die sie vom Vorabend bereits kannte, dann sagte er: »Falls Sie es immer noch nicht begriffen haben, so sage ich es Ihnen hiermit in aller Deutlichkeit: Ich wünsche keinen Kontakt mit Ihnen. Und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie aufhören würden, ständig meinen Weg zu kreuzen.«
»Was fällt Ihnen denn ein?« rief sie empört. Dieses Mal war ihr Zorn größer als ihre Verletztheit. »Ich bin hier, weil ich gern reiten würde – wenn ich gewußt hätte, daß Sie ebenfalls hier herumlaufen, hätte ich die Ställe gemieden wie die Pest.«
Er lachte spöttisch. »Und das soll ich Ihnen glauben?« fragte er. »Auf diesem großen Gelände kann man sich praktisch nicht zufällig begegnen, aber Ihnen gelingt es ohne Probleme...«
»Vielleicht ist es ja gerade umgekehrt«, rief sie. »Vielleicht laufen ja Sie mir absichtlich über den Weg!«
»Machen Sie sich nicht lächerlich«, entgegnete er. »Ich dachte, ich hätte gestern abend deutlich genug gemacht, wie unlieb es mir ist, daß wir beide uns hier begegnet sind.«
»Und warum?« fragte sie erregt. »Sie kennen mich doch überhaupt nicht – warum hassen Sie mich dann so?«
Er lächelte müde. »Ich hasse Sie nicht«, sagte er, »ich will bloß nichts mit Ihnen zu tun haben. Das ist ein Unterschied, den Sie offenbar nicht begreifen.« Mit diesen Worten drehte er sich um und ging davon – erneut in geradezu unglaublicher Weise sämtliche Regeln der Höflichkeit verletzend.
In diesem Augenblick begriff Annabelle endgültig, daß sie sich für ihren Besuch den falschen Zeitpunkt ausgesucht hatte. Sie wartete, bis der Graf außer Sichtweise war, dann kehrte sie in den Westflügel des Schlosses zurück und packte eigenhändig ihre Sachen. Sie hatte es viel zu eilig, um das von einer der Angestellten erledigen zu lassen.
Als sie Sofia und Friedrich ihren Entschluß mitteilte, bemühten sich beide vergeblich, sie zum Bleiben zu überreden. »Es hat keinen Sinn – der Mann ist entweder wahnsinnig oder er verwechselt mich mit jemandem. Aber ich möchte ihm ganz sicher kein drittes Mal begegnen.«
Sie verabschiedete sich noch von Elisabeth und Leopold, die sie ebenfalls baten, ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken. Erfolg hatten auch sie nicht. »Grüßt die Kinder von mir, bitte!« sagte Annabelle und reiste ab.
Wie eine Rakete rannte die Baronin danach los, auf der Suche nach demjenigen, der ihre Freundin vom Schloß vertrieben hatte. Da Elisabeth, Leopold und Friedrich ihren Zorn verstehen konnten, versuchten sie gar nicht erst, sie zurückzuhalten.
*
»Ja, bitte?« Alexander drehte sich um und sah fragend auf die Baronin, die die Tür seiner Suite schwungvoll ins Schloß fallen ließ.
»Ich verlange eine Erklärung, Alex!« sagte Sofia, während sie näher kam. »Was fällt dir ein, meine Freundin Annabelle so zu behandeln, daß sie sich genötigt sah, abzureisen?«
»Sie ist abgereist?« Diese Neuigkeit erfreute Alexander, aber zugleich überraschte sie ihn. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht mit einem so schnellen Rückzug.
»Ja, das ist sie – und zwar deinetwegen. Wie kannst du es wagen, sie zu behandeln, wie du es getan hast? Du bist hier nicht zu Hause, falls du das vergessen haben solltest, und deshalb sollte es eigentlich selbstverständlich für dich sein, daß du zumindest die Gebote der Höflichkeit beachtest. Das hast du aber nicht getan, im Gegenteil. Schon lange habe ich kein derartiges Benehmen mehr erleben müssen wie das Deinige gestern abend – und offenbar hast du ja eine weitere Begegnung mit Annabelle genutzt, um sie erneut zu beleidigen und zu demütigen. Schämst du dich nicht?«
»Nein«, antwortete er, jetzt auch erregt, weil ihre Vorwürfe unerwartet heftig und deutlich ausfielen. »Nein, ich schäme mich nicht. Ihre Anwesenheit hier ist ein abgekartetes Spiel, aber das gibt sie nicht zu. Sie soll bloß nicht die Unschuldige spielen, ich habe sie nämlich durchschaut. Wie wäre es denn, wenn du statt meiner ihr Vorwürfe machen würdest? Vielleicht bekämst du dann ja ganz erstaunliche Dinge zu hören.«
»Du sprichst in Rätseln«, stellte Sofia fest. »Aber mir streust du keinen Sand in die Augen, Alex – mich täuschst du nicht! Du versuchst dich herauszureden, aber das wird dir nicht gelingen. Ich schäme mich wahrhaftig, daß Annabelle hier auf Schloß Sternberg so etwas erleben mußte.«
»Sehen die anderen das genauso?« fragte Alexander kalt.
»Ja«, sagte Elisabeth, die in diesem Augenblick die Tür öffnete. Sie war ihrer Schwester gefolgt, weil sie das Gefühl hatte, ihr eventuell beistehen zu müssen. »Wir sehen das alle so, Alex.«
»Dann werde ich ebenfalls abreisen«, erwiderte er mit unbewegter Miene.
Wenn er angenommen hatte, die beiden Frauen würden ihm widersprechen, so sah er sich getäuscht. Im Gegenteil, Elisabeth nickte zustimmend und sagte: »Das wird für alle das Beste sein, Alex. Es ist bedauerlich, daß es so weit hat kommen müssen.«
Sie wandte sich zum Gehen, Sofia folgte ihr. Als er allein zurückblieb, konnte er es nicht fassen. Sahen sie denn nicht, was er sah? Hastig suchte er seine Sachen zusammen und verließ die Suite.
Nie zuvor war er derart frostig verabschiedet worden. Nur der Fürst fand sich ein, als Alexander sich hinter das Steuer seines Wagens setzte. »Was ist nur in dich gefahren, Alex?« fragte Leopold traurig. »Ich muß ja fast annehmen, daß du unseren guten Ruf als Gastgeber ruinieren willst.«
»Das ist dummes Zeug, und du weißt es. Denk mal drüber nach, was ich gegen die Prinzessin haben könnte – vielleicht fällt es dir ja ein, Leo.«
»Ich habe keine Lust, mit dir Rätselraten zu spielen«, erwiderte der Fürst ärgerlich. »Entweder du sagst mir, warum du Annabelle offensichtlich verabscheust – oder du behältst es für dich. Ich werde mich an deinen Ratespielen gewiß nicht beteiligen.«
»Und ich dachte, wir wären echte Freunde«, sagte Alexander, startete den Motor und fuhr davon.
Leopold sah ihm kopfschüttelnd nach. Dann hörte er ein fernes Grollen und sah überrascht nach oben. Das Unwetter war erst für den Nachmittag oder Abend angesagt worden – nun aber zogen am Himmel bereits bedrohlich dunkle Wolken auf, in der Ferne sah er Blitze zucken, dann hörte er das Donnergrollen erneut. Rasch lief er hinüber zu den Ställen, um zu hören, ob seine Angestellten Hilfe brauchten. Er hörte die Pferde wiehern, sie waren schon in der Nacht unruhig gewesen. Er hatte die Ställe gerade erreicht, als es zaghaft zu regnen begann.
*
In der ersten Stunde kam Annabelle gut voran, dann wurde es allmählich immer dunkler, und schließlich fing es an zu regnen. Zuerst schien es das zu sein, was man gemeinhin als »Landregen« bezeichnete – ein gleichmäßiger, sanft rauschender Wasserfluß, der Wälder und Felder tränkte. Doch es dauerte nicht lange, bis die Tropfen so heftig auf ihre Windschutzscheibe prasselten, daß sie kaum noch etwas sehen konnte. Sie fuhr, wie alle anderen Wagen auch, sehr langsam und hoffte, der starke Regen werde bald nachlassen, damit sie zügig weiterfahren konnte.
Nach einer Stunde begriff sie, daß sie vergeblich hoffte, denn nun war auch noch heftiger Wind aufgekommen. Sie fragte sich, ob es nicht klüger wäre, sich möglichst bald ein Hotel zu suchen, in dem sie das Ende des Unwetters würde abwarten können, bevor alle anderen die gleiche Idee hätten. Sie war noch gar nicht weit von Sternberg entfernt, doch eine Rückkehr kam bei diesem Wetter nicht in Frage – sie hätte Stunden dafür gebraucht.
Ihr fiel ein, daß es in der Nähe ein Fünfsterne-Haus gab, von dem sie bisher nur Gutes gehört hatte – und richtig, einige Kilometer weiter sah sie ein Hinweisschild. Sie verließ die Bundesstraße und folgte der Ausschilderung. Selbst das erwies sich bei dem weiter zunehmenden Sturm und der wegen des Regens schlechten Sicht als schwierig. Sie verfuhr sich mehrmals, bis sie die Einfahrt endlich gefunden hatte. Zum Glück standen mehrere Bedienstete mit Schirmen bereit – dennoch war sie durchnäßt, als sie die Hotelhalle betrat.
Sie atmete auf, als sie von freundlichen Gesichtern, angenehmer Beleuchtung und wohliger Wärme empfangen wurde. Es war unter anderem noch eine großzügige Suite frei, die Annabelle buchte, ohne lange nachzudenken. Wenn sie schon in einer so mißlichen Lage war, dann wollte sie sich diese zumindest durch eine angenehme Umgebung ein wenig erträglicher machen. Eine Viertelstunde später lag sie in ihrem eleganten Badezimmer in einer mit heißem Wasser gefüllten Badewanne und versuchte, ihre verkrampften Muskeln zu lockern. Das gelang ihr schließlich auch, aber ein leichter Kopfschmerz blieb.
Sie bestellte sich beim Zimmerservice einen kleinen Imbiß. Als dieser gebracht worden war, machte sie es sich gemütlich. Wie erwartet, vertrieb das Essen die Kopfschmerzen. Sie trank viel Wasser und fühlte sich danach besser. Es war noch längst nicht Abend, aber ohne Licht war es fast dunkel im Zimmer. Da sie müde wurde, verkroch sie sich unter die Bettdecke und schlief fast augenblicklich ein.
Sie erwachte erst zwei Stunden später. Draußen rauschte noch immer der Regen vom Himmel, jetzt war es wirklich stockfinster. Sie rief auf Schloß Sternberg an.
»Wo bist du?« rief Sofia. »Ich habe schon mehrmals versucht, dich zu erreichen, Annabelle!«
»Ich hatte das Handy nicht an«, entschuldigte sich Annabelle.
»Wir machen uns alle Sorgen um dich – nicht lange nach deiner Abreise hatten wir hier ein kräftiges Gewitter. Seitdem schüttet es, und wie wir hören, sind die ersten Straßen bereits überflutet. Hast du es noch bis nach Hause geschafft?«
»Nein, keine Chance.« Annabelle berichtete von ihrer Fahrt und der Unterkunft, die sie gefunden hatte. »Hier ist es sehr schön, der Service ist erstklassig, und ich bin froh, daß ich mich rechtzeitig entschieden habe. Mittlerweile wird das Hotel wohl ausgebucht sein, schätze ich.«
»Morgen früh wird der Regen ja wohl aufgehört haben, dann setzt du dich gleich ins Auto und kommst zurück!«
»Aber...«
»Kein Aber!« Sofias Stimme klang streng. »Graf Alexander ist abgereist, eine halbe Stunde nach dir.«
»Tatsächlich?« fragte Annabelle verwundert. »Wieso das? Es wird doch nicht etwa die Einsicht gewesen sein, daß er sich unmöglich benommen hat?«
»Ich habe ihm die Meinung gesagt – und zwar deutlich.«
»Oh je, der arme Graf!« Annabelles Laune hob sich schlagartig, sie mußte sogar lachen. »Da ist er ja an die Richtige geraten.«
»Und ob«, versetzte Sofia mit grimmiger Befriedigung. »Er wird es nicht noch einmal wagen, sich hier auf Sternberg so zu benehmen.«
»War der Fürst nicht böse auf dich? Schließlich war der Graf sein Gast.«
»Leo hat ihm selbst auch deutlich gesagt, was er von seinem Verhalten denkt. Nein, nein, wir waren uns einig in dieser Angelegenheit. Also, kommst du zurück?«
»Wenn das möglich ist, gerne.«
»Wieso sollte es nicht möglich sein?«
»Ich weiß nicht, Sofia – wenn ich aus dem Fenster sehe, habe ich den Eindruck, daß der Weltuntergang naht.«
»Es wird hoffentlich nicht die ganze Nacht regnen – und bis morgen ist das Wasser dann schon wieder abgeflossen«, meinte die Baronin zuversichtlich.
Annabelle schloß sich dieser Hoffnung an. Sie wollte sehr gern nach Sternberg zurückfahren, um ihren Kurzurlaub dort fortzusetzen. Aber als sie den Fernsehapparat einschaltete, um den Wetterbericht zu hören, sah sie nur weite Flächen, die bereits unter Wasser standen und hörte, daß in der gesamten Gegend Katastrophenalarm ausgelöst worden war. Das sah nicht danach aus, als würde sie morgen in ihr Auto steigen und das Hotel verlassen können.
Sie beschloß, sich darum an diesem Abend nicht mehr zu kümmern. Statt dessen würde sie sich ankleiden und unten im Restaurant zu Abend essen. Ein wenig Gesellschaft würde ihr gut tun.
*
Alexander fragte sich, ob sich die ganze Welt gegen ihn verschworen hatte. Bald nach seiner Abfahrt von Schloß Sternberg hatte es angefangen zu regnen, was ihn zunächst nicht störte. Gleichmäßig fallender nicht allzu heftiger Regen hatte etwas Beruhigendes an sich, dieser Ansicht war er schon immer gewesen. Doch der beruhigende Regen hatte sich schon bald in eine wahre Sturzflut verwandelt, die sich vom Himmel ergoß.
Er hatte vom Gas gehen müssen, wie alle anderen auch. Seitdem schlich er die Straße entlang, hinter den anderen Autos her, die es ihm gleichtaten. Irgendwann mußte der Regen ja wieder aufhören! Als sein Nacken anfing, zu schmerzen, hielt er an einer heruntergekommenen Gaststätte an, um einen Kaffee zu trinken, doch diese Idee hatten schon etwa hundert andere Autofahrer vor ihm gehabt, und so machte er gleich wieder kehrt, nachdem er einen Blick ins Innere des Lokals geworfen hatte.
Er rannte zurück zu seinem Wagen, war aber natürlich naß, als er wieder hinter dem Steuer Platz nahm. Mühsam fädelte er sich erneut in den Verkehr ein – eine endlos scheinende Autoschlange wälzte sich die Straße entlang. Fehlt bloß noch ein Unfall, dachte Alexander, dann sitze ich endgültig hier fest.
Es war noch gar nicht spät, aber bereits fast dunkel. Es sah nicht danach aus, als werde der Regen bald wieder aufhören, und er begann sich mit dem Gedanken zu befreunden, daß er es an diesem Tag nicht mehr bis nach Hause schaffen würde. Also mußte er sich eine Unterkunft suchen – und das möglichst bald, bevor es ihm so erging wie in dem Lokal eben und er zu spät kam. Das Schild eines Fünf-Sterne-Hotels tauchte hinter dem Regenschleier auf und verschwand wieder. »Abfahrt in 1,5 Kilometern« hatte darauf gestanden. Das Hotel war bekannt, es hatte einen ausgezeichneten Ruf, und man durfte annehmen, daß es selbst bei diesem Unwetter noch nicht ausgebucht war.
Er seufzte und sah auf die Uhr. Keine angenehme Vorstellung, sich jetzt in einem Hotel einzumieten, wo man eigentlich nicht sein wollte, aber eine bessere Idee hatte er nicht. Er würde also die angekündigte Abfahrt nehmen.
Es dauerte fast dreißig Minuten, bis er die anderthalb Kilometer hinter sich gebracht hatte, denn immer wieder stockte der Verkehr, die Schlange kam zum Stehen. Im Radio war von überfluteten Straßen die Rede. Er wurde zunehmend nervös. Nun, wo er sich entschieden hatte, das Hotel anzusteuern, verlor er die Geduld, er wollte nur noch sein Ziel erreichen, sich in die Badewanne legen und hinterher etwas essen. Bloß endlich raus aus dem Wagen! Er verwünschte sich für die Idee, selbst zu fahren, schließlich hatte er einen Chauffeur. Aber er fuhr nun einmal gern Auto – nur natürlich nicht bei solchem Wetter.
Er nahm die Abfahrt und versuchte, sich trotz der zunehmenden Dunkelheit zu orientieren. Hier mußte doch irgendwo ein weiteres Hinweisschild sein? Er entdeckte es, als er bereits halb daran vorbeigefahren war. Da er meinte, einen Hinweispfeil nach links gesehen zu haben, bog er ab, als er eine Straße zu erkennen glaubte. Zu spät bemerkte er seinen Irrtum. Er geriet auf unbefestigtes Gelände, der Wagen ließ sich nicht mehr steuern, er geriet ins Rutschen. Verzweifelt gab er Gas, während er zu wenden versuchte, um zurück auf die Straße zu gelangen. Das jedoch gelang ihm nicht. Der Wagen rutschte weiter nach unten und knallte dann ganz plötzlich auf ein Hindernis. Der Motor erstarb mit einem Röcheln, die Scheinwerfer erloschen, es wurde stockfinster.
Mit unverminderter Heftigkeit prasselte der Regen auf das Autodach. Stöhnend betastete Alexander seinen Kopf und seine Brust, versuchte, Arme und Beine zu bewegen. Offenbar war er bei dem Aufprall unverletzt geblieben. Er konnte nicht erkennen, was den Wagen schließlich gebremst hatte, aber er mußte wohl froh über den Aufprall sein – schließlich hatte er keine Ahnung, wo er mit dem Auto sonst gelandet wäre. Vielleicht gab es weiter unten einen reißenden Fluß...
Ihn schauderte bei der Vorstellung, dann richtete er seine Gedanken auf das, was ihm nun bevorstand: Er brauchte seine Reisetasche aus dem Kofferraum, dann mußte er aus dem Auto steigen und sich zu Fuß auf den Weg zu dem Hotel machen. Allzu weit konnte es nicht sein. Natürlich würde er bis auf die Knochen durchnäßt sein, aber das ließ sich nicht ändern.
Er schloß die Augen. Und los, dachte er.
Er öffnete die Tür und erschrak dann doch über das Toben von Sturm und Regen. Die geschlossenen Fenster hatten den Lärm gedämpft, jetzt erst merkte er, was da draußen mittlerweile los war. Das konnte man nicht mehr als »Regen« bezeichnen. Es war ein schweres Unwetter. Er biß die Zähne zusammen und schob sich aus dem Wagen. Doch als er sich aufrichtete, erwies sich der feste Halt, den seine Füße auf dem Boden gefunden zu haben schienen, als trügerisch. Er rutschte einfach unter ihm weg, und in dem Versuch, das Gleichgewicht zu wahren, machte er einen falschen Schritt. Ein stechender Schmerz im rechten Fuß ließ ihn aufschreien. Er mußte sich am Autodach festhalten, sonst wäre er gestürzt. Der Boden unter ihm war völlig aufgeweicht, und er begriff, daß er möglichst schnell auf die befestigte Straße zurückfinden mußte, wenn er nicht im Matsch versinken wollte. Den verletzten Fuß allerdings konnte er nur unter größten Schmerzen belasten.
Für einen kurzen Moment erfaßte ihn Panik. Wenn er es nun nicht schaffte, das Hotel zu erreichen? Dann fiel ihm sein Mobiltelefon ein, und vor Erleichterung kamen ihm beinahe die Tränen. Er wollte sich wieder ins Auto setzen, doch der Wagen fing plötzlich an, sich zu bewegen, und erneut erfaßte ihn Panik. Er wollte nicht weiter in die Tiefe rutschen! Also holte er das Handy heraus, um die Notrufnummer zu wählen – doch er mußte feststellen, daß er kein Netz hatte. Er wollte es nicht glauben, probierte es immer wieder, aber es war hoffnungslos.
Längst war jede Faser, die er am Leib hatte, klatschnaß, er fror erbärmlich, dazu kamen die Schmerzen. Aber die erneut aufkommende Panik bekämpfte er energisch. Er schaffte es irgendwie, den Kofferraum zu öffnen und seine Reisetasche herauszuholen, dann begann er, bergauf zu humpeln. Bald schon mischten sich in den Regen, der ihm in Strömen über das Gesicht lief, Tränen. Nie zuvor hatte er solche Schmerzen gehabt – er vermutete, daß der Fuß gebrochen war.
Eigentlich konnte er nicht laufen. Aber wenn er nicht erfrieren oder ertrinken wollte, mußte er es bis in dieses Hotel schaffen!
*
»Weg?« fragte Christian beim Abendessen entgeistert. »Alle beide? Aber wieso denn?«
»Annabelle wollte nicht bleiben, nachdem der Graf sie noch einmal beleidigt hatte«, erklärte Baronin Sofia, und noch immer blitzten ihre Augen vor Zorn über das ungebührliche Verhalten Alexanders. »Da habe ich ihm ordentlich die Meinung gesagt, woraufhin er ebenfalls gefahren ist.«
»Leider sind sie beide dann wohl in das Unwetter geraten«, seufzte Elisabeth. »Bei dem Gedanken ist mir gar nicht wohl, muß ich sagen. Annabelle hat sich ja wenigstens gemeldet, aber Alex haben wir bisher nicht erreicht.«
»Hoffentlich bleibt er mit seinem Wagen stecken«, bemerkte Anna. »Er hat es nicht besser verdient.«
»Anna«, rügte Friedrich seine Tochter. »So kenne ich dich ja gar nicht.«
»Ist doch wahr«, murrte sie. »Er hat Annabelle vertrieben, das verzeihe ich ihm nicht. Wenn er wenigstens einen Grund gehabt hätte – aber er ist einfach so über sie hergefallen. Ihr habt doch selbst gesagt, daß sein Verhalten ungehörig war.«
Dagegen ließ sich nichts einwenden. Dennoch sagte Friedrich: »Trotzdem mußt du ihm deshalb nichts Schlechtes wünschen, Anna.«
»Vielleicht hatte er ja doch einen Grund«, meinte Christian zum Erstaunen aller.
»Jetzt fängst du schon wieder an, ihn zu verteidigen!« schimpfte Anna. »Ich möchte mal wissen, wieso eigentlich.«
Elisabeth und Leopold wechselten einen kurzen Blick. Sie hatten nicht gewußt, daß ihr Sohn Alexander verteidigt hatte.
»Einer muß es ja tun«, erklärte Christian.
Sofia wechselte entschlossen das Thema, denn so erquicklich war es schließlich nicht, über jemanden zu schimpfen, der nicht anwesend war. »Annabelle kommt morgen wieder, wenn die Straßenverhältnisse es zulassen«, erklärte sie. »Aber ganz sicher ist das nicht, zumal der Sturm ja andauert.«
»Unten im Tal sieht es schlimm aus«, erklärte der Fürst mit bedrückter Stimme. »Der Fluß ist über die Ufer getreten, mehrere Häuser stehen schon bis zum ersten Stock unter Wasser, aber die Bewohner wollen trotzdem bleiben, sie fürchten sich vor Plünderern. Ich habe schon einige unserer Leute geschickt, damit sie helfen – wir hier oben haben ja nichts zu befürchten. Aber wir hören mittlerweile auch aus den umliegenden Ortschaften, daß das Wasser ständig steigt.«
»Wir sollten morgen versuchen, uns einen Überblick über das Ausmaß der Schäden zu verschaffen«, schlug Elisabeth vor. »Und wir müssen uns am Wiederaufbau beteiligen. Das sind wir den Leuten hier schuldig, Leo.«