Der neue Urschrei - Arthur Janov - E-Book

Der neue Urschrei E-Book

Arthur Janov

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Beschreibung

Arthur Janov, Erfinder des »Urschreis«, zieht nach mehr als 20 Jahren Praxis mit der von ihm begründeten Primärtherapie Bilanz. Viele seiner Konzepte haben wissenschaftlicher Überprüfung standgehalten. Seine Kernthese von der Neurosenentstehung durch Verdrängung frühkindlichen Primärschmerzes ist unverändert Grundlage der Janovschen Therapie. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Arthur Janov

Der neue Urschrei

Fortschritte in der Primärtherapie

Aus dem Amerikanischen von Elke vom Scheidt

FISCHER Digital

Inhalt

Für France [...]Einführung Primärtherapie: Zwanzig Jahre danachTeil I: Warum wir krank werden1. Die grundlegenden menschlichen BedürfnisseUnsere Bedürfnisse und ihre ErfüllungLiebe: Ein grundlegender Faktor bei allen BedürfnissenEmotionale Bedürfnisse des sich entwickelnden KindesDie Bedeutung von FreiheitDas freie Fließen der LiebeWenn Bedürfnisse unbefriedigt bleibenDie Realität von BedürfnissenDie Entstehung von ErsatzbedürfnissenErsatzbedürfnisse werden neurotischDie Auflösung neurotischer Bedürfnisse2. Primärschmerz: Das große, verborgene GeheimnisDie Natur emotionalen SchmerzesPrimärschmerzSchmerz, Bedürfnis und natürliche EntwicklungDas Geheimnis des PrimärschmerzesDer PrimärschmerzbehälterDas Messen von emotionalem SchmerzDie Natur emotionaler ErinnerungStreßkapazität beim NeugeborenenEmotionale Erinnerung ist kein bewußtes Zurückrufen3. Verdrängung: Die Schleusen des Gehirns und der Verlust des FühlensSchleusen: der Mechanismus der VerdrängungDie Schleusen des Gehirns und die VerdrängungSchleusen der Schmerzerinnerung in der PrimärtherapieSchleusen und Schmerzverdrängung: das klinische BildSchleusen und abgeschnittene KommunikationDas Schleusensystem als Grundlage der NeuroseDie Evolution des SchleusensystemsMessen der Stärke des SchleusensystemsSchmerz und das höhere GehirnEndorphine: natürliche SchmerztöterEndorphine: Schlüssel und Schlösser beim SchmerzabblockenWarum gibt es Endorphine?Die Vergangenheit ist der Schlüssel zum ÜberlebenSchmerz, Verdrängung und die Endorphine bei Krankheit4. Bewußtseinsebenen und die Natur der PsycheDie Psyche im KörperDie Überlebens-, die fühlende, die denkende PsycheBewußtsein und die drei HauptpsychenSchmerz: der Organisator der PsycheDie Psyche und die drei Ebenen des BewußtseinsKrankheit und Bewußtsein der ersten LinieSchmerz und die BewußtseinsebenenBewußtsein und die Funktion des GehirnsPsyche versus KörperDie Natur der PsycheHypnose und die BewußtseinsebenenHalluzinogene Drogen und die PsychePsyche und unzulängliches SchleusensystemBewußtsein versus BewußtheitDurchdringung der unbewußten PsycheDer Traumschlaf und die Ebenen der PsycheSchlaf, Träume und Alpträume: Wie man im Schlaf neurotisch ist5. AliettaSonntag, 10. OktoberDienstag, 12. OktoberMittwoch, 13. OktoberDonnerstag, 14. OktoberFreitag, 15. OktoberAbendDienstag, 21. OktoberFreitag, 24. OktoberGruppeDie Halloween-PartySamstag, 1. November: Letzter Tag der drei WochenMontag, 3. NovemberFünf Jahre späterFünfzehn Jahre später6. Wie frühe Erfahrung geprägt wirdWas sind Prägungen?Einfluß einer Prägung auf das ImmunsystemPrägungen als Erinnerung an TraumataPrägungen und die emotionalen Zentren der PsychePrägungen, Schmerz und FühlenIllustration der PrägungWie die Prägung mit der Gegenwart mitschwingtPrägungen und chronische BedürfnisdeprivationPrägungen und unser genetisches SchicksalPrägung in einer kritischen PeriodeBehältnisse unserer Psyche7. Neurotisches Handeln: Symbolisches AusagierenDie Welt als ElternersatzDie Geburt des AusagierensDer Kampf: Wiedererschaffung der PrägungDie verborgene Bedeutung von VerhaltenAusagieren der GeburtAuflösung des Ausagierens8. Geburtstrauma: Lebenslange Folgen der GeburtNeurose beginnt im MutterleibWie man schon im Mutterleib neurotisch istWie das Geburtstrauma das Gehirn verändertPrototypenUrsprungsprinzip des PrototypsDer Trauma-Zug: Qual als permanente FixierungPrototypen und Überleben9. Der Geburts-Prototyp und die spätere PersönlichkeitSympathetischer und parasympathetischer ModusDie Prägung des Trauma-ZugesVerzweiflung: die Wurzel von KrankheitKein Ausgang für den NeurotikerDas Ausagieren des GeburtstraumasVerstärkung des PrototypsDer Sympathetiker als OptimistManisch-depressives Syndrom: die Ursprünge der zyklischen PersönlichkeitÜber DepressionWarum Depression? Ein NachtragDie Vorhersagbarkeit von NeurosenTeil II Die Formen der Neurose10. Streß, Angst und Spannung: KrankheitssymptomeWas ist Streß?Die Kampf- oder FluchtreaktionDas StreßsyndromDie Natur der AngstAngst, Verdrängung und das AbwehrsystemWas löst Angst aus?Angst und ZwangsneuroseÜber Drogen und DrogenabhängigkeitPolyzystische Ovarialerkrankung und früher SchmerzDie Natur von SpannungSchmerz: das Gegenmittel der AngstAngst als ÜberlebensmechanismusSchlußfolgerung: das Zeitalter der Verdrängung11. Maligne Verzweiflung: Verdrängung und ImmunsystemPrimärforschung: Wie Psychotherapie Gehirn und Körper verändertDas Fieber der NeuroseDas Messen von Neurose: der Index der VerdrängungVerdrängung und ImmunsystemErforschung von Streß, Schmerz und ImmunsystemSignifikanz dieser ForschungNeuere Forschungsarbeiten über das ImmunsystemMaligne VerzweiflungDie Prägung maligner Verzweiflung: Hoffnungslosigkeit und KrebsDie Psyche des ImmunsystemsDas Immunsystem als BewußtseinTödliche EinsamkeitVerdrängung als tödliche KrankheitMessen der Wirkungen früher Traumata12. Krankheit als stiller SchreiDiskussionDie Einheit von Schmerz und SymptomDer Druck der PrägungDie stille Verschwörung über unseren SchmerzDie Rolle der PrimärtherapieNatur versus Erziehung: die Rolle der Heredität bei KrankheitZugang zum »stillen Schrei«SchlußfolgerungGeheimnisse erhalten Krankheit13. Sex, Sinnlichkeit und SexualitätFrigidität bei zwei FrauenSexprobleme sind menschliche ProblemeGefühle, Symbole und PerversionGespaltenes Selbst und SexualitätDie Behandlung von Sexproblemen ohne SexInzestErforschung sexueller AbweichungenTeil III Wie wir gesund werden14. Über die Natur des NormalenVerhalten ist nur ein Teil des NormalseinsBestimmung des NormalenDer Kontext des NormalenWas dem einen sin Uhl …Ursprünge des AbnormenDie psychologische Sicht des NormalenNeurose als Korruption und UnzufriedenheitKriterien für NormalitätWer beurteilt Normalität?Kann man seine Normalität fühlen?15. Die Rolle des Weinens in der PsychotherapieSchreien und BedürftigkeitPrimäre Tränen und verdrängter SchmerzTränen sind ausschließlich menschlichDie Verdrängung der TränenTränen und VerlustgefühlAbreagierenWeinen und StreßDie Notwendigkeit des WeinensWeinen als HeilungDie Dialektik von Leiden und Heilung16. Warum muß man seine Kindheit wiedererleben, um gesund zu werden?Wiedererleben alter EmotionenBewußtseinsebenen beim WiedererlebenKünstliche Reproduktion der BewußtseinsebenenDer Säugling bleibt immer bestehenWiedererleben als ProzeßDie Bedeutung des WiedererlebtenZeitliche Abfolge17. Primärtherapie heuteDie Primärtherapie benutzt eine streng wissenschaftliche MethodologieDer PrimärstilIn ein Gefühl fallenDas Weinen muß stattfindenEingliedern des Gefühls in das gegenwärtige LebenPrimärtherapie ist systematischFehler in der PrimärtherapieVerwechseln von Abreaktion und GefühlEinkehrtage und PrimärtherapieTherapeutenEinzigartige Aspekte der PrimärtherapieSchmerz und TherapiePrimärtherapie heuteAbwehrmechanismen: Fallstudie18. Nadine19. Schlußfolgerungen: Primärtherapie – zwanzig Jahre späterEmpirische NachweiseWiderstand gegen die Vorstellung verborgenen SchmerzesDer Anspruch der PrimärtherapiePatienten nach der PrimärtherapieBedürftigkeit als Quelle und UrsacheEpilogPrimärtherapie ist nicht »Urschrei«-TherapieAnhangDanksagungenNamen- und Sachregister

Für France

 

Für Ellie: Je t’aimerai à jamais

 

 

»Es gibt zwei Arten, sich zu täuschen:

Eine besteht darin, zu glauben, was nicht ist;

die andere besteht drin, nicht glauben zu wollen, was ist.«

Sören Kierkegaard

Einführung Primärtherapie: Zwanzig Jahre danach

»Vor einigen Jahren hörte ich etwas, das den Verlauf meines Berufslebens und des Lebens meiner Patienten verändern sollte. Was ich hörte, … (war) ein unheimlicher Schrei, der aus dem Tiefinneren eines jungen Menschen hervorbrach, der während einer therapeutischen Sitzung auf dem Fußboden lag. Ich kann den Schrei nur damit vergleichen, was man vielleicht von einem Menschen hören würde, der ermordet wird« (Der Urschrei, 1970).

Der Schrei, den ich vor zwanzig Jahren beschrieb, ist das Produkt unbewußter, universaler, ungreifbarer Wunden, welche die meisten von uns mit sich herumtragen und die anscheinend niemals heilen. Meine Prophezeiung war in der Tat richtig. Sie hat mein Leben und das Leben vieler tausend Patienten verändert. Dieser Schrei hat mich dazu gebracht, nach seinen Quellen zu suchen, und dabei bin ich in die Tiefen des Unbewußten vorgestoßen. Er hat Menschen aus dreißig Ländern angeregt, in meine Therapie zu kommen, und mir eine umfassendere Sicht auf das Menschsein verschafft. Ich glaube, die Entdeckung des Schmerzes, der diesem Schrei zugrunde liegt, ist eine wichtige Entdeckung auf dem Gebiet der Psychologie, denn sie bedeutet letztlich das Ende großen menschlichen Leidens. Sie bedeutet, daß es einen Weg gibt, das Elend zu beseitigen, das so viele von uns Tag für Tag durchleben.

Nach zwei Jahrzehnten des Suchens und Forschens und nach der Behandlung Tausender von Patienten mit allen nur denkbaren psychologischen und physiologischen Beschwerden sind wir zu einer präzisen, berechenbaren Therapie gelangt, welche die Zeitspanne verringert, die man in Behandlung verbringt, und auf alle überflüssigen Schritte verzichtet. Es ist eine Therapie, die seit über fünfzehn Jahren von unabhängigen Wissenschaftlern untersucht wird, und deren Feststellungen stimmen überein. Die Primärtherapie ist in der Lage, eine Fülle von physischen und psychischen Beschwerden in relativ kurzer Zeit mit dauerhaften Ergebnissen zu lindern oder zu beseitigen. Sie kann fühlende Menschen hervorbringen, die in der Lage sind, jeden Aspekt ihrer selbst zu erfahren, deren Gehirne nicht in Fächer unterteilt sind, so daß ein Bereich nicht mehr weiß, was ein anderer erlebt – Individuen, bei denen Körper und Geist sich nicht länger fremd sind.

Ein Mensch, der fühlen kann, kann spüren, was in ihm liegt, und braucht sich nicht mehr selbst zu täuschen. Selbsttäuschung ist die sine qua nonder Neurose. Sie erfordert, daß wir uns selbst belügen. »Dir selbst gegenüber sei wahrhaftig«, ist kaum das Motto des Neurotikers.

Dieses Buch handelt nicht nur von einer Psychotherapie. Es handelt von der conditio humana. Es handelt davon, wie man Neurosen entdeckt und wie man erkennt, was normal ist. Es handelt vom Weinen und seiner Rolle für die Gesundheit eines jeden von uns. Es handelt von Angst und Depression und davon, was sie wirklich sind. Es handelt von Verzweiflung und Hoffnung und dem lautlosen Schrei, der als Krankheit bekannt ist. Es handelt von der Bösartigkeit der Hoffnungslosigkeit, vom Tumor der Depression, von zerbrochenen Träumen und gescheiterten Beziehungen. Es handelt von der Natur der Liebe. Und schließlich handelt es von wirklicher Intelligenz, nicht davon, wie man kultiviert, gebildet und gelehrt ist. Es handelt von der Fähigkeit, zu lieben und zu geben, zu überleben und ein Leben zu führen, das intelligent ist, ein Leben, das weder selbstzerstörerisch ist noch andere verletzt. Wie klug muß jemand sein, um zu wissen, daß man weinende Kinder aufheben und trösten sollte?

Die Schmerzen, die jenem Schrei zugrunde lagen, den ich vor so langer Zeit hörte, waren das, was ich als Urschmerzen bezeichne; sie stammen aus allen möglichen Quellen im frühen Leben – Operationen, physischer Mißbrauch oder schlichte Vernachlässigung. Das zentrale Element dieser Schmerzen liegt im Mangel an Liebe. Entscheidend ist, daß das Ereignis, das sie ausgelöst hat, mehr Schmerzen enthält, als damals integriert werden konnten. Darum war es nötig, einen guten Teil davon zu verdrängen und zu späterer Verwendung zu speichern. Urschmerzen rühren nicht nur von diesem Mangel an Liebe her, sondern auch von jenen Augenblicken oder Szenen, in denen einem Kind offenbar wird, daß es nicht geliebt wird und nicht geliebt werden wird. Sie entstehen, wenn es für einen kurzen und vergessenen Moment von der Erkenntnis erschüttert wird, daß es nicht sein kann, was es ist, und doch geliebt werden kann. Dieser Augenblick und andere Augenblicke ebenso monumentaler Hoffnungslosigkeit erzeugen die Urschmerzen. Dann kämpft das Kind mit aller Kraft darum, so zu sein, wie seine Eltern es haben möchten. Es schiebt den Schmerz weg, oder vielmehr wird der Schmerz ihm durch unser wundersames Verdrängungssystem automatisch abgenommen.

Die Verdrängung erzeugt wirkungsvoll zwei Selbsts, die miteinander im Krieg liegen: das reale Selbst, beladen mit Bedürfnissen und Schmerz, und das irreale Selbst, das Selbst, das die Berührung mit dem anderen Selbst verloren hat, das noch in der Lage war, die Außenwelt zu bewältigen. Das irreale Selbst hat die Funktion, das reale Selbst davon abzuhalten, sein Gesicht zu zeigen. Die beste Art, das zu erreichen, scheint darin zu bestehen, daß das irreale Selbst in bezug auf seine eigene Geschichte unwissend bleibt. Deshalb denke ich, daß Neurotiker ahistorische Wesen sind. Der Schmerz hat sie ihrer Vergangenheit beraubt.

Die Hauptquelle dieses Schmerzes ist längere, unerfüllte Bedürftigkeit früh im Leben. Zu einem bestimmten Schlüsselzeitpunkt werden unerfüllte Bedürfnisse nach Liebe, Obhut und Schutz zu Schmerz, der wiederum Verdrängung erfordert. Nach der Spaltung fährt das irreale Selbst fort, auf der Grundlage dieser Bedürfnisse auszuagieren. Ich bezeichne dieses Programm als »symbolisches Ausagieren«, weil dabei versucht wird, auf symbolische Art und Weise Erfüllung zu erreichen. Das ist das Wesen der Neurose. Alte Schmerzen werden verdrängt und dann auf eine Art und Weise ausagiert, die irreal und rein symbolisch ist.

Wir haben einen Weg gefunden, diesen Prozeß umzukehren, indem wir die Patienten zurückgehen und die ursprüngliche überwältigende Szene, das Gefühl oder das Bedürfnis im Laufe der Zeit Stückchen für Stückchen noch einmal erleben lassen, bis all das schließlich gelöst wird und aus dem System verschwindet. Patienten können den neurotischen Entwicklungsprozeß umkehren und damit tatsächlich auch eine Geschichte, die bis zu ihrer Geburt zurückreicht. Was wir gefunden haben, ist die Möglichkeit, mit dem Vehikel der Gefühle durch die Jahre zurückzufahren zu jenen traumatischen Wegstellen, an denen unsere Entwicklung verzögert wurde.

Wenn Menschen dies tun, gibt es vorhersagbare Veränderungen, die wir im Laufe der Jahre messen können. Hirnfunktion und Hirnstruktur verändern sich, Blutdruck und Herzschlag verringern sich, und auch zahlreiche Hormone unterliegen Veränderungen. Noch wichtiger ist, daß unsere jüngeren Forschungen auf eine signifikante Veränderung im Immunsystem jener hindeuten, die Schmerzen noch einmal erleben. Dies mag durchaus Folgen für die Behandlung katastrophaler Erkrankungen wie Krebs haben.

Wir wissen jetzt eine Menge über den Schmerz und darüber, wie durchdringend er ist, sogar bei Menschen, die nie glauben würden, daß er in ihnen beschlossen liegt. Wir wissen auch mehr über den Vorgang der Verdrängung und darüber, wie und wo er am Werk ist. Die Wissenschaft hat sich in den letzten zwanzig Jahren fortbewegt und mit ihr auch die Primärtherapie. So können wir sehen, wie neueste Entdeckungen auf dem Gebiet von Hirnforschung und Immunologie und aus der Untersuchung von Schmerz, Verdrängung, Endorphinen, Weinen und Krebs mit unserer Arbeit zusammenhängen. Was früher Hypothesen waren, sind heute feststehende Tatsachen. Was eine Vermutung war, ist jetzt nachweisbar. Aus einer ziemlich allgemeinen Theorie ist inzwischen eine detaillierte Struktur geworden, die uns gestattet, den Therapieverlauf bei unseren Patienten zu steuern und mit einiger Genauigkeit vorherzusagen.

Das bedeutet, daß es für viele einen Ausweg aus Schmerz und Neurose, einen Ausweg aus Migräneanfällen, Magengeschwüren, Kolitis, Phobien und ständig zerbrechenden Beziehungen gibt. Es bedeutet, daß Neurose und ihre Behandlung meßbare Gebilde sind, daß Fortschritt quantifizierbar ist, daß Psychotherapie jetzt in das Reich streng wissenschaftlicher Methoden eingebracht werden kann. Sie ist nicht länger nur eine Kunstform. Die Techniken sind vorhanden, um seelische Krankheit zu behandeln, und dabei spielt der Therapeut keine Rolle.

Die Haupttodesursache in der heutigen Welt ist weder Krebs noch Herzkrankheit. Es ist die Verdrängung. Die Unbewußtheit ist die wirkliche Gefahr und die Neurose der versteckte Mörder. Meine jahrzehntelange Praxis hat mich immer mehr von dieser Tatsache überzeugt. Die Verdrängung – eine heimliche, versteckte, ungreifbare Kraft – wirft viele von uns um. Sie tut das in so vielen verdeckten Formen – Krebs, Diabetes, Kolitis –, daß wir sie nie nackt als das sehen, was sie ist. Das ist ihre Natur – teuflisch, komplex, abstrus. Sie durchdringt alles, und doch wird sie überall geleugnet, weil ihr Mechanismus darin besteht, die Wahrheit zu verbergen. Verleugnung ist die unvermeidliche Konsequenz ihrer Struktur.

Es gibt fast keine Krankheit, seelisch oder physisch, ohne Verdrängung. Eine der Arten, wie wir die Wahrheit dieser Aussage feststellen können, ist die Umkehrung der Krankheit, indem wir die Patienten zu ihrem Schmerz führen und den Deckel der Verdrängung abheben. Später werden wir sehen, wie es in der Forschung möglich ist, viele Krankheiten einfach dadurch rückgängig zu machen, daß man Chemikalien injiziert, die den Verdrängungsprozeß umkehren. Wir können beispielsweise das Werk der Verdrängung beim Bluthochdruck sehen. Wenn wir die Patienten zu ihrem frühen Schmerz zurückführen, steigt der Blutdruck enorm an; wenn sie diesen Schmerz erneut durchlebt haben, sinkt der Blutdruck signifikant ab.

Was verdrängt wird, sind im großen und ganzen Bedürfnisse und Gefühle. Deshalb erlaubt das Empfinden frühen Schmerzes durch Schwächung der Verdrängung dem Menschen, wieder zu fühlen. Das bringt ihm die Sinnhaftigkeit zurück und erlaubt ihm endlich, die Freude, Schönheit und Buntheit des Lebens zu erfahren. Es bedeutet die Vereinigung der beiden Selbsts und macht den Menschen organisch, integriert und ganz. Wir werden in diesem Buch lernen, warum Gefühle von herausragender Bedeutung sind. Sie beseitigen nicht nur die Symptome, sondern auch den Kampf um symbolische Erfüllung. Das wirkliche Selbst taucht auf, und die Suche nach dem eigenen Ich ist beendet. Das reale Selbst ist innerhalb des Schmerzes gefunden worden.

Die Prinzipien, die den Urschmerz und die Primärtherapie betreffen, haben sich in mehr als zwanzig Jahren nicht verändert. Alles andere aber hat sich verändert. Ich denke, der größte Wandel ist die Berechenbarkeit der Behandlung. Am Anfang hatten wir nicht genügend Erfahrung mit einem breiten Patientenspektrum, um zu wissen, was geschehen würde, außer auf eher allgemeine Weise, wenn wir den Schmerz angriffen. Jetzt wissen wir nicht nur, was geschehen wird, sondern auch, auf welcher Bewußtseinsebene der Patient sich betätigt. Dies gibt uns Aufschluß darüber, was von den folgenden Sitzungen zu erwarten ist. Die Bewußtseinsebenen, die ich vor einigen Jahren entdeckte, sind von einer Reihe von Forschern bestätigt worden. Es handelt sich dabei um etwas, das wir dauernd sehen – drei deutlich unterschiedene Bewußtseinsebenen, die bestimmen, welche Art von Symptomen die Person hat und welche Art von Verhalten zu erwarten ist. Im Kapitel über die Psyche werden wir mehr über diese Ebenen und ihre Funktionsweise erfahren.

Die Patienten gehen heute tiefer in das Unbewußte als früher, und wir wissen viel mehr über dieses Unbewußte und darüber, wie gefährlich oder freundlich es ist. Wir wissen, welche frühen Schmerzen zu gefährlich sind, um sie zu fühlen, und welche nicht. Wir wissen, wie man Patienten in Bereiche lenkt, von denen sie nicht überwältigt werden. Unsere heutigen Techniken sind um Lichtjahre weiter als vor Jahrzehnten. Neue Informationen über Endorphine haben uns im Bereich des Schmerzes vieles erklärt, und ich hoffe, davon werden auch die Leser dieses Buches profitieren.

Als ich anfing, wurde uns gesagt, eine Person könne unmöglich ihre eigene Geburt noch einmal durchleben, weil das Nervensystem zu diesem Zeitpunkt noch nicht reif genug gewesen sei, um brauchbare Erinnerungen aufzuzeichnen. Aufgrund dieser Fehlinformation habe ich das Ereignis der Geburt jahrelang außer acht gelassen. Wir wissen jetzt, daß das Geburtstrauma tatsächlich im Nervensystem kodiert und gespeichert ist. Um meine Entdeckungen herum hat sich eine ganze Schar von »Wiedergeburtlern« gebildet und betreibt die gefährlichste Art von Scharlatanerie.

Mit Sicherheit wissen wir heute mehr darüber, wie frühe Geschehnisse sich uns tatsächlich einprägen; ich werde dieses Thema ausführlich erörtern. Die frühe Umgebung und der Einfluß des frühen Geschehens verlassen uns nämlich nie mehr. Sie bleiben zeitlebens in unser System eingespeichert. Zum Glück haben wir eine Methode vervollkommnet, diese Prägungen zu verändern – Prägungen, welche die Funktion zahlreicher Organsysteme ernsthaft beeinträchtigen.

Nachdem ich jede denkbare Form sexueller Abweichung gesehen habe, bin ich nun auch in der Lage, das zu diskutieren, was hinter sexuellen Störungen liegt. Wir werden sehen, daß tiefgreifende Sexualprobleme der Sexualerziehung und -fehlerziehung oft zeitlich vorangehen und daß die Lösung dieser Probleme sich aus der Bewältigung dieser sehr frühen Ereignisse ergibt, die ihrer Natur nach nichts mit Sex zu tun haben. Das soll nicht heißen, daß schlechte Sexualerziehung nicht zu den Problemen beiträgt. Es gibt jedoch andere, nie zuvor berücksichtigte Kräfte, die eine Rolle spielen.

Fast jede Arbeit über Streß diskutiert das Thema in Begriffen der Gegenwart: Ehestreß, Berufsstreß etc. Was ich hier erörtern werde, ist ein Streßfaktor, der uns eingeprägt ist, uns nie verläßt und uns ständig unter enormen Druck setzt. Ganz gleich, wie ruhig die Umgebung ist, in der wir leben, diese Art von Streß richtet Verwüstungen an. Sie bringt uns weit vor der Zeit um, und deshalb ist es so wichtig, daß wir sie verstehen. Dies gilt um so mehr, als nur wenige von uns sich ihrer Existenz oder ihrer Macht bewußt sind. Sie hat die Wucht eines Vorschlaghammers, den wir nicht erkennen, und zwar aufgrund von Verdrängung.

Zusammengefaßt lauteten die vier grundlegenden Prinzipien, die ich in meinem ersten Buch umriß, folgendermaßen:

Schmerz liegt im Kern seelischer und körperlicher Krankheit – Schmerz, der von Traumata und unerfüllten Bedürfnissen herrührt.

Es gibt drei verschiedene Bewußtseinsebenen, die mit diesem Schmerz umgehen.

Frühe Traumata hinterlassen im System eine dauerhafte Prägung.

Es ist möglich, diese eingeprägten Erinnerungen erneut zu durchleben und Neurose und physische Krankheit aufzulösen.

Das vorliegende Buch handelt davon, was mit diesen ursprünglichen Entdeckungen geschehen ist, manchmal mit den Worten meiner Patienten, manchmal mit meinen eigenen. Ich habe es schon früher gesagt: Neurose ist eine Krankheit des Fühlens. Fühlen ist das Problem der heutigen Zeit. Wieder und wieder begegnen wir Leuten, die nicht fühlen, die dem Leben nicht viel abgewinnen können und glauben, die ganze Existenz sei grau und langweilig. Für sie trifft das auch zu, denn ihr verdrängter Schmerz hält sie in ständiger Suche nach Magie, nach einem Glaubenssystem, das ihr Leben automatisch in etwas Sinnvolles verwandeln wird. Das Beste, was ich anbieten kann, ist, jemanden in sich selbst zu verwandeln. Ich glaube nicht, daß in diesem Leben mehr zu haben ist. Es gibt nichts, das besser heilt und Krankheiten verhütet, als das Fühlen.

Auf den folgenden Seiten werden wir eine Reise ins Unbewußte antreten. Wir werden jene unterirdischen Gänge untersuchen, die uns aus der Dunkelheit und zu Wohlbefinden und Gesundheit führen. Wir wissen, daß es einen Weg gibt, Krankheit zu verstehen und zu verhüten. Unser Ansatz ist eine radikale Abwendung von der konventionellen Psychotherapie und keine Fünfzig-Minuten-Stunde mehr. Gefühle bestimmen, wie lange die Therapie dauert. Die Macht liegt nicht mehr in den Händen des Arztes. Der Patient, der fühlt, weiß immer mehr als der Arzt über sich selbst und darüber, was therapeutisch für ihn am besten ist. Es geht nicht mehr um von weisen Männern dominierte Einsichten. Die Einsichten stammen von dem Patienten, der fühlt.

Wir sind uns bewußt, daß Neurose nicht durch Mangel an Einsichten verursacht und auch nicht dadurch gelöst wird, indem man diese Einsichten herbeiführt. Unser Ansatz besteht nicht darin, die Abwehrmechanismen zu stärken oder ein »Ego« aufzubauen. Die Therapie beinhaltet vielmehr die Durchdringung der Abwehrmechanismen. Nur zu oft verwechseln wir ein starkes Abwehrsystem mit Normal-Sein. Im Gegenteil, ein starkes Abwehrsystem bedeutet eine potente Neurose, die gut abgespalten, aber dennoch vorhanden ist.

Der Widerspruch liegt darin, daß der starke, gut abgekapselte Neurotiker in seiner Gesellschaft oft überaus erfolgreich funktioniert. Bis er mit siebenundfünfzig einen Herzinfarkt erleidet, wirkt er »wohlauf«. Die verborgenen Kräfte brauchen Zeit, um ihren Schaden anzurichten. Diejenigen, die sich ihres frühen Schmerzes entledigen, sind ebenfalls produktiv, und zwar auf gute und effiziente Weise. Aber sie sind nicht mehr getrieben; Arbeit ist für sie keine Entladung von Spannung mehr. Sie ist etwas Positives. Der Neurotiker ist produktiv und hält sich beschäftigt, um seine Vergangenheit daran zu hindern, störend in die Gegenwart einzudringen. Um der Gesundheit willen besteht unsere Aufgabe jedoch eher darin, uns in unsere Geschichte zu stürzen, an die Quelle unserer Probleme zu gehen, statt unser ganzes Leben damit zu verbringen, sie zu lindern.

Die Primärtherapie unterscheidet sich von anderen Therapien insofern, als wir uns nicht darum bemühen, die Abwehrmechanismen zu stärken, damit die Leute funktionieren können. Wir betrachten Abwehrmechanismen als abnorm und als Zeichen von Pathologie. Das soll nicht heißen, daß sie keine Funktion hätten. Sie haben durchaus eine Funktion und sind überaus wichtig, wenn der frühe Schmerz so überwältigend ist, daß er die Integrität des Systems bedroht. Doch sie sind auch ein Bollwerk gegen das reale Selbst. Wir streben danach, Menschen real zu machen, nicht unseren eigenen Vorurteilen entsprechend, sondern der Realität folgend, die in jedem einzelnen von uns vorhanden ist. Tränen tragen dazu bei, die Grenzen des Unbewußten aufzulösen. Deshalb glaube ich, daß eine Therapie ohne Tränen, eine Neurose ohne Fühlen, in der Tat niemals wirksam sein kann.

Wir wissen, was im Unbewußten liegt. Nachdem wir zu seinen Antipoden hinabgestiegen sind, sehen wir, daß es nicht von Es-Kräften, Dämonen oder geheimnisvollen Schattenmächten bewohnt ist. Tatsächlich hat es nichts Mystisches an sich. Es ist die Lagerstätte der schweren Traumata unseres Lebens, nicht mehr und nicht weniger. Unsere Aufgabe besteht darin, das Unbewußte bewußt zu machen. Danach ist nicht mehr viel zu tun. Wir brauchen keinen besonderen Fachjargon und keine esoterischen Diagnosekriterien, um Menschen zu beschreiben, die einfach nicht geliebt wurden, die in ihrem Leben sehr wenig bekamen und die leiden. Besser ist es, wenn man beschreibt, woher dieses Leid kommt, welche Grundbedürfnisse erfüllt werden müssen. Vor allem anderen wollen wir lernen, wie man Leid lindert. Alles andere ist für mich belanglos.

Es erfordert ziemlich viel Zeit, eine Neurose zu lösen. Sie ist im Laufe von Jahren langsam und stetig gewachsen und läßt sich nicht durch irgendwelche magischen Seminare oder Wochenendvorträge beseitigen. Wir gleiten ohne ein Wimmern in die Neurose und entwickeln Symptome, die geheimnisvoll wirken. Nichts Dramatisches scheint geschehen zu sein, aber plötzlich sind wir krank. Unsere eigene Realität hat uns umgeworfen. Unser Schmerz ist schließlich greifbar, unsere Selbsttäuschung verheerend geworden.

Weil die Primärtherapie mein Leben und das Leben Tausender von Individuen verändert hat, hoffe ich, daß die Bekanntschaft mit ihr auch für diejenigen etwas verändern wird, die dieses Buch lesen. Während Wissenschaftler über die letzten Beweise für die Ursache dieser oder jener Krankheit nachgrübeln, gibt es viele, die an jedem Tag ihres Lebens unsägliche Qualen erleiden. Forschung ist eine Notwendigkeit für Wissenschaftler, aber ein Luxus für die leidende Menschheit, die nicht auf endgültige statistische Beweise warten kann. Für diese Menschen kann das Warten eine tödliche Krankheit sein. Wir brauchen nicht zu warten, um zu fühlen. Wir haben die Mittel, Leuten zu helfen, fühlende menschliche Wesen zu werden. Unsere Gefühle haben lange auf ihre Chance gewartet. Machen wir uns selbst dieses Geschenk.

Arthur Janov

Teil I: Warum wir krank werden

1. Die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse

Die Welt hat einen Nervenzusammenbruch. Die Menschen sind reizbar, aggressiv, angespannt und ängstlich. Die Neurose ist auf dem Vormarsch. Sie galoppiert in vollem Tempo voran, und keiner scheint zu wissen, was sich abspielt oder warum. Vor allem scheint niemand zu wissen, wie man diesen unerbittlichen Marsch in die Zerstörung aufhalten kann. Jahr um Jahr gibt es mehr Krankheiten, mehr Selbstmorde, mehr Gewalt, mehr Alkoholismus und Drogensucht. Die Welt fällt an den Rändern auseinander. Valium ist der Leim, der sie zusammenhält.

Im vorliegenden Buch werde ich mich mit dieser Massenneurose befassen, um zu sehen, ob wir feststellen können, warum wir und unsere Freunde emotional zusammenbrechen, warum wir krank, unglücklich und depressiv sind, warum die Gesellschaft so gefühllos und gleichgültig wirkt.

Ich werde Argumente für das anführen, was ich für die Heilung von der Neurose halte. Um das tun zu können, werden wir die Bausteine untersuchen müssen, welche die Grundstruktur der Neurose bilden. Später werde ich über die Amöbe Alvin und ihr »psychologisches« Verhalten sprechen. Außerdem werde ich das an eine Lokomotive erinnernde Atmen eines Mannes diskutieren, der bei der Geburt an Sauerstoffmangel litt. Das volle Verständnis dieser beiden Faktoren wird wesentlich zur Erhellung dessen beitragen, worum es bei der menschlichen Neurose geht.

Das Substrat der Neurose wird immer zum grundlegenden Bedürfnis zurückkehren. Wir werden dem unerfüllten Bedürfnis nachspüren, wie es sich seinen Weg durch das Labyrinth des Körpers bahnt, sich dabei verkleidet und verwandelt, zuerst in Schmerz, dann aufgrund von Verdrängung in Phobien, Zwänge, Depression, Bluthochdruck, Spannung, Angst und, ja, sogar Krebs. Wir werden den Exodus des unerfüllten Bedürfnisses verfolgen, wenn es sich aus einem einfachen Kindheitszustand in deformiertes erwachsenes Verhalten verwandelt, einschließlich Perversionen, Fehlwahrnehmungen und paranoider Ideen. Unsere Suche wird methodisch, systematisch, unermüdlich und schließlich, wie ich hoffe, lohnend sein. Wir werden unser Streben nicht aufgeben, bis die Natur der Neurose aufgedeckt und, was wichtiger ist, bis die Natur der Heilung verstanden ist. Wenn wir das Fühlen von Bedürfnissen verfolgen, werden wir unausweichlich auf dem Friedhof der Neurose landen, wo der Kindheitsschmerz zuletzt begraben liegt. Betrachten wir zuerst die grundlegenden Bedürfnisse.

Es scheint, als vermißten wir alle etwas und bemühten uns, das zu bekommen, was wir verpaßt zu haben glauben. Was wir zu wollen scheinen, ist einfach »mehr«. So viele von uns suchen nach einem Ausweg und sind verloren und von der Welt verwirrt. Es scheint, daß emotionale Entbehrung ein Erbe geworden ist, das von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Das Erbe emotionaler Entbehrung scheint aus irgendeinem Grunde sicherer und unentrinnbarer als das Erbe der Augenfarbe oder der Mundform.

Man fragt sich, warum eine Generation die emotionalen und physischen Bedürfnisse ihrer Nachkommenschaft nicht erfüllen kann. Warum wird die Entbehrung, die sie selbst erlitten hat, an die eigenen Kinder weitergegeben, Teil eines Zyklus, der zweifellos schon vor der Zeit unserer Großeltern begann? Unsere Großeltern, von denen viele im vorigen Jahrhundert oder am Anfang dieses Jahrhunderts geboren wurden, litten nicht nur selbst unter emotionalen Entbehrungen, sondern hatten auch nur ein begrenztes Verständnis für die Bedürfnisse von Kindern. Es war noch nicht allgemein bekannt, daß kleine Kinder viel getragen und liebkost werden müssen, und auch nicht, daß Kinder Gefühle haben, die nach Ausdruck verlangen. Man erwartete vielmehr von Kindern, daß sie sich artig betrugen und gehorchten. Gefühle waren das letzte, das man verstanden oder respektiert hätte.

Unsere Bedürfnisse und ihre Erfüllung

Noch heute herrscht Verwirrung in bezug auf unsere Bedürfnisse und die Art, nach ihrer Erfüllung zu streben. Die Folge dieser Verwirrung sind Unglück, Frustration und ein wachsender Pessimismus. Nur zu oft hegen wir zynische Gefühle gegeneinander, bis wir zu einer aggressiven Gruppe von Misanthropen werden. Unsere Bedürfnisse sind von klein an vernachlässigt worden, nicht nur durch eine lieblose Gesellschaft, in der jeder sich nur um sich selbst kümmert, sondern durch Eltern, die noch immer nicht wissen, was Kinder brauchen, um richtig aufzuwachsen. Eltern scheinen nur Disziplin und Kampf zu kennen. Sie wollen Kinder mit Charakter, aber was sie bekommen, sind Neurotiker. Das ist die Schuld von allen und keinem. Es scheint Teil der conditio humana zu sein. Aber so ist es nicht. Ich denke, wir müssen mehr über die Bedürfnisse und den Schmerz erfahren, zu dem es kommt, wenn sie nicht erfüllt werden.

Wir alle werden als Masse von Bedürfnissen in diese Welt hineingeboren. Die Anfänge unseres Lebens werden vollkommen beherrscht von Bedürfnissen, die fest in unserem System »verdrahtet« sind.

Unsere ersten Bedürfnisse sind rein physische – nach Nahrung, Sicherheit und Behaglichkeit. Später haben wir emotionale Bedürfnisse nach Zuneigung, Verständnis und Respekt vor unseren Gefühlen. Schließlich tauchen intellektuelle Bedürfnisse nach Wissen und Verstehen auf. Die Rolle der Liebe ist entscheidend. Liebe ist eine wesentliche Qualität bei der Erfüllung von Bedürfnissen auf jeder Entwicklungsebene, und sie ist in der Befriedigung aller Bedürfnisse enthalten. Wenn ein Mensch einem anderen Bedürfnisse erfüllt, darf das keine mechanische Übung sein, sondern muß in echtem Gefühl wurzeln.

Liebe: Ein grundlegender Faktor bei allen Bedürfnissen

Vor allem anderen besteht ein durchdringendes Bedürfnis, geliebt zu werden. Wenn wir Kinder sind, muß jedes neue Bedürfnis in unserer Entwicklung erfüllt werden, damit wir uns geliebt fühlen. Liebe ist nicht etwas, das über der Befriedigung von Bedürfnissen steht, sondern in dieser Befriedigung enthalten ist. Das ist es, was Liebe für ein Kind bedeutet. Liebe besteht nicht einfach aus Worten, die wir zu einem Kind sagen, etwa wenn wir äußern: »Du weißt, daß wir dich lieben«, während wir ihm gleichzeitig wirkliche Liebe vorenthalten, indem wir das Kind nicht berühren. Liebe bedeutet zuerst einmal das Verständnis dieser Bedürfnisse und dann ihre Erfüllung.

Sehr früh im Leben, solange wir noch im Mutterschoß sind, bedeutet Liebe, daß der Mutter genug an ihrem Baby liegt, um sich richtig zu ernähren, um den Streß in ihrem Leben zu verringern, um weder zu rauchen noch zu trinken und ein möglichst gesundes Leben zu führen. Schon vor der Empfängnis eines Kindes bedeutet Liebe, daß sie sich auf das Baby vorbereitet, daß die Geburt eines Kindes wirklich etwas ist, das sie will und plant, kein Unfall, der sie enttäuscht. Ihre Enttäuschung, falls sie existiert, wird einen Weg in das System das Babys finden und Verheerungen anrichten. Liebe bedeutet, daß sie aus den richtigen Gründen ein Baby bekommt, daß es jemand ist, den sie lieben und dem sie etwas geben kann, kein Objekt, das sie benutzt, um eine Ehe zusammenzuhalten, oder das sie aus einem anderen irrealen Grund hervorbringt.

Liebe bedeutet eine angemessene Geburt, eine Geburt ohne Drogen, wo immer das möglich ist, eine natürliche Geburt, die dem Baby jede Chance im Leben gibt. Eine Mutter kann nicht ihr Baby lieben, wissen, wie schädlich Betäubungsmittel sind, und sich dann mit Medikamenten vollstopfen, um die Entbindung leichter zu machen. Ein Baby wird auch dann nicht geliebt, wenn es sich nicht auf natürliche Weise entwickeln darf, sondern nach dem Zeitplan eines Arztes durch Kaiserschnitt auf die Welt gebracht wird.

Liebe bedeutet, daß das Kind gleich nach der Geburt bei seiner Mutter ist und nicht allein gelassen wird, wo es sich erschreckt, einsam und entfremdet fühlt. Diese Minuten und Stunden nach der Geburt sind entscheidend wichtig für die normale Entwicklung. Das Baby muß häufigen physischen Kontakt mit seinen Eltern haben. Ein großer Teil des Gehirns ist für Berührung zuständig; sie ist also eindeutig wichtig. Es ist unvorstellbar, ein Kind zu lieben und es dann unmittelbar nach der Geburt einer Schwester oder einem Kindermädchen zu überlassen. Die Berührung, die es empfängt, muß liebevoll, fürsorglich und zärtlich sein, nicht etwas, das von einer bezahlten Angestellten oberflächlich, grob und hastig erledigt wird. Berührung ist im frühen Leben von entscheidender Wichtigkeit. Wenn es nicht genug davon bekommt, wird das Baby für den Rest seines Lebens unter diesem Mangel leiden. Wenn die Mutter angespannt ist und nie begriffen hat, wie bedürftig ein Baby ist, wird sie ungeduldig sein. Wenn der Vater mehrmals in der Nacht für das Baby aufsteht und dann morgens zur Arbeit gehen muß, wird er vielleicht reizbar. Er ist oft unfähig, die Art von Vater zu sein, die das Baby braucht. Ein Baby versteht Vaters Arbeit nicht; es versteht nur seine eigenen Bedürfnisse.

Emotionale Bedürfnisse des sich entwickelnden Kindes

Bei seiner Entwicklung muß das Kind es selbst sein dürfen. Das bedeutet, daß sich das Tempo nach ihm richtet und nach niemandem sonst. Das Kind muß gehen und sprechen, wenn es ihm gemäß ist, und nicht, wenn ein Elternteil, der ein kluges, fortgeschrittenes Kind braucht, dies für richtig hält. Das Kind kann nicht geliebt werden, wenn es gezwungen wird, schneller als in seinem eigenen Tempo zu lernen.

Nach einer Weile hat das Kind eine neue Gruppe von emotionalen Bedürfnissen, die über die physischen hinausgehen. Es braucht nicht nur Berührung, wie für den Rest seines Lebens, sondern auch Freiheit, seine Gefühle zu äußern – wütend zu sein, negativ zu sein, »nein« zu sagen und nicht sofort gehorchen zu müssen, wenn jemand ihm einen Befehl erteilt. Kurz gesagt, seine Gefühle müssen respektiert werden. Es muß ihm gestattet sein, nicht nur Zuneigung zu empfangen, sondern, was ebenso wichtig ist, sie auch zu geben. Es muß spontan umarmen und küssen dürfen, ohne beiseite geschoben zu werden. Eine gute Geburt und viel körperliche Zuwendung bringen dem Kind große Vorteile im Sinne des Schmerzvermeidens und späteren Normalseins.

Zu den emotionalen Bedürfnissen eines Kindes gehört auch die Möglichkeit, über Gefühle den Eltern gegenüber ohne Angst vor Mißbilligung oder Verdammung sprechen zu können. Ein Kind muß sagen dürfen »Ich habe Angst«, ohne beschämt zu werden. Es muß sagen dürfen »Ich mag Onkel Hans nicht«, ohne daß man es wegen seiner Gefühle bestraft. Wenn einem Kind diese Dinge nicht erlaubt sind, lernt es, sich nicht zu äußern, alles in sich zu verschließen, bis es den Zugang zu seinen wahren Gefühlen verliert.

Das kleine Kind ist seiner Umgebung gegenüber sehr sensibel. Es braucht nicht viel, um seine natürlichen Bestrebungen zu verändern. Es lernt, bevor es spricht. Es kann verstehen, daß es nicht jedesmal, wenn es das will, auf Vaters Schoß klettern oder Mutters Beine packen kann. Es braucht nur ein oder zwei strenge Verweise, um diese natürlichen Tendenzen abzulenken. Bald lernt es, physische Liebe für irgendeine Art von Billigung von seiten seiner Eltern aufzugeben. Es lernt, daß es nicht geliebt werden kann, wann es das will, sondern nur, wenn seine Eltern beschließen, ihm Liebe zu gewähren.

Es lernt auch, nicht um das zu bitten, was es will. Wenn ein Elternteil es nötig hat, sich wichtig oder klug zu fühlen, wird das Kind zur Dienstbarkeit gezwungen. So wird der Vater, der alles wissen muß, es nicht ertragen, von seinen Kindern herausgefordert zu werden. Sie werden bald klein beigeben. Sie werden bald lernen, ihn nur anzusprechen, wenn er das Bedürfnis hat, angesprochen und gehört zu werden, ein Bedürfnis, das seinen Ursprung in seiner eigenen Kindheit hat.

Kinder lernen instinktiv, was sie brauchen, um im Leben zurechtzukommen. Das ist eine automatische Reaktion. Die depressive Mutter macht das Kind zu jemandem, der sie aufheitern muß, weil es eine normale, glückliche, lächelnde Mutter braucht. Ich muß betonen: Was immer schiefläuft, das Kind, das keinen Bezugsrahmen hat, dessen Eltern für es die Welt sind, denkt, es sei seine Schuld. Es kämpft darum, seine Eltern zu dem zu machen, wozu deren eigene Eltern sie nicht machen konnten – zu geliebten menschlichen Wesen. Es bemüht sich, ihnen das Gefühl zu geben, wichtig, erwünscht, respektiert, attraktiv, geliebt oder klug zu sein, was immer sie brauchen. Wenn der Elternteil als Kind nie Freunde gewinnen konnte, dann wird sein eigenes Kind sein Freund sein müssen.

Ein Kind braucht nicht nur das, was auf der Hand liegt – Obdach, richtige Ernährung und medizinische Versorgung –, sondern auch Stabilität, Routine und eine ruhige Umgebung. Zwei Eltern, die sich dauernd streiten, beeinträchtigen natürlich die Erfüllung dieser Bedürfnisse. Etwas für sein Kind zu empfinden bedeutet nicht nur Füttern, Kleiden und Obdach geben, was zu viele Eltern als summum bonum der Kindererziehung ansehen. Es besteht vielmehr darin, dem Kind das Gefühl zu geben, daß es erwünscht, geliebt und um seiner selbst willen akzeptiert ist. Wenn ein Elternteil sagt, er habe hart gearbeitet, um die Familie zu versorgen, und sie dabei ignoriert, dann hat er wahrscheinlich alles getan, nur nicht das gegeben, was zur Kindererziehung wesentlich ist – Liebe. Wie viele von uns hätten sich mit einer etwas weniger eleganten Behausung und weniger Schnitzeln auf dem Tisch begnügt, wenn wir dafür das Gefühl totaler Zuneigung hätten bekommen können?

Das Kind hat auch das Bedürfnis, als Person verstanden zu werden. Das bedeutet, daß sowohl seine Fehler als auch seine Vorzüge ehrlich anerkannt werden müssen. Wenn es Lernschwächen hat, müssen die Eltern das akzeptieren und das Kind nicht antreiben, um so selbst in einem guten Licht dazustehen. Es bedeutet, daß die Wünsche, Interessen und Wahlen des Kindes respektiert werden müssen. Ein zartes Kind wird kein Footballspieler werden, und ein kleines Mädchen kann nicht der Junge sein, den Papa sich gewünscht hatte. Liebe bedeutet, dem Kind zuzuhören und nicht wegzulaufen, wenn es etwas zu sagen hat. Sie bedeutet, es in dem zu unterstützen, was es mit seinem Leben tun möchte. Sie bedeutet, seine Ängste und Befürchtungen, seinen Zorn und seine Wutanfälle zu verstehen. Sie bedeutet nicht, um des äußeren Eindrucks willen alles zu unterdrücken. Sie bedeutet, Zeit für das Kind zu haben, Zeit, um seinen Beschwerden, Ängsten und Hoffnungen zuzuhören.

Die Bedeutung von Freiheit

Ein Kind braucht Freiheit, nicht nur des Ausdrucks, sondern auch der Bewegung. Ein Kind muß Dinge erforschen und seiner Neugier folgen dürfen, ohne an jeder Wegbiegung angehalten zu werden. Nur zu oft halten Eltern Kinder an zu kurzer Leine. Jede Bewegung des Kindes wird kontrolliert. Jede Straße, die es erforscht, wird eingegrenzt. Bald fühlen Kinder sich eingeengt und engen sich infolgedessen allmählich selbst ein. Sie verlieren ihre natürliche, großzügige Neugier. Sie verlieren ihren Enthusiasmus und ihre Spontaneität. Eltern, denen die eigene Spontaneität ausgetrieben wurde, haben das vergessen. Das Kind, das dauernd wegen seines Elans getadelt und gedämpft wird, wird aufhören, emotional und spontan zu sein. Später, wenn es Zeit zu reagieren ist, hat es vielleicht ein sehr unglückliches Sexualleben.

Ein Kind muß sagen können »Halt mich fest, Mami«, ohne zu zögern und das Gefühl zu haben, von einer Mutter zurückgestoßen zu werden, die Nähe nicht ertragen kann. Das Kind weiß niemals, daß Mutter mit der Zuwendung ein Problem hat (da sie selbst nicht genug bekam), sondern stellt sich immer vor, etwas mit ihm selbst sei nicht in Ordnung. Dann kommt es zu den Gefühlen, nichts wert und nicht liebenswürdig zu sein. Eltern müssen sich wirklich für das Kind interessieren und dürfen sich nicht durch ihren eigenen Mangel an Erfüllung davon ablenken lassen.

Das freie Fließen der Liebe

Wenn echte Liebe und Interesse für das Kind als anderes menschliches Wesen bestehen, folgen alle Interaktionen einem natürlichen Fluß. Dann kann das Kind frei sagen, was es im Sinn hat, und wird verstanden. Es kann seine Gedanken über die Welt, seine Freunde, die Schule oder sonst etwas aussprechen und dafür respektiert statt ignoriert werden. Es braucht das Gefühl, daß man ihm zuhört, weil es das Bedürfnis hat, sich zu äußern. Es braucht kein ständiges »Laß mich jetzt in Ruhe. Siehst du nicht, daß ich zu tun habe?«

Alles oben Erwähnte ist nicht so schwierig, wenn es von jemandem kommt, der sein Kind wirklich will und liebt und nicht unter einer Menge eigener unerfüllter Bedürfnisse leidet. Unerfüllte Bedürfnisse werden bald auf das Kind übertragen. Es ist sehr schwierig, die emotionalen Bedürfnisse eines Kindes zu befriedigen, wenn das Kind nicht erwünscht ist. Ein zu großer Teil des elterlichen Verhaltens wird vom Kind als »so tun als ob« wahrgenommen. Kinder lassen sich nie täuschen. Von Geburt an sind sie reines Gefühl, und sie haben ein Gespür für jede Nuance im Ausdruck ihrer Eltern.

Es mag banal scheinen, wenn ich sage, daß Kinder menschliche Wesen sind und das brauchen, was wir alle brauchen. Aber es gibt viele Eltern, die ihren Kindern sagen, sie liebten sie, ohne ihnen je zu zeigen, daß sie das tun, und die sich dann einbilden, sie hätten ihre Aufgabe erfüllt. Stellen Sie sich vor, Sie sagten Ihrem Freund, Ihrem Ehemann, Ihrer Freundin, Ihrer Frau, Sie liebten sie, ohne sie jemals zu berühren. Sie könnten kaum erwarten, daß die anderen tatsächlich Liebe in Ihrem Verhalten wahrnähmen.

Liebe ist das Hauptgegenmittel gegen Neurosen. Ihr Fehlen ist das zentrale Ingrediens, um das herum Neurosen wachsen. Gewöhnlich sind es die subtilen Dinge, die emotionale Krankheiten erklären, die kleinen Nuancen der Gefühle, nicht die Handlungen selbst. Man kann von einem Elternteil im Arm gehalten werden, der extrem angespannt ist, und diese Berührung verursacht dem Kind Unbehagen. Man kann auch von einem Elternteil gehalten werden, der ruhig, entspannt und liebevoll ist.

Aufgrund der Analogie zu einer liebevollen, erwachsenen Sexualbeziehung ist das leicht zu verstehen. Natürlich macht man die beste Erfahrung mit jemandem, der kein angespanntes Wrack ist. Ohne die sexuelle Komponente sind die Prinzipien für die Liebe zu Kindern die gleichen – volle Konzentration auf das Kind, physische Aufmerksamkeit, viel Zeit, keine anderen Ablenkungen; das Kind soll in solchen Momenten das ganze Universum sein.

Wenn Bedürfnisse unbefriedigt bleiben

Wenn Bedürfnisse nicht befriedigt werden, leidet das Kind unglücklicherweise nicht nur in dem betreffenden Augenblick, sondern für den Rest seines Lebens. Es gibt einen Zeitplan der Bedürfnisse; manche können nur zu dieser bestimmten Zeit und zu keiner anderen erfüllt werden. Ein Neugeborenes braucht gleich nach der Geburt die unmittelbare Nähe seiner Mutter. Diese ersten Stunden sind entscheidend. Wenn es nicht dazu kommt, wird für alle Zeit Schmerz entstehen. Nichts, was das Kind oder der Erwachsene später tut, kann diese Entbehrung ungeschehen machen.

Es nutzt nichts, wenn ein Elternteil sich später für all die Entbehrungen entschuldigt, die er seinem Kind auferlegt hat. Die Verletzung ist da und wird durch die Bitte um Verzeihung nicht beseitigt. Man beseitigt ein Bedürfnis nicht mit einer Entschuldigung. Seine Kraft ist gigantisch. Die Verletzung ist gespeichert. Einem egozentrischen Elternteil, der sein Kind früh im Leben im Stich läßt, kann nicht vergeben werden, ganz gleich, wie sehr beide sich das später wünschen mögen. Der Mangel an Erfüllung ist eine Realität. Der geschiedene Elternteil, der sein Kind kaum sieht, kann nicht in den Teenagerjahren des Kindes plötzlich erscheinen und erwarten, er könne einen neuen Anfang machen. Es gibt eine Bürde von Verletzungen, die das Kind zuerst fühlen muß. Das hat mit Vergebung nichts zu tun; die ist bedeutungslos. Doch das Fühlen von Bedürftigkeit, Verletzung und Groll schafft vielleicht einige der Trümmer aus dem Weg, so daß irgendeine Beziehung zwischen Elternteil und Kind möglich ist.

Fühlen bedeutet, zurückzugehen und die genauen Bedürfnisse des Säuglings und Kindes zu spüren. Die damalige Sehnsucht zu spüren, gehalten zu werden. Den frühen Groll zu spüren, das Bedürfnis, angehört, nicht kritisiert, auf Reisen mitgenommen zu werden, sich zugehörig zu fühlen, dazuzugehören etc. Es bedeutet, das ganze Selbst zu erleben, und das bedeutet auch, den durch die ursprüngliche Entbehrung hervorgerufenen Schmerz zu fühlen.

Die Realität von Bedürfnissen

Was ich hier erörtere, sind nicht bloß Gedanken. Wir haben diese Bedürfnisse mit all ihren Qualen bei Patienten gesehen, denen sie nicht erfüllt wurden. Gewisse sogenannte »Bedürfnisse« jedoch sind irreal. Ich habe nie ein reales Bedürfnis nach Prestige oder Ruhm bei Patienten auf dem Fußboden meiner Klinik gesehen, außer als Ersatz für andere Bedürfnisse, die real waren.

Die Bedürfnisse, die ich besprochen habe, sind nicht mehr als das Ergebnis meiner Beobachtungen, entdeckt in den Appellen menschlicher Wesen, die mit ihrer Kindheit und Säuglingszeit in Berührung waren. Diese Bedürfnisse sind weder metaphorisch noch konzeptionell. Sie sind grundlegende biologische Realitäten. Wenn sie empfunden werden, verändert sich die Biologie, der sie entspringen, bis hinunter auf die Zellebene, einschließlich der Nervenzellen des Gehirns. Gefühlsregungen zu durchleben oder in Abreaktion oder Katharsis zu schluchzen wird diese Veränderungen nicht beeinflussen. Grundlegende Veränderungen müssen immer grundlegende Bedürfnisse einbeziehen. Erfüllung stabilisiert das System.

Was ist mit Armut? Ist eine angemessene Umgebung kein Grundbedürfnis? Ja und nein. Liebe hat bei der Vermeidung von Neurosen immer die Priorität. Doch das Leben unter erbärmlichen Umständen hat sicherlich einen Einfluß auf die Entwicklung. Es gibt ein Bedürfnis, Kleider, Obdach und den materiellen Komfort zu besitzen, den andere haben. Doch wenn ein Patient in der Therapie auf dem Boden liegt und seine nackte Bedürftigkeit offenbart, wird selten über materielle Bequemlichkeiten geweint. Das Leben in einer armen Umgebung erzeugt nur dann ein Minderwertigkeitsgefühl, wenn die anderen emotionalen Faktoren fehlen. Kurz gesagt, Armut ist ein Faktor bei der Krankheit, aber meiner Erfahrung nach ist er nicht besonders wichtig. Ich hatte Armut immer für einen bedeutenderen Faktor gehalten. Doch der Patient entscheidet, was wichtig ist, nicht ich.

In der Primärtherapie suggerieren wir den Patienten keine Bedürfnisse. Am Anfang wissen wir nie genau, worin sie bestehen. Der Patient fühlt sie, und diese Gefühlsbedürfnisse werden offengelegt.

Die Entstehung von Ersatzbedürfnissen

Wenn Bedürfnisse nicht erfüllt werden, treten Ersatz- oder Sekundärbedürfnisse an ihre Stelle. Wenn ein neurotischer Elternteil sein Kind neurotisch behandelt, so erzeugt er in dem Kind neue Bedürfnisse, die nicht biologisch begründet, sondern abgeleitet sind. Eine Mutter, die ihr Kind dominieren muß und das Kind daher passiv und schwach macht, erzeugt in dem Kind ein »Bedürfnis«, im erwachsenen Leben entweder einen Partner zu dominieren oder, je nach den übrigen Lebensumständen, einen dominierenden Ehepartner zu finden. Man heiratet eine kontrollierende Person, um weiterhin abhängig zu handeln. Ein Kind, das abgelehnt oder ignoriert wurde, wächst möglicherweise mit dem Bedürfnis heran, berühmt zu werden. Das ist ganz offensichtlich kein biologisches Kindheitsbedürfnis.

Das sogenannte Bedürfnis nach Selbstwertgefühl beispielsweise ist kein Grundbedürfnis. Ein geliebtes Kind fühlt sich erwünscht und wertvoll. Es verbringt sein erwachsenes Leben nicht mit dem Versuch, sein Ego aufzublasen oder sich wichtig vorzukommen. Es war wichtig für die einzigen Menschen, die zählten, als es ein Baby war – seine Eltern. Für diese unwichtig zu sein bedeutet, ein »geringes Selbstwertgefühl« zu haben.

Nicht geliebt zu werden gibt uns das Gefühl, nicht anziehend zu sein – daher das Empfinden »Ich konnte sie nicht zu mir hinziehen«. Der spätere Kampf besteht dann darin, auf alle Leute anziehend zu wirken, ungeachtet dessen, ob sie wirklich für das eigene Leben wichtig sind oder nicht. Das neurotische Bedürfnis, ständig seines guten Aussehens versichert zu werden, kommt dann zustande, wenn man sich selbst in seiner Haut nicht wohl fühlt. Das Kind baut seinen Wert in jedem Sinne auf der Liebe der Eltern auf. Sich geliebt zu fühlen gestattet ihm, seinen Wert auf sich selbst zu begründen.

Geringes Selbstwertgefühl wird nicht mit dem Versuch behandelt, der Person ein Gefühl von Wert zu geben, und auch nicht mit Übungen, um das Ego aufzublasen. Ganz im Gegenteil. Die Behandlung besteht darin, daß man das verheerende Gefühl zuläßt, nicht erwünscht oder gewollt zu sein. So kann man sehen, daß die Unfähigkeit zu lieben das Problem der Eltern war und nicht die Folge eines dem Kind innewohnenden Makels. Dies kann nur dann zustandekommen, wenn man aufhört, gegen das Bedürfnis ständiger Rückversicherung anzukämpfen, und den Mangel an Liebe bis in die tiefsten Tiefen fühlt.

Ersatzbedürfnisse werden neurotisch

Ein neurotischer Elternteil erzeugt in seinem Kind neurotische Bedürfnisse. Ein Kind, auf das nicht reagiert wird, weil seine Eltern lieblos sind, wächst zu einem Erwachsenen heran, der das Bedürfnis hat, von anderen emotionale Reaktionen zu erhalten. Es braucht Reaktionen. Das Gefühl ist: »Schaut mich an. Nehmt zur Kenntnis, daß ich lebendig bin. Nehmt zur Kenntnis, daß ich existiere.«

Später, als Erwachsener, versucht das Kind, das keine Reaktionen erhielt, vielleicht, sich dramatisch zu benehmen, um ein »Star« zu werden. Oder es redet unablässig, um Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu sein. Es übertreibt und dramatisiert, um andere zu einer Reaktion zu provozieren. Manchmal geht eine solche Person zum Psychiater, und die Diagnose lautet, sie leide an »primärem Narzißmus«. Doch so kompliziert muß die Sache nicht sein. Der Mensch brauchte einfach eine gewisse grundlegende Aufmerksamkeit, um er selbst sein zu können. Die Situation ist auch nicht durch aktuelle Erfüllung allein zu lösen. Wenn aktuelle Erfüllung die eigenen Gefühle verändern könnte, dann würden die Filmschauspieler, die ich sehe und die mehr als ihren Anteil an Vergötterung bekommen haben, sich nicht als völlig wertlose menschliche Wesen fühlen.

Ein Elternteil, der sein Kind ohne Wärme behandelt, erzeugt in ihm vielleicht ein Bedürfnis, sich später mit kalten, eisigen Menschen zu umgeben. Nun bestehen nämlich eine erlernte Furcht vor Wärme und ein neues Bedürfnis, anderen nicht nahezukommen und pseudo-unabhängig zu sein. »Ich brauche niemand anderen. Ich bin glücklich in meiner Isolation.« Jetzt liegt ein »Bedürfnis, allein zu sein« vor, weil das Zusammensein mit anderen (im frühen Leben den Eltern) Schmerz bedeutet. Kein normaler Mensch freut sich, die ganze Zeit allein zu sein.

Wenn Menschen in ihrer Kindheit Entbehrungen auferlegt werden, wachsen sie heran, ohne den Unterschied zwischen Liebe und Bedürftigkeit richtig erkennen zu können. Sie neigen dazu, sich in jemanden zu »verlieben«, der ihre Bedürfnisse befriedigen kann. Die Frau, die infantilisiert wurde, wird sich in einen dominierenden und kontrollierenden Mann »verlieben«, damit sie weiterhin das Baby sein kann, zu dem ihre Eltern sie gemacht haben. Der Mann, dessen Eltern emotionslos waren und der seine Gefühle und seine Wärme unterdrückt hat, wird keine offene, warmherzige Partnerin suchen, sondern eher jemanden, der so reserviert ist wie seine Eltern. Dann beginnt der Kampf darum, diese Partnerin warmherzig und liebevoll zu »machen«.

Die Frau, die nie einen Vater hatte, wird sich in einen älteren Mann »verlieben« und ihn zu dem machen, was sie braucht. Sie wird von ihm erwarten, daß er alles sein soll, was ihr Vater nicht war. Sie sieht den Mann nicht als das, was er ist, genau wie sie ihre Eltern nie als die sah, die sie waren. Das ist ein sicheres Rezept für eine baldige Scheidung.

Muß sie lernen, andere Erwartungen zu haben? Keineswegs. Ihre Erwartungen sind real. Das Problem besteht darin, daß sie diese Bedürfnisse im Zusammenhang und in den Begriffen der realen Person fühlen muß, die sie will – ihres Vaters. Dann wird sie sehen, was sie sehen muß, nämlich ihre Bedürfnisse. Wir blicken nie über unsere Bedürfnisse hinaus, ganz gleich, wie klug wir sind. Wir können nie weiser sein als unsere ungefühlten Bedürfnisse, und wir können auch nicht mehr wahrnehmen, als unsere Bedürfnisse erlauben. Ungefühlte Bedürfnisse machen uns in spezifischen, relevanten Bereichen dumm. Wir nehmen eine andere Person nicht realistisch wahr, weil unsere unerfüllten Bedürfnisse sofort über die Realität dieser Person gelegt werden. Wir sehen immer zuerst unsere Bedürfnisse. Deshalb sind sie unsere primäre Realität; alles andere ist sekundär.

Die Auflösung neurotischer Bedürfnisse

Das Grundbedürfnis des Neurotikers ist Auflösung. Der Neurotiker muß seine frühen Bedürfnisse auflösen, damit er nicht für den Rest seiner Tage darin »steckenbleibt«. Wenn er diese Auflösung nicht erreicht, wird er mit fünfzig genau das gleiche Bedürfnis haben wie mit fünf, und es wird ebenso stark sein. Nichts, das im späteren Leben geschieht, kann diese Stärke auch nur um ein Jota verringern. Sobald die alten Bedürfnisse einmal gefühlt werden, wenn die Person in ihre Kindheit zurückkehren und ihr damaliges Leben noch einmal erfahren kann, verblassen die abgeleiteten Symbole – wie das Bedürfnis nach Macht, Prestige und Ruhm. Solange die symbolischen Bedürfnisse weiterbestehen, wird die Lebensenergie, die Freud als »Libido« bezeichnete, in diese Bedürfnisse kanalisiert. Der Mensch wird nach Macht streben (weil er in seiner Kindheit total kontrolliert wurde und keine Macht über sich selbst hatte) und mit Sex nicht viel im Sinn haben. Die Energie, die in Beziehungen fließen sollte, wird nun in das Streben nach Symbolen abgeleitet.

Denken Sie daran: Zuerst gibt es Bedürftigkeit und dann »das Bedürfnis nach«. Ganz gleich, was »das Bedürfnis nach« ist – Sex, Geld, Macht, Überzeugungen –, zuerst und vor allem ist es eine primäre, reine Bedürftigkeit.

Wenn jemand über seine symbolischen Bedürfnisse sprechen und anfangen kann, seine realen Bedürfnisse zu fühlen, kommt es oft zu einer überwältigenden Traurigkeit – einer Traurigkeit über die Verschwendung all dieser Energie und Zeit, über die Verschwendung des Lebens. Es ist eine resignierte Traurigkeit: »Ich werde es ihnen nie recht machen, ganz gleich, was ich tue.« Dann sind der Antrieb und der Traum vorüber. Es ist an der Zeit, in das reale Leben hinabzusteigen.

2. Urschmerz: Das große, verborgene Geheimnis

Die Natur emotionalen Schmerzes

Wenn kindliche Bedürfnisse unerfüllt bleiben, werden sie in Schmerz verwandelt. Schmerz ist etwas, das wir gewöhnlich mit körperlichen Ursprüngen in Verbindung bringen. Wir sind vertraut mit Zahnschmerzen, mit dem Schmerz, den eine körperliche Verletzung oder eine Organstörung verursachen. Der Schmerz, den wir empfinden, wenn wir uns ungeliebt oder unerwünscht fühlen, ist ebenso real. Wenn emotionale Bedürfnisse unerfüllt bleiben, kommt es zu realen Empfindungen von körperlichem Unbehagen, Angst, Depression, Kopfschmerzen, Magenschmerzen und diffuser Furcht. Unbefriedigte Bedürfnisse sind eine Bedrohung der Integrität des Systems. Sie werden in Schmerz verwandelt, weil der Schmerz uns auf die Bedrohung aufmerksam macht, die diese Entbehrung darstellt.

Wenn die Bedürfnisse eines Kindes nach Liebe und Zuneigung, Berührung und Sicherheit nicht erfüllt werden, dann signalisiert der Schmerz dem System, sich zu mobilisieren und Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Das Kind wird getrieben, auf die eine oder andere Weise die Erfüllung unbefriedigter Bedürfnisse zu suchen. Wenn es keine Möglichkeit zur Befriedigung der Bedürfnisse gibt, werden Verdrängungskräfte das Bedürfnis lähmen.

Mangel an Erfüllung bedroht das Überleben. Schmerz ist einfach ein Zeichen für diese Bedrohung, ein Zeichen für das, was fehlt. Er weist uns an, das zu bekommen, was wir brauchen, und wird schließlich selbst verdrängt. Die Stärke des Schmerzes entspricht der Intensität des Bedürfnisses. Wenn Sie die Liebe nicht erhalten, die Sie brauchen, dann geht Ihnen ein Teil Ihrer selbst verloren.

Später im Leben lernen wir, eine Bedürfniserfüllung durch eine andere zu ersetzen und nach symbolischer oder Ersatzbefriedigung zu suchen. Ein Baby, das etwas braucht, hat keine andere Alternative, als entweder ständige Qual zu fühlen oder sich abzuschließen. Es kann weder am Kiosk Zigaretten holen noch einen Freund anrufen, um ins Kino zu gehen. Es verdrängt. Verdrängung ist eine automatische Reaktion auf den Schmerz emotionaler Entbehrung.

Die Bedrohung, im frühen Leben beispielsweise nicht gehalten und getröstet zu werden, setzt eine komplexe Serie chemischer Prozesse in Gang. Das Endergebnis dieser Prozesse ist ein Abschalten eben dieser Bedrohung. Das Bewußtsein der Bedürftigkeit hört auf. Statt dessen beginnt man, sie durch Befriedigungen zu ersetzen, die Ersatzwünsche repräsentieren. Beruhigungsmittel, Zigaretten oder Essen tun, was Berührung hätte tun sollen – sie entspannen uns. Kinder brauchen Berührung, um sich angemessen entwickeln zu können. Wenn sie sie nicht bekommen, verlangsamt sich ihre Entwicklung, und ihr Wachstum verzögert sich.

Als Kinder brauchen wir die Möglichkeit, unseren Eltern gegenüber unsere wahren Gefühle zu äußern. Wir leiden, wenn unsere Eltern gleichgültig sind. Wenn sie unseren Groll und unsere Wut zurückdrängen, leiden wir. Wir können nicht länger wir selbst und natürlich sein. Unsere »Natur« wird daher verbogen, und das verursacht Schmerz. Wenn ein Arm sich nicht natürlich bewegen kann, wenn er mit Klebeband gefesselt wird, wird er schmerzen. Wenn man natürliche Emotionen nicht zuläßt, kommt es zum gleichen Ergebnis. Diese Emotionen sind ebenso Teil unserer Physiologie, wie ein Arm Teil unserer Anatomie ist. Wenn ein Kind hungrig ist, muß es gefüttert werden. Das Bedürfnis, Gefühle zu äußern, ist ebenso physiologisch wie Hunger.

Ein Kind braucht das Gefühl, so akzeptiert zu werden, wie es ist. Geschieht dies nicht, ist es gezwungen, etwas oder jemand anderer zu sein – der Intellektuelle, der Athlet oder was immer. Es muß sich selbst neu gestalten, und das verursacht emotionalen Schmerz. Wir alle müssen in Harmonie mit uns selbst heranwachsen und uns in unserer Haut wohl fühlen. Wenn unsere natürlichen Gefühle uns Unbehagen verursachen, leiden wir.

Primärschmerz

Es scheint einfach, Schmerz zu definieren. Was immer weh tut, muß Schmerz sein, wenn das auch nach einem Zirkelschluß klingt. Doch was ist mit emotionalem Schmerz, der nicht auf dieselbe Weise weh tut wie Zahnschmerzen oder ein Schnitt in den Finger? Wie können wir ihn nennen? Ich benutze den Begriff Primärschmerz, um emotionalen Schmerz zu bezeichnen, der zur Zeit seines Auftretens weitgehend unbemerkt bleibt. Primärschmerz ist ein Schmerz, der nicht wehtut, zumindest nicht bewußt.

Primärschmerz ist nicht wie ein Kneifen, bei dem wir »Au« rufen, die Finger schütteln und ihn nach ein paar Minuten überwinden. Primärschmerz ist, als würden Sie so hart gekniffen, daß Sie es nicht fühlen können, so daß der Schmerz ewig andauert.

Primärschmerz wird ständig unter der Ebene bewußter Wahrnehmung verarbeitet, aber das bedeutet nicht, daß er nicht da ist und seinen Schaden anrichtet. Es bedeutet nur, daß er zu stark ist, um gefühlt zu werden.

Der verdrängte Schmerz vereitelter emotionaler Bedürfnisse ist unbeschreiblich. Wenn er sich dem Bewußtsein nähert, kann er Menschen zum Wahnsinn oder zum Selbstmord treiben. Jemand, der völlig abgeschottet ist, kann sich nicht vorstellen, welche Intensität hier im Spiel ist. Das ist der Grund, warum Patienten, die dem Primärschmerz nahe kommen, manchmal vom Suizid besessen sind. Sie sind geneigt, lieber den Tod zu wählen als die direkte Erfahrung des Primärschmerzes.

Die katastrophalsten Schmerzen sind die frühen Schmerzen, die lebensbedrohend sind. Schmerzen wie die, bei der Geburt dem Tode nahe zu sein, oder der Schmerz der Hoffnungslosigkeit eines kleinen Kindes, jemals geliebt zu werden, sind Beispiele hierfür. Das System ist nicht dazu ausgestattet, Schmerzen dieser Größenordnung zu ertragen. Ganz im Gegenteil: Es ist so angelegt, daß es einen morphinähnlichen Stoff erzeugt, um das Bewußtsein des Schmerzes abzublocken, damit das Baby nicht stirbt oder, im Falle eines Erwachsenen, damit die Person weiterleben kann.

Primärschmerz bringt immer Verdrängung ins Leben. Das Maß der erzeugten Verdrängung hängt von der Ebene oder Wertigkeit des Schmerzes ab. Die morphinähnlichen Substanzen, die wir innerlich erzeugen, um emotionalen Schmerz zu verdrängen, können hundertmal stärker sein als kommerziell zubereitete Morphine. Als Freud über Verdrängung schrieb, konnte er nur spekulieren. Jetzt haben wir ein viel klareres Bild davon, wie sie wirkt und wo im Gehirn sie am Werk ist.

Unsere Fähigkeit, Dinge auszuhalten, ist begrenzt. Schmerz mobilisiert das System wie nichts anderes. Er treibt den Herzschlag in die Höhe und steigert den Blutdruck. Ein neugeborenes Kind kann bei der Geburt einen Puls und Blutdruck von 200 nur für eine gewisse Zeit ertragen, ehe es in Lebensgefahr gerät. Die Verdrängung schaltet diese extreme Mobilisierung ab. Später werden wir sehen, wie beim Anheben der Verdrängungsschranke die exakte frühe Erinnerung mit genau gleichem Herzschlag und Blutdruck reproduziert wird.